This Great And Little Gift von Arianrhod- ([NaLu | Lucy vs. Jude]) ================================================================================ 17. Kapitel, in dem sich das Leben wieder einpendelt ---------------------------------------------------- Lucy steckte den Kopf durch die Zimmertür, die Hand noch auf der Klinke. „Hey, Natsu, ich gehe dann mit Erza in die Stadt.“ Natsu schreckte von seinem Platz am Schreibtisch zu und klappte ertappt das Buch zu, das vor ihm auf der Tischplatte lag, als wollte er so tun, als hätte er sich nicht gerade damit beschäftigt. Seine Haare waren noch wirrer als sonst und zwischen den Brauen hatte er noch eine steile Falte, als ob er gar nicht bemerken würde, dass er die Stirn runzelte. Das war das Mathebuch, erkannte Lucy und dann fuhr ihr wie seltsam durch den Kopf. Außerhalb von den Hausaufgaben beschäftigte er sich nie mit irgendwelchen schulischen Themen. Dass er auch noch so schuldbewusst aussah, als hätte sie ihn mit der Hand in der sprichwörtlichen Keksdose erwischt, half nicht gerade. „Äh…“, machte er abgelenkt. „Ja. Viel Spaß…“ Seine Stimme verklang und er winkte kurz in ihre Richtung, als hätte er ihr überhaupt nicht richtig zugehört. Das war jetzt wirklich besorgniserregend…! Schon seit zwei, drei Wochen verhielt Natsu sich so. Meistens war er sein völlig normales, sorgloses Selbst, aber manchmal war es ihr, als würde er sich den Kopf über etwas zerbrechen, das ihn stark belastete und er ihr nicht anvertraute – aber leider auch niemand anderem sonst. Sie trat ins Zimmer. „Natsu, ist was passiert?“ Jetzt war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Gespräch, aber die Gelegenheit war so günstig wie nie. „Hä? Nein, ganz und gar nicht, alles okay!“, war die forsche Antwort und er wirkte plötzlich viel aufmerksamer. „Habt ihr irgendetwas bestimmtes vor?“ „Äh…“ Jetzt war es an Lucy zu stottern. Sie blickte an sich herunter, auf ihren Pullover, der schon mächtig über ihrem Bauch spannte, und sie dachte an die Tatsache, dass ihre Hosen ihr schon eine Weile nicht mehr richtig passten und sie sie nicht mehr schließen konnte. Irgendwie hatte es doch geklappt, aber jetzt war sie am Ende jeglicher Toleranz angekommen. Es war jetzt wirklich an der Zeit für neue Kleider, aber zwei Dinge hatten sie davon abgehalten. Erstens war da ihr Stolz. Sie wusste selbst nur zu gut, dass sie etwas eitel war, und ihre zierliche und gleichzeitig kurvige Figur war immer etwas gewesen, für das sie viele Komplimente eingefahren hatte. Jetzt änderte sich das rasant und sie konnte noch nicht einmal was dagegen tun. Natürlich war ihr klar, dass neue Kleider wegen einer Schwangerschaft etwas anderes waren als neue Kleider deswegen, weil sie schlichtweg zunahm. Trotzdem… Sie kam nicht umhin, es als eine Niederlage wahrzunehmen. Nur gegen wen, das wusste sie nicht genau. Vielleicht sich selbst? Und zweitens war da noch ein anderes Thema und das war das liebe Geld. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich darum Gedanken machen müssen und das Gefühl, zu Igneel zu gehen und ihn darum zu bitten, war nichts anderes als erniedrigend, darum hatte sie es einfach nicht über sich gebracht. Schließlich war er es selbst gewesen, der sie darauf angesprochen hatte und er hatte auch sein Bestes getan, um die Situation so wenig unangenehm wie möglich zu machen. Doch das hatte nicht viel geholfen. Trotzdem war ihr schon eine Weile klar gewesen, dass der Tag kommen musste, und dann war am letzten Dienstag auch noch der Knopf ihrer weitesten