Unseen Souls von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 12: 12 -------------- „Endlich!“ Begeistert starrte Jonny auf sein Heft. Auch Komui war zufrieden und beseufzte die kleine Schatulle und presste sie an sich. „Oh, Linali wird sich freuen!“ Wieder seufzte er und nahm mich liebevoll in Augenschein. „Wie schön, dass du sowieso in die Stadt wolltest.“ Resigniert starrte ich ihn an und schob mich auf den Schreibtisch. „Weißt du, wie lange ich auf den warten musste?“ Johnny war den Tränen nahe, als er mir den Comic unter die Nase hielt. „Nein.“ „Ich bin dir so dankbar, Allen. Wer weiß, wann ich die Gelegenheit bekommen hätte, ihn selbst abzuholen.“ Wie schön, dass man es zu würdigen wusste. Was mich anging, ich wollte in mein Bett und Rivers Beispiel folgen, der es diesmal wirklich geschafft zu haben schien. Dass er fehlte, war selten und umso verdrießlicher waren die Blicke der übrigen Wissenschaftler, während Johnny nur Augen für sein Heft hatte. Als sich Tim auf meinem Kopf niederließ, wurde ich leicht hinab gedrängt. Früher war es einfacher gewesen. Jetzt war er recht schwer. „Wisst ihr, ob Jerry wieder da ist?“ Nur kurz konnte sich Jonny losreißen. Er war schon an der Folie zugange, rupfte und zerrte an ihr. „Weiß nicht. War er denn weg?“ „Wann bist du das letzte Mal hier rausgekommen?“, fragte ich und er begann zu grübeln. Der Comic wurde sinken gelassen, das lockige Haar gekratzt. „Jetzt, wo du es sagst.“ „Jerry kommt später“, meldete sich da ein anderer Wissenschaftler und mit großen Augen lehnte ich mich an Jonny vorbei. „Vielleicht erst morgen früh. Das sagte er zumindest.“ Es war eine Hiobsbotschaft, denn das Letzte, was ich brauchte, war eine weitere Begegnung mit dem Hilfskoch. Die Gordon Bleus mussten also reichen, denn es stand fest, dass ich heute niemandem mehr zuzumuten war. „Und?“ Komui hatte sich beruhigt. „Hast du dir ein paar schöne Stunden gemacht?“ Er bemerkte mein Zögern und richtete sich enttäuscht auf. „Ich dachte, du würdest die Gelegenheit nutzen. Endlich mal frei, endlich mal Zeit. Du weißt schon.“ Ja, ich wusste es. Vor allem, dass es hochprozentiges Salz war, das er mit jedem seiner Worte gnadenlos in meine offene Wunde streute. Ich musste nur die Stirn runzeln, nicht etwa antworten, damit er von mir abließ und sich zu einem Tablett mit Kaffee schlich. Zertreten sah ich ihm nach. „Meine Güte, Allen“, seufzte er noch, als er nach der Kanne griff. „Ich habe es nur gut gemeint.“ Ich war nicht begeistert und hörte ihm kaum noch zu, als er sich an der Kanne zu schaffen machte und dauernd den Kopf schüttelte. Mürrisch verfolgte ich, wie er sich Kaffee einschenkte. „Du hättest dir soviel Gutes tun können. Ich dachte, ich müsste es dir nicht sagen, damit du es begreifst.“ Das sagte er jetzt aber am Ende hätte er bei den Rechnungen doch wieder nur gejammert. Kaum drang in meine Wahrnehmung, wie sich die Geräusche um mich herum mit einem Mal legten und die Wissenschaftler von ihren Arbeiten abließen. Kopien wurden sinken gelassen, Füller hielten inne und mehr und mehr Augen drifteten zur Tür, während ich meine nur verdrehte. Unter einem beherzten Schluck wandte sich Komui um, doch an mir schweiften seine Augen geradewegs vorbei und spätestens als sich sein Gesicht erhellte, wurde auch ich aufmerksam. Meine Augen fanden diesen einen Punkt, hielten an ihm fest und kaum spürte ich die völlige Entspannung, die mich überkam. Auch die mürrische Mimik schien geradewegs aus meinem Gesicht zu bröckeln. Nur schwerlich gelang es dem jungen Mann, die Tür hinter sich zu schließen. Seine verschmutzten Finger schlossen sich müde um die Klinke. Kanda. Noch immer stand mein Mund offen und ich ertappte mich dabei, wie ich seine vor Mattigkeit zusammengesunkene Haltung