This Great And Little Gift von Arianrhod- ([NaLu | Lucy vs. Jude]) ================================================================================ 4. Kapitel, in dem viel besprochen wird --------------------------------------- Der Kiesel kam mit einem leisen, klirrenden Geräusch auf der Scheibe auf. Es war schon lange dunkel und das einzige Licht drang von den Straßenlaternen herüber. So konnte sie genug sehen, auch wenn sie beinahe über einen Blumentopf gestolpert wäre, die am Rand des Weges standen, der zur Haustür führte. Der Himmel war verhangen von Wolken, so dass man kaum ein paar Sterne sehen konnte, geschweige denn den Mond. Die Fenster des gemütlichen Hauses mit dem schönen Vorgarten waren alle dunkel und geschlossen, also hatte sie Kiesel vom Weg genommen um sie als Geschosse zu verwenden in der Hoffnung, niemand als Erza damit zu wecken. Aber Makarov hatte einen tiefen Schlaf und sein Enkel Laxus besuchte die Uni und wohnte im Wohnheim am anderen Ende der Stadt, weswegen er höchstens noch am Wochenende Zuhause war. Lucy verfluchte sich, nicht an ihr Handy gedacht zu haben. Sie war überstürzt aufgebrochen und hatte sich nur ihre Handtasche geschnappt, in der das Smartphone natürlich schon lange nicht mehr war. Stattdessen hatte sie eines der Autos genommen, die selten benutzt in der Garage standen, und war hergefahren. Die Wächter am Tor zu überzeugen, sie durchzulassen und nicht ihren Vater zu verständigen, war eh schon schwer genug gewesen – aber sie musste einen so kläglichen Eindruck gemacht haben, dass man sie durchgelassen hatte. Sie versuchte es mit einem zweiten und gleich danach mit einem dritten Stein, aber erneut rührte sich nichts. Seit wann hatte Erza einen so tiefen Schlaf? Bei jeglichen Pyjamapartys war sie stets bei dem kleinsten Geräusch aufgewacht. Vielleicht waren die Kiesel zu leicht und damit zu leise und sie sollte es mit etwas Größerem versuchen? Doch ehe sie zu einem Entschluss kam, ging das kleine Licht einer Nachttischlampe an und dann wurde energisch das Fenster aufgerissen. Erzas rothaariger Kopf erschien in der Öffnung, sie beugte sich heraus und bellte: „Wenn ihr zwei Idio…!“ Ihre Stimme brach ab, als sie die ängstlich zusammengeschrumpfte Gestalt im Vorgarten erkannte. Lucy hätte nicht gedacht, dass die andere gleich so aus der Haut fahren würde…! Tatsächlich hatte sie gar nicht viel gedacht, nachdem sie den Rest des Tages und den Abend in einem Panikmodus verbracht hatte. Nur dass sie mit jemandem sprechen musste, mit jemandem, der einen kühlen Kopf behalten konnte, egal was geschah. Natsu jedenfalls war das nicht. Außerdem war sie allein bei dem Gedanken daran, jetzt ihren Freund aufzusuchen, beinahe in Panik ausgebrochen. Gray wirkte zwar meistens sehr besonnen und nüchtern, aber bei solchen Themen wurde er sehr schnell nervös. Und Loke fiel eh weg, weil sie nicht an ihn rankam und am Telefon wollte sie das auch nicht besprechen. Aber Erza… Ihr erster Instinkt hatte sie an Erza denken lassen, also war sie jetzt hier. Außerdem war sie ebenfalls ein Mädchen. Wer wäre also besser? „Lucy?“ Jetzt klang die Rothaarige verwirrt. „Du bist das? Ich dachte, du wärest Gray und Natsu. Die haben das schon einmal gemacht, nur um mich zu ärgern.“ Sie zog ein finsteres Gesicht, was die beiden besagten Jungs sofort in die Flucht geschlagen hätte, wären sie hier. „Aber was machst du hier? Ich dachte, du hast Hausarrest.“ „Hab ich auch.“, antwortete Lucy und Erza runzelte besorgt die Stirn: „Ist etwas passiert?