Hose abgerissen. Spätestens dann hatte sie der Tatsache ins Auge sehen müssen, dass es so nicht weiterging. Trotzdem hatte sie über die Woche alle Versuche, die Sache anzugehen, wieder abgebrochen. Igneel hatte ihr versichert, dass es ihm nichts ausmachte, dass sie zu ihm kommen könnte, wenn sie etwas brauchte, und hatte ihr auch gleich ein paar Scheine in die Hand gedrückt. Trotzdem hatte sie es kaum über sich gebracht, mit ihm überhaupt über dieses Thema zu sprechen, und das Gefühl, das sie begleitet hatte, saß ihr noch immer im Magen, schwer und hart. Vielleicht sollte sie sich einen Nebenjob suchen. Aber sie wusste, dass das sinnlos war. In ihrem Zustand würde vermutlich niemand mehr sie einstellen und außerdem müsste sie den Job in ein paar Wochen sowieso wieder einstellen. So lange war es nicht mehr hin bis zur Geburt. Aber vielleicht konnte sie etwas in der Werkstatt tun…? „Lucy?“, riss Natsus Stimme sie in die Gegenwart zurück und sie schreckte aus ihren Gedanken aus, während sie fühlte, wie Blut in ihr Gesicht schoss. „Wir wollen nur ein paar Kleider kaufen.“ „Oh, okay. Viel Spaß!“ Er versuchte fröhlich zu klingen, aber trotzdem konnte sie ihm ansehen, dass da etwas nicht stimmte. „Ist etwas mit dir…?“, wollte sie vorsichtig wissen und ihr Blick senkte sich wieder auf das Mathebuch, das er jetzt nahm und auf den Stapel seiner Schulsachen fallen ließ. „Nein, nein, ich hab nur was nachgesehen, alles klar!“, wehrte er etwas zu forsch ab und stand auf. „Ich schau mal, was Pa so macht.“ Sie runzelte die Stirn und stemmte die Hände in die Hüften. „Natsu, wenn dich etwas bedrückt, da-“ „Was sollte mich bedrücken?“, unterbrach er sie gröber als er vermutlich gewollt hatte. „Geh schon, Erza wartet nicht gerne, du weißt doch, wie sie ist.“ „Lucy, kommst du?“, drang Erzas Stimme durch den Gang zu ihr herüber und sie seufzte. „Ich komme gleich!“, rief sie über ihre Schulter zurück und fasste ihren Freund noch einmal ins Auge. Der würde jetzt eh nicht mit der Sprache herausrücken, dafür brauchte sie mehr Ruhe. „In Ordnung, ich lass das jetzt mal darauf beruhen. Aber wir reden noch darüber!“ Sie wandte sich um und ging durch den Flur hinunter zur Haustür. Ihr fiel auf, dass er ihr nicht folgte, sondern nur die Tür hinter ihr wieder schloss. Besorgt, weil etwas im Busch war, und traurig, da er sie nicht mit einbezog, schlüpfte sie in ihre Stiefel und die Jacke. Diese wurde ihr ebenfalls langsam zu eng und ließ sich schon eine Weile nicht mehr schließen, was bei den fallenden Temperaturen natürlich sehr unpraktisch war. Erza stand vor der Tür und wippte aufgeregt auf ihren Füßen. Sie trug einen eleganten, violetten Mantel, unter dem der Rock verschwand, und hohe Stiefel. Die roten Haare steckten unter einer gestrickten, blauen Baskenmütze mit Schleife an der Seite. Neben ihr kam Lucy sich noch schäbiger vor in ihrer Kleidung, die ihr nicht mehr passte. „Okay, bereit?“, fragte ihre Freundin und hakte sich bei ihr unter, um sie aus dem Haus zu ziehen. Lucy hatte kaum mehr Zeit, ihre Handtasche zu schnappen. Auf der Fahrt in die Innenstadt kramte sie ihren Einkaufszettel hervor. „Ich braue ein Paar Hosen und einige Pullover.“, erklärte sie. „Und T-Shirts. Vielleicht ein Kleid oder so.“ Erza nickte und wollte wissen: „Was ist mit einer Jacke?