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Digimon 00001100 <Twelve>

Samsara Madness [Video-Opening online]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
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Das Rad dreht sich

Es verging nicht ein Tag, an dem die drei nicht auf ihm herumhackten.

Als Kouki sah, wie Renji Oyara gespielt kameradschaftlich den Arm um die Schulter des schmächtigen Jungen legte und ihm grinsend erklärte, er hätte vor dem Klassenzimmer etwas mit ihm zu besprechen, wusste er sofort, was los war. Shuichi war das erklärte Opfer von Renjis Clique, seit er an die Odaiba Mittelschule gewechselt war. In sich gekehrt, den Stimmbruch noch vor sich und noch dazu klein gewachsen und dürr, war er die perfekte Zielscheibe. Ohne sich zu wehren, ließ er es zu, dass Renji und seine beiden Kumpel aus dem Sportclub ihn nach draußen bugsierten.

„Spielt der Typ nicht in deiner Fußballmannschaft?“ Der etwas dickliche Mamoru hatte sich neben Kouki ans Fensterbrett gelehnt.

„Renji? Ja, seit Kurzem.“ Kouki wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Sportplatz zu. Soeben hatte die Schulglocke zur Mittagspause gerufen, und schon herrschte dort unten reges Treiben. Eine Staffelläuferinnentruppe trainierte für einen herannahenden Wettkampf, und die Mädchen ließen keine Gelegenheit aus, mit ihren schlanken Beinen die Rennbahn zu zertrampeln. Kouki gefiel dieser Anblick, daher war der Platz am Fenster in den letzten Tagen sein Stammplatz geworden. Mädchen in den uniformellen Sportoutfits zuzusehen, war auf jeden Fall besser, als der Schikane beizuwohnen, die sich jetzt sicher draußen am Gang abspielte.

Kouki war im Normalfall niemand, der wegsah, wenn so etwas geschah, aber diese Sache war anders. Er konnte Renji eigentlich gut leiden, aber auf seinen Vorschlag hin, den armen Shuichi doch in Ruhe zu lassen, hatte er die kalte Schulter als Antwort bekommen, und Kouki wollte den Zusammenhalt in seinem Fußballteam nicht gefährden. Außerdem war Shuichi selbst schuld, redete er sich ein. Wäre er ein wenig aufgeschlossener, würde das alles nicht passieren.

„Wie sieht es eigentlich mit deinem Yuki aus?“, riss ihn Mamoru aus seinen Gedanken. „Ist er schon stubenrein?“

„Fast“, meinte Kouki mit einem sauren Grinsen. „Meine Schwestern und ich wechseln uns mit dem Gassi-Gehen ab, aber … naja, er hat meistens andere Pläne.“

Mamoru lachte. Yuki war ein Akita-Albino und noch ein Welpe. Seit Koukis Familie ihn vor zwei Wochen bekommen hatte, hielt er ihn und seine beiden Schwestern auf Trab. Kouki seufzte. Es wäre schön, wenn die Schule bald vorbei wäre. Dann hätte er wenigstens wieder Zeit für den Hund, könnte versuchen ihn abzurichten oder einfach nur mit ihm Spaß haben. Aber vorher würde er noch ewig lange Vorträge über japanische Geschichte hören – oder sie verschlafen, je nachdem.

„Komm“, sagte er schließlich zu Mamoru und stieß sich schwungvoll vom Fenster ab.

„Wo willst du hin?“, fragte sein Freund, während er die Klassentür ansteuerte.

Die Zeit totschlagen. „Aufpassen, dass Renji es nicht übertreibt“, murmelte er.

 

„Also, Shu-chan, du hilfst mir sicher aus der Patsche, oder?“ Renji hatte den Arm immer noch um den kleinen Shuichi gelegt, dass es fast schon wie ein Schwitzkasten wirkte. „Ich brauche nämlich echt deine Hilfe und weiß, dass du eine gute Seele bist.“

Sie hatten sich bis zum Treppenabsatz zurückgezogen. Von hier aus konnte man über ein Plexiglasgeländer in die Schulaula hinunterblicken – und erkannte nahende Lehrer schon von Weitem. Die Schüler, die die Treppe heraufkamen, musterten Shuichi, der von den drei größeren Jungs drangsaliert wurde, irritiert oder mitleidig, aber keiner rührte einen Finger, um ihm zu helfen.

