Unseen Souls von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 24: 24 -------------- Ich ließ mich von meinen Beinen tragen, war zuerst auf dem Weg in mein Zimmer, doch erreichte letztendlich den Onsen. Er war verlassen zu dieser Zeit und wie träge ließ ich mich auf eine der Bänke sinken und begann mich auszuziehen. Würden Missionen warten, würde Komui sich melden, ging es mir durch den Kopf. Es blieb ihm überlassen, denn ich tat alles lieber, als mich ihm auszuliefern und ihm die Gelegenheit zu bieten, sich an weitere, unsinnige Aufgaben zu erinnern, die er mir übertragen könnte. Also versteckte ich mich und widmete mich der Eigennützigkeit. Träge streifte ich mein Hemd über den Kopf und wie abrupt hielt ich inne, als es kitzelnd meine Nase berührte. Wie ein Anker erreichte mich die Brise des allmählich vertrauten Geruches und wie ehrfürchtig nahm ich ihn auf. Reglos, das Gesicht im Stoff versenkt und tief atmend. Wie genoss ich diesen Duft und ließ mir Zeit, da ich befürchtete, er würde zu schnell verfliegen. Ich wurde nicht gestört, während ich ausharrte und wie schwer fiel es mir nach endlosen Momenten, mich zu lösen und unter die Dusche zu treten. Ich wusch mich automatisiert und ebenso gedankenlos stieg ich in den Onsen und ließ mich sinken, um dem Schlagen meines Herzens zuzuhören. Ich erinnerte mich daran, wie ich am Morgen aufstand und schmunzelte unwillkürlich unter den Gedanken, die ich zu diesem Zeitpunkt führte. Wie angespannt ich gewesen war, wie nackt unter der Hülle der Entschlossenheit, die binnen der dunklen Stunden von mir bröckelte. Wie hatte ich mich hinausgeschlichen, mich in einem Rahmen bewegt, in dem nur Kanda existierte und unsere derzeitige Situation. Ich wusste nicht, was mich erwartete und hätte es nie geglaubt, hätte man mir diesen Verlauf prophezeit. Dieser Tag schien so unpassend, wenn ich das bisherige Schema bedachte. Er war nicht kompatibel mit meiner Realität und doch glaubte ich ihn noch zu spüren, den warmen Druck der Hand, die sich vor kurzem auf meinen Rücken bettete. Es war geschehen und wie tief atmete ich durch. Mein Körper hatte sich bisher nicht weniger bewegt als meine Gedanken. Fortwährend war ich auf den Beinen gewesen, hatte Akten getragen, war Treppen auf- und abgestiegen und kam erst jetzt wirklich zum Stillstand. Meine Muskeln lockerten sich, meine Glieder schienen schwer zu werden und erst jetzt erinnerte ich mich daran, die vergangene Nacht kaum geschlafen zu haben. Ich war nicht tief abgedriftet, hatte mich viel eher gedreht und gewendet, hatte mich am Morgen auch nicht ausgeschlafen gefühlt oder als wäre ich dem Tag gewachsen. Diese Boten waren es, die Stück für Stück zu mir zurückdrifteten. Die Müdigkeit und Schwäche nach schlechten Nächten machten für gewöhnlich permanent auf sich aufmerksam, nur heute wurden sie vorübergehend begraben unter einem warmen, absolut irrealen Schleier. Jetzt schien er sich zu lüften und ließ mich gähnen. Ich wurde schwer, wurde träge und während ich dort lag, glaubte ich zu spüren, wie sich meine Gedanken ebenfalls diesem seltsamen Sog unterwarfen. Als hätte es heute kein Gegengewicht gegeben. Als wären die Nacht und der fehlende Schlaf alles, was von Bedeutung war. Ich rieb meine geschlossenen Augen, suchte in der Dunkelheit, die ich vor mir sah, nach jenem warmen, hellen Schleier, doch fand ihn nicht. Er war zu besonders, viel zu heilig, um immer und leichtfertig greifbar zu sein. Wieder atmete ich tief ein, tief aus, öffnete die Augen und betrachtete die mit Holz verkleidete Decke. Mit einem Mal fühlte ich mich entkräftet. Der Sturz war tief und nicht zu begreifen. Vor kurzem schwebte ich noch in den allerschönsten Höhen. Mein Herz schlug so lebendig in meiner Brust, während ich jeden Augenblick und Kandas Nähe genoss, doch mit meinen Schritten schien mich ich mich von alldem entfernt zu haben. Meine Stimmung sank und ich konnte es mir nicht erklären. Hatte ich nicht gerade ein unrealistisches Ziel erreicht? War zwischen Kanda und mir nicht gerade etwas geschehen, dessen Wirkung mich länger leicht machen müsste? Weshalb diese Schwere? Wusste mein Geist dieses Geschehnis gar nicht zu schätzen? Flüchtig und ziellos spreizte ich die Finger, bevor ich sie um meinen Unterarm schlossen. Der Wasserdampf erschwerte mir das Atmen, abermals rauschte mein tiefes Luftholen in dem Raum, als ich das Gesicht wendete und nach Bequemlichkeit suchte. Wie lange hatte in meinem Kopf dieses Gewitter getobt? Dieser Wirrwarr aus