“ Sie warf einen vielsagenden Blick auf Lucys Mantel. Die wurde rot. „Oh… Sowas auch…“ Das wurde ja immer mehr! Reichte dafür das Geld überhaupt, dass Igneel ihr mitgegeben hatte? Sie hatte gelesen, dass Umstandsmode mehr kostete als normale Sachen. Zudem würde sie das alles nur für kurze Zeit tragen können, das lohnte sich eigentlich kaum. Aber darum herum kam sie einfach nicht. Sie hätte schon danach schauen sollen, als sie noch Zugang zu ihrem Konto gehabt hatte, aber zu dieser Zeit war das eines der vielen Dinge gewesen, die einfach untergegangen waren. Sie stellten Erzas altes Auto im Parkhaus ab und bummelten plaudernd die wenigen Meter in die Einkaufspassage. Wie früher hatte sie keinen eigenen Wagen – sie war nicht einmal dazu gekommen den auszufahren, den Jude ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie war auch nicht so vermessen es mitzunehmen, nachdem sie ausgezogen war, obwohl ihr Name auf dem Fahrzeugbrief stand. Zum Glück hatte sie Übung darin, mit Hilfe von Bus, S-Bahn und ihren Freunden überall hinzukommen, wo sie sein musste. Jetzt wanderte sie automatisch zu den Boutiquen hinüber, in denen sie gewohnt war, ihre Kleider zu kaufen. Erst, als sie davorstand und sehnsüchtig einen süßen Rock im Schaufenster betrachtete, fiel ihr auf, dass sie hier nicht mehr so bald shoppen gehen würde. Nicht nur, dass dieser Rock ihr mit ihrem Bauch eh nicht passen würde, er überstieg auch ihr komplettes Budget. „Richtig.“, murmelte sie errötend und wandte sich ab. Erza war so freundlich, nicht auf ihren Fauxpas einzugehen, sondern lenkte sie auf das große Gebäude von G&I zu, eine Kette von Kleidergeschäften, in denen man billig relativ gute Stücke bekam und in denen der normale Mensch seine Garderobe so herbekam. „Ich habe Grandine am Montag besucht.“, versuchte Lucy sich von der Tatsache abzuwenden, dass es sich wie eine Demütigung anfühlte, hier einkaufen zu müssen. Dabei hatte es sie nie wirklich interessiert, wo ihre Kleider herkamen, und sie blickte auch nicht auf Leute hinunter, sich nichts Besseres leisten konnten. Zumindest hatte sie das gedacht. Aber warum fühlte es sich jetzt doch so beschämend an? Erza war das beste Beispiel, dass man auch in diesen Kleidern eine gute Figur abgeben konnte, sogar mehr als das. Vielleicht, überlegte sie, war es, weil sie es einfach nicht gewohnt war. Weil es ein sehr großer Schritt nach unten war und nicht das, was für sie Normalität darstellte. Ihr Vater würde es ihr bestimmt vorhalten und sie süffisant fragen Na? So weit geht es also mit deinem Entschluss, ein einfaches Leben zu führen? Schon genug? Sie verzog verbittert den Mund, aber so leicht würde sie sich nicht unterkriegen lassen. Dann ging sie halt bei G&I einkaufen, was war schon dabei?! „Wie geht es ihr?“, wollte die Rothaarige wissen. „Sie ist in Mutterschutz, richtig? Wann kriegt sie denn ihr Baby?“ „Eigentlich sollte es schon da sein, der Geburtstermin war letzte Woche. Grandine grummelt etwas vor sich hin, aber sie sieht auch so aus, als würde sie jeden Moment platzen.“ Lucy kicherte. Dann räusperte sie sich und versuchte, wieder ernst zu werden. Das kam auch alles noch auf sie zu. „Tatsächlich hat mir das klargemacht, dass ich jetzt doch dringend neue Kleider brauche.“ „Wurde aber auch Zeit.“, neckte Erza sie, doch statt sie über den schlechten Sitz ihres Pullovers aufmerksam zu machen oder die Tatsache, dass ihre Jacke nicht mehr zuging, erklärte die Rothaarige: „Ich warte schon die ganze Zeit gewartet, mit dir neue Kleider auszusuchen!