„W-was brauchst du denn?“, stammelte Shuichi leise und piepsig hoch.

„Das ist mir fast ein wenig peinlich“, sagte Renji und fuhr sich theatralisch durch sein strohblondes Haar. „Du weißt doch, es gibt da dieses Mädchen aus der Parallelklasse und, naja, ich hab ein Auge auf sie geworfen. Ich will sie am Wochenende ins Kino einladen, nur leider bin ich völlig abgebrannt und mein Taschengeld krieg ich erst wieder am Montag. Aber du hilfst mir doch sicher, oder?“ Er verstrubbelte Shuichi das Haar. „So etwa zweitausend Yen hast du doch sicher für deinen Kumpel Renji übrig, nicht wahr?“

„Ich, … also …“ Shuichi wand sich unbehaglich in seinem Griff, und während Renji zuckersüß lächelte, grinsten seine Freunde hämisch.

Kouki und Mamoru waren zur Treppe getreten, lehnten sich in einigem Abstand gegen das Geländer und verfolgten das Geschehen.

„Wenn du das Geld heute nicht dabei hast, macht’s auch nichts“, flötete Renji, als wollte er ein Kind in den Schlaf singen. „Morgen ist ja auch noch ein Tag, nicht?“ Urplötzlich wurde sein Gesichtsausdruck streng. „Du besorgst mir das Geld doch, oder? Ich will doch schwer hoffen, dass du nicht vergisst, wer deine Freunde sind, Shu-chan.“

„Warum lasst ihr ihn nicht endlich in Ruhe?“

Die drei Rüpel wandten sich überrascht herum und auch Kouki blickte interessiert auf. Soeben waren zwei Jungen aus der ersten Schulstufe die Treppe heraufgekommen und einer davon hatte eine grimmige Miene aufgesetzt, während der zweite sich hinter ihm zu verstecken versuchte.

„Wie meinen?“ Renji wandte sich ihnen demonstrativ langsam zu.

„Ihr hackt dauernd auf ihm herum. Wird euch das nicht mal langweilig?“, sagte der Junge. Er hatte dunkles, leicht lockiges Haar und reichte Renji vielleicht bis zum Kinn. Die Schuluniform, die er trug, schien ihm zu groß zu sein, weswegen er wohl kleiner wirkte, als er tatsächlich war. Kouki glaubte, ihn schon irgendwo mal gesehen zu haben.

Einer von Renjis Freunden lachte. „Hört euch das an, der hat aber ein schönes Stimmchen! Sing uns noch was vor, Kleiner, bitte.“

Renji grinste schief.  „Stimmt. Könnte glatt bei einem Knabenchor mitmachen.“

Der Junge starrte ihn nur finster an und kniff die Lippen zusammen. Sein Freund, ein spindeldürrer Brillenträger, zupfte ängstlich an seinem Ärmel. „Lass es, Kuromori-kun“, sagte er leise. „Komm, wir gehen weiter.“

„Hör auf den Kleinen“, sagte ein anderer von Renjis Gefolgschaft. „Verzieht euch, das ist besser für euch.“

„Sonst schicken wir dich tatsächlich in den Knabenchor.“ Renjis Grinsen war wie auf seinem Gesicht festgefroren. „Die sollen ihren Jungs ja die Eier abschneiden, damit sie ihre hübschen Singstimmen behalten.“ Er machte mit den Fingern eine Scherenbewegung. „Schnipp-schnipp.“ Seine Kumpel bogen sich vor Lachen, während Shuichi sich Mühe gab, einfach nicht mehr da zu sein.

Die Wangen des Jungen röteten sich zornig, aber seine Stimme war kein bisschen zittrig, sondern genauso melodisch wie zuvor, als er sagte: „Du solltest jetzt lieber den Rand halten, Renji Oyara. Ich habe vorher gesehen, dass Kumasawa-sensei auf dem Weg hier rauf ist. Wenn ihr euch nicht verzieht, erzähle ich ihm, was ihr hier treibt.“

Renjis Zähneblecken endete sofort. „Das würdest du nicht wagen“, zischte er.

