This Great And Little Gift von Arianrhod- ([NaLu | Lucy vs. Jude]) ================================================================================ 15. Kapitel, in dem Lucy sich ihren Dämonen stellt -------------------------------------------------- Die dunkle, gemaserte Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters war größer als eine normale Zimmertür und sah darum sehr viel imponierender aus, wie das Tor in den Thronsaal eines Königs – oder in das Zimmer eines Richters. Lucy fühlte sich jedenfalls so, als würde sie gleich ihrem Henker gegenübertreten. Ihre Hände waren nass vor Schweiß und ihr Herz schlug in einem viel zu schnellen Rhythmus. Nervös leckte sie sich über die Lippen und versuchte, sich zu beruhigen. Du bist keine Bittstellerin, erinnerte sie sich selbst streng und tastete mit einer Hand nach der Goldkette mit dem Herzanhänger, die Natsu ihr geschenkt hatte. Sie war es, die ihren Vater vor vollendete Tatsachen stellen und ihn damit völlig kalt erwischen würde. Sie war es, die bereits alles vorbereitet und die Entscheidung getroffen hatte. Sie war es, die hier alle Karten in der Hand hielt. Also straffte sie die Schultern, holte tief Luft und klopfte energisch an die Holztür. Sie wartete kaum auf das Herein, das dumpf herausschallte, sondern öffnete die Tür nach einigen Augenblicken einfach. Ihr Vater saß am Schreibtisch, die Morgensonne im Rücken und einige Blätter in der Hand. Auf der ganzen Tischplatte waren Ordner und noch mehr Papiere verteilt und der Computerbildschirm leuchtete mit einem kalten blauen Licht. „Lucy!“ Jude wirkte verwirrt, als er sie erkannte. „Was führt dich hierher? Eigentlich weißt du es besser, als mich bei der Arbeit zu stören. Ist etwas passiert?“ „Ich muss mit dir reden.“, erklärte sie, ohne auf seine Worte einzugehen. Er runzelte missbilligend die Stirn, offensichtlich nicht sehr erfreut über ihre Eröffnung. „Kann das bis heute Abend warten? Ich bin gerade ziemlich beschäftigt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wir müssen das jetzt besprechen.“ Jetzt würde sie sich ganz sicher nicht mehr abwimmeln lassen, egal ob es ihm gelegener kam, wenn sie erst abends mit ihm sprach. Es ging hier nicht mehr um ihn. Er musterte sie kurz, nahm ihre gerade Haltung und ihr ernstes, beherrschtes Gesicht auf, den entschlossenen Blick in ihren Augen, und nickte dann. „Wie du wünschst. Setz dich doch. Aber das ist besser wichtig, wenn du mich damit bei der Arbeit störst.“ Oh, an der Wichtigkeit ihres Anliegens hatte sie keinen Zweifel. Beinahe hätte sie gelacht. Sie folgte der Aufforderung und ließ sich auf dem bequemen Stuhl nieder, der ihrem Vater gegenüberstand. Trotz allem Unmut und aller Verstimmung wollte sie dies so zivilisiert wie möglich machen, wollte zeigen, dass sie bereit dafür war, auf ihn zuzugehen, wenn er nur auch bereit war, ihr entgegenzukommen. „Ich werde nicht nach St. Claires gehen.“, erklärte sie mit fester Stimme und die Furchen in Judes Stirn wurden tiefer. Er wollte etwas sagen, aber sie war noch nicht fertig und sprach einfach weiter: „Ich werde auch nicht mit Natsu Schluss machen. Oder BWL oder ähnliches studieren. Ich kann und will mein Leben nicht nach deinen Wünschen richten. Ich werde ni…“ Judes Hand kam mit einem so lauten Knall auf der Tischplatte auf, dass sie heftig zusammenzuckte. „Was soll das, Lucy!“ Es war keine Frage. Es war ein Punkt, den er machte, der sie unterbrach und ihren Satz mitten im Wort abschnitt und ihr den Mund verbot. „Jetzt ist ein äußerst schlechter Zeitpunkt, in die rebellische Phase zu kommen! Das nächste Jahr ist dein wichtigstes Schuljahr, also wirst du nicht jetzt damit anfangen, aufsässig zu werden.“ „Das ist keine Phase!