“ Ihre Stimme nahm einen leicht quietschenden Tonfall an und sie beschleunigte ihre Schritte. Lucy beinahe grob durch die Schwingtüren schiebend steuerte sie sofort in eine bestimmte Richtung. Anscheinend wusste sie genau, wo die Abteilung mit der Umstandsmode war. Lucy schüttelte lächelnd den Kopf über das Gebaren ihrer Freundin. Das hätte sie sich denken können! Kurz darauf standen sie im Obergeschoss in einem im Hintergrund gelegenen Bereich und schauten durch die dort hängenden Kleider. Erza ging die Sache mit ihrem üblichen Enthusiasmus an, aber Lucy war eher gehemmt. Immer wieder warf sie einen Blick auf die Preise, die ihr trotz allem noch zu hoch vorkamen. Wie sollte sie das bloß überleben? „Hier, schau mal!“ Erza war so unvermittelt neben ihr aufgetaucht, dass sie in erschrockenes Quieken ausstieß. „Erschreck mich doch nicht so!“, schimpfte sie, doch ihre Freundin ging nicht einmal darauf ein, sondern hielt ihr einen Parka unter die Nase. „Der ist doch toll, oder?!“ Er war dunkelblau und hatte einen Pelzbesatz an der Kapuze. Vorne waren zwei große Taschen aufgenäht und er sah trotz des einfachen Schnitts sehr elegant aus. Lucy nahm ihn entgegen. „Der gefällt mir.“, erklärte sie und schlüpfte hinein. Erza hielt währenddessen ihre Jacke und grinste. „Man kann einen Einsatz dranmachen, in dem man das Baby unterbringen kann.“, erklärte sie und fummelte einen Pappanhänger mit Bildern aus der Jackentasche, während Lucy mit dem Reißverschluss kämpfte. „Schau, so. Auf diese Weise kann man ihn auch noch gut nach der Schwangerschaft anziehen!“ Das war wirklich praktisch, musste auch Lucy zugeben. Und allein der Gedanke, ihren kleinen Sohn auf diese Weise bei sich zu tragen, erfüllte sie mit einem warmen Gefühl. Doch dann fiel ihr Blick auf das Preisschild, das direkt daneben angebracht war, und sie wurde blass. „Das kann ich mir nicht leisten.“, bestimmte sie und wollte den Parka schon wieder ausziehen. „Das ist die Hälfte von meinem Budget! Mit was soll ich all die anderen Sachen kaufen?“ „Papperlapapp!“, wehrte Erza ab und zog ihren Reißverschluss mit einer Bewegung hoch. Er glitt wunderbar über ihren dicken Bauch und spannte auch gar nicht, es war sogar noch Luft. Lucy hatte beinahe vergessen wie es war, passende Klamotten zu tragen. „Der ist wirklich toll.“, gestand sie bedauerlich und ging zum nächsten Spiegel hinüber. Der Parka war warm und sah wirklich gut aus. Vielleicht ein wenig anders als ihr üblicher Stil, aber das mochte daran liegen, dass sie eigentlich Designerkleidung trug und nichts von der Stange. Aber das würde sich jetzt ändern. Vielleicht konnte sie einige ihrer Stücke auf Ebay verkaufen und mit Billigerem ersetzen, ein paar davon brachten sicher noch was! Sie ging ja auch sorgsam mit ihren Kleidern um und früher hatte sie so viel gehabt, dass sie vieles nur selten getragen hatte. Dann würde sie Igneel auch nicht so auf der Tasche liegen. Sie knöpfte den Mantel bis zum Hals zu und zog zögerlich die Kapuze über den Kopf. Am liebsten würde sie ihn mitnehmen. Vor drei Monaten hätte sie noch keine Sekunde gezögert. Aber jetzt hatte sich ihre Situation so grundlegend verändert und ihr wurde dieser Aspekt ihrer Entscheidung wohl erst jetzt so richtig klar. In den letzten Wochen hatte sie nicht viel benötigt – Essen und sonstige Notwendigkeiten hatte sie immer für drei gekauft, wenn sie in den Supermarkt oder die Drogerie gefahren war (was in letzter Zeit beinahe nur noch sie übernahm), fehlende Schulsachen für sie hatte Natsu einfach ihr mitgebracht, als er seine eigenen besorgt hatte, und die Dinge für das Babyzimmer sowie den Kinderwagen hatte ebenfalls nicht sie bezahlt. Selbst die Farben für das Wandgemälde, das schon gut voranschritt, hatte Igneel bei einem seiner Trips zum Baumarkt