„Wetten?“

Renji stieß abfällig die Luft aus und Kouki sah, wie die Neuronen hinter seiner Stirn feuerten. Schließlich seufzte er und hob ergeben die Hände. „Was soll’s, ich treib das Geld schon noch auf. Kein Grund zur Sorge, wir sind ja Kumpel, oder, Shuichi?“ Er schlug seinem Opfer gerade so fest auf die Schulter, dass es weh tun musste, und trollte sich mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen. Seine Freunde folgten ihm.

„Na toll, das nächste Mal haben sie’s sicher auf uns abgesehen“, zischte der Brillenträger dem Jungen zu, der mit den Schultern zuckte und die Treppe wieder hinabstieg. War er etwa nur wegen diesem Spektakel heraufgekommen?

Kouki beugte sich über das Geländer. Tatsächlich begegneten die Jüngeren dem Lehrer, grüßten jedoch nur höflich. „Sag mal, kommt dir der Typ auch bekannt vor?“, fragte er.

„Ich überleg auch schon die ganze Zeit – war der nicht mit uns im Sommercamp? Du weißt schon, dieses außerschulische, letzten August“, überlegte Mamoru.

„Kann sein …“, murmelte Kouki.

„Ah, jetzt hab ich’s!“ Mamoru schnippte triumphierend mit den Fingern. „Der Typ heißt Taneo Kuromori, und das ist sein erstes Jahr in der Mittelschule.“

„Taneo Kuromori …“ Es war keine üble Aktion gewesen, die er da geschoben hatte, musste sich Kouki eingestehen. Er war mutiger, als er aussah. War er damals im Camp auch schon so gewesen? Besonders aufgefallen war er ihm nie. „Naja“, gähnte Kouki schließlich. „Ist ja nicht so, dass ich mir das auch noch viel länger angeschaut hätte.“

„Hm.“ Mamoru sah nicht überzeugt aus.

 

„Hier, fang.“

„Danke!“ Tageko fing gekonnt die Wasserflasche auf, die ihr ihre Clubkollegin zuwarf. Ihre Sportkleidung klebte ihr schweißfeucht am Körper und sie fühlte sich, als würde sie dampfen. Ihr Atem wurde vor ihren Lippen zu weißen Wölkchen, ihre Lungen brannten. Zu dieser Jahreszeit draußen zu trainieren war nicht ohne – aber es förderte ganz sicher die Abwehrkräfte. Wenigstens gab es noch keinen Schnee. Das Wasser konnte sie nur in kleinen Schlucken trinken, weil es ebenfalls eiskalt war.

„Wir haben heute einen neuen Rekord geschafft“, erklärte die Teamchefin und zeigte den Mädchen stolz ihre Stoppuhr. „Vier Sekunden unter der letzten Bestzeit.“

„Die hat Tageko rausgeholt“, sagte eine andere Läuferin grinsend.

Tageko zuckte mit den Schultern. „War nicht schwer. Eiserner Wille und Training.“

„Wenn wir weiter solche Fortschritte machen, haben wir den Sieg so gut wie in der Tasche“, meinte die Teamchefin zufrieden. „Für heute war’s das. Morgen halten wir uns frei, wir treffen uns dann am Samstag im Park.“

Währen die anderen Staffelläuferinnen zu den Garderoben im Keller des Schulgebäudes gingen, blieb Tageko noch stehen und sah an den hohen Betonklötzen vorbei in den grauen Himmel. Und seufzte.

 

Kaum dass die Schule vorbei war und die Schüler sich auf den Heimweg machten, sprang er ihr auch schon in den Weg – genauer gesagt an einer der Backsteinsäulen vorbei, die das offene Tor zum Schulgelände flankierten. Groß, sportlich, mit graugrünen Augen, aus denen eine Selbstsicherheit funkelte, auf die jeder chinesische Diktator neidisch wäre, und kurzem blondem Haar, das unter seiner weißen Wollmütze hervorspähte. Kein Zweifel, es war Renji Oyara. „Fu-mi-ko-chan!“, rief er und strahlte über das ganze Gesicht.