“, antwortete sie heftig und zu laut, aber seine Worte ließen sie rotsehen und wütend aufspringen. Eigentlich hatte sie das Gespräch ruhig und beherrscht führen wollen, aber er hatte einfach eine herablassende Art an sich, die sie die Beherrschung verlieren ließ. Endlich verstand sie, warum Natsu und Ur und alle anderen so heftig auf ihn reagierten. „Und ich…“ „Hast du nicht längst von diesem Jungen getrennt?“, redete Jude einfach über ihre Proteste hinweg und sie hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm an die Gurgel zu springen. Konnte er sie nicht einmal ausreden lassen?! „Ich dachte, diese Sache wäre erledigt.“ „Diese ‚Sache‘“, fauchte Lucy und ihre Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Sie wollte toben und auf den Tisch schlagen, doch stattdessen hielt sie sich vor Wut zitternd zurück. „ist die Liebe meines Lebens! Wie kannst du nur so darüber sprechen?! Über ihn?“ „Du bist noch etwas jung um zu wissen, wer die ‚Liebe deines Lebens‘ ist.“, erklärte Jude ihr überheblich und sie konnte die Anführungszeichen in dem Satz geradezuhören. „Warte noch ein paar Jahre, dann wirst du klüger sein – und mir dankbar, dass ich dich jetzt vor einer Dummheit bewahre. Denn wie sagt man so schön? Gleich und gleich gesellt sich gern und du hast definitiv nichts mit diesem Tagelöhner gemein. Bis es soweit ist, konzentriere dich auf die Schule und das Studium, über das wir jetzt noch nicht reden wollen.“ Die Worte Aber ganz sicher noch werden. hingen unausgesprochen in der Luft. Offensichtlich war er auch nicht einverstanden mit ihrer Entscheidung, alle Zweige der Wirtschaft von sich zu weisen, egal ob sie wollte oder nicht. Warum konnte er einfach nicht einsehen, dass das nicht der richtige Weg für sie war? Zornig starrte Lucy ihren Vater an, wie er da hinter seinem großen Schreibtisch thronte und sie streng anblickte. Nichts in seinem beherrschten Gesicht zeigte, wie aufgebracht er war. Nur seine Lippen waren leicht in Verachtung verzogen und Lucy stellte fassungslos fest, dass er jedes einzelne Wort ernst meinte. Wie konnte er nur so über sie und ihre Gefühle reden, so wegwerfend und abwertend, als ob sie nichts bedeuteten? Natürlich war sie noch jung, aber das nahm ihren Emotionen nichts von ihrer Intensität, ihrer Wahrheit und ihrer Beständigkeit! Unter Anstrengung zwang sie sich dazu, die Fäuste zu lockern. Sie wollte jetzt keinen Streit mit ihrem Vater, im Gegenteil. Sie hatte ihre Entscheidung bereits gefällt und sich auf das Schlimmste eingestellt, den Fall der Fälle, der jetzt zuzutreffen schien. Sie hatte keinen Grund dazu, jetzt auszurasten – war es nicht das, was er wollte, nur um sie als unvernünftig und zu impulsiv hinzustellen? Doch sie war noch nicht fertig, sie musste es zumindest noch einmal versuchen. Trotz allem war er ihr Vater und sie liebte ihn und wollte ihn nicht verlieren. Aber noch weniger wollte sie sich selbst, Natsu und ihr Baby verlieren. Du kannst das, feuerte sie sich selbst an. Du hast bereits alles geklärt, wenn – weil – das hier alles den Bach runtergeht. „Man sagt auch Gegensätze ziehen sich an.“, antwortete sie darum bestimmt, aber ruhig. „Und es ist mir egal, dass du denkst, Natsu ist nicht der Richtige für mich. Ich weiß, dass es doch so ist, und ich werde mir nicht mehr von dir in meine Beziehung reinreden lassen. Oder in sonst irgendetwas. Ich will mein Leben nicht fremdbestimmt leben, sondern nach meinen eigenen Wünschen und Vorstellungen. Nein, jetzt rede ich!“, fuhr sie ihn an, als er ihr wieder ins Wort fallen wollte. „Ich habe das schon zu lange zugelassen, dass du mir alle möglichen Dinge vorschreibst, aber das werde ich nicht mehr hinnehmen – erst recht nicht bei so wichtigen Sachen, die mich den Rest meines Lebens begleiten werden. Meines Lebens! Das ist mir während der letzten Wochen klargeworden, genauso wie einige andere Dinge und ich habe Konsequenzen daraus gezogen. Darum rede ich jetzt mit dir, um dich darüber zu informieren. Wenn du das nicht akzeptierst, ist das deine Sache.