mitgebracht. Aber jetzt stand sie hier in diesem Verkaufsraum und suchte sich etwas aus, das nur für sie selbst war, auch wenn es etwas durchaus Notwendiges war, und zögerte. Als sie ihre Verbindung zu Jude gekappt hatte, war ihr einfach nicht klar gewesen, was das alles für Folgen haben würde. Oh, sie hatte geglaubt, sie hätte an alles gedacht, alles abgewogen und richtig eingeschätzt, um zu einem zumindest halbwegs realistischen Ergebnis zu kommen. Aber die Wirklichkeit war immer härter als die Vorstellung und die Realität hatte so ihre Art, Pläne durcheinander zu bringen. „Ich weiß was.“, erklärte Erza und legte ihr die Hände auf die Schultern. Ihre Augen fanden Lucys im Spiegel und sie lächelte aufmunternd. „Du nimmst jetzt diese mit. Die ist praktisch und ihr Geld wert und du wirst sie auch noch nach der Geburt benutzen können. Und für den Rest der Sachen besuchen wir die Second-Hand-Läden drüben hinter der Kathedrale. Was sagst du?“ Lucy holte tief Luft. Ein Second-Hand-Geschäft? Das war etwas ganz Neues für sie, denn ihr Vater hätte sie nicht zugelassen, dass man sie tot in Kleidern aus zweiter Hand aufgefunden hätte. Aber warum nicht! Jude konnte sie mal! War es nicht gerade sowieso in, in solchen Läden einzukaufen? „Lass uns das so machen.“, beschloss sie. ~~*~~❀~~*~~ Mit ihrem vorbereiteten Geschenkkorb im Arm wanderte Lucy die Straße hinunter. Es war eine schicke Gegend, voll mit modernen Einfamilienhäusern, die kleinen Villen ähnelten, mit Vorgärten, teuren Autos in den Einfahrten und großen Grundstücken hinten raus. Neureich nannte man die Leute hier in Lucys ehemaligen Kreisen abfällig, aber tatsächlich lebte hier die gehobene Mittelschicht – Besitzer von kleinen, aber gutgehenden Firmen, höhere Studierte wie Anwälte, freischaffende Architekten und eben Ärzte wie Grandine. Diese wohnte mit ihrem Mann in einem sehr kantigen Gebäude, dessen gesamtes Dach eine Terrasse war und das Lucy überhaupt nicht gefiel. Aber das war dieser ganze eckige Stil mit seinen geraden Linien und modernen Formen. Das war einfach nicht ihr Ding. Vielleicht lag es daran, dass sie in einer wirklich grandiosen Villa aufgewachsen war, die bereits vierhundert Jahre auf dem Buckel hatte. Vielleicht war es einfach ihr Auge für Schönheit und Kunst, das sich so gar nicht auf diese Bauklotzformen einstellen wollte, die gerade so in waren. Das einzige attraktive Charakteristikum des Hauses war der Garten, der im Frühling und Sommer wild und wuchernd sein musste und selbst jetzt noch sehr schön. Gewollt ungezähmt, mit der halb versteckten Statue eines Drachen unter einem Apfelbaum mit tief hängenden Ästen, einem Zaun aus Schwemmholz und einem Touch von Bauerngarten. Er wollte so gar nicht zum Haus passen und Lucy unterdrückte ein Schmunzeln, als sie über den gekiesten Weg zur Haustür hinunterlief. Sie musste zweimal klingeln, obwohl sie wirklich lange genug wartete mit dem Gedanken daran, dass sie kein Baby aufwecken wollte. Grandine öffnete ihr, das lange weiße Haar in einem unordentlichen Zopf über ihre Schulter hängend. Sie lächelte herzlich, als sie Lucy erkannte, und trat zurück, um sie einzulassen. Unter einer langen Strickjacke trug sie nur einen einfachen Pullover sowie eine Jogginghose und sie wirkte noch etwas erschöpft. Aber kein Wunder, wenn man erst vor wenigen Tagen entbunden hatte. Denn während Lucy mit Erza einkaufen gegangen war, war Grandines kleine Tochter auf die Welt gekommen. Allerdings schien sie gleichzeitig zu strahlen, das Lächeln wollte nicht aus ihrem Gesicht weichen und ihre Augen leuchteten. Ihr ging es offensichtlich mehr als nur gut. Vermutlich konnte das Leben für sie gerade nicht besser sein. „Hey, schön dich zu sehen.