Fumiko senkte misstrauisch den Kopf und blieb stehen. Ihre Freundin Aiko, mit der sie sich heute zum Shoppen verabredet hatte, ebenfalls. „Was willst du?“

Renji kam sofort zur Sache. „Was hältst du davon, mit dem bestaussehendsten Typen der ganzen Schule am Samstag ins Kino zu gehen? Das Lächeln der Felsen soll echt super sein, wird dir sicher gefallen!“

Das Lächeln der Felsen war ein brandneuer Liebesfilm, der anscheinend vor Gags nur so strotzte, und hatte erst letztes Wochenende seine Premiere hinter sich gebracht. So oder so wäre er nichts für Fumiko gewesen. „Danke, kein Interesse“, sagte sie sofort, den Blick immer noch ein wenig gesenkt.

„Dann was anderes. Wir können uns auch Schlaflos in Shinjuku ansehen, wenn du willst.“ Renji gab nicht auf.

Aiko kicherte. „Ich wusste gar nicht, dass du auf so kitschige Filme stehst, Oyara-kun.“

„Ich hab dieses Wochenende schon was vor“, schwindelte Fumiko und ging weiter, doch Renji lief rückwärts vor den beiden Mädchen her.

„Von mir aus können wir auch nächste Woche gehen. Oder ich lade dich zu einem romantischen Dinner ein, was meinst du?“

Fumiko seufzte und zählte innerlich bis drei. „Hör mal, Oya–“

„Nenn mich ruhig Renji. Kein Grund, so distanziert zu tun, oder?“

„Oyara-kun“, beharrte sie. Es fiel Fumiko schon genug auf die Nerven, dass er sie ständig Fumiko-chan nannte, selbst im Beisein ihrer Freundinnen. „Ich bin eigentlich nicht an dir interessiert, also geh bitte aus dem Weg, ja?“

Renjis Lächeln entgleiste und kehrte kurz darauf übertrieben angestrengt zurück. Die Muskeln rund um seine Mundwinkel zuckten. „Aber warum denn nicht? Mit mir würdest du echt eine klasse Partie machen.“

„Danke, immer noch kein Interesse“, sagte Fumiko lauter und stapfte um ihn herum, als er schließlich die Arme senkte und stehen blieb. Er murmelte irgendetwas, das sie nicht verstand, aber sie und Aiko drehten sich nicht um, und er folgte ihnen auch nicht.

Ganz in der Nähe gab es eine Fußgängerzone, wo sich dicht an dicht die Geschäfte drängten, Second-Hand-Shops, Elektromärkte, Kioske, Büchereien, alles eben, was das Herz begehrte; davor noch Stände, die heiße Maroni und Kartoffelwedges und Glühwein und Punsch verkauften. Entsprechend belebt waren diese Gassen, und Fumiko kam es immer so vor, als bebte das Kopfsteinpflaster unter den aberhundert Füßen, die darauf herumtrampelten. Sie und Aiko warfen sich entschlossen ins Getümmel. Fumiko war für ihr Alter ziemlich zierlich und schaffte es ohne Probleme, sich zwischen die Erwachsenen in ihren Pelzmänteln und Lederjacken zu zwängen. Während sie auf ein Kleidergeschäft zusteuerte, blieb Aiko etwas hinter ihr zurück. Es war alles andere als angenehm hier; von allen Seiten wurde man geschubst und angerempelt, als wäre das hier eine riesige Open-Air-Veranstaltung, bei der die chartführende Pop-Band Japans auftrat.

Fumiko quetschte sich zwischen einem empört rufenden, dicklichen Ehepaar hindurch und schnappte nach Luft, als sie vor dem Laden angekommen war. Hier, etwas abseits des Stroms aus Menschen, kam ihr sogar die Luft frischer vor. Direkt vor dem Shop war eine freie Fläche, und sogar an den Kleiderständen drehten nur wenige Personen. Ein Wunder.