“ Während sie sprach, hatte Jude sich zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Seinem Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, dass er sie nicht ernst nahm und alles für einen kindischen Wutanfall hielt. Das kleine, spöttische Lächeln auf seinen Lippen, unter dem Schnauzer kaum wahrzunehmen, brachte sie beinahe erneut auf die Palme, aber sie mahnte sich zur Ruhe. Er würde sie nie für voll nehmen, wenn sie schrie und tobte. Also würde sie ruhig bleiben, ihre Tatsachen darlegen und ihn reagieren lassen. Und die richtige Bombe hatte sie noch immer nicht platzen lassen. Das behielt sie sich für das große Finale. „Darum werde ich nicht nach St. Claires gehen, sondern weiterhin auf die Magnolia High – keine Sorge, ich habe die Abmeldung dort bereits wieder zurückgenommen, du brauchst dich also darum nicht zu kümmern – und ich werde mich nicht von Natsu trennen, ganz egal, wie viele deiner Businesspartner Söhne in meinem Alter haben, die mich gerne kennen lernen würden, und ich werde auch nicht aufhören, meine Freunde zu treffen, auch wenn du mich lieber in anderen Kreisen sehen würdest. Und, wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme, werde ich Journalismus und Literatur studieren und nicht das Fach deiner Wahl. Das sind meine Entscheidungen und sie sind bereits gefällt. Es gibt nichts, dass du sagen kannst, was mich umstimmen würde.“ Sie verstummte und atmete erst einmal heftig ein und aus. Diese kleine Rede – obwohl vorbereitet und geübt – hatte sie mehr Kraft gekostet, als sie gedacht hatte. Aber dafür fühlte sie sich jetzt befreit und stark und selbstbewusst. Erwachsen. Sie konnte das tun. Ob mit oder ohne seine Unterstützung, die größte, schwerste Hürde hatte sie eben überwunden. Der Rest würde sich ergeben, irgendwie würde sie das alles schaffen! Sie hatte Natsu und Igneel und ihre Freunde. Allein der Gedanke füllte sie mit Kraft und Sicherheit, genug, dass sie Jude weiterhin offen ins Gesicht sehen konnte. Und kein Wort über das Baby – sie war richtig stolz auf sich. Denn während sie sprach, hatte sie festgestellt, dass die Schwangerschaft vielleicht der Katalysator gewesen war, der sie zum Nachdenken gebracht hatte. Aber all dies, was sie aufgezählt hatte, war mindestens ebenso wichtig. Es ging hier nicht um das Baby, zumindest nicht nur, es ging hier um sie. Um ihr Leben. Wenn sie Kompromisse einging – für ihren Sohn, für ihren Natsu, für ihre Freunde, für den Rest ihrer Familie – dann, weil sie es wollte, weil sie ihnen entgegenkommen wollte. Aber auch diese Entscheidungen lagen bei ihr, kamen von ihr und niemandem sonst. Wenn zwei Menschen und zwei Meinungen aufeinanderstießen, kam es nun mal zu Konflikt und wenn man nicht bereit war, aufeinander zuzugehen, das war ein Problem. Doch anscheinend hatte ihr Vater noch nicht erkannt, dass seine Meinung nicht wichtiger war als ihre. Judes Gesichtsausdruck hatte sich auch während der letzten Sätze nicht verändert. Jetzt seufzte er, als wäre dies alles eine große Mühsal, aber nicht weiter der Rede wert, und zog eine Augenbraue hoch. „Bist du fertig mit deinem kleinen Rappel?“ Sie schnaufte, aber er ignorierte sie und stand auf. Obwohl er über einen Meter von ihr entfernt stand, musste sie nach oben blicken, denn er überragte sie um eine ganze Haupteslänge. Sie weigerte sich, sich davon einschüchtern zu lassen und starrte ihm entschlossen ins Gesicht, die Brauen zusammengezogen. „Über dein Studium werden wir uns noch einmal unterhalten, wenn du deine schriftlichen Prüfungen hinter dir hast. Alles andere ist inakzeptabel und steht nicht zur Debatte.