analysierte, nach möglichen Verletzungen suchte, ihn mir einfach betrachtete. Die Uniform hatte einiges abbekommen. Der Mantel dagegen schien gleich abhanden gekommen zu sein. Der Zopf saß schief. Entkräftete Hände mussten ihn gebunden haben, ohne auf die Strähnen zu achten, die sich noch völliger Freiheit erfreuten. Mir bot sich ein Bild völliger Erschöpfung. Müde Schritte, gesenkte Schultern und auch das Gesicht war zu bleich für seine Verhältnisse. Nur selten hatte ich ihn so gesehen und nur beiläufig bemerkte ich die Regung meiner Mimik. Es waren meine Lippen, meine Mundwinkel, die kurz vor einem Lächeln zuckten. Mein Körper richtete sich auf, als er an mir vorbeizog, der Umgebung keine Beachtung schenkend und erst als sich aus der Richtung der Wissenschaftler ein gar feierliches Klatschen erhob, da wandte er das Gesicht und abrupt verstummte der Applause. Eilig wandten sich die Wissenschaftler ihren Arbeiten zu und ein verhaltenes Räuspern erhob sich in der schnell zurückgekehrten Stille, kaum dass Kanda Komui erreichte. Was geschah nur in diesen Momenten? Ich fühlte mich gut, seit er den Raum betrat. So ehrlich lächelte ich selten. „Willkommen.“ Komuis Lächeln war so aufrichtig wie immer. „Wie schön, dass du eifrig Nachhause geeilt bist.“ Somit ging seine Hand auf Kandas Schulter nieder. Sie tat es lobend und stolz und wurde sofort zurückgezogen, als sich der Körper des Japaners erschreckend neigte. Antworten tat Kanda mit einem Murmeln, das nicht verständlich zu mir drang. „Geht es dir gut?“ Keine Sekunde ließ Komui ihn aus den Augen und wie irritiert verfolgte er die einzige Reaktion, die Kanda erbrachte. Sein Kopf senkte sich, flüchtig verzog sich seine Miene und letztendlich bestand seine Antwort nur aus einem Gähnen, das er nur annähernd hinter der Hand verbarg. Mein Lächeln vertiefte sich haltlos, während Komui eine Grimasse schnitt. „Gut gut.“ Vorsichtig tätschelte er seine Schulter erneut. „Du gehst jetzt schlafen. Ich will dich erst wieder sehen, wenn du dich erholt hast. Verstanden?“ Es schien, als würde Kanda nicken und dann wandte er sich ab. Amüsiert winkte Komui und auch Jonny blickte ihm lächelnd nach. Ich nutzte jede Gelegenheit, verfolgte die müden Schritte, die Kanda zur Tür zurückführten und neigte mich ihm nach, als er in den Flur trat. Gerne hätte ich ihn mir noch länger betrachtet, um die Tatsache in mir zu verfestigen, dass er wirklich zurückgekommen war. Von nun an verbarg seine Tür keinen verlassenen Raum mehr und nachdem er verschwunden war, lächelte ich noch immer. „Ja!“ Feierlich reckte Komui die Tasse in die Höhe, als er sein Büro erreichte. „So sind sie, meine Exorzisten! Genau so und nicht anders!“ Ich hörte ihn lachen, bevor er verschwand und selbst der Comic verlor Jonnys Interesse weiterhin. Er klemmte unter seinem Arm und als ich zu ihm spähte, präsentierte sich mir ein breites Grinsen. ‚Habe ich es dir nicht gesagt?’ Fast hörte ich seine Stimme in meinem Kopf und gab mich geschlagen. Ja, das hatte er, doch ich hatte nichts dagegen tun können. Es war einfach über mich gekommen. So abrupt und unerklärlich wie die Heiterkeit, als er mir unter die Augen trat. Hier schloss sich ein unendlich finsteres Kapitel und während sich das alltägliche Stimmengewirr wieder erhob, rutschte ich vom Tisch. „Gehst du schlafen?“, erkundigte sich Jonny. „Ja, bis morgen.“ „Bis morgen.“ Heiter winkte er und machte sich wieder an der Folie des Comics zu schaffen. „Schlaf gut.