Not enough von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Zu viel ------------------ Ihre langen Haare waren zu zwei hohen Zöpfen gebunden, die dann auch noch jeweils mit zwei blau gemusterten Schleifen versehen waren. In den dünnen Fingern lag ein glitzernder Kuli, mit dem sie schnell über ihr Heft kritzelte. Da die Augen nur auf dem Papier gerichtet waren, waren die Lider gesenkt und präsentierten glitzernden Lidschatten und einen sauber gezogenen Lidstrich. Die rot angemalten Lippen bewegten sich leicht, als würde sie die geschriebenen Wörter leise mitsprechen. Ein violettes Rüschenkleid ließ sie niedlich aussehen und gab einen Blick auf das kleine Dekolleté frei. Und plötzlich schüttete Sora sich und betrachtete entgeistert die Kanne Kaffee die sie hielt, dann fiel ihr auf, was sie da eigentlich tat. Marry beobachten. Sie beobachtete ihre Stalkerin, die normalerweise sie beobachtete. So wie es halt normal war, ein  Stalker beobachtete und wurde nicht selber beschattet. Mit zerknirschter Miene trat Sora zu einem Kunden und goss ihm etwas von dem frischen Kaffee in seine leere Tasse ein, dann ging sie wieder hinter den Tresen und schaute nochmal zu ihrem aufdringlichsten Kunden. Marry lernte weiter Englisch, dann hob sich plötzlich ihr Blick und die strahlenden grauen Augen sahen zu Sora hinüber, wo ihr Lächeln auf den Lippen sofort zunahm. Die Kellnerin wollte es sich nicht eingestehen, doch war es wirklich Liebe in der anderen, die sie so zum Strahlen brachte. Natürlich war es nicht zu verneinen, dass noch irgendeine psychische Störung hinter all den kranken Taten des Mädchens steckten, aber diese Gefühle von denen sie andauernd sprach, die waren anscheinend wirklich da und präsent. Irgendwie widerte dies Sora an und während sie Marry´s sanften Blick mit harter Miene erwiderte, hatte sie nur einen Gedanken. Sie lässt einfach nicht ab. „Soraa?“ Die Ghoula schaute ihren jüngeren Kollegen Ken ausdruckslos an. „Hum?“ „Dieses Mädchen da…“, sein Blick glitt zu Marry, die gerade vor sich her kicherte und dann wieder in ihre Schulbücher schaute. „Was soll mit der Brillenschlange sein?“ „Eh… N-nun Uta hat mir von… dem Abend neulich erzählt…“ Natürlich wusste Sora sofort wovon er redete und die Erinnerung an diese Nacht wurden durch die permanenten Schmerzen, die ihr Körper aussendete um ihr zu zeigen, dass es höchste Zeit war etwas zu essen, durchgehend in ihre Gedanken geprügelt. Wenn Marry nicht dazwischen gekommen wäre, hatte die Ghoula etwas von dem Fleisch essen können…? Diese Frage stellte sie sich andauernd. Denn nun, eine Woche später, hatte sie sich nicht dazu überwinden können. Immer war es Marry in ihrem Kopf, die sie davon abhielt zu essen und dies schon seit Monaten- Sora würde es nicht wundern, wenn sie bald tot wäre. Nun räusperte Sora sich und schaute ihren Gesprächspartner ernst an. „Die wird dicht halten, du brauchst sie keine Sekunde länger anzusehen.“ Ken nickte und so gab sie sich wieder ihrem Hunger hin, bis er wieder anfing zu sprechen. „Die Blumen da auf dem Tresen, woher kommen die?“ Soras Blick wanderte auf die in einer Vase steckenden Rosen an ihrem Arbeitsplatz und ihre Miene verfinsterte sich. „Die hat der Chef dorthin gestellt.“, Details verschwieg sie, denn eigentlich gehörte das Gewächs zu ihr. Die Karte mit der Aufschrift „Von der verliebten Marry für die liebe Sora!“, hatte sie eilig weggeschmissen, bevor Herr Yashimura auch nur etwas ahnen konnte. Der alte Mann freute sich über die Aufmerksamkeit eines zufriedenen Kundens und Sora wollte ihm diesen Glauben nicht nehmen. Zwei Stunden später trank Marry an ihrer fünften Tasse Tee und Sora beendete ihre Schicht. Ihre Schürze hing sie in dem Hinterraum in den für die bestimmten Spind. Die Weste öffnete sie und strich sich einige Male über die schmerzende Brust, die durch das zu enge Kleidungsstück aneinander nach hinten gedrückt wurden, dann zog sie sich ihre Jacke über und verschwand nach einer knappen Verabschiedung über den Hintereingang. Lange blieb sie nicht alleine, Marry hatte ihr Verschwinden natürlich sehr schnell bemerkt. „Du läufst ja so schnell!“, keuchte die Schülerin außer Atem, als sie neben dem Rotschopf ankam. Als würde ich das nicht nur wegen dir tun… Gereizt fletschte sie ihre Zähne, verbiss sich jedoch etwas zu sagen. „Duuu, Sora-chan?