“, erklärte Jude und sein betont vernünftiger Tonfall machte deutlich, dass er keinen Widerstand dulden würde. Zu dumm für ihn, dass Lucy es trotzdem absolut tun würde. „Vertrau mir, ich weiß, wovon ich spreche und ich will nur dein Bestes. Du hast eine glänzende Zukunft vor dir, wenn du dir jetzt nicht alles verbaust. Ich hatte diese Chancen in meiner Kindheit nicht und werde nicht zulassen, dass du sie dir selbst wegnimmst. Glanville wird dich am Montag nach St. Claires fahren. Ich erwarte, dass du deine Koffer gepackt hast und bereitstehst, damit du pünktlich ankommst. Du wirst mir dankbar sein, wenn du erst einmal eine erfolgreiche Karriere gemacht hast. Wenn ich dich noch einmal mit diesem Kerl erwische, werde ich eine einstweilige Verfügung anfordern, dass er sich gefälligst von dir fern zu halten hat. Ansonsten wird es weitreichende Konsequenzen haben.“ Entsetzt starrte Lucy ihn an. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er einen Richter finden würde, der seinen Wünschen entsprach auch ohne einen definitiven Grund für eine solche Verordnung. Oder er würde einfach etwas erfinden und die Wahrheit so verdrehen, dass Natsu wie ein Verbrecher dastehen würde. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er jede mögliche Strafe durchpressen würde, wenn Natsu sich nicht daranhielt. „Du… du meinst das nicht ernst!“, protestierte sie fassungslos. „Natürlich tue ich das.“, erklärte Jude und schüttelte den Kopf über sie wie über ein kleines Kind. „Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist eine Fernhalteverfügung genau das Richtige.“ Sie wich einen Schritt zurück, ihren Ohren nicht trauend. Er würde tatsächlich hingehen und Natsus Zukunft zerstören, nur um seinen Willen durchzusetzen. Er würde sie zwangsweise auseinanderhalten. Er würde ihr seine Wünsche einfach aufzwingen, ganz egal, ob er ihr Glück dabei zerstörte. Sie verlor gerade ihren Vater, das wurde ihr plötzlich mit einer kalten Deutlichkeit klar. Dann holte sie tief Luft, um ihre aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bringen, und nickte. Sie hätte das niemals von ihrem Vater geglaubt. Nicht wirklich. Nicht, dass er so weit gehen würde. Doch jetzt gab es keinen Zweifel mehr daran, wie er auf ihre nächste Ankündigung reagieren würde. Irgendwie war es eine Erleichterung. Jetzt stand der restliche Verlauf des Gespräches schon fest und auch der des restlichen Tages. „In Ordnung. Ich habe dir noch etwas zu sagen.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich trockenen Lippen. Nur, weil sie ihren Weg deutlich vor sich sah, wurde das nicht einfacher. Doch all die Fragen und Zweifel und aufgewirbelten Gefühle waren verschwunden und auch, wenn sie wusste, wie sehr es später schmerzen würde, jetzt hatte sie sich unter Kontrolle. Sie blickte ihren Vater offen entgegen, der sie nur mit zusammengezogenen Brauen von oben herab ansah, und sagte: „Ich bin schwanger.“ Wenn die Lage nicht so ernst wäre, wäre sie in Gelächter ausgebrochen bei der Art, wie Judes Gesicht entgleiste, nachdem er begriffen hatte, dass sie keine Witze machte. „Was soll das heißen?!“, begann er, fassungslos und so entsetzt, dass ihr ein Schauer über den Rücken jagte. Er sah so bestürzt aus, gab so ein anderes Bild ab als der beherrschte, kalte Geschäftsmann, den er vorhin gegeben hatte. Aber der Moment hielt nicht lange, dann legte sich wieder die abgeklärte, kühle Maske über sein Gesicht, die inzwischen er zu neunzig Prozent der Zeit trug. „Gut.“, sagte er dann und seine Stimme klang angestrengt. „Ich mache dir einen Termin mit Dr. Lundberg, er wird sich darum kümmern und es wird nie jemand davon erfahren. Und dein sogenannter Freund kann sich auf eine Klage gefasst machen.“ „Ich bin in der achtzehnten Woche.