“ Befreit atmete ich durch, sicherte den Mantel auf meiner Schulter und trottete zur Tür. Schlafen. Ja, vermutlich würde ich das wirklich. Von nun an wurden die Tage wieder heller. Ich spürte es. Es war, als wäre eine Dürreperiode vorbeigegangen. Nach zwielichtigen Tagen und tückischen Nächten begab ich mich ins Bett und wälzte mich nur kurz in diversen Gedanken, bevor mein Bewusstsein kapitulierte und ich so lange schlief, bis die Morgensonne in mein Zimmer fiel. Hinter mir lag eine Nacht, wie ich sie mir stets ersehnte. Ich stahl mich geschickt durch die finsteren Stunden und kam während des Frühstückes in den Genuss der alten, vertrauten Gesellschaft. Dass Jerry an diesem Morgen aus der Küche stürmte, war schon ein Grund zur Freude. Auch sein geschultes Nicken, mit dem er meine Bestellung in seinem Kopf speicherte und nach wenigen herzlichen Worten in die Küche zurückeilte. Er schien zu funktionieren, dieser kleine Teil meines Lebens. „Fantastisch.“ Ungläubig rührte Lavi in seinem Joghurt. „Was tut Jerry da nur immer rein?“ „Ist das Erdbeer-Joghurt?“ Neugierig lehnte sich Linali zu ihm. Sie war erst vor wenigen Stunden angekommen und dennoch guter Dinge. Wenn sie müde war, so war es ihr nicht anzusehen. „Himbeere“, verbesserte Lavi. „Willst du kosten?“ Sofort zückte sie ihren Löffel und nur kurz ließ ich vom Croissant ab, um zu meinem Banknachbarn zu spähen. Nebenbei hörte ich Linalis entzücktes Seufzen. „Wirklich lecker.“ „Ja, nicht?“ „Wie sehr habe ich den Kaffee vermisst.“ In scheinbar schwermütige Erinnerungen vertieft starrte Miranda auf die schwarze Oberfläche ihres Gebräus. „Der Kaffee, den ich auf Reisen getrunken habe… es war furchtbar.“ Weiß stieg der Dampf aus einer anderen Tasse. Bookman gab sich wie so oft mit einem Tee zufrieden. Schweigend saß er neben Lavi, während ich das Croissant in meinen Kakao tunkte und nebenbei nach einem Muffin tastete. So viele waren zurückgekommen. So viele waren wieder hier und sorgten dafür, dass meine Einsamkeit ihr Ende fand. Diese gemeinsamen Mahlzeiten waren mir teuer, unbezahlbar wichtig. Vor allem in den Momenten, in denen ich mich ihnen gewachsen fühlte. „Ich bin so hungrig.“ Linali hatte sich noch einen zweiten Löffel des Joghurts stibitzt. Jetzt versenkte sie das Messer in ihrem Brötchen. „In Ulan Ude stand kein Laden mehr. Könnt ihr euch das vorstellen?“ „Es muss wirklich übel gewesen sein“, nuschelte Lavi neben ihr und ein Seufzen zeugte davon, dass sich Miranda wieder dem Kaffee hingab. Was mich anbelangte, ich war aufmerksam geworden. „Haben die Nachforschungen schon etwas ergeben?“, erkundigte ich mich, mit meinem Löffel in Linalis Richtung gestikulierend. „So ein Großangriff passiert nicht einfach so.“ Kurz war Linali noch an ihrem Brötchen zugange. „Ich weiß nicht.“ Schulterzuckend griff sie nach der Marmelade. „Marie ist da geblieben, um sich der Sache anzunehmen.“ „Ergibt alles keinen Sinn“, bemerkte Lavi in dem Moment nachdenklich. „Irgendwie verstehe ich nichts von dem, was in letzter Zeit passiert ist.“ Von ihm blickte ich zu Bookman und sah ihn weiterhin nur gedankenvoll schweigen, als ginge ihm bereits etwas durch den Kopf, das noch nicht für unsere Ohren bestimmt war. „Ulan Ude wurde dem Erdboden gleichgemacht.“ Linali schmierte ihr Brötchen. „Das habe ich in all den Jahren nur selten gesehen. Als hätten die Akuma nach etwas gesucht, bei dem die Häuser nur im Weg waren.“ „So oder so“, mischte sich Lavi wieder ein. „Man hätte nichts Besseres tun können, als ihnen ein Strich durch die Rechnung zu machen. Um was für eine Rechnung es sich da auch immer handelt. Es schadet nie.“ Wieder pustete Bookman über den Tee, setzte die Tasse an die Lippen und nippte. „Waren die Verluste sehr groß?“, erkundigte sich Miranda und noch während Linalis Gesicht von Kummer befallen wurde, ging die Kaffeetasse auf den Tisch nieder. „Ich hätte da sein müssen.“ Von sich selbst enttäuscht sank Miranda in sich zusammen. „Na na na.“ Verhalten lachte Lavi auf. „Mach dich nicht fertig. Wir wären alle gerne da gewesen.