Während sie auf Aiko wartete, sah Fumiko in den Himmel. Die Wolken hatten ihren trübenden Vorhang ein wenig fallen gelassen, und in der Dämmerung zeigte sich ein wunderschöner, violett gefärbter Himmel.

Als sie den Blick wieder senkte, fiel Fumiko ein Mann in einem dicken Mantel mit hochgeschlagenem Kragen auf, der einen beängstigend großen Hund an einer Leine spazieren führte. Das Untier war schlank und sehnig  und hatte eine spitze Schnauze. Das muss einfach ein Kampfhund sein, schoss es Fumiko durch den Kopf und sie begann, sich unwohl zu fühlen, obwohl sie eigentlich nicht von sich behaupten konnte, ängstlich zu sein. Und der Kerl führt ihn sogar ohne Maulkorb durch die Fußgängerzone.

Sie wollte gerade wieder in die Menschenmenge tauchen, als sie Aikos rote Locken erblickte, die sie soeben ebenfalls entdeckte und sich zu ihr durchschob. Der Mann mit dem Hund ging direkt zwischen den Mädchen hindurch.

Fumiko hatte gehört, dass Hunde fühlen konnten, wenn Menschen Angst hatten, und sie dann schon mal als Beute ansahen. Dieser Hund schnupperte plötzlich, als würde er etwas wittern, und stupste Fumikos Schultasche mit seiner feuchten Schnauze. Als das Mädchen zurückwich, legte er die Ohren an und knurrte mit zurückgezogenen Lefzen. Es war ein hohles, kehliges Knurren. Fumiko schluckte und wich weiter zurück. Der Schweiß brach ihr aus.

„Ruhig, ruhig“, murmelte der Hundebesitzer und hielt das Tier an der Leine zurück, doch der Kampfhund schien seine Anstrengungen gar nicht zu spüren.

Fumiko stieß mit dem Rücken gegen einen der Kleiderständer, dessen Aluminiumkleiderbügel leise schepperten, und der Hund riss sich los und stürzte sich auf sie.

Mit einem Aufschrei riss Fumiko die Arme hoch, als der Hund sie mit einer Wucht ansprang, dass sie das Gleichgewicht verlor und schwer gegen den Ständer stürzte. Sie sah das geifernde Maul direkt vor sich, wie es nach ihrer Kehle zu schnappen versuchte, und ein tiefer, grollender Ton entwich ihm, der pure Feindseligkeit ausdrückte. Krachend und scheppernd ging Fumiko mitsamt dem Kleiderständer zu Boden, Shirts und Hosen flatterten vor ihrem Gesicht und ihre Tasche segelte davon, als sie auf dem Boden landete.

Knurrend und keuchend und mit blutunterlaufenen Augen versuchte der Hund an ihren Händen vorbeizuschnappen, die sie gegen seinen Brustkorb gepresst hatte. Er fühlte sich heiß, fiebrig an, und das Herz dahinter raste wie der Kolben einer Dampfmaschine. Fumiko hörte, wie Aiko schrill aufkreischte und angstvolle Bewegung in die Masse der Fußgänger kam. Der Hundebesitzer stand einfach nur da, die Hand ausgestreckt, als würde er immer noch die Leine dieses Untiers halten. „Nehmen Sie den Hund weg!“, schrie Fumiko aufgelöst. Die stumpfen Krallen der Hundepfoten schrammten über ihren Hals und ein Bein drückte schwer gegen ihren Brustkorb. Fumiko strampelte mit den Beinen, versuchte den Köter zu treten, aber sie erwischte ihn nicht, sondern verstrickte sich in dem Kleiderhaufen, der sich um sie herum gebildet hatte.

Mit fahrigen, blitzschnellen Bewegungen zuckte der braunschwarze Hundekopf an ihren Händen vorbei und – jemand oder etwas warf sich mit voller Wucht gegen den massigen, fellbedeckten Körper und riss ihn von Fumiko hinunter. Jaulend schlug der Hund einen halben Purzelbaum und kam zähnefletschend wieder auf die Beine.