Unsicherheit und Grübeleien, wochenlang so fixiert auf ein- und denselben Menschen, der nicht einmal wusste, dass er für mich zum Zentrum wurde. Wie endlos hatte ich gedreht und gewendet, was aus all der Nachdenklichkeit entstand, hatte Vermutungen hinterfragt, bald wieder begraben und nach den nächsten gesucht. Mein Kopf war beschäftigt, war abgelenkt und wie seltsam fühlte ich mich nach dem Verlust dieses Ballasts. Als wären meine Gedanken rein gewaschen, denn zurück blieb in Bezug auf Kanda nur noch ein Fakt. Er ließ mich vordringen und ich würde es tun, bis er mir eine Grenze aufzeigte. Das Chaos war mit einem Mal simpel. Auch Kandas Gedanken würde ich nie erahnen können, weshalb mir auch in diesem Gebiet nichts andere blieb, als es auf mich zukommen zu lassen. Noch immer die Strukturen des Holzes erforschend, bettete ich die Hand auf meiner Brust und spürte unter ihr das Schlagen meines Herzens. Es schlug dumpf und schwer und stirnrunzelnd konzentrierte ich mich auf meine Atmung. Ich glaubte, ein alter Bekannter würde mich erreichen und mir Vorwürfe machen, da ich ihn für längere Zeit vergaß. Seit Tagen quälten mich keine Alpträume mehr, seit Tagen nahm auch mein Körper nicht mehr an ihnen teil. Kein rasendes Herz, kein rasender Atem, keine abstrusen Gedanken, die sich von dieser Wirklichkeit abkapselten und mir eine andere zeigten. Wie fixiert war ich gewesen und wie wohl hatte ich mich gefühlt mit den anderen ungewohnten Problemen. Absent rieb ich meine Brust, glitt mit der Hand bis zu meinem Hals und schluckte konzentriert gegen den Druck, der sich schwelend in meiner Kehle aufbaute. Es war, als wäre ich schutzlos zurückgeblieben, sobald sich der helle, warme Schleier von mir hob. Als hätte er mich ebenso geschützt vor all dem, das außerhalb lauerte. Ich räusperte mich, atmete langsam, doch hatte das Gefühl, bereits verloren zu haben, nur indem ich wusste, was mich erwartete. Manchmal geschah es, dass mein Körper auf etwas reagierte, das ohne mein Bewusstsein emporstieg und meine Aufmerksamkeit an sich band. Als wäre es ein Irrglauben, dass ich nur in der Nacht erreichbar war. Ächzend richtete ich mich auf, rieb meinen Nacken, räusperte mich erneut und schloss die Augen. Es war schwer sich zu wehren, wenn man seinen Feind nicht kannte. Ich spürte nicht, woraus die Beklemmung bestand, spürte nicht die Richtung, aus der sie drang. Ein drückender Kopfschmerz war mein plötzlicher Begleiter und bald darauf schob ich die Hände in das Haar und rieb meine Schläfen. Ich sollte mich in Bewegung setzen, dachte ich mir, mir einbildend, dem Schauer dadurch zu entkommen. Wenn mich meine Beine trugen, fand ich vielleicht einen Ort, der mir weiteren Aufschub erlaubte. Mit einem Mal fühlte ich mich müde, marode und dünn, als würde sich ein anderer Schleier über mich legen und wie träge versuchte ich ihn von mir zu streifen, stemmte mich in die Höhe und stieg aus dem Becken. Meine Knie trugen mein Gewicht nur unwillig. Ich strauchelte, bevor ich nach dem Handtuch griff und es um meine Hüften schlang. Meine Kehle schien sich weiterhin zuzuschnüren und wie gefüllt war ich mit einem Mal von schwarzen Frust. Der höhnische Schlag des Schicksals könnte nicht schmerzhafter sein und wie verbittert zog ich mich zurück, mich abzutrocknen und anzukleiden. Als wäre ich übermütig geworden. Als müsste das Leben mich stoppen, bevor ich den Boden unter den Füßen verlor! Dabei waren es nur wenige Momente des puren Glücks, die ich meinte, verdient zu haben. Meine Sinne stürzten sich in Chaos und mein Körper beteiligte sich daran. Ich musste mich beruhigen, doch der Wille war nicht mehr als ein mattes Flüstern, das einem Schwindel unterlag. Abermals ein Straucheln, ein Schwanken und flüchtig suchte ich Halt an den kalten Fliesen der Wand, bevor ich die Räume verließ und hinaustrat in den Gang. Die Schuhe pendelten an meiner Hand, doch meine Füße spürten die Kälte des Bodens nicht. Finster blieben meine Augen an ihn genagelt, als meine Schulter eine Ecke schrammte. Ich wollte mich hinlegen und lachte im nächsten Augenblick schon über diesen Plan. Als hätte es mir überwiegend gut getan, die Decke über mich zu ziehen und die Augen zu schließen. Doch etwas anderes blieb mir nicht. Nichts anderes außer dem alten Hoffen, dass ich diesmal Ruhe fand. Meine Flucht blieb ungestört und nur knapp gelang es Tim mir zu folgen, bevor ich die Tür hinter mir schloss und auf die Matratze sank. Seine Flügelschläge drangen kaum zu mir und auch auf seinen