“ Was er nicht sagte. Ich kümmerte mich wieder um mein Frühstück. „Wenn wir die Gelegenheit gehabt hätten“, sein nächstes Lachen war alles andere als reserviert, „dann wäre unserem guten Yu nicht so der Hintern versohlt worden.“ „Lavi.“ Linali seufzte, Miranda ächzte und auch ich war nicht wirklich seiner Meinung. Wer hatte wem den Hintern versohlt? Bookman hatte innegehalten und der Blick, der Lavi traf, zeugte davon, dass er sich in Situationen wie diesen etwas geistreichere Kommentare von seinem Schützling wünschte. „Als Marie und ich aufgetaucht sind, gab es kaum noch etwas zu tun.“ Kopfschüttelnd hob Linali das Brötchen zum Mund. „Es ist eine Leistung, die man Kanda hoch anrechnen muss.“ „Vor allem, weil man noch nicht weiß, worauf der Feind wirklich aus war“, meldete sich Miranda zu Wort. „Vielleicht war die Verteidigung dieser Stadt wichtiger, als wir bisher ahnen.“ „Sehr gut möglich“, pflichtete Linali ihr bei und Lavi begann wieder seinen Joghurt zu löffeln. „Dieser Kerl“, murmelte er dabei grinsend. „Das sieht ihm so ähnlich. Muss sich immer hervorheben. Auch ohne Rückendeckung. Dieser Idiot kann froh sein, dass er in einem Stück zurückgekommen ist.“ „Mein Bruder gibt mir die Mission, zu der er nicht mehr kam“, sagte Linali kauend. „Was? Wirklich?“ Lavi war sichtlich enttäuscht. „Heißt das, du musst bald wieder los?“ „Heute Abend.“ „Wie ärgerlich.“ Schon wurde eine Grimasse gezogen und endlich erwachte Bookman zum Leben. „Die Arbeit als Exorzist wäre schön, wenn es die Missionen nicht gäbe“, murmelte er und runzelte die Stirn. „Nicht wahr?“ „Das sagte ich nicht“, murrte Lavi und sank unter einem Stöhnen in sich zusammen. „In letzter Zeit ist es nur so hektisch. Ich glaube, ich lasse mir die Rippen auch bald brechen.“ Ich hielt inne und bewegte den Windbeutel zwischen den Fingern. Lässig wurde in meine Richtung gestikuliert. „Freizeit ist so schwer zu kriegen. Allen hat den Dreh raus.“ „Sag doch so etwas nicht.“ Ein mitfühlender Blick traf mich aus Linalis Richtung und schweigend versenkte ich den Windbeutel im Mund. „Du solltest es zu schätzen wissen, unverletzt zu sein.“ „Ich meine ja nur.“ Lavis Lamento ging in die nächste Runde. „Ein paar Beispiele. Miranda habe ich drei Wochen lang nicht gesehen, Crowley schon seit fast einem Monat nicht und Yu… fragt erst gar nicht.“ Hatten wir nicht vor. Tief durchatmend griff ich nach meinem Saft. „Dauernd bin ich nur mit dem Opa unterwe… au!“ Nach einem abrupten Zusammenzucken verschwand Lavis Hand unter dem Tisch, um das Bein zu reiben. Unbeteiligt nippte Bookman wieder an seinem Tee und Linali kam nicht um ein Schmunzeln. „Er hat schon Recht“, machte Miranda wieder auf sich aufmerksam. „In letzter Zeit passiert soviel. Ulan Ude ist nur ein weiteres Beispiel.“ Ich hörte ihr kaum zu. Noch immer haftete meine Aufmerksamkeit auf Lavi. „Wo finde ich die Urlaubs-Anträge?“ Müde sackte Miranda in sich zusammen und Linali legte den Kopf schief. „Was für Anträge?“ „Oje.“ In einem plötzlichen Anfall von Panik rieb sich Miranda das Gesicht. „Was wird nur aus mir?“ „Warum bittest du meinen Bruder nicht einfach darum?“, versuchte Linali zu helfen aber wirklich fruchten tat es nicht. „Was denkst du, wie oft ich das schon getan habe?“, kam die verzweifelte Antwort. „Das einzige, was er mir anbot, war eine Umarmung, durch die ich sofort neue Kraft bekommen würde.