“ Ihr Ton war so fürsorglich und mütterlich, dass Lucy sie für einen Moment einfach nur anstarrte und dann in Tränen ausbrach. Die Rothaarige zuckte erschrocken zurück. „Wa…! Lucy!“ Dann verschwand sie hastig vom Fenster und nur wenige Augenblicke später wurde die Tür aufgerissen. Sie stürzte heraus, um ihre Freundin in eine ungestüme Umarmung zu ziehen, die so heftig war, dass Lucy die Luft aus den Lungen gedrückt wurde. „Nicht weinen.“ Linkisch tätschelte Erza ihren Kopf. „Was auch immer es ist, wir werden es schon wieder richten!“ Die Worte und Gesten ließen Lucy nur noch schlimmer weinen und sie schluchzte laut auf. „Hat es was mit deinem Vater zu tun? Wenn ja, dann werde ich mal ein Wörtchen mit ihm reden.“ Erza ballte die Hand zur Faust und machte Anstalten, sich jetzt sofort auf dem Weg zu machen. Das Bild, wie ihre hochgewachsene Freundin sich vor ihrem Vater aufbaute und ihm drohte, am besten nur in diesem alten Nirvana-Shirt, in dem sie schlief, ließ Lucy auflachen, was als seltsames, ersticktes Geräusch über ihre Lippen drang. „Nur indirekt.“, sagte sie und nahm Erzas Hand, nur zur Sicherheit, nicht dass diese tatsächlich auf die Idee kam, jetzt mit Jude zu sprechen. Das würde alles nur noch schlimmer machen, außerdem hatte er ja wirklich nichts getan. Noch nicht. „Ich… können wir reingehen?“ Lucy versuchte, sich die Tränen wegzuwischen, aber sie wollten nicht aufhören. Warum war sie nur so emotional? Waren das schon die Schwangerschaftshormone? Erza nickte und schlang einen Arm um ihre Schultern, um sie in das Haus zu führen. Leise schlichen die beiden Mädchen die knarrende Treppe hinauf in Erzas Zimmer, doch nichts weiter rührte sich. Anscheinend hatte Makarov nichts von dem nächtlichen Besuch mitbekommen und so sehr Lucy den herzlichen, alten Mann auch mochte, sie hätte es nicht ertragen, wenn er jetzt auch aufgetaucht wäre. Erzas Reich war blitzblank aufgeräumt und alles befand sich genau dort, wo es hingehörte, auch wenn Erzas Ordnung manchmal keinen Sinn machte. In der Ecke stand ein zerwühltes Einzelbett, gegenüber der einzige Ort im Zimmer, auf dem es aussah wie Kraut und Rüben, der Schreibtisch mit einem Computer darauf sowie Schulbüchern und die Anfänge von mehreren Hausaufgaben. Die Regale vor den Wänden daneben waren vollgestopft mit Büchern, alphabetisch geordnet, und vor dem Kleiderschrank mit der antiken Kommode daneben stand ein einfacher Stuhl, auf dem die Kleidung vom letzten Tag abgelegt worden war. Erza bugsierte ihre Freundin in das Sofa, das in der Ecke unter dem Fenster stand. Sie ließ sich neben Lucy in die Polster fallen, blickte diese auffordernd an und fragte: „Was ist passiert?“ Dabei ließ sie ihre Hände nicht einen Moment los. Lucy erwiderte den aufmunternden Griff und holte tief Luft, um sich zu erklären. Dann hielt sie inne. Wie sollte sie das denn sagen? Sie konnte doch nicht einfach so damit herausplatzen! Selbst Erza würde diese Nachricht von den Socken hauen. Warum hatte sie sich das nicht früher überlegt? Ihre Gedanken überschlugen sich auf der Suche nach den richtigen Worten. „Ja?“, hakte die Rothaarige nach, als das Schweigen sich zu sehr in die Länge zog, und sah sehr, sehr aufmerksam aus. Lucy wurde unter dem Blick rot. „Also…“ Sie holte noch einmal tief Luft und begann dann: „Weißt du noch, warum ich Hausarrest bekommen habe?