Anblick legte ich keinen Wert. Ich tastete nach der Decke, verbarg mich unter ihr und kroch in mich zusammen. In diesem dunklen, weichen Kern, in den ich mich so gutgläubig flüchtete. Nur wenige Stunden Schlaf und Stille brauchte ich, um meine Sinne zu bereinigen, doch es blieb bei unendlichen Flüchen, mit denen ich mich selbst vergiftete, während ich mich windete und drehte, unruhig und unzufrieden mit jeder Position. Man störte mich nicht. Niemand klopfte an meiner Tür und durchbrach die Stunden, die ich mit mir selbst vergeudete, ohne zu wissen, ob ich nicht zumindest etwas aus der Wirklichkeit driftete. Irgendwann öffnete ich abrupt die Augen und stemmte mich in die Höhe. So rasch, als hätte man mich gerufen oder ein Knall mich erschreckt. Das Zimmer umgab mich in demselben Licht und wie lange starrte ich auf die Konturen des Gesteins. Hinter meinem Fenster lag die Helligkeit des Tages und sofort stellte ich mir die Frage, ob es schon der nächste war. Hatte ich vielleicht wirklich geschlafen? Mein Bewusstsein war so zerstreut und vernebelt. Wirr fiel das Haar in meine Stirn, als ich den Kopf sinken ließ und meine Augen rieb. Es war nicht außergewöhnlich. Mit dem, was geschehen war, wusste ich mittlerweile umzugehen und versuchte erst gar nicht nach Gründen zu suchen. Es war passiert und auch wenn es mir schlecht ging, war es dennoch vorbei. Ein leichter Hunger forderte meine Aufmerksamkeit. Es war wie ein einziger, deutlicher und gleichzeitig erleichternder Hinweis, dem ich in jedem Zustand folgen konnte und so befreite ich mich aus der Decke und quälte mich abermals auf die Beine. Ich beschloss, mich keiner Hast auszusetzen. An das Wesentliche würde ich mich entsinnen, wenn mein Magen gefüllt und ich vollständig bei mir war. Stockend begann ich mich neu einzukleiden und nach meinen Schuhen zu suchen. Ich durchquerte mein Zimmer teilweise ziellos, doch irgendwann ließen meine Bewegungen nach. Meine Augen blieben an einem unbedeutenden Punkt hängen und eine flüchtige Teilnahmslosigkeit überkam mich, bevor ich die die Lippen aufeinander presste. Kanda. Ich erinnerte mich mit einem Mal und wie seltsam fühlte es sich an, dieses schüchterne, warme Gefühl, das doch nicht wirklich zu mir durchdringen wollte. Meine Augen senkten sich zu meinem Oberkörper und wie tief atmete ich durch, bevor ein müdes Schmunzeln an meinen Lippen zog. Ein kleines Licht erwachte in meiner Dunkelheit. Nicht mächtig genug, um über sie zu siegen, doch ich liebte es für seine bloße Existenz. Als ich in das Treppenhaus trat, zog mir Kälte entgegen. Keine Menschenseele war unterwegs. Nicht einmal Geräusche drangen zu mir und das Klicken des Schlosses schallte an dem Gestein wider, als ich die Tür schloss und mich in Bewegung setzte. Zumindest die körperlichen Beschwerden hatten nachgelassen, dachte ich auf meinem Weg, doch es waren nur wenige Schritte, bis ich innehielt und mir meine Füße betrachtete. Ich regte die Zehen in völliger Freiheit. Wo waren meine Schuhe? Ich stand barfuß dort und grübelte eine Weile, bevor ich mich auf den Rückweg machte. Kurz darauf war das Problem gelöst und nach weiteren suchte ich nicht, als ich mich abermals auf den Weg zum Speiseraum machte. Nur wenige Geräusche erwarteten mich dort zu dieser frühen Abendstunde und ebenso still musterte ich die Anwesenden. Nur wenige Finder, die sich in kleinen Gruppen zusammengefunden und auch nicht viel zu bereden hatten. Und unter ihnen… Meine Miene erstarrte, als Lavi mich bemerkte. „Allen!“ Er winkte mir, doch mir gelang kein Lächeln. Meine Höflichkeit hatte sich schon oft gegen mich gewendet. Selbst in dieser Situation trieb sie mich zu Lavi, obwohl seine Gesprächigkeit mich in meinem Zustand nur weiterhin zersetzen würde. Auch Jerry war besorgt, er fragte nach und natürlich tat ich so, als wüsste ich nicht, wovon er sprach. Dabei war ich blass und wusste es auch. „Allen.“ Seufzend registrierte auch Lavi mein Aussehen. „Du solltest etwas mehr schlafen, findest du nicht?“ Resigniert sah ich ihn an, sah ihn kauen und sein Essen genießen. „Dann sähst du nicht mehr aus wie ein wandelnder Toter.“ Er wies mit der Gabel auf mein Essen. „Und hättest auch mehr Appetit.“ Es stimmte. Der Appetit fehlte, mein Tablett war ungewohnt leicht beladen und auch nach dem Löffel griff ich wenig enthusiastisch. „Wenn ich mit dem Opa unterwegs bin, sagt er mir das auch oft“, fuhr Lavi da schon fort. „Schlaf und iss ordentlich. Das predigt er, obwohl er sich überwiegend von Tee ernährt. Und Schlaf bekommt man hier auch nicht immer.