“ Verlegen rollte Linali mit den Augen. Woher, fragte ich mich unterdessen, nahm Lavi diese Fähigkeiten. Während das Frühstück genauso heiter und gesprächig fortgesetzt wurde, suchte ich nach der Antwort. Es war so einfach, Worte zu überdenken, bevor man sie aussprach aber vermutlich hatte ich kein Recht, mich darüber aufzuregen, denn letztlich wäre es genauso leicht, meine Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen und ihm zu sagen, dass ich ihm die Brüche jederzeit abgeben würde und mit ihnen die wunderbare Freizeit. Aber ich tat es nicht. Ich zeigte weder meinen Verdruss, noch ließ ich mich soweit durchschauen, dass man auch ohne meine Worte darauf schließen könnte. Die Gelegenheit, soviel Gesellschaft zu bekommen, war selten und dennoch etwas, das ich nicht endlos nutzen wollte. Linali hätte ich weiter gerne um mich gehabt, wohl auch Miranda, nur die Gegenwart Bookmans hätte mich nervös gemacht. Seine Augen waren zu aufmerksam und ich tat immer gut daran, mich seinem durchdringenden Blick nie zu lange auszuliefern. Erst recht nicht in Momenten, in denen sich hinter meiner entspannten Fassade wirklich etwas verbarg, für das es sich lohnen würde, genauer hinzuschauen. Also gab ich vor, ein Ziel zu haben, sobald ich mit dem Essen fertig war. Linali hatte auch eines. Es war ihr Bett, während Miranda nach ihrem Kaffee schon auf dem Sprung zur nächsten Mission war. Auch Lavi und Bookman würden bald gehen, doch nicht schnell genug. Ich gab dem Rotschopf nicht die Gelegenheit, Fragen zu stellen und machte mich am Ende doch nur auf den Weg in die Wissenschaftsabteilung. Dort gab es eigentlich immer etwas zu tun und endlich ließ man mich auch helfen. Den ganzen Vormittag über sorgte ich in den Bücherregalen für Ordnung, überprüfte Bestandslisten und nahm es nicht so eng, wenn hie und da etwas fehlte. Häkchen und Kreuze waren schnell gesetzt und lange Zeit brachte ich damit zu, auf die Bücher zu starren und so zu tun, als würde ich mir über sie Gedanken machen. In der Wissenschaftsabteilung für Ordnung zu sorgen, war im Grunde sinnlos. Es brauchte nur eine Erschütterung, nur einen Knall aus fragwürdigen Laboratorien Komuis und schon würden wieder alle Bücher auf dem Boden liegen. Bevor man sich dann darüber aufregte, machte man sich doch besser gar nicht erst die Mühe. In den frühen Mittagsstunden nahm ich mir vor, Jerry einen Besuch abzustatten und mir ein ordentliches Essen zu gönnen. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass ich es eilig hatte, eine Aufgabe zu erfüllen oder dass ich überhaupt eine erfüllte. Diesmal fand ich mich völlig ungestört über meinem Essen wieder. Ich musste niemandem zuhören, musste nicht reden, ließ es mir schmecken und nahm mir eine Menge Zeit, bevor ich in die Wissenschaftsabteilung und zu meinem fragwürdigen Fleiß zurückkehrte. Zu tun gab es dort immer noch viel und kaum waren die Nachmittagsstunden angebrochen, leistete mir Lavi Gesellschaft. Seine Anwesenheit war angenehm, wenn wir beide unsere Sinne auf etwas anderes zu lenken hatten und so blieb es bei Floskeln und irgendeinem Gerede, mit dem man sich die Zeit vertrieb. Er half auch etwas, räumte Bücher kreuz und quer durch den Saal und nahm sich irgendwann der Liste an, an der ich durch Faulheit gescheitert war. Ihm war scheinbar langweilig. Er blieb bis zum nächsten Tag und zugegeben, ich fragte mich, was für einen Sinn seine Freizeit hatte, wenn er sie doch nur damit füllte, stöhnend umherzulaufen und Orte zu suchen, an denen man anpacken konnte. Mit Dokumenten kannte er sich jedenfalls aus. Auch den Überblick fand er weitaus schneller und ich kam kaum hinterher, so schnell wie er die Bücher fand, die Listen abhakte und zum nächsten Regal schlenderte. River war wieder aufgetaucht, so wach und enthusiastisch, wie man es nur selten erlebte. Seine Entschlossenheit sorgte für eine gewisse Hektik, unter der Johnny stöhnte. Die anderen Wissenschaftler ächzen im Papierkrieg und erst als Linali Kaffee brachte, wurde eine erleichterte Pause eingelegt. Ich mochte diesen Tag. Obwohl er so finster begann, wendete sich das Geschehen in den letzten Stunden zu angenehmen Augenblicken. Ich wurde nicht genötigt, etwas zu tun