“ Das war doch eine gute Stelle, um anzufangen! Erza nickte. „Weil du bei Natsu warst und mit ihm…“ Sie machte eine nebulöse Bewegung mit der rechten Hand, die alles bedeuten konnte, aber Lucy nickte trotzdem. „Mein Vater weiß nicht, dass Natsu und ich miteinander geschlafen haben und das sollte auch so bleiben, aber… ich … ich bin“ Raus damit! Du kannst das!, feuerte sie sich selbst an. So schwer durfte das doch gar nicht sein. Das war Erza, ihre beste Freundin, die sie immer unterstützt hatte. Das war nicht ihr Vater und nicht einmal Natsu und oh Gott, sie musste es Natsu auch noch sagen und warum war ihr erster Instinkt gewesen, zu Erza zu fahren, und nicht zu ihm und Erza wartete noch darauf, dass sie den Satz beendete und- „-schwanger.“, brach es aus ihre heraus. Die Rothaarige öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch kein Ton drang heraus. Lucy blinzelte. Dass sie das noch erleben durfte! Erza Scarlet! Sprachlos! „Und ich weiß jetzt nicht, was ich tun soll.“, fuhr sie darum fort um die unangenehme Stille zu vertreiben. „Ich meine, mein Vater darf niemals erfahren, dass Natsu und ich Sex hatten, er will sowieso schon, dass ich mit ihm Schluss mache und ich bin erst siebzehn, ich kann jetzt kein Kind bekommen. Ich hab ja noch nicht mal die Schule fertig und wie wird das mit dem Studium und mein Vater wird ausrasten und ich wünschte, meine Mutter würde noch leben.“ „Bist du sicher?“, fragte Erza nach. Für einen Moment war Lucy verwirrt – natürlich war sie sicher, dass sie wollte, dass Layla noch lebte! –, ehe sie begriff, dass ihre Freundin noch immer bei ihrer eröffnenden Aussage hing und den darauffolgenden Redeschwall höchstens am Rande mitgekriegt hatte. „Ich habe fünf Tests gemacht.“, erklärte sie. „Sie waren alle positiv.“ Sie zuckte mit den Schultern und versuchte, die erneuten Tränen herunterzuschlucken, aber es hatte keinen Sinn. Sie brachen einfach aus ihr heraus und ließen ihre Stimme klein und kläglich klingen. „Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“ Diesmal antwortete Erza sofort, indem sie sie erneut in die Arme nahm und sie an sich zog. „Du beruhigst dich erst einmal. Eine Schwangerschaft ist kein Weltuntergang.“ „Aber nahe dran.“, antwortete Lucy missvergnügt und erwiderte die Umarmung. Erzas Haare rochen nach Erdbeershampoo und der vertraute Duft beruhigte sie. Sie wusste, dass ihre Freundin Recht hatte. Schon jetzt fühlte sie sich viel besser als noch am Abend oder gar vor einer Stunde. Und sehr viel ruhiger; sie konnte jetzt sogar wieder halbwegs vernünftig denken ohne nach zwei Sekunden wieder auf Oh mein Gott, ich bin schwanger! zurückzufallen. Es dauerte eine Weile, ehe sie es schaffte, sich von Erza zu lösen, die ihr die ganze Zeit geduldig über das Haar strich. Dankbar nahm sie das Taschentuch an, das die Rothaarige ihr reichte und verbrachte einige Augenblicke damit, sich wieder zu beruhigen. Schließlich nickte Erza und erklärte: „Morgen machst du für Montag einen Termin bei deinem Frauenarzt. Hast du Natsu schon davon erzählt?“ Lucy schüttelte den Kopf. „Ich habe es selbst erst vorhin rausgefunden. Oder bestätigt.“ Geahnt hatte sie es ja schon länger… Sie seufzte und lehnte sich in die Kissen zurück. „Mein Vater wird mich umbringen.“ „Nein, das wird er nicht.“, widersprach ihre Freundin sofort und stützte die Hände in die Hüften. „Er muss nicht einmal was davon erfahren, wenn du es nicht willst. Du hast Möglichkeiten.“ Lucy setzte sich wieder gerade hin und starrte sie an. Wie sollte sie das denn machen? Selbst Jude würde begreifen, was los war, wenn sie plötzlich einen dicken Bauch bekam. Dann dämmerte ihr, auf was ihre Freundin da anspielte. „Oh.