“, unterbrach Lucy ihn und ignorierte die Drohung gegen Natsu erstmal. Das spielte jetzt keine Rolle mehr. War das nicht der Grund, warum sie noch gewartet hatten, bis sie volljährig war? Judes Blick wanderte zu ihrem Bauch hinunter, der von ihrem hellblauen Babydollshirt herrlich kaschiert wurde. Keinen Zweifel erinnerte er sich daran, dass man zu diesem Zeitpunkt schon etwas sah, wenn auch noch nicht viel. „Gut. In Bosco kann man das auch später noch durchführen, du kannst in unser Ferienhaus, bis die Sache erledigt ist.“ „Du wirst mich auf keinen Fall zu einer Abtreibung zwingen.“ Er wedelte mit der Hand, als wäre dieser Einwand unwichtig. „Dann wirst du halt dortbleiben und das Kind bekommen und erst nächstes Jahr nach St. Claires gehen. Man wird dort sicher Einsehen mit dir haben.“ „Ich werde mein Kind auch nicht weggeben.“ Jude starrte sie wieder wortlos an. Seine Kiefermuskeln bewegten sich, als er sie anspannte und wieder lockerte. Dann schüttelte er den Kopf. „Hörst du dich eigentlich selbst reden! Wie willst du das denn tun? Du bist doch noch selber ein Kind! Was würde deine Mutter jetzt bloß von dir denken?!“ Sie zuckte zusammen, dann runzelte sie ärgerlich die Stirn. „Das weiß ich nicht, aber sie würde mich nicht zu etwas zwingen, das ich nicht will! Sie würde mich nicht dazu zwingen wollen, mein Baby loszuwerden, sie würde mich nicht auf eine Schule schicken, auf die ich nicht will, sie würde mir nicht ihre Träume aufzwingen und sie würde meine Freunde und Natsu lieben!“ Ihre Stimme war lauter geworden und die letzten Worte brüllte sie ihm ins Gesicht. Wie konnte er es wagen, ihre Mutter gegen sie zu benutzen! „Es ist mir scheißegal, was du willst! Ich war bereit, Kompromisse einzugehen, aber du bist so verbohrt und bewegst dich keinen Schritt in meine Richtung und verlangst, dass ich deine brave Tochter bin, wie eine Maschine, die genau das tut, was du von ihr willst! Aber stell dir vor! Ich bin kein Roboter und ich habe mich lange genug deinen Wünschen gebeugt und hier treffe ich die Entscheidungen, weil sie zu wichtig sind, um die falsche zu treffen!“ Sie schluchzte auf und merkte erst jetzt, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Ärgerlich wischte sie sie mit dem Handrücken weg, auch wenn sie erstaunt war, dass sie nicht schon früher angefangen hatte zu heulen. „Ich war bereit, dir entgegen zu kommen, aber da ich dir offensichtlich egal bin, spielt das auch keine Rolle.“ Sein Gesicht war eine Maske der Geringschätzung. „Du bist emotional und kannst nicht klar denken. Das sind die Hormone. Geh jetzt und überlege dir das noch einmal, nachdem du dich wieder beruhigt hast. Am Sonntag erwarte ich, dass du eine vernünftige Entscheidung getroffen hast. Ansonsten kannst du sehen, wo du bleibst.“ So, jetzt hatte er es gesagt. Sie war nicht einmal mehr überrascht oder hatte die Energie, darauf zu reagieren. Sie nahm es einfach so hin. Nur… „Ist das dein letztes Wort?“, fragte sie und schon seiner Haltung konnte sie entnehmen, dass er seine Meinung nicht ändern würde. Aber sie schuldete es sich selber, es zumindest noch ein letztes Mal zu versuchen. „Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“, erklärte er kalt und Lucy nickte, drehte sich steif um und stakste aus dem Büro. Sie schloss leise die Tür hinter sich und angelte nach ihrem Handy, noch während sie die Treppe zu ihren Zimmern hinaufstieg. Jude erwartete von ihr, dass sie die Entscheidung noch einmal überdachte, aber sie hatte sich lange genug den Kopf darüber zerbrochen. Damit schickte sie eine Nachricht an Natsu. Es schmerzte sie, aber sie würde nicht zögern, nicht bei allem, was auf dem Spiel stand. Hol mich in zwei Stunden ab. Ich gehe jetzt meine Sachen packen. ~~*~~❀~~*~~ Lucy verbot sich jeden Gedanken daran, warum sie dies machte, und packte die