“ „Mm“, murmelte ich nur, während ich mich bitterlich für meine Höflichkeit verdammte. Weshalb reagierte ich nicht so, wie ich es brauchte? Welchen Schein hatte ich mit diesem Gesicht zu wahren? Und war es nicht normal, dass es schlechte Tage gab? Nein. Meine Schultern wurden schwer bei der plötzlichen Einsicht. Ich zeigte meine schlechten Tage nicht, denn ich lächelte und war freundlich, ganz gleich, was unter meiner Hülle tobte. Dabei wäre es nicht schlimm gewesen. Nicht so schlimm wie die Maskerade, durch die ich mir nicht nur in diesem Moment mein Grab schaufelte. „Wusstest du, dass ich gestern mit dem Panda in Montpellier war?“ „Nein.“ Ich senkte den Kopf und rieb meinen Nacken. Wie verspannt er war. Mein gesamter Körper wirkte so matt und im seltsamen Gegensatz verzerrt und steinern. Ich schloss die Augen und schöpfte tiefen Atem und wie beruhigend warm floss abrupt ein Gedanke in mich. Wie ein wohlwollender, inniger Strom. Ich wollte Kanda sehen. „Jedenfalls war da dieser Herbergenbesitzer und der hat...“ Ich wollte ihn sehen, doch fühlte mich ihm gleichzeitig nicht gewachsen, denn ich wollte seinen Anblick grenzenlos genießen, wollte mich daran erinnern, was im Schutz der abgelegenen Lagerräume geschah. Derzeit waren meine Gedanken zu finster, um seinem Licht zu begegnen und meine Sinne zu gehemmt, um richtig zu handeln. Was auch immer er dachte, es lag mir viel daran, ihm auf jede erdenkliche Weise zu antworten. Dass es kein Fehler war, sondern eine Richtung, in die ich genüsslich zog, jeden Schritt liebend. Doch wohin führte sie uns? „Das hat er wirklich gesagt.“ Lavi brach in Lachen aus. „Schwer zu glauben, nicht wahr?“ Kanda tat nichts Unüberlegtes, ging es mir durch den Kopf. Die Suppe tropfte vom Löffel und absent verfolgte ich es. Was er tat und unterließ, war steinern und begründet und traf er eine Entscheidung, so konnte man sich auf sie verlassen. In all ihrer Endgültigkeit. Ich versenkte den Löffel im Mund und schluckte die warme Suppe. Es fühlte sich gut an, wie sich ihre Wärme in meinem Körper ausbreitete. „Du hörst mir gar nicht zu“, drang unterschwellig Lavis Brummen zu mir. „Dabei ist die Geschichte so lustig.“ „Sie interessiert mich nicht.“ Mit einem Mal flossen diese Worte in die Freiheit und nicht nur ich hielt kurz inne. Stockend ließ Lavi die Gabel sinken und er regte sich nicht, während ich bereits weiter aß. „Sie interessiert dich nicht?“, fragte er nach wenigen Momenten perplex. „Überhaupt nicht.“ „Okay.“ Verstört rückte er sich zurecht. „Dann vielleicht eine andere?“ „Nein.“ Er schnitt eine flüchtige Grimasse und kratzte sich im Schopf. „Was ist denn heute mit dir los?“ Heute war es recht leicht, dazu zu stehen, da ich mit weitaus größeren Problemen umzugehen hatte und diese hier deshalb in ihrer Größe und Bedeutung schrumpften. Wir waren zu zweit. Einer wollte reden, der andere nicht zuhören, also konnte der erste getrost den Mund halten. Und das tat Lavi, wenn es ihm auch schwerfiel. Es entstand eine Stille, die ihm sichtlich unangenehm war und während er mir immer wieder skeptische Blicke schickte, war ich mit meinen Gedanken längst wieder woanders. Ich hatte darauf zu achten, wie sich Kanda verhielt. Wie wach und penibel hatte meine Aufmerksamkeit zu sein, mit der ich seinen Worten und seinem gesamten Gebaren begegnete. Wie wollte ich ihn erforschen, wie wollte ich ihn verstehen und wie liebte ich die Freiheit, die ich mit einem Mal zu besitzen glaubte. Ich aß auf, verabschiedete mich von Lavi und kam auf die Beine. Mein Körper fühlte sich gestärkt aber meine Nerven hatten wenig Besserung erfahren. Doch es war ohnehin schon spät am Abend. Bald würde ich mich wieder hinlegen und wenn die Sonne morgen aufging, begann ein neuer Tag. Nur wohin ging ich jetzt? Wonach war mir? Zurück in mein Zimmer? Nein, ich brauchte Ablenkung. Die Wissenschaftsabteilung war immer dafür geeignet, denn dort hatte man keine Zeit, sich zu sehr mit mir zu befassen und der Gedanke, den Leuten als Unbeteiligter bei der Arbeit zuzusehen, war nicht schlecht. So wandte ich mich um und machte mich auf den Weg. Johnny war wieder wach und mit einem Stapel von Kopien beschäftigt. River diktierte Rokujugo einen Brief und auch der Rest der Wissenschaftler war fleißig. Es war ein Treiben, in dem ich kaum auffiel und so suchte ich mir eine kleine, abgeschiedene Ecke. Es war ein kleiner Schreibtisch, auf den ich aufmerksam wurde. Am äußersten Rand der