Keuchend versuchte sich Fumiko aufzurappeln, aber es war gar nicht so einfach auf dem kleiderbedeckten Boden. Jemand ergriff sie am Handgelenk und zog sie in die Höhe. Zuerst dachte sie, es wäre Aiko, doch ihre Freundin stand mit vor dem Gesicht zusammengeschlagenen Händen immer noch am Rande des Geschehens. Es blieb Fumiko keine Zeit sich umzusehen, denn der Hund schlich sich knurrend in einem Bogen erneut an sein Opfer heran. Fumikos Finger wanderten unbewusst über den Arm, der ihr hochgeholfen hatte, und klammerten sich in rauen Stoff fest. Der Jemand neben ihr trat einen Schritt vor und nun sah sie ihn im Profil. Es war Kouki Nagara, ein Junge aus der Nebenklasse, den sie vor dem Sommercamp nur flüchtig gekannt hatte

„Verdammt nochmal, rufen Sie endlich ihren Hund zurück!“, rief er aufgelöst. Er atmete schwer und in seinen Augen flackerte eine beunruhigende Mischung aus Mut und Angst. Sein wirres braunes Haar schien heute noch mehr abzustehen als üblich. Er hielt Fumikos Handgelenk so stark umklammert, als bräuchte er selbst etwas, woran er sich festhalten konnte. Er hatte mehr Angst als sie selbst, fiel Fumiko auf, die sich seltsam betäubt fühlte.

Der Hundebesitzer erwachte endlich aus seiner Starre, machte ein paar Schritte auf seinen Köter zu und packte die Leine. „Aus jetzt, brav, brav“, murmelte er beruhigend und zerrte seinen Hund mit erstaunlicher Kraft zurück. Der Hund bleckte noch einmal die Zähne und ließ dann von Fumiko und Kouki ab. Knurrend folgte er dem Mann, der sich wortlos mehrmals verbeugte und sich rückwärts in der Nähe der Hauswand in die nächste Seitengasse verdrückte. Fumiko fehlte plötzlich sogar die Kraft, über ihn den Kopf zu schütteln.

Kouki ließ sie los. „Alles in Ordnung?“ Er wirkte immer noch außer Atem.

„Glaub … schon“, murmelte sie. Sie zitterte, fiel ihr auf, und ihre Hände waren eiskalt, kälter, als sie sein sollten.

„Fumiko!“ Aiko warf sich ihr weinend um den Hals, während sie selbst sich seltsam abwesend fühlte und nicht einmal auf die Idee kam, die Umarmung zu erwidern.

Kouki schüttelte den Kopf, während er in die Richtung sah, in der der Mann mit dem Hund verschwunden war. „Was hast du denn mit dem Vieh gemacht? Bist du ihm auf den Schwanz getreten?“

Sie schüttelte stumm den Kopf. „Gar nichts“, murmelte sie und fühlte sich heiser. „Er hat mich wohl einfach … nicht riechen können.“

„Der Kerl spinnt ja wohl!“, rief Aiko aus und schniefte. Ihre Augen waren fast so sehr gerötet wie ihre Wangen und passten sich somit ihrer Haarfarbe an. „Man sollte den einsperren!“

Fumiko versuchte ein Lächeln. „Es war sein Hund, der mich angefallen hat, nicht er.“

„Trotzdem“, sagte Kouki bestimmt. „Man sollte seinen Hund immer im Griff haben. Wenn das Herrchen gut ist, ist der Hund auch gut.“ Er warf den beiden Mädchen noch einen Blick zu. „Kommt ihr beiden klar? Ich hab’s nämlich eigentlich … ähm … eilig.“

„Äh, ja, klar“, murmelte Fumiko. „Vielen Dank.“

„Keine Ursache.“ Kouki vergewisserte sich mit einem letzten Blick, dass Fumiko nicht verletzt war, dann drängte er sich durch die Menschenmenge, durch die ein erleichtertes Aufatmen gegangen und die tatsächlich für einen Moment ins Stocken gekommen war. Einige Leute kamen noch auf Fumiko und Aiko zu, erkundigten sich nach ihrem Wohlbefinden oder schimpften über diesen unverantwortlichen Hundebesitzer. Auch eine Verkäuferin aus dem Klamottenladen kam herausgelaufen. Fumiko hörte ein paar Kinder davon reden, wie cool sie Kouki doch gefunden hätten, als er sich todesmutig dieser wilden Bestie entgegengeworfen hatte. Bei diesen Worten presste sie sich die Hand aufs Herz. Wenn er nicht zufällig erschienen wäre … wäre sie jetzt tot? Sicher hätte ihr jemand anders geholfen, aber wäre diese Hilfe dann auch rechtzeitig gekommen?