“, machte sie und blickte auf ihre Hände hinunter, die in ihrem Schoß lagen. Unwillkürlich legte sie sie sich flach auf den Bauch. Dann zuckte sie unsicher mit den Schultern. „Das … ich weiß nicht, ob ich das kann.“ „Musst du auch nicht. Aber du darfst nicht vergessen, dass es eine Möglichkeit ist. Die eine, bei der dein Vater es nicht erfährt. Auf der anderen Seite ist es vielleicht gut, wenn ihr zwei euch mal aussprecht.“ Erza rutschte näher zu ihr heran und legte ihr einen tröstenden Arm um die Schultern. „Was auch immer du tust, du musst es nicht jetzt entscheiden. Lass dich von deinem Arzt beraten und sprich vor allem mit Natsu!“ Lucy ließ sich gegen sie sinken und nickte. Sie starrte auf ihre verschränkten Hände, die noch immer in einer schützenden Geste über ihrem Bauch lagen. Stellte sie sich etwa schon darauf ein? Wenn sie jetzt schon so emotional war, wie konnte sie eine vernünftige Entscheidung treffen? Aber Erza hatte Recht. Sie musste jetzt noch gar nicht wissen, was sie tun würde. Sie konnte sich beruhigen und ihre Entscheidung mit einem kühlen Kopf treffen. Und sie musste es noch Natsu erzählen. Hatte er nicht auch ein Mitsprachrecht? War es nicht auch sein… Oh Gott, es war auch sein Kind und ihr Kind und wenn er es wollte und sie nicht? Es war auch seine Entscheidung, immerhin hatten sie das gemeinsam verbockt und … und wenn… Sie holte tief Luft. Natsu würde sie nie zu etwas zwingen, was sie nicht wollte. Natsu war der beste und mitfühlendste Freund, den es gab, auch wenn er manchmal auf dem Schlauch stand. „Besser?“, wollte die Rothaarige nach einigen schweigenden Minuten wissen und Lucy nickte. „Ja.“, erklärte sie. „Danke.“ Sie wollte diesen gemütlichen Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlte, nicht verlassen, aber sie wusste, dass sie nicht ewig hier blieben konnte. „Ich sollte heim. Ansonsten findet mein Vater heraus, dass ich weg war und dann krieg nicht nur ich Ärger.“ Mühsam kämpfte sie sich aus dem Sofa hoch und auch Erza erhob sich. „Du weißt, dass du auf mich zählen kannst, ganz egal, wie du entscheidest, nicht wahr?“, versicherte sie und ihre Stimme klang todernst. Lucy umarmte sie dankbar. „Ich weiß. Danke.“ Was würde sie nur ohne ihre beste Freundin tun? Sie schnappte ihre Handtasche, die sie an der Tür hatte fallen lassen, und griff nach der Türklinke. Die Stimme ihrer Freundin ließ sie innehalten. „Du, Lucy…?“ Sie drehte sich um. „Ja?“ Erzas Augen funkelten und ihr hoffnungsvolles Grinsen sprengte beinahe ihr Gesicht. „Ich will die Patin sein.“ ~~*~~❀~~*~~ Doktor Marvell hatte ihre Praxis in der Innenstadt und darum ging Lucy von der Schule aus zu Fuß ohne vorher zu versuchen, Glanville zu einem weiteren Umweg zu überreden. Das erste Mal hatte funktioniert und es hatte keine weiteren Auswirkungen gehabt, weil Jude nicht darüber Bescheid wusste, aber ein zweites Mal hätte der Chauffeur ganz sicher nicht ein weiteres Mal mitgespielt und daher würde sie das nicht riskieren. Vor allem nicht, da dieser Termin so wichtig für sie war. Sie hatte Erzas Rat befolgt und gleich am Freitag einen Termin gemacht. Jetzt war Donnerstag, in dem die Sprechstundenhilfe sie noch hatte hineinquetschen können, nachdem sie am Telefon vor lauter Nervosität in Tränen ausgebrochen war. Trotzdem über eine Woche nach ihrer Entdeckung und vier Wochen nach der … Empfängnis. Vermutlich