Abteilung und mit so einigen Unterlagen belastet. Aber da gab es auch einen ganz gemütlichen Stuhl und kurz darauf saß ich schon dort, legte die Beine hoch und verschränkte die Arme. So ließ es sich aushalten. Man konnte sprechen, soviel man wollte, solange man es nicht mit mir tat. Ich schöpfte tiefen Atem, ließ mich tiefer rutschen und bettete den Hinterkopf auf der Stuhllehne. Nicht weit entfernt war Johnny immer noch an den Kopien zugange. Die Arbeit schien ihm nicht sehr zu gefallen, denn es dauerte nicht lange, da spähte er zu mir. Er schien über etwas nachzudenken und durchdacht spähte ich in die andere Richtung. Ich durfte nicht aussehen, als würde ich mich langweilen, doch scheinbar tat ich es längst, denn es vergingen nur wenige Momente, da gesellte sich Johnny zu mir. „Allen?“ Nur leise sprach er mich an, heimlichtuend, doch gleichzeitig aufgeregt und freudig. „Du hast doch gerade Zeit, oder?“ Hatte ich das? Die Zeit der Direktheit schien vorüber. Aus irgendeinem Grund konnte ich Johnny nicht zurückweisen. „Folgendes.“ Er rieb sich die Hände. „Jerry, ich und ein paar andere machen uns gerade Gedanken über die neuen Sommeruniformen.“ Ich rümpfte die Nase. „Sie sollen schlicht und trotzdem schön sein, weißt du? Dazu befrage ich derzeit alle, die die Uniformen tragen werden.“ „Mm.“ Ich bewegte den Kopf auf der Rückenlehne und starrte zur Decke der Abteilung auf. „Wir dachten an eine dunkle, weinrote Uniform mit gelben Säumen.“ Eifrig schob Johnny die einen oder anderen Unterlagen zurück, bis er sich auf die Kante des Schreibtisches setzen konnte. Scheinbar wollte er länger bleiben. „Oder vielleicht mit goldenen Säumen?“ Ja, Gold war wirklich sehr schlicht. „Was hättest du lieber? Es ist uns wichtig, uns nach euren Wünschen zu richten.“ „Was war das?“ Ich sammelte meine letzte Kraft für die Frage, mit der ich Interesse heuchelte. „Gold oder Weinrot?“ „Nein.“ Johnny lachte. „Gelb oder Gold.“ „Warum nicht grün?“ Es passierte wieder. Ich wurde gehässig, doch Johnny verstand es glücklicherweise nicht. „Grün?“ Er war völlig perplex. „Grün?“ „Oder blau.“ Resigniert sah ich ihn an. „Blaue Uniformen?“ Johnny schnitt eine Grimasse. „Wenn ich Jerry das vorschlage…“ „Dann lasst sie rot.“ Ich unterdrückte ein Gähnen. „Und lasst die ganzen Säume einfach weg, dann stellen sich solche Fragen gar nicht.“ „Meinst du das ernst?“ Ich rieb mir die Augen, rieb mir die Wange, da drang eine Bewegung in mein Bewusstsein und während Johnny noch lachte und sprach, da lehnte ich mich zur Seite und starrte an ihm vorbei. Mit einem Mal war ich so weit entfernt, dass er nicht mehr nach mir greifen könnte. Mit einem Mal war ich wach und aufmerksam, denn soeben hatte Kanda die Abteilung betreten und ich ihn gespürt, als würden meine Sinne schon von weitem auf seine Präsenz reagieren. Seufzend kratzte sich Johnny am Kopf. „Zum Glück bist du nicht für die Uniformen zuständig, Allen.“ Ich konnte und wollte meine Augen nicht von ihm lösen. Allein ihn zu sehen tat so unendlich gut und schien mich auf seltsame Weise zu ordnen. Nur einen Moment später bemerkte ihn auch Johnny und somit löste sich seine Aufmerksamkeit von mir. „Kanda!“ Er winkte ihm, ließ ihn innehalten und schmunzelnd realisierte ich das Déjà-vu. „Hast du einen Moment Zeit? Ich mache eine Umfrage zu den neuen Sommeruniformen.“ „Sommeruniform.“ Kanda deutete das Kopfschütteln nur an, bevor er seinen Weg zu Komuis Büro fortsetzte. „Ich habe nicht einmal eine Winteruniform, also könntest du dich erst einmal darum kümmern?“ „Oh, stimmt.“ Johnny schnappte nach Luft. „Das habe ich ganz vergessen!“ Während ich Kanda nachsah, wandte sich Johnny an mich. „Es tut mir Leid, Allen. Aber ich glaube, das hat Vorrang.“ Alles hatte Vorrang, wenn es darum ging, mich zu nerven. Langsam schob ich mich vom Stuhl. Tim ruhte auf einem Bücherstapel und beiläufig bekam ich seinen Schweif zu fassen und zog ihn hinter mir her. Ich ging. An diesem Punkt bemerkte ich, dass es mir genügte. Kein Gespräch mehr, kein Essen. Selbst Kanda war ich bereit, zugunsten eines neuen Versuches ziehen zu lassen. Vorläufig. Nun brauchte ich wirklich Schlaf, wenn auch nur wenige Stunden. Ich setzte mich nicht mehr der Gefahr aus, in Gespräche verwickelt zu werden. Mein Magen war gefüllt und meine Beine nicht mehr bereit, große Wege hinter sich zu lassen. Auch Komui schien nichts von mir wollen. Insgesamt sah es nicht danach aus, als würde man mich brauchen und so zog ich mich abermals zurück. Draußen war es noch so