„Oh, du hast was verloren“, sagte Aiko und hob ihr Federpennal auf, das am Boden neben dem umgerissenen Kleiderständer lag. Fumiko hatte es zuoberst in ihre Schultasche gepackt gehabt, jetzt sah sie, dass die Lasche aufgegangen war. Als sie die Schachtel wieder in die Tasche stopfte, fiel ihr etwas auf.

„Was ist das?“ Sie zog etwas heraus, das wie ein Handy aussah, klein und kompakt, zusammengeklappt. Es war von einem reinen Weiß, das im schwindenden Licht blitzte, und dunkelblau eingerahmt. Hatte sie versehentlich das Handy von jemand anderem eingepackt? „Hast du das schon mal gesehen, Aiko?“, fragte sie.

„Was meinst du? Ist es nicht deins?“

Fumiko schüttelte den Kopf. „Ich hab’s zumindest noch nie gesehen.“

„Vielleicht gehört es Mikan?“

„Möglich.“ Sie zuckte mit den Schultern. Mikan war Fumikos Sitznachbarin und ziemlich schusselig.

„Du kannst es ihr ja morgen wiedergeben.“ Aiko bückte sich, um der Verkäuferin dabei zu helfen, die Kleiderbügel wieder aufzuhängen – die meisten Klamotten waren von ihrem Kurzurlaub auf dem feuchten Pflasterboden schmutzig geworden und die Frau sortierte sie gerade aus –, wurde aber von ihr gebeten, sich nicht zu bemühen. Unschlüssig, aber auch ein wenig sehnsüchtig blickte Aiko in das Geschäft, das einladend erhellt war. „Willst du immer noch shoppen?“

Fumiko überlegte. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. Sie hielt nicht allzu viel von den überlangen Klamotten-Shoppingtouren, die Aiko so begeisterten, aber ein wenig Abwechslung tat ihr jetzt sicher gut. Und auf dem Heimweg würden sie sich dann einen heißen Tee oder etwas in der Art holen. „Warum nicht?“

 

Die Fußgängerzone war eine Abkürzung zu Koukis Haus, ansonsten wäre er gar nicht erst zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Gut gelaunt schlenderte er den Rest des Weges zu seinem Haus. Er fühlte sich wie ein Held, und da ihn nach der Sache in der Schule heute sowieso das Gewissen geplagt hatte, nicht geholfen zu haben, konnte er sich nun damit brüsten, einem Mädchen in Not – in Lebensgefahr, so wie er das sah! – geholfen zu haben. Die kleine Fumiko war zwar nicht wirklich sein Typ, aber er konnte nicht leugnen, dass er es genossen hatte, wie sie sich an seinen Arm geklammert hatte. Er war der Prinz auf dem weißen Schimmel gewesen, oh ja.

Bester Stimmung schloss er die Tür des kleinen Hauses in dieser unbedeutenden Nebengasse auf, entschlossen, die unschöne Begegnung mit diesem tollwütigen Hund mit der eines viel niedlicheren, kreuzbraven Welpen zu kompensieren. „Bin wieder da!“, rief er, während er in die Wohnung trat und aus seinen Schuhen schlüpfte.

Als er seine kleine Schwester auf dem Sofa sitzen sah, ein Kissen umarmend, wusste er, dass etwas nicht stimmte, und als er ihre rot verweinten Augen entdeckte, machte sich ein flaues Gefühl in seiner Magengegend breit. „Was ist los?“, fragte er, seine Stimme klang für ihn selbst ungewohnt rau.