oder zu sagen. Es schien in Ordnung, dass ich einfach nur da war aber am Ende flossen die Worte zwischen Linali, Lavi und mir doch in Strömen. Wir wussten, dass wir diese Tage zu schätzen hatten und wenn ich es einmal vergaß, wurde ich recht bald wieder daran erinnert. Die Gesellschaft würde schneller abnehmen, als ich es mir wünschte und das erste Mal seit langem begegnete ich all den Menschen mit einem ehrlichen Lächeln und einem klaren Lachen. Vergessen waren die Dinge, die mich sonst frustrierten. All das verblasste, während sich die müde Atmosphäre der Wissenschaftsabteilung verwandelte. Von Arbeit war zumindest bei Lavi, Linali und mir bald nichts mehr zu sehen. Das überließen wir den anderen und machten uns in den frühen Abendstunden gemeinsam auf den Weg zum Essen. Wir schlenderten gemütlich, noch immer in Gespräche vertieft und saßen wenig später vor unserem Abendbrot. Allmählich wurde es dann auch ruhiger zwischen uns. Lavi hatte seinen Mund den ganzen Tag über nicht im Zaum halten können. Wenn es möglich war, sich müde zu reden, saß das beste Beispiel mir gegenüber. Er rührte in einem Milchreis, während Linali eine Suppe löffelte und auch ich befasste mich mit meinen Tellern, Schälchen und Gläsern. Ich entschied mich, nach dem Abendessen gleich schlafen zu gehen. Keine schlechte Strategie, wie mir auffiel, als ich in einem Steak stocherte. Auf diese Weise käme der nächste Tag schneller und so auch die nächste Mission. Als wäre mein Körper meiner Meinung, brach das eine oder andere Gähnen über mich herein. Lavi schloss sich mir an. „Warum merke ich immer zu spät, dass ich hätte schlafen sollen?“ Er rieb sich die Stirn. „Soviel wie heute habe ich noch nie geholfen.“ „Ich fand es schön“, erwiderte Linali. „Wir haben so selten Zeit, etwas zusammen zu machen. Ich habe diesen Tag genossen.“ „Bist du nicht zu müde, um jetzt auf Mission zu gehen?“ Lavi machte sich wie immer Sorgen und ich schob mich unauffällig in die Position des schweigsamen Beobachters. „Ich habe schon darauf geachtet, dass ich mich nicht übernehme“, beruhigte Linali den Rothaarigen. „Außerdem steht mir eine so lange Reise bevor, dass ich auch noch genug Zeit zum schlafen hätte.“ „Na dann.“ Seufzend begann Lavi wieder in seinem Milchreis zu rühren. „Dann pass auf dich auf und komm heil zurück.“ „Mach dir da mal keine Sorgen.“ „Das sagst du so leicht. Yu kriegt mitunter die härtesten Missionen. Eine von ihm zu übernehmen, ist keine einfache Sache.“ „Es ist nur ein Erkundungsgang“, bemerkte Linali Stirnrunzelnd und als hätte ich es geahnt, gestikulierte Lavi mit seinem Löffel. „Das sind die Schlimmsten von allen“, sagte er. „Was bei diesen Erkundungsgängen manchmal herauskommt, ist nicht ohne.“ Kopfschüttelnd griff ich nach dem Saft. Missionen nach Schwierigkeitsgrad einzuordnen, schaffte nur er. Als könne man ahnen, was auf einen zukam. Wir allen waren schon mehr als einmal überrascht worden. „Warum schüttelst du den Kopf?“ „Hm?“ Abrupt blickte ich auf und traf auf Linalis fragenden Blick. Ebenso fragend erwiderte ich ihn, während ich mich ohrfeigen wollte. Ich musste mich nicht wundern, wenn mir andauernd unangenehme Fragen gestellt wurden. Dieses Kopfschütteln hätte nicht sein müssen und so kreiste ich mit den Augen und grübelte. Mir kam etwas in den Sinn und sofort sprach ich es aus. „Ich frage mich nur, wie lange Kanda noch schlafen will.“ Sofort grinste Lavi. Linali lächelte und auch ich freute mich. Die Aufmerksamkeit wurde umgelenkt und so konnte ich ungestört weiter essen, während sich die beiden auf diesen Punkt stürzten. „Es stimmt schon“, meinte Linali und bewegte den Löffel in der Brühe. „So lange schlafen zu können, ist eine Gabe.“ „Wird wohl viel Kraft aufzutanken haben, um liebreizend wie immer zu sein.