wäre es besser gewesen, einfach den Termin zu nehmen, den die Arzthelferin ihr zuerst hatte geben wollen, dann wäre ihr Hausarrest auch vorbei, aber sie wollte das so schnell wie möglich hinter sich bringen. Wie konnte sie noch ein weiteres Wochenende warten? Sie musste Gewissheit haben, alles andere würde sie nur die Wände hochtreiben. Außerdem hatte sie beschlossen, erst mit Natsu zu sprechen, wenn sie ihn vor vollendete Tatsachen stellen konnte und sie definitiv einen Braten in der Röhre hatte. Immerhin maß so ein Schwangerschaftstest nur die HCG-Werte und eine Erhöhung eben dieser konnte noch andere Gründe haben als ein Embryo. Auch wenn das sehr unwahrscheinlich war und sie sich keine großen Hoffnungen machte. Außerdem würde das bedeuten, dass sie krank war und das war auch nicht gerade eine gute Nachricht. Die Arzthelferin lächelte sie freundlich an, als sie sie empfing, und wies sie dann an, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Lucy schnappte sich eine der herumliegenden Illustrierten und setzte sich in eine Ecke. Sie schaffte es allerdings nicht, sich auf die Zeitschrift zu konzentrieren, sondern ließ immer wieder nervös den Blick durch den Raum gleiten. Außer ihr waren noch eine hochschwangere Frau mit einem quengelnden Kind und zwei junge Mädchen, die nur ein paar Jahre älter sein konnten als die Blonde und ständig kichernd die Köpfe zusammensteckten, anwesend. Sie warfen Lucy einen kurzen Blick zu und wandten sich dann wieder ihrem Gespräch zu. Die Frau beachtete sie gar nicht, zu sehr war sie mit dem Kind beschäftigt, das sich immer mehr einem Tobsuchtanfall näherte. Würde das auch auf Lucy zukommen? Oh Gott… Nervös rieb sie sich die Hände und erinnerte sich wieder daran, dass man ihr nicht ansah, warum sie hier war. Sie bereute es jetzt schon, Erzas hilfsbereites Angebot ausgeschlagen zu haben, sie zu dem Termin zu begleiten. Sie wusste gar nicht mehr, wo dieser fehlgeleitete Wunsch, das alles alleine zu stemmen, hergekommen war oder was sie als Argumentation dafür angebracht hatte. Aber Erzas selbstbewusste, klare Art würden ihr jetzt ganz sicher helfen. Als sie endlich aufgerufen wurde, hatte sie eine gefühlte Ewigkeit gewartet, gefühlte tausend Kicheranfälle der beiden jungen Frauen und den tatsächlich gekommenen Tobsuchtanfall des Kindes, der ihr fast die Trommelfelle gesprengt hatte, überlebt und war nebenbei in dem Gefühl eingegangen, dass alle Anwesenden sie für diese voreilige Schwangerschaft scharf verurteilten. Sie sprang so schnell auf, dass sie beinahe ihren Stuhl umstieß, so eilig hatte sie es, hier wegzukommen. Dr. Marvell war eine hübsche, stets herzliche Ärztin, nur wenige Jahre älter als Lucy selbst, mit schneeweißem Haar und einem freundlichen, offenen Gesicht, das von den intelligenten, braunen Augen dominiert wurde. Sie war schlank und zierlich, aber ihre energischen Bewegungen versprachen erstaunliche Kraft. Außerdem hielt sie sich mit einem natürlichen Selbstbewusstsein und strahlte innerer Ruhe aus wie man sich das von einem buddhistischen Mönch vorstellte. Lucy kannte sie schon eine Weile, nicht erst, seit sie eine Gynäkologin brauchte. Dr. Marvell – oder Grandine, wie sie sie kennen gelernt hatte – war eine von den Leuten gewesen, denen Layla ein Studium ermöglicht hatte. Und wie viele dieser Leute war Grandine auch mit ihrer Gönnerin in Kontakt geblieben und die beiden hatten sich angefreundet. Dementsprechend war Dr. Marvell ein wenig wie eine entfernte Cousine für Lucy. Sie lächelte Lucy entgegen, als diese eintrat und die Tür hinter sich schloss. „Lucy. Was kann ich für dich tun? Du warst doch erst vor zwei Monaten hier?