Die kleine Aya sah ihn nur an, schluchzte dann und brach in Tränen aus. Kouki trat zögerlich auf sie zu. „Was ist passiert, Schwesterherz?“

„Yu-Yuki“, brachte die Fünfjährige unter Tränen hervor.

„Was? Was ist mit Yuki?“ Er war kurz versucht, seine Schwester an der Schulter zu packen und die ganze Geschichte aus ihr herauszuschütteln. „Jetzt red schon!“ Er hörte ihre Schritte, als seine Mutter aus der Küche kam. Sie schwieg. „Was ist passiert? Mama!“

Seine Mutter wich seinem Blick aus, als sie traurig sagte: „Yuki ist tot, Kouki. Es tut mir leid.“

„Nein.“ Kouki fühlte, wie seine Beine butterweich wurden. Er taumelte. „Wie … wie kann das sein?“ Er sah noch das kleine, strahlend weiße Gesicht vor sich und meinte die raue Zunge zu spüren, die über seine Wange leckte. Tot? Niemals … sie logen ihn an …

„Er ist vor ein Auto gelaufen“, fuhr seine Mutter leise fort. „Wir wollten dir den Anblick ersparen, also haben wir ihn begraben.“

Er hatte ihn nicht einmal ein letztes Mal zu Gesicht bekommen … heute Morgen hatte Yuki ihm zum Abschied noch hinterher gebellt … „Verdammt!“ Kouki ballte die Fäuste und spürte Tränen in seine Augen steigen. „Hat dieser verdammte Fahrer nicht besser aufpassen können?“, schrie er wütend.

„Es war nicht seine Schuld, Kouki“, sagte seine Mutter beschwichtigend, aber er stürmte schon aus dem Haus in den Garten. Unter dem Apfelbaum fand er den kleinen Erdhügel, auf den sie ein kleines, hölzernes Kreuz gesteckt hatten.

Seine Mutter trat von hinten an ihn heran und legte ihm die Hände auf die Schultern. Kouki stand nur da und merkte beiläufig, dass es zu schneien begonnen hatte. Er hielt eine Hand auf und fing eine Schneeflocke. Was für eine Ironie …, dachte er. Es schneit, und sein Name war Yuki.

Seine Füße wurden langsam kalt, er spürte, wie die feuchte Erde sich an seine Socken klebte und sich Nässe in den Stoff saugte. „Gehen wir wieder rein“, sagte seine Mutter. Schweigend folgte er ihr nach drinnen, ging ohne ein Wort zu seinem Zimmer, das er von der Küche aus erreichen konnte. Dass er dabei die Dielen beschmutzte, war ihm gleich. In seinem Zimmer angelangt, drehte er den Schlüssel um, warf seine Schultasche achtlos in die Ecke und schmiss sich aufs Bett. Er vergrub das Gesicht in seinem Kissen und ließ seinen Tränen freien Lauf.


Nachwort zu diesem Kapitel:
... und das war das erste Kapitel. Ich hoffe, es hat euch soweit gefallen und bin gespannt, wie ihr die neuen DigiRitter bisher findet :)
Bis zum nächsten Mal!
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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: ShioChan
2016-09-22T08:41:51+00:00 22.09.2016 10:41
Also ich bin jetzt schon ziemlich begeistert von dieser FF. Und auch ein großes Lob an das tolle Opening. Das ist wirklich toll. ^^
Wirklich traurig was am Ende passiert ist. T___T
Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt, wie es weiter geht. Ich werde die ff jedenfalls weiter mitverfolgen. *__*
Antwort von:  UrrSharrador
23.09.2016 10:30
Hi, danke für deinen Kommentar! Freut mich, dass dir die FF (und das Opening^^) gefallen :) Ich geb mir Mühe, das nächste Kapitel noch dieses Wochenende hochzuladen!
lg
Von:  EL-CK
2016-09-18T09:18:36+00:00 18.09.2016 11:18
Nja bis jetzt sind mir die "Neuen" doch noch recht sympathisch. ... ;)
Antwort von:  UrrSharrador
20.09.2016 09:52
danke für deine Kommis ;)


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