“, fragte Marry unschuldig und trat noch enger an die andere heran. Erst jetzt fiel ihr auf, dass dünne kleine Regentropfen vom Himmel fielen und die ganze Stadt von dem Nieseln erfüllt war. „Oh.“, auch Marry schien erst jetzt von dem Wetterumschwung Notiz zu nehmen, dann suchte sie panisch in ihrer Tasche herum, ehe sie einen kleinen rosa Regenschirm herausnahm. Natürlich rosa, jede andere Farbe hätte doch nicht zu ihrem Nagellack gepasst, spottete Sora für sich alleine, dann knurrte sie leise als Marry ihr so nahe kam, dass die beiden Arme der Mädchen sich beim Laufen berührten. Bevor die Ghoula zu einem Schlag ausholen konnte, bemerkte sie dann, wie der Schirm über ihren Kopf gehalten wurde und der Regen aufhörte sie zu nerven. Von unten lächelte Marry sie liebevoll an. „Wenn wir eng beieinander laufen, muss keiner von uns beiden nass werden.“ Zu gerne hätte Sora sofort eine Erwiderung gegeben, von wegen sie hätte das gar nicht nötig oder lieber würde sie nass werden, statt sich auf dieses Niveau zu begeben, doch sie blieb ruhig. Irgendwie konnte sie die Stimme gar nicht erheben. „Wirklich hinreißend von dir… aber unser Weg wird sich sowieso gleich trennen.“ Neugierig wurde sie angeblickt. „Ich muss einkaufen und du musst für deinen Nachhauseweg jetzt rüber.“ „Nimm mich doch bitte mit!“, bat das Mädchen. „Never.“ „Biiiitte!! Ich bin auch super brav!“ Ungeduldig blieb Sora stehen und zerrte Marry an einem ihrer Zöpfe nah an sich ran. Bedrohlich bleckte sie ihre Zähne und zischte. „Nein habe ich gesagt.“ Marry´s Augen wirkten riesig, dann lächelte sie leichtgläubig und legte besänftigend eine Hand auf Sora´s Arm. „Na gut, vielleicht ein anderes Mal.“ Das dachte Sora kaum, doch statt etwas zu sagen, schüttelte sie eilig die Finger der andern von sich und ließ sie los. „Na dann, verpiss dich jetzt bitte.“ Das Mädchen zog eine Schnute. „Etwas höflicher bitte“, dann lachte sie und reichte ihr den Schirm. „Hier, nimm du ihn. Dein Weg ist etwas länger und du hast den ganzen Tag schon gearbeitet.“ Einen Moment hielt Sora inne und nickte dann, den angebotenen Regenschutz nahm sie an. „Ich frag mich warum du so dumm bist. Denk doch lieber daran, dass du krank wirst.“ „Das hatten wir doch schon mal! Ich bin nicht dumm, sonder ver-“ „Jajaja.“, Sora wollte das bloß nicht wieder hören. Die dumme, peinliche Liebeserklärung. „Pass gut auf dich auf, Sora-chan.“, auf den Zehenspitzen beugte Marry sich vor. Obwohl die Ghoula kommen sah, was kommen würde, bewegte sie sich nicht und ließ es zu. Wie erstarrt beobachtete sie ihr Gegenüber und spürte den Kuss auf ihrer Wange. Weder fühlte es sich besonders gut an, noch besonders schlecht. Wenn man so darüber nach dachte war so ein Kuss nichts besonderes. Man drückte einfach die Lippen auf die Haut einer anderen Person. Nur die Menschen machten immer so ein großes Drama darum und hatten diese Art von Berührung zu einem Symbol von Liebe gemacht. Marry strahlte wie ein kleines Kind und weinte fast vor Freude. Wer weiß wie lange sie es sich schon gewünschte hatte Sora mit ihren Lippen so nah zu sein… „Denk bloß nicht, dass das irgendeine Bedeutung hat.“, warnte der Rotschopf, dann drehte sie sich weg und schritt ihren Weg voran. Das Nieseln war mittlerweile zu einem richtigen Regenfall geworden und Sora war froh, den Regenschirm zu haben. Da sie ja sowieso weiterhin am Verhungern war, konnte sie es sich nicht leisten noch krank zu werden, vermutlich würde sie in diesem Fall wirklich sterben müssen. Wo ihr der Gedanke vom Essen gekommen war, spürte sie die Schmerzen noch viel deutlicher. Bevor sie überhaupt wusste was sie da tat, bemerkte sie, dass sie Marry´s Gestalt hinterher sah, die sich beeilte und zusah, dass sie so schnell wie möglich vor dem Wasser sicher war. Ihre Gedanken überschlugen sich und sie musste etwas lächeln. Diese Sache würde zwei Probleme auf einmal lösen. Dann schüttelte sie sich, plötzlich brannte die Stelle, die vor wenigen Sekunden noch geküsst wurde etwas.   