beiden großen Reisetaschen beinahe mechanisch. Sie hatte jetzt zu tun und konnte nachher einen emotionalen Zusammenbruch haben. Jetzt gab es wichtigere Dinge zu erledigen. In die eine kamen Kleider, Kosmetikkoffer und Kulturtasche, ihren Laptop und ähnliche lebenswichtige Sachen. In die andere, weit kleinere packte sie die anderen Dinge, ohne die sie nicht leben konnte – allen voran die Box mit dem Schmuck ihrer Mutter, ihre Fotographien, ein paar besondere Bücher und CDs, ein alter, beinahe voller Zeichenblock noch von Layla… Da sie während der letzten Woche schon einige Dinge in die Wohnung der Dragneels gebracht und sogar ein paar Listen gemacht hatte und ihr Verstand seltsam kühl und klar, ging das alles zügig und sehr organisiert vonstatten. Die Box mit der schönen Kette, die Jude ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, ließ sie gut sichtbar auf ihrem aufgeräumten Schreibtisch stehen. Nachdem sie ihre Listen abgearbeitet hatte, rannte sie eine Weile ziemlich kopflos in ihren Zimmern umher, nahm dies mit, erinnerte sich an das, sah jenes herumstehen. Sie zog alle ihre Schubladen auf und öffnete jeden einzelnen der Schränke und schaute in jede Box hinein. Was sie hier ließ, sah sie nicht wieder, so einfach war das. Zurückkommen würde sie vorerst wohl nicht. Das einzige, was sie wirklich bedauerte, war, dass sie ihre Pflanzen zurücklassen musste. Wer würde sich wohl jetzt um sie kümmern? Würde es überhaupt jemand tun? Jude wusste, wie sehr sie sie liebte und wie intensiv sie sich darum gekümmert hatte. Im Moment würde sie es ihm zutrauen, sie vor die Hunde gehen zu lassen, nur um Lucy zu bestrafen, auch wenn diese es nie erfahren würde. Aber vielleicht wäre es ihm auch egal und eines der Hausmädchen würde es übernehmen, wie es auch mit dem Rest der Blumen in der Villa geschah. Lucy würde sich einen neuen Garten aufbauen. Die Dragneels hatten nur ein paar dauergrüne, unverwüstliche Fensterbankblumen, die nicht viel Pflege benötigten, was vermutlich der einzige Grund war, warum sie noch lebten. Das konnte sie ändern. Und Kräuter für die Küche. Und den schnuckeligen kleinen Garten vor der Terrasse – die beiden hätten sicher nichts dagegen. Sie schniefte und wischte sich wütend die Tränen weg. Sie wollte jetzt nicht weinen. Sie wollte erhobenen Hauptes dieses Haus verlassen, denn auch wenn Jude sie so leicht aus dem Gleichgewicht brachte, zumindest diesmal war sie sich sicher, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ihr Vater sollte nicht sehen, wie sehr es sie mitnahm. Nachdem sie alles eingesammelt hatte, wanderte sie noch einmal durch die Räume und sah sich alles noch einmal genau an. Sie fühlte leichten Abschiedsschmerz; diese hellen Zimmer waren so lange ihr Zuhause gewesen, ihr Rückzugsort, ihr Reich – ein kleines Heiligtum, das sie sich in der großen, nach dem Tod ihrer Mutter immer kälter gewordenen Villa errichtet hatte. Die Bilder an den Wänden, der Nippes, den sie über die Jahre angesammelt hatte und der dem Ganzen ihre persönliche Note verlieh, ihre Möbel, das Bett, in dem sie so lange geschlafen hatte. Doch das wurde überschattet von dem größeren Schmerz – der Verlust ihres Vaters und ihr quälender Zorn darüber, dass alles, was sie versucht hatte, einfach nutzlos gewesen war und er sich kein Stück auf sie zubewegt hatte. Aber was hätte sie tun sollen? Er war einfach so … so verbohrt! Etwa zehn Minuten verbrachte sie auf ihrem Diwan im Wintergarten. Sie saß einfach da, mit geschlossenen Augen, lauschte dem plätschernden Wasser im Brunnen und atmete tief die Luft ein, die nach feuchter Erde, Blumen und Pflanzen duftete. Sie wünschte, sie könnte das Bild mitnehmen, das an der Wand hing, aber das wäre zu viel. Stattdessen kramte sie eine Mappe heraus, in dem sie einige