grau wie in den letzten Tagen auch. Die Sonne versteckte sich irgendwo hinter dieser trostlosen Schicht aus Wolken. Nur kurz lugte ich zum Fenster, bevor ich mich hinlegte und herzhaft gähnte. Hoffentlich war diese Müdigkeit ein gutes Zeichen. Mein Kopf suchte sich seinen Platz neben Tim auf dem Kissen und in den ersten Augenblicken drehte und wälzte ich mich auf der Suche nach der richtigen Bequemlichkeit. Dann lag ich dort, den Kopf auf den Oberarm gebettet und die Augen absent auf das Fenster gerichtet. Auf der anderen Seite des Glases wurde es immer dunkler. Ich betrachtete es mir lange und oft, während es die Nacht offenbarte und irgendwann die nahe Dämmerung. „Kaffee?“ Mit großen Augen starrte Jerry mich an. „Liebes, meinst du nicht, du bist dafür zu jung?“ „Ich brauche irgendetwas.“ Zermürbt stemmte ich mich auf den Tresen. „Irgendetwas, Jerry. Mach mich wach.“ „Hast du schlecht geschlafen?“ Jerry schloss sich mir an. Er seufzte, als würde ihn mein Zustand ins Herz treffen. Nachdenklich rieb er sich das Kinn, brummend kratzte ich mich im Schopf und plötzlich hatte er eine Idee. „Weißt du was?“ Sein Gesicht entgleiste ihm vor Freude. „Ich mache dir einen Cappuccino!“ „Einen Cappuccino?“, wiederholte ich skeptisch. „Das hilft?“ „Und wenn nicht“, Jerry bekam meine rechte Hand zu fassen und drückte sie liebevoll, „dann mache ich dir noch einen und noch einen! Bis du zufrieden bist!“ „In Ordnung.“ „Und was magst du sonst noch zum Frühstück?“ „Alles, wo Eier drin sind“, entschied ich mich, fest entschlossen, diesmal der zu sein, der die Eier-Vorräte wegaß. Diesmal genoss ich das Essen in aller Ruhe. Es gab niemanden, der sich genötigt fühlte, abstruse Geschichten zu erzählen. Auch keinen anderen, obwohl mir ein schweigsamer, ruhiger Zeitgenosse nichts ausgemacht hätte. Doch nun konnte ich mich auf mein Essen konzentrieren, musste nicht vorgeben, aufmerksam zu sein oder zu nicken, obwohl ich kein Wort verstand. Ich blieb für mich und auch der Kopfschmerz schien sich zu legen, als ich mir den Magen füllte. Es wurde wirklich besser und spätestens als ich den Mangosaft trank, entrann mir dieses Seufzen, das fast von Zufriedenheit zeugen könnte. Ich fuhr mir über die Lippen und griff nach meinem Cappuccino. Er schmeckte so sehr nach Schokolade, dass eigentlich nicht viel mehr drin sein konnte aber ich vertraute Jerry. Er war so wunderbar heiß, dass ich die Hitze bis in den Bauch spürte. Einige Zeitlang befasste ich mich nur mit dieser Tasse, schlürfte und nippte, bis es sich besser trinken ließ. Von da an ging es schnell. Diesen Cappuccino, ging es mir durch den Kopf, den konnte ich vielleicht zur Gewohnheit machen. Bequem tastete ich wieder nach dem Besteck und mit jedem Bissen schrieb ich diesem Tag vorsichtig mehr Chancen zu. Er hatte recht neutral begonnen. Was mir jetzt noch fehlte, war eine Möglichkeit, Ablenkung zu finden. Tim saß auf dem Tisch und nahe der Curry-Eier, weshalb ich diesen Teller kurz darauf argwöhnisch zu mir zog, doch gerade hatte ich ihn in Sicherheit gebracht, da erhob sich dieses Rauschen und Tim schlug mit den Flügeln. Da rief mich jemand. Langsam tastete ich mit der Gabel nach den Curry-Eiern. „Allen?“ Es war Komui und langsam verstaute ich ein Ei im Mund. „Kommst du bitte zu mir?“ „Mm.“ Ich begann zu kauen. „Mach ich.“ „So ist‘s fein.“ „Kriege ich eine Mission?“ Schon tastete ich nach dem nächsten Ei und die folgende Zustimmung ließ mich ungläubig inne halten. Was für ein Zufall. Ich sehnte mich nach Abwechslung und schon kam sie herbei. Dieser Tag war gruselig. Als ich Komuis Büro betrat, wirkte er aufgewühlt. Nur flüchtig winkte er mich näher und war sonst damit beschäftigt, in wahllosen Unterlagen zu wühlen. Die schwarzen Mappen schob er zur Seite, eine andere Akte zog er hervor und während ich auf dem Sofa Platz nahm, begann er in ihr zu blättern. Ein tiefes Durchatmen drang an meine Ohren. Etwas schien ihn zu belasten und was das war, erfuhr ich rasch. „Es ist passiert.“ Er starrte mich entrüstet an. „Allen, es ist tatsächlich passiert.“ „Was ist passiert?“, fragte ich und ächzend legte er die Akte zur Seite. „Kanda hat eine Mission abgelehnt. Was mache ich nur, wenn alle anfangen, mir auf der Nase herumzutanzen?“ „Ich kann nicht tanzen“, beruhigte ich ihn und plötzlich griff er nach einer der schwarzen Mappen. „So ein Rüpel“, regte er sich auf, als er sie mir reichte. „Meinte, ich soll dir die Mission geben, weil du angeblich faul bist.“ Perplex sah er mich an. „Bist du das?