“ Mit verschmitzt verengtem Auge sah Lavi mich an. „Das muss doch anstrengend sein.“ Dazu brauchte ich nur mit den Schultern zu zucken und sofort wandten sich die beiden aneinander. „Ich habe gehört, das soll seine vierte Mission gewesen sein“, murmelte Lavi und ließ den Brei vom Löffel tropfen. „Komui ist gnadenlos.“ „Wenn Kanda müde ist, würde er es doch sagen“, erwiderte Linali sofort. „Mein Bruder würde ihn nie losschicken, wenn er erschöpft wäre.“ Ebenso wenig wie Kanda diese Erschöpfung zugeben würde oder noch weniger? Nur kurz blickte ich auf, bevor ich eine Schale mit Apfelmus zu mir zog. „Ach, Allen.“ Schon wandte sich Lavi wieder an mich. „Wie war es eigentlich in Japan? Du warst doch auch mit Crowley dort, nicht?“ Ich nickte nur. Ja, Japan. Wie war es dort gewesen? Wenn ich meine Gedanken zu dieser vergangenen Mission in Worte fassen würde, wäre ich wohl dazu imstande, stundenlang zu philosophieren. „Es ging schnell“, sagte ich dann nur. „Es wurde nicht wirklich gefährlich.“ „Ihr sollt das Innocence aus einem Grab geholt haben.“ Dazu schnitt Lavi eine Grimasse und Stirnrunzelnd hielt ich inne. Woher wusste er das jetzt schon wieder? „Auf solche Missionen kann ich verzichten.“ Der Rotschopf erschauderte offensichtlich. Linali gab ein leises Seufzen dazu. „Ich hätte dabei kein gutes Gefühl.“ „Ich auch nicht. Ist doch gruselig.“ „Ich meinte die Totenruhe“, empörte sich Linali aber Lavi zuckte nur mit den Schultern. Seufzend begann Linali wieder zu löffeln. Die darauffolgende Stille war kurz. Lavi schien der Appetit vergangen zu sein. Seine Nase rümpfte sich, er grübelte und kurz darauf grinste er schon wieder. „Yu ist schon der Richtige für diese bösen Grab-aufbrech-Sachen.“ Er nahm mich verschmitzt in Augenschein. „Er ist so entzückend gnadenlos.“ Ich hob die Brauen und ließ die Gabel sinken. Gerade war sie noch auf dem Weg zum Mund gewesen. „So traurig es auch ist“, fügte Linali hinzu. „Durch so etwas darf man sich nicht aufhalten lassen.“ „Als ob Yu so etwas aufhalten würde.“ Ein leichtes Schmunzeln umspielte meine Mundwinkel, vertiefte sich bis meine grinsenden Lippen nach der Gabel schnappten. Es tat so gut. „Warum grinst du?“, fragte Lavi sofort und kurz erwiderte ich den fragenden Blick. Ich tat es überlegen, ohne dass er es wusste. Dieses Geheimnis gehörte mir. Unter keinen Umständen würde ich es über die Lippen bringen. Es war mir zu heilig. „Okinawa war schön“, erwiderte ich so nur, schmunzelte weiter und dachte an ganz andere Dinge. „Und japanisches Essen ist auch ziemlich gut.“ „Japanische Frauen sind toll.“ Lavis Auge wurde groß und ohne, dass Linali irgendwie darauf reagiert hätte, fuhr er zu ihr herum. „Ich meine damit nicht, dass andere Frauen nicht toll sind!“, verbesserte er sich und als ich die dunkle Wolke dieser Peinlichkeit deutlich roch, legte Linali nur den Kopf schief. „Wie bitte? Ich habe gerade nicht zugehört. Tut mir Leid.“ „Ach.“ Unter einem nervösen Lachen kratzte sich Lavi im Schopf. „Schon gut.“ So wurde dieses Gespräch weitergeführt, bis der Moment des Abschiedes kam. Seufzend erhob sich Linali, stieg über die Bank und nahm ihre leere Suppenschale an sich. Lächelnd blickte sie in die Runde und ich kauend auf. „Ich mache mich auf den Weg“, verkündete sie und grinsend winkte Lavi. „Du schaffst das!“ „Ich gebe mein Bestes.“ Sie griff auch nach dem Besteck. „Wir sehen uns in ein paar Tagen.“ „Alles klar!“ Lavis Daumen reckte sich und auch ich schenkte ihr ein Lächeln. „Viel Glück.“ „Danke. Macht’s gut.“ Somit machte sie sich auf den Weg und während ich weiter aß, blickte Lavi ihr nach. „Russland“, murrte er, als er sich mir wieder zuwandte. „Dort muss es doch eisig kalt sein.“ „Genauso kalt wie in den meisten Gebieten der Erde“, murmelte ich und rührte in einem Pudding. „Die neue Uniform wird langsam unerlässlich.