“ Dr. Marvells dunkle Stimme klang besorgt, aber ihr Händedruck war fest und warm wie immer. Lucy ließ sich in den Stuhl ihr gegenüber fallen und rieb sich wieder die Hände. Kurz zuckte ihr Blick über das Büro, die bunten Kinderbilder an den Wänden, das Regal voller Fachliteratur, die Orchideen auf der Fensterbank. Es hatte wohl keinen Sinn, es länger hinauszuzögern und schwerer als das erste Mal konnte es kaum sein. „Naja.“, begann sie verlegen und ihre Stimme klang seltsam piepsig. Sie räusperte sich, ehe sie fortfuhr: „Es ist so. Ich weiß, also, ich meine, ich denke,“ Dr. Marvell legte fragend und mit einem freundlichen Lächeln den Kopf schief und Lucy gab sich einen Ruck. „ich bin schwanger.“ Die Ärztin blinzelte einmal. Dann nickte sie, als wäre es jeden Tag, dass sie Schülerinnen hier hatte, die aus diesem Grund zu ihr kamen. Vielleicht war es auch so, wer wusste das schon? Aber es waren ganz sicher keine Schülerinnen, die sie persönlich kannte. Vielleicht war es eine dumme Idee gewesen, ausgerechnet zu ihr zu gehen. „Und du bist jetzt zur Kontrolle hier.“, vermutete die Ärztin und ihre Stimme klang neutral. Lucy nickte. „Und… ich weiß nicht. Wie das so läuft, meine ich. Wegen Beratung und so, weil ich noch so jung bin und zur Schule gehe und was für Möglichkeiten ich habe.“ Plötzlich fiel ihr etwas siedend heiß ein. „Du wirst meinen Vater nicht benachrichtigen, oder?“ Die Ärztin schüttelte den Kopf und ihr Gesichtsausdruck war ernst, aber nicht unfreundlich oder gar verächtlich. „Natürlich nicht. Das hier ist vertraulich. Du bist meine Patientin.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und klopfte mit dem Stift auf den Tisch. „Du bist ein vernünftiges, kluges Mädchen, Lucy. Du hast dir sicher schon deine eigenen Gedanken gemacht und weißt, wie ernst das ist und was für eine Verantwortung auf dich zukommen kann. Und ich weiß, dass dein Vater nicht begeistert davon wäre.“ Lucy nickte und biss sich auf die Lippe. Das war noch untertrieben gesagt. Jude würde an die Decke gehen. Sie war plötzlich froh, dass sie ihre Ärztin schon so gut kannte, auch wenn es zu Beginn ein seltsames Gefühl gewesen war, sich ausgerechnet an dieser Stelle von jemanden untersuchen zu lassen, den sie kannte. Aber Layla war während ihrer letzten fünf Jahre auch zu Grandine gegangen und hatte ihre Tochter einfach dorthin mitgenommen. Jetzt war sie unendlich erfreut darüber. „Du hast drei Möglichkeiten.“, fuhr die Ärztin fort. „Die erste wäre, den Fötus abzutreiben. Auch das können wir vertraulich machen und niemand außer dir muss in diesem Falle etwas davon erfahren.“ Lucy nickte. Während der letzten Woche hatte sie viel nachgedacht und viel gegoogelt – und danach jedes Mal ihre Internethistorie gelöscht. Sie glaubte zwar nicht, dass ihr Vater so weit gehen und das überprüfen würde, aber sicher war sicher. Als Erza bei ihrem nächtlichen Gespräch Abtreibung als Möglichkeit erwähnt hatte, hatte Lucy sie spontan ablehnen und verwerfen wollen. Das war dumm, das wusste sie, war es doch der beste Weg, die Sache einfach zu erledigen, hinter sich zu lassen und zu vergessen. Sie würde keinen Streit mit ihrem Vater kriegen und auch keinen mit Natsu, dem sie davon noch nicht einmal erzählen musste. Auch wenn letzteres äußerst unfair ihm gegenüber gewesen