“ „Nein, ich bin sehr fleißig.“ „Das denke ich auch.“ Er stöhnte. „Du nimmst die Mission doch an, oder?“ Wie tief war er gesunken, dass er jetzt schon bettelte? Ich wusste nicht, warum er es bei mir tat. Ich sah bestimmt nicht so aus, als würde ich mich über eine Mission ärgern. Nein, eher war ich erleichtert, das Hauptquartier zu verlassen, möglicherweise Ablenkung zu finden und so auch zur Besserung. Wie interessant. Schmunzelnd öffnete ich die Mappe. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass mir eine Mission gut täte und plötzlich schob mir Kanda eine zu. Ich verstand es, war wohl langsam geübt darin, die Kehrseite der Kehrseite zu erblicken und Verständnis zu entwickeln. „Es ist nicht viel“, seufzte Komui und lehnte sich zurück. „Im spanischen Lager wurde ein Innocence sichergestellt. Gerade sind dort leider nur Finder stationiert, weshalb du dich sputen solltest. Wir können es uns nicht leisten, das Innocence zu verlieren.“ „Heißt, ich soll es nur abholen“, schloss ich aus seinen Worten und sah ein Nicken. Plötzlich beschlich mich die Befürchtung, Kanda hatte doch andere Gründe, diese Mission abzulehnen. Die Aufgabe als Laufbursche war ihm vermutlich ebenso lieb wie die eines Dolmetschers. Aber es war in Ordnung. Ich freute mich darauf, unterwegs zu sein. Komui winkte mir erleichtert, als ich die Mappe unter den Arm klemmte und sein Büro verließ. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, streifte die Uniform über und als ich dann in das Treppenhaus trat, bereit zum Aufbruch, da erfasste mich eine Idee, viel eher ein Sehnen und wie lange blickte ich anschließend zu dieser Tür, nicht weit entfernt von meiner. Konnte ich ihn nicht noch einmal sehen, bevor ich aufbrach? Möglicherweise gab mir allein sein Anblick die Kraft, die mir derzeit fehlte. Ich wollte doch herausfinden, wie weit ich bei ihm gehen durfte. Ihm nahe sein. Ihn nur kurz wahrnehmen, ihn nur kurz fühlen. Ich wartete nicht darauf, dass Zweifel in mir erwachten und machte mich auf die Suche. Im Speiseraum erreichte ich ihn längst nicht mehr. Er erwachte früh, aß früh, war mir stets voraus. Doch was tat er sonst, wenn er sich nicht auf Missionen vorbereitete? Training hieß eine der Möglichkeiten und in diesem Gebiet herrschten keine weiteren Fragen, denn die kleine Übungshalle schien es ihm angetan zu haben und suchte man ihn, dann fand man ihn dort. Der schiere Gedanke, ihn zu sehen, trieb mich zur Eile und ernüchterte mich umso mehr, als ich die Halle leer vorfand. Ich lehnte mich hinein, blickte auch zur oberen Etage und trat letztendlich zurück. Wenn er seinen Körper nicht trainierte, trainierte er vielleicht seinen Geist und so folgte ich sofort dem nächsten Weg. Wo er für gewöhnlich meditierte vergaß ich nicht, seit ich ihn eines Tages ungewollt und nach allen der Regeln der Kunst störte. Doch durfte ich es wagen? Hatten sich die Dinge soweit gerändert, dass er meine Anwesenheit nun akzeptierte? Der selten genutzte, kleine Besprechungsraum, den er nutzte, war nicht weit entfernt und wie vorsichtig griff ich nach dieser Klinke und drängte sie hinab. Ein leises Quietschen erhob sich, bevor ich in den Raum spähte und wie abrupt entspannte sich meine Mimik, entspannte sich mein gesamter Körper. Der Griff meiner Hand um die Klinke löste sich, langsam folgte ich ihrem Verlauf mit den Fingern und spürte dieses Schmunzeln auf meinen Lippen. Ich hatte ihn gefunden. Dort saß er, schien mit seiner reglosen Gestalt geradezu mit diesem Raum zu verschmelzen. Auf einer kleinen Anhöhe hatte er sich niedergelassen, verharrte im Schneidersitz, die Hände im Schoß versenkt und den Kopf leicht geneigt. Eine simple Haltung, die mich dennoch faszinierte wie einen dummen, verliebten Jungen. Und dann zog es mich zu ihm. Ohne Gedanken oder Befürchtungen trat ich in den Raum und schloss die Tür hinter mir. Nur kurz wollte ich ihm Gesellschaft leisten und aus diesen Augenblicken und seiner Gegenwart Kraft ziehen. Leisen Schrittes trat ich näher. Hörte er mich? Nahm er mich wahr? Ich musterte sein Gesicht, erwartete Regung, erwartete eine Reaktion, denn ich tat ein weiteres Mal nichts anderes, als meine Grenzen auszutesten. Hier war ich, um von ihm zu profitieren, wie ein Parasit von seiner Wärme zu zehren. Ich tat diesen Schritt hinauf auf seine Anhöhe und noch immer regte er sich nicht. Selbst als ich neben ihm innehielt, war er entrückt und so nutzte ich die erneute Gelegenheit, ihn mir unverfroren zu betrachten. Wie ordentlich sein