“, begrüßte die junge Mutter sie und die beiden umarmten sich kurz. „Wie geht es dir?“, wollte Lucy wissen, während sie ihren neuen Parka auszog und dann die Stiefel von den Füßen streifte. „Gut, den Umständen entsprechend.“, antwortete die Ärztin mit einem Lächeln. „Komm doch rein.“ Sie führte ihren jungen Gast durch eine Tür in einen großen Wohnraum. Durch eine regelrechte Fensterfront, die hinten hinausführte, flutete die Sonne ihn mit Licht. Auf der rechten Seite befand sich eine hochwertige Küche mit Kochinsel, davor war ein Tisch mit hochlehnigen Stühlen für acht Personen aufgestellt. In der anderen Richtung befand sich eine großzügige, rotgemusterte Sitzgruppe. Der Wohnzimmerlook auf dieser Seite wurde vervollständigt durch ein Regal voller Musik und Filme, in dem sich auch ein großer Fernseher und diverse dazugehörige Geräte befanden. Das war das einzige, was Lucy diesen modernen Häusern abgewinnen konnte – die großen, offenen Räume, die Fenster, die viel Licht hereinließen und einen schönen Blick über den Garten boten, und der Versuch, im Inneren alles so licht wie möglich zu gestalten. Direkt vor den großen Fenstern stand eine hölzerne Wiege auf einem flauschigen Teppich und Lucys Aufmerksamkeit wurde sofort auf sie gelenkt. „Darf ich sie sehen?“, wollte sie sofort aufgeregt wissen und stellte ihren Korb auf die Seite. Dafür war nachher noch genug Zeit. „Oder schläft sie im Moment? Ich wollte sie mit der Klingelei nicht wecken.“ „Vorhin war sie noch wach, also keine Sorge.“, winkte Grandine ab. Gemeinsam traten sie zu der weiß gestrichenen Wiege hinüber und Lucy spähte hinein. Zugedeckt mit einer blauen Decke, auf die kleine, weiße Kätzchen aufgedruckt waren, lag sie, Grandines kleine, nigelnagelneue Tochter. Sie war noch so winzig, dass Lucy unwillkürlich ein entzückter Laut entschlüpfte. Aber sie war ja auch erst vier Tage alt. Sie hatte einen feinen Schopf dunkelblauer Haare und große, echt babyblaue Augen, die diese Farbe vermutlich nicht behalten würden. Außerdem war sie sehr still, guckte nur in der Gegend herum, als wollte sie alles aufnehmen, was um sie herum geschah, all das Neue und Aufregende, nur um auch ja nichts zu verpassen. Und dann lachte sie und wedelte mit ihrem kleinen Ärmchen in der Luft herum. Vielleicht hatte sie ihre Mutter erkannt, die ihr jetzt einen Finger zum Halten hinhielt? In Grandines Augen konnte man deutlich Stolz erkennen. „Wie heißt sie?“, wollte Lucy wissen und streichelte vorsichtig das kleine Köpfchen. Der Flaum war ganz weich und fein und sie seufzte hingerissen. Für einen Moment konnte sie es kaum erwarten, ihren eigenen Sohn im Arm zu halten. Ein paar wenige Monate musste sie sich allerdings noch gedulden, also konzentrierte sie sich wieder auf das Baby, das bereits da war. „Wendy.“, antwortete Grandine mit einem weiteren Lächeln und löste ihren Finger vorsichtig, um das winzige Mädchen aus der Wiege zu nehmen. „Willst du sie mal halten?“ „Gerne!“, stimme Lucy sofort zu und ließ sich von Grandine erklären, wie sie das am besten anfing. Auf das Köpfchen achten! war natürlich stets die erste Devise, doch so einfach war der Rest auch nicht und sie wollte die Kleine auf keinen Fall fallen lassen. Wendy ließ alles still und schweigend mit sich machen und blickte mit großen Augen nach oben, während Lucy sie sanft wiegte. „Sie ist so süß.