wäre. Er hatte ein Mitspracherecht, er war beteiligt gewesen und jetzt hatte er ein Recht, davon zu wissen. Sowieso sträubte sich alles in ihr gegen eine Abtreibung. Das war ein legitimes Mittel für Frauen, die in schlimmeren Situationen steckten wie sie oder einfach besser mit dem Thema zurecht kamen. Aber sie haderte einfach damit. „Die zweite Möglichkeit ist, das Kind auszutragen und es zur Adoption freizugeben. Babys werden meistens sehr schnell in eine Familie untergebracht. Vermutlich würde sich schon jemand finden, ehe es überhaupt geboren wird. Alle Kandidaten werden vorher natürlich auf das Genaueste überprüft; du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass das Kind schlechte Eltern bekommen könnte.“, fuhr Dr. Marvell fort. „Und die letzte Möglichkeit besteht natürlich daran, dass du das Kind bekommen und behalten kannst.“ Lucy nickte erneut. Zu diesem Punkt war sie auch schon gekommen. Eine offensichtliche Lösung für ihr Dilemma hatte sich ihr allerdings nicht geboten. Immerhin hing das vor allem mit Jude zusammen. Aber es tat gut, ihre Möglichkeiten jetzt so klar aufgezählt zu bekommen und vor sich zu sehen. „Weißt du, wie weit du schon bist?“ Die Blondine wurde rot allein bei dem Gedanken daran. „Ist am dritten Mai passiert.“ Die Ärztin nickte. „Dann bist du noch in der fünften Woche. Ich muss dir sagen, dass es bis zur zwölften Woche natürlich noch die Gefahr eines Schwangerschaftsabganges gibt.“ Lucy wurde blass. „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dafür?“ „Fünfzehn bis zwanzig Prozent. Das klingt sehr niedrig, ist es aber nicht.“ Dr. Marvell beobachtete sie genau. „Ich will dir jetzt keine Angst machen oder dich etwas drängen. Du musst dich jetzt absolut noch nicht entscheiden. Du hast noch Zeit. Überleg es dir gut, rede mit deinen Freunden und vor allem dem Vater darüber und lass dir das gut durch den Kopf gehen. Diese Entscheidung kann dein Leben verändern, mehr als du jetzt denkst. Aber denke daran, dass du nicht allein bist und diesen Entschluss auch nicht alleine treffen musst.“, schloss sie mit einem aufmunternden Lächeln. Dann drehte sie sich um, um aus einem Regal einige Broschüren zu nehmen: Hilfe, ich bin schwanger!, Junge Mütter, Schwangerschaftsabbruch und ähnliche Titel. „Hier. Du hast dich vermutlich schon informiert, aber vielleicht hilft dir das trotzdem.“ Sie legte den Stapel vor dem jungen Mädchen auf den Tisch und hielt ihr dann eine schlichte, weiße Visitenkarte entgegen. „Außerdem solltest du zu dieser Beratungsstelle gehen. Ich kenne die Leute dort gut, sie sind professionell und kompetent und werden dich umfassend beraten, ohne dich in eine Richtung drängen zu wollen. Sie können dir auch offizielle Hilfe bei Ämtern, der Schule und ähnlichen Stellen geben, falls du dich entschließt, das Kind zu behalten und dir jemand Knüppel in den Weg werfen will.“ Lucy nahm die Visitenkarte dankend entgegen. Sie starrte sie für einen Moment an, dann nickte sie und schob die kleine Karte sorgfältig in ihren Geldbeutel, versteckt hinter dem Foto von Natsu, das sie dort trug. Dort würde sie auf jeden Fall hingehen. „Danke.“ Dr. Marvell nickte und stand dann auf. „Dann sollten wir jetzt die erste Untersuchung durchführen, oder? Anschließend nehme ich dich ein wenig ins Kreuzverhör und du kannst natürlich auch alle Fragen stellen, die dir einfallen.“ Damit führte sie Lucy in den Behandlungsraum hinüber. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)