Haar gebunden war. Der Zopf saß tief, keine Strähne genoss Freiheit, während sich das blaue Band über seinen Nacken schlängelte. So säuberlich und gepflegt, wie es seiner Gewohnheit entsprach. Er gefiel mir. Meine Schultern hoben und senkten sich unter einem tiefen Durchatmen und wie leicht fiel es mir daraufhin, mich neben ihn zu setzen. Ich ließ mich sinken, ohne ihn zu berühren, doch auch nicht zu entfernt, suchte nach Bequemlichkeit und schenkte meinem Körper bewusste Entspannung. Und ich fühlte mich gut. So leicht und unbeschwert und schloss die Augen. Nur das leise Flattern Timcanpy’s erhob sich über uns, während ich vollkommen reglos verharrte. Er erinnerte mich daran, dass wir aufzubrechen hatten, doch der Augenblick war zu heilig und meinen Beinen nicht danach, mich eilig davonzutragen. Zeit spielte keine Rolle und so wusste ich nicht, wie lange ich dort saß, ihn bald darauf abermals betrachtend. Keine Regung ging durch seine Mimik und trotzdem blieb sein Gesicht ein Fluch, dem ich mich nur beugen konnte. Irgendwann tauchte er auf aus seiner Tiefe, irgendwann blinzelte er und öffnete die Augen, um sie auf einen unbedeutenden Punkt zu richten. Ich vermutete, er spähte zur Tür, ohne mir jemals Beachtung geschenkt zu haben. Noch immer keine Regung, noch immer kein Wort und so saßen wir nebeneinander und schwiegen uns aus. Die Sprache wurde überflüssig, denn es gab nichts zu sagen. Er akzeptierte meine Anwesenheit und gestattete sie still. Der Deut eines Schmunzelns zog an meinen Lippen, während ich mir den Boden betrachtete. Er zeigte, wie weit er mich gehen ließ. Ich beging keinen Fehler, wenn ich nach ihm und seiner Wärme suchte. Noch immer ruhelos bewegte sich Tim über unseren Köpfen und eine Weile erstickte ich sein Drängen in Nichtbeachtung, bevor ich kapitulierte. Ich glaubte, allmählich aufstehen und gehen zu können. Es war schwer, doch der Zweck meines Besuches erfüllt und so richtete ich mich auf und schöpfte tiefen Atem. „Ich muss los.“ Erneut blickte ich zu ihm, geradlinig und offenherzig und sah ihn noch immer diese Tür mustern. Vielleicht trennten uns nur wenige Tage, vielleicht waren es auch mehr und absent blieb ich meiner Betrachtung treu, als ein seltsamer, unbekannter Strom in mir erwachte. Vielleicht sah ich ihn auch zum letzten Mal. Die Befürchtung, mit der wir alle zu leben hatten, war spätestens jetzt herangewachsen zu einer eiskalten Angst. Die Distanz zwischen uns war nicht mehr vorhanden. Wie nahe waren wir uns gekommen und natürlich hatten wir die Konsequenzen zu tragen. Ich kannte seine Wege nicht, war auch nicht immer an seiner Seite und so blieb nur das Vertrauen in seine Instinkte und Fähigkeiten. Auch die Hoffnung, dass er ein ums andere Mal wohlbehalten Nachhause zurückkehrte. Meine Hand näherte sich seinem Gesicht. Ohne mein bewusstes Zutun hatte sie sich gehoben und zögerte auch nicht, bevor sie sein Kinn erreichte. Ich berührte ihn mit allerlei Ehrfurcht, berührte die Haut, mit der ich noch immer nicht vertraut war und nur einen sachten Druck brauchte es, sein Gesicht zu mir zu wenden. Er ließ sich durch mich bewegen und kaum fanden seine Augen zu mir, da neigte ich mich näher. Und wieder zögerte ich nicht, denn die Dinge waren klargestellt. Ich hatte ausgesprochen, was er zu tun hatte, um all das zu beenden, doch abermals wich er nicht zurück. Dabei kannte er meine Gier. Auch die Tatsache, dass auf einen Schritt immer der Nächste folgte und ich würde viele von ihnen gehen, solange er mich nicht bremste. Langsam folgten meine Finger dem Verlauf seines Unterkiefers, während ich abermals das dunkle Gespinst seiner Augen studierte. So neigte ich mich noch näher, streckte mich ihm entgegen und wie aufmerksam fühlte ich seine Haut, wie feinsinnig wartete ich auf das winzige, verräterische Zucken seines Körpers, auf das Zurückweichen vor dieser neuen Grenze, doch das einzige, das ich wahrnahm, war das ungläubig triumphale Schmunzeln meiner Lippen, bevor sie seine Wange erreichten. Ich küsste sie einmal, flüchtig und doch innig, bevor ich den Duft seiner Haut mit einem tiefen Atemzug in mich aufnahm. Soviel wie möglich von ihm wollte ich mit mir nehmen, doch es blieb bei einer Brise und dem Gefühl auf meinen Lippen und wie riss ich mich anschließend von ihm los. Meine Finger streiften sein Kinn ein letztes Mal, bevor auch sie sich lösten und so kam ich auf die Beine und verließ die Halle ohne zurückzublicken. -tbc- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)