“, stellte sie fest und lächelte zu dem kleinen Mädchen hinunter. Dessen Aufmerksamkeit war inzwischen von den blonden Haaren angezogen worden, die auf seinen Strampler gefallen waren, und sie griff danach, um daran zu ziehen. Sie war zu schwach, als dass es wehtun würde, also grinste Lucy nur. „Wer ist das süßeste Baby auf der Welt? Ja, du bist das.“, gurrte sie und Grandine lachte. „Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem der da sich entschließt, auf die Welt zu kommen.“, scherzte sie und deutete auf Lucys Bauch. „Ich bin überzeugt, so geht das jeder Mutter. Aber bei dir läuft alles wie es soll?“ Ihr Ton wechselte ins leicht Besorgte. Lucy schmunzelte. „Du kannst aufhören, mich das jedes Mal zu fragen, wenn wir uns treffen. Ich sage dir schon bescheid, wenn etwas nicht stimmt.“ Grandines Wangen färbten sich rot, was bei ihrer blassen Haut besonders deutlich hervorstach. „Scheint, als würde ich nie verlernen, Ärztin zu sein.“ Lucy blickte von Wendys kleinem Gesicht auf. „Vermisst du deinen Job?“, wollte sie wissen. Für sie würde das anders sein, da sie ja noch nicht einmal gearbeitet hatte. Apropos, sie musste jetzt wirklich mal anfangen, sich Gedanken um die Zuschüsse zu machen, die sie als junge Mutter bekommen konnte. Zumindest das würde ihr etwas helfen und ihr stand sicher etwas zu, so als Schülerin. „Ein wenig schon, aber im Moment kann ich mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu sein als bei diesem kleinen Schatz hier.“ Vorsichtig nahm Grandine ihre Tochter aus Lucys Armen. Das Baby schmiegte sich sofort an die vertraute Schulter, schloss die Augen und schien gleich einzuschlafen. „Sie ist sehr still.“, stellte Lucy fest und schnappte ihren Korb, ehe sie Grandine hinüber zum Esstisch folgte. „Ja, da haben wir echt Glück gehabt. Wobei sie ja schreien kann wie ein Weltmeister, wenn sie etwas will.“ Die Weißhaarige schmunzelte. „Aber meistens ist sie zufrieden. Ich bin gespannt, wie lange das anhält. Willst du etwas trinken? Saft? Wasser? Tee? Ich habe gerade einen aufgesetzt.“ „Gerne, danke!“ Lucy stellte ihren Korb auf dem Tisch ab, während die Ärztin eine zweite Tasse neben die stellte, die bereits auf der Kochinsel stand. „Hier, ich habe dir etwas mitgebracht. Du willst gar nicht wissen, wie lange das schon bei mir herumsteht.“ Grandine lächelte und drückte sie mit einem Arm an sich. „Danke. Ich hoffe, du hast dich dafür nicht zu sehr in Unkosten gestürzt.“ Lucy wurde rot. Anscheinend war auch hier niemandem nicht entgangen, wie es um sie und das liebe Geld stand. „Nein, sicher nicht.“, haspelte sie. „Wie gesagt, das habe ich schon vor einer Weile besorgt. Ich hoffe, es gefällt dir.“ Nachdem Grandine den Tee eingeschenkt hatte, trug Lucy die Tassen zum Tisch hinüber und dann durfte sie erneut Wendy halten, die von dem Positionswechsel gar nicht mitbekam. Während die Weißhaarige sich dem Korb widmete, streichelte Lucy vorsichtig über den kleinen Kopf und fragte sich, wie es wohl wäre, ihren eigenen Sohn in den Armen zu halten. Würde er auch so winzig und niedlich und bezaubernd sein? Würde er auch schon Haare haben oder ohne zur Welt kommen? Auch so still und leise oder wäre er ein lauter Säugling? Eines von jenen Babys, die ihre Eltern nicht schlafen ließen und auf diese Art langsam in den Wahnsinn trieben? Solche Horrorstorys hatte sie nur zu genüge gehört… Würde er auch so süß lachen und nach ihr greifen, sobald sie in seinem Blickfeld auftauchte? Sie hoffte immer noch, dass er Natsus dunkle Augen bekommen würde, mit denen er wach in die Welt schauen würde, aufmerksam, bereit für das große Abenteuer, das das Leben darstellte. Und sie, wie würde sie selbst mit dieser Unternehmung Erstes Kind zurechtkommen? Auch das war eine große Herausforderung, aber im Moment schien sie ihr einfach nur aufregend und spannend und sie freute sich mit ganzem Herzen darauf! „Lucy?