Am nächsten Morgen saß Marry an dem Tresen des Antik und beobachtete ihre Liebste dabei, wie sie den Filter der Kaffeemaschine wechselte. Sora bleckte ihre Zähne, als es nicht so funktionierte. Sie wünschte, sie könne so das Gerät einschüchtern. Der besorgte Blick ihrer Stalkerin half ihr nicht viel dabei, das Problem zu lösen, dann entkam dem Inneren ein Klicken und die Sache war erledigt. Erleichtert seufzte Sora und nahm dann ihre eigene Tasse Kaffee; diesen kippte sie nur so herunter. Am Anfang hatte es ja noch geholfen, den Hunger einzudämmen, doch mittlerweile war selbst dieses Wundermittel beinahe wirkungslos. „Du siehst überhaupt nicht gut aus, Sora-chan…“ Mit kalten Augen sah der Ghoul zu ihr auf, selber war sie schon ganz entkräftet. Du bist der Grund allen Übels. Ich weiß zwar nicht wieso, aber seitdem du aufgetaucht bist hat alles angefangen. Deine Existenz zerstört mein ganzes Leben. Hass trat in ihren Blick. „Wieso bist du nicht einfach verschwunden?.“, murmelte sie schließlich, ohne eine Antwort zu erwarten. Marry verstand diese Frage anscheinend ganz anders. Vorsichtig sah sie nach rechts und links, doch niemand war in Hörweite. Trotzdem beugte sie sich ein Stück vor. „Mir ist egal ob du ein Ghoul oder ein Mensch bist, das ändert nichts an meinen Gefühlen.“ Na toll… Die Schülerin lächelte sanft. „Dich umgibt etwas Dunkles, vielleicht denkst du ja, dass du immer so grimmig sein musst, weil das alle von einem Ghoul erwarten… Aber ich weiß, dass noch etwas in dir steckt. Und ich denke, dass ich diese gute Seite in dir zum Vorschein bringen kann.“ Sora erwiderte den Blick. Irgendwie hatte dieses Mädchen recht, seitdem sie andauernd an ihr klebte, hatte sie sich wirklich verändert, auf eine Art und Weise, die ihr überhaupt nicht gefiel. „So, dankeschön für den Kakao!“, Marry klatschte und legte eilig einige Yen auf den Tresen. „Nun muss ich leider los, um nicht zu spät in den Unterricht zu kommen.“ Ein Glück, wer weiß, wie lange sie dieses Mädchen noch ertragen hätte.   Nachdem ihre Schicht beendet war, schlürfte Sora erschöpft nach Hause. Im Hinterzimmer hatte sie soeben noch einmal probiert etwas zu essen, doch es war ihr nicht gelungen. Da war einfach kein Licht im Tunnel, das ein Ende zeigen könnte. Bald würde sie deswegen sterben. Akzeptieren wollte und konnte sie das natürlich nicht, doch egal was sie tat, sie konnte einfach nicht dagegen wirken. Zuhause angekommen schmiss sie sich in ihr Bett, dessen Decke so einladend aufgeschlagen war, wie sie es am Morgen hinterlassen hatte. Warum auch das Bett zurecht machen, wenn man es doch eh wieder unordentlich machen würde? Schon bald wurde sie aus unruhigen Träume gerissen, als es an der Tür klingelte. Genervt fluchte sie und schlug sich das Kissen um die Ohren, ihr war klar, dass sie nicht aufmachen würde, egal wie oft der Idiot noch klingeln würde. Kein Geräusch folgte. Misstrauen wurde sofort geweckt. Es war nicht gerade typisch, wenn man jemanden besuchen wollte, klingelte und niemand auf machte, sofort zu gehen. Müde erhob sie sich und schlürfte zur Tür. Durch den Spion konnte sie keine Person ausmachen, trotzdem machte sie auf und trat dann fast in einen Korb, den man vor ihrer Tür platziert hatte. Böse Vorahnung überkam sie, während sie sich bückte und sich den Inhalt ansah. Rosa Erdbeermuffins. Natürlich wusste sie sofort von wem sie waren. Ihr Geschenk stellte sie auf den Tisch ab und setzte sich auf den Stuhl davor. Nach der Schule war Marry höchstwahrscheinlich nach Hause gerannt und hatte diese Dinger gemacht. Nur für sie, man konnte die Liebe in dem Gebäck beinah spüren. Missmutig nahm sie eins in die Hand und betrachtete es von allen Seiten, dann riss sie sich ein Stück ab und schob es sich in den Mund. Sofort würgte sie. Für einen Ghoul wie sie absolut widerlich, dazu noch auf komplett nüchternen Magen. Sora keuchte und biss dann ein größeres Stück ab. Bevor sie es wieder hoch bekommen würde, aß sie schnell weiter. Durch den Luftmangel hatte sie angefangen zu weinen, die Tränen rannen ihre blasse Wange herunter. Wieso zwang sie sich, das zu essen? Wieso warf sie das Zeug nicht einfach weg? Obwohl sie diese Fragen stellte, wusste sie die Antwort doch bereits. Marry. Das alles lag an Marry. Und sie musste weg, das hatte Sora gerade fest entschlossen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)