Aquarelle aufbewahrte, die Layla noch mit leichtem Strich gefertigt hatte. Sie konnte sich ein paar davon rahmen lassen und sie dann an die Wand hängen. Nach einigem Herumfummeln brachte sie die Mappe noch in ihrem bereits vollgepackten Schulrucksack unter, ehe sie ihre Gepäckstücke zusammenraffte und mit einem letzten Blick zurück in den Flur hinaustrat. Natsu würde bald da sein. Auf dem Weg nach unten kamen ihr zwei Hausmädchen entgegen, die ihr verwirrte Blicke zuwarfen. Aber da Lucy sie mit verbissenem Gesicht ignorierte, fragten sie nicht nach. Sie konnte sie noch miteinander flüstern hören. Aber vielleicht gingen sie auch nur davon aus, dass sie schon früher nach St. Claires reiste – auch das würde die gepackten Koffer erklären. Sie stellte ihr Gepäck neben die große Eingangstür, just in dem Moment, als Natsu ihr eine Nachricht schickte, die besagte, dass er vor dem Tor stand, die Wachmänner ihn aber nicht hereinließen. Nach einem kurzen Disput mit eben jenen war dieses Problem zumindest gelöst – sie hatte keine Lust, den ganzen Weg bis zum Haupttor zu Fuß zu laufen, nicht mit dem ganzen Gepäck. Ein Glück, dass die Angestellten sie mochten und ihr ungern etwas abschlugen. Aber statt sofort hinauszugehen, trat sie noch einmal an die hohe Tür, vor der sie vor nicht allzu langer Zeit gestanden und nervös ihren Mut, ihre Entschlossenheit und ihre Argumente zusammengerafft hatte. Diesmal zögerte sie nicht und sie klopfte auch nicht an, sondern trat einfach ein. Ihr Vater schien es nicht einmal zu bemerken. Er hob erst den Kopf, als sie nur noch ein paar Schritte von dem Besucherstuhl entfernt war. Mit strengem, abweisendem Blick sah er sie an, ganz offensichtlich nicht darauf erpicht, mit ihr zu sprechen. „Was soll das? Habe ich mich vorhin nicht klar genug ausgedrückt?“ „Doch.“, antwortete Lucy. „Sehr sogar. Darum bin ich hier.“ Er zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell Vernunft annimmst.“, gab er zu. „So sehr ich deine Mutter liebte, sie war eine starrköpfige Frau und du hast diesen Zug von ihr geerbt.“ Lucy hätte beinahe gelacht, aber sie beherrschte sich. Natürlich ging er wie selbstverständlich davon aus, dass sie Vernunft annahm und sich seinem Willen beugte. „Ich wollte nur auf Wiedersehen sagen, Papa.“, antwortete sie. Das war das zweite Mal an diesem Tag, dass sie ihn völlig kalt erwischte und seine Überraschung spiegelte sich auch jetzt auf seinem Gesicht wider. „Ich kann unter diesen Bedingungen nicht hierbleiben.“, fuhr sie fort, ehe er sich von seinem Schock erholen konnte. „Aber ich wollte dir noch sagen, dass du mich jederzeit kontaktieren kannst, wenn du bereit bist, mir entgegen zu kommen. Du ahnst vermutlich, wo du mich finden wirst. Und … ich wollte mich verabschieden. Mama würde es nicht toll finden, wenn ich einfach so verschwinden würde. Also. Auf Wiedersehen. Das hoffe ich wirklich.“ Damit drehte sie sich um und ging zur Tür zurück. Sie atmete tief und gleichmäßig, um nicht in Tränen auszubrechen. Hinter sich hörte sie, wie ihr Vater so heftig aufstand, dass sein Stuhl nach hinten rollte. „Lucy!“, rief er hinter ihr und da lag etwas beinahe Verzweifeltes in seiner Stimme, etwas das ihr sagte, dass er jetzt begriff, was er zu verlieren drohte. Doch statt einzulenken, vergrub er sich nur tiefer in seine Denkweise. „Lucy, wenn du da jetzt rausgehst, dann kannst du nicht so einfach mir nichts, dir nichts wieder zurückkommen! Glaub ja nicht, dass du dann von mir noch irgendetwas erwarten kannst! Hörst du? Keine Kontakte, kein Geld, keine Unterstützung!“ Sie hielt inne, die Hand auf der Türklinke und atmete tief durch, ehe sie sich wieder umdrehte. Er stand da hinter seinem großen Schreibtisch und wirkte seltsam verloren, trotz seiner Größe und seiner eigentlich so einnehmenden, autoritären Ausstrahlung. „Du verstehst es einfach nicht.“ Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln. „Lebe wohl, Papa.“ Damit wandte sie sich wieder ab und musste jetzt doch heftig blinzeln, um die Tränen aus den Augen zu bekommen. Aber sie hielt nicht inne, sondern drückte die Klinke hinunter und verließ den Raum. Mit raschen Schritten eilte sie durch die Eingangshalle und öffnete auch die Haustüre. Natsu wartete am Fuße der breiten, eindrucksvollen Freitreppe auf sie und er blickte ihre besorgt entgegen, als sie im Eingangsportal auftauchte. Lucy schüttelte nur den Kopf und ließ sich von ihm helfen, ihre Taschen in den roten Mustang zu packen. Sie wollte jetzt nicht reden. Gerade, als sie die Beifahrertür öffnete, kam Jude aus dem Haus gestürzt. Auf dem oberen Absatz der Freitreppe blieb er stehen und starrte mit steinernem Gesicht zu ihr hinunter. Dann wanderte sein verächtlicher Blick zu Natsu hinüber, der ihn unerschrocken erwiderte. Natsu hatte noch nie Angst vor ihm gehabt. „Lucy, sei vernünftig. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der dir bieten kannst, was du brauchst?“ Jude schnaubte abfällig. Hätte er nicht so gute Manieren, hätte er vermutlich verächtlich auf den Boden gespuckt. „Pass nur auf, in ein paar Monaten kommst du zurückgekrochen, spätestens dann, wenn du merkst, dass er dir deinen Studienwunsch nicht erfüllen kann.“ Lucy war sich klar, dass sich für sie einiges ändern und es nicht leicht werden würde. Aber was war das Leben ohne Herausforderungen? Sie konnte sich darauf einstellen. Die wirklichen Linien, die sie nicht überschreiten würde, waren die, die Jude ihr vorschreiben wollte. „Auf Wiedersehen, Papa. Du weißt, wo du mich findest, falls du es dir anders überlegst.“ Damit kletterte sie in das Auto und Natsu tat es ihr ohne ein Wort gleich. Ausnahmsweise hielt er sich zurück und sie war ihm unglaublich dankbar dafür. Sie wollte jetzt nicht auch noch einen Streit zwischen ihm und ihrem Vater, nicht nach alldem, was heute schon geschehen war! Der Motor des Mustangs heulte auf und Natsu beschleunigte so schnell, dass die Reifen tiefe Spuren in dem Kies hinterließen und kleine Steinchen gegen die Karosserie spickten. Sie konnte im Rückspiegel ihren Vater sehen, der ihr wütend und wortlos hinterher starrte, eine erstarrte, einsame Gestalt vor einem riesengroßen Haus, der eben die größte Niederlage seines Lebens eingesteckt hatte. Während der Fahrt starrte Lucy wortlos aus dem Fenster und antwortete auch nicht, als ihr Freund versuchte mit ihr zu sprechen. Natsu gab es schnell wieder auf und bald waren sie an der Werkstatt angekommen, wo er den Mustang in der Nähe der Haustür parkte, entfernt von der Geschäftigkeit des Betriebes. Igneel blickte von seiner Arbeit auf, als sie ausstiegen, doch er kam nicht herüber und Lucy war dankbar dafür. Sie würde es jetzt nicht ertragen, mit jemandem zu reden. Beladen mit ihren Taschen gingen Natsu und sie die Treppen zum Apartment hinauf und in das ehemalige Gästezimmer, das die beiden ihr freigeräumt hatten. Igneel hatte darauf bestanden, dass sie ihren eigenen Platz bekam, auch wenn er mit einem Augenzwinkern hinzugefügt hatte, dass es ihm egal war, ob sie die Nächte bei Natsu verbrachte, solange sie nur leise genug waren. Damals war sie rot geworden und hatte peinlich berührt gelacht, begleitet von den lautstarken Protesten ihres Freundes. Jetzt war sie froh darum. Sie rollte sich auf dem Bett zusammen und weinte so lange, bis sie erschöpft einschlief und nicht einmal Natsus tröstende Umarmung konnte sie beruhigen. Für Außenstehende mochte es so aussehen, als ob sie diesen Krieg gewonnen hatte, aber konnte sie bei diesem Preis wirklich von einem Sieg sprechen? 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