“ Grandines Stimme riss sie aus den Gedanken und sie blickte ertappt auf. „Ja?” Ihr Gegenüber lächelte sanft. „Du warst einen Moment weggetreten und hast gar nicht gehört, was ich gesagt habe. An was hast du gedacht?“ „Oh, ni-nichts Besonderes. Nur… Wie das wird, wenn er erst einmal da ist.“ Würde sie nicht Wendy halten, würde sie jetzt ihren Bauch tätscheln, aber ihre Freundin verstand auch so, was sie meinte. „Im Moment sieht es so aus, als würdest du dir darum keine Sorgen machen.“ „Naja, wie könnte ich?“, gab Lucy zu und blickte wieder auf das Baby herab. „Wenn das Beispiel, das ich gerade vor Augen habe, dieser süße, kleine Knopf ist?“ Wendy verzog ihr kleines Gesichtchen im Schlaf und ballte die winzigen Hände zu Fäusten. Was sie wohl träumte? Grandine strich ihrer Tochter über die Wange. „Ja, sie ist wirklich sehr brav.“ „Ich weiß gar nicht, wovor ich so Angst gehabt habe.“, erklärte Lucy aufrichtig, wobei ihr klar war, dass auf jeden Fall auch ein paar harte Zeiten auf sie zukommen würden. Auch aus einem braven Baby wurde ein Kleinkind und dann ein Kind werden und schließlich ein Teenager, die ihre berühmten Phasen hatten. Und über eines war sie sich klar: kein Kind von Natsu würde einfach sein und von ihr selbst konnte auch eine gehörige Portion Temperament kommen! Das würden sicher zu ein paar aufregenden Momente führen! Aber, schalt sie sich selbst, da waren auch viele andere Eigenschaften, die das ausgleichen würden – Optimismus, Entschlossenheit, Freundlichkeit, Großherzigkeit… Aufgezogen in einer so liebevollen Familie, wie Lucy sie besaß, mit diesem Großvater, diesen Onkeln und der Tante, die zwar nicht blutsverwandt waren, aber schon jetzt so viel Anteil nahmen, so vielen anderen wunderbaren Leuten, die hinter ihnen standen, und so einem tollen Vater würde aus diesen kleinen Jungen auf jeden Fall eine wunderbare Person werden. Da konnte ja gar nichts schiefgehen! Abrupt riss sie sich aus ihren sentimentalen Gedanken und blickte erwartungsvoll auf. „Und, wie gefällt es dir? Habe ich gut gewählt oder ist das alles überflüssig?“ Mit dem Kopf deutete sie auf die Geschenke, die inzwischen auf dem Tisch lagen – der Strampler, ein Paar Schühchen, die weiße Plüschkatze und all das andere. Grandine hielt das Handtuch mit der Drachenkapuze hoch und ihre aufrichtige Freude war ihr deutlich anzusehen. „Und wie toll das ist! Das ist so niedlich!“ Als sie Lucy nach einem Tee, etwas Gebäck, viel Plauderei und einer Babyfütterung schließlich zur Tür brachte, damit diese den nächsten Bus auch erwischte, war es bereits dunkel. Auf der kleinen Treppe, die zum Kiesweg hinunterführte, umarmte die Weißhaarige sie für einen Moment und Lucy erwiderte die Geste herzlich. Sie war froh, auch auf diese Freundin zählen zu können! Grandine drückte ihr noch einmal die Hand. „Es mag zwar noch eine Weile gehen, aber wenn dieser Kleine da ist und sich ein wenig an diese große, neue Welt gewöhnt hat, müssen wir einen Termin finden, uns regelmäßig zu treffen und ihn und Wendy miteinander spielen lassen. Ich bin sicher, sie werden gute Freunde!“ Lucy atmete tief ein. „Das fände ich sehr schön.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)