“ „Da sagst du was.“ Der Löffel kratzte über den Boden der Schale. Der Milchreis war alle und seufzend griff Lavi nach seinem Glas. „Sag mal, ist meine Uniform immer die einzige, bei der die Schulternähte kratzen?“ „Scheint so.“ Kopfschüttelnd leerte er das Glas, atmete tief durch und machte sich ebenfalls daran, auf die Beine zu kommen. „Na dann, Allen. Ich werde mir noch ein paar Stunden Schlaf ergattern. Habe einiges nachzuholen.“ „Tu das.“ In das Essen vertieft winkte ich ihm mit der Gabel und lange hörte ich noch sein Seufzen, bevor er den Saal verließ. Ich leerte die letzten Schüsseln, befreite den letzten Teller von seiner Last und machte mich dann daran, mein Geschirr zurückzubringen. Flink rutschten meine Hände in die Hosentaschen, bequem wandte ich mich ab und kam kaum zum zweiten Schritt, als sich hinter mir eine Stimme erhob. „Allen Schätzchen, warte!“ Es war Jerry, der aus der Küche stürmte. Er winkte mich zurück zur Theke und kaum hatte ich sie erreicht, da musterte er mich mit flehenden Augen. „Allen“, seufzte er wieder. „Du würdest mir doch einen Gefallen tun, oder?“ Als ich nickte, winkte er mich mit einem Anflug von Heimlichtuerei noch näher. Das gefiel mir und schon steckten wir die Köpfe zusammen. „In den späten Mittagsstunden war Kanda hier“, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand. „Sieh an.“ „Es war furchtbar und seine Schönheit fast dahin. Kaum saß er am Tisch, da wäre er fast eingeschlafen und mit dem Gesicht in die Nudeln gefallen. Es hätte ihm nicht gestanden.“ Ich hob die Brauen und sah ihn verschmitzt grinsen. Wie schade. Hätte ich mich nicht all dem Fleiß hingegeben, hätte ich es vielleicht gesehen. Es wäre ein weiterer ungewohnter Anblick gewesen, den ich in die fast leere und neue Schublade hätte stecken können. In das Fach, in dem alles landete, was ich seit kurzem mit Kanda erlebte. „Ich habe ihn zurück ins Bett geschickt und ihm versprochen, ihm eine Kleinigkeit zu bringen. Das Problem ist, dass ich soviel zu tun habe.“ Plötzlich ließ sich Jerry zurückrutschen, begann zu seufzen und zu jammern. „In der Küche ist die Hölle los. Da ist man einmal für wenige Stunden weg und schon geht alles drunter und drüber!“ Das hatte ich mitbekommen. Stirnrunzelnd stemmte ich mich auf die Ellbogen und verfolgte, wie Jerry die Hände über dem Kopf zusammenschlug. „Ich habe kaum Zeit, Kanda einen Besuch abzustatten aber noch mehr Angst davor, mein erstes Ehrenwort zu brechen. Und stell dir vor, nicht einmal die Finder haben Zeit. Alle sind heute so beschäftigt. Was ist nur los mit dieser Welt?“ Ich begegnete ihm mit einem knappen Grinsen. Jerry wunderte sich doch nicht wirklich darüber. Nein. Kurz darauf grinste auch er. „Wie sieht‘s aus? Traust du dich in die Höhle des Löwen?“ Seit geraumer Zeit musste man mich nicht mehr zu Kontakt mit Kanda zwingen. Es hatte sich zu einem Ding entwickelt, das ich jederzeit freiwillig auf mich nahm, um den scheinbar rüden Charakter des Japaners weiterhin zu erforschen. Dennoch hatte ich vorsichtig zu sein, also täuschte ich ein Grübeln vor. Gerade von mir erwartete wohl keiner, dass ich sofort und heiter zustimmte. Ich hatte mir Zeit zu lassen und während ich mir den Moment, in welchem ich vor jener Tür stand, bereits ausmalte, verfolgte Jerry jede meiner Regungen angespannt. Und ich grübelte weiter und stieß unterdessen ein Seufzen aus, um die Sache glaubwürdiger zu gestalten. Ich hatte noch nie an jener Tür geklopft, noch nie vor ihr gestanden. Und ich mochte diese Zufälle, die mich immer wieder zu ihm führten. „Sagen wir, ich mache es, wenn“, ich rieb mein Kinn und erwiderte Jerrys Blick lauernd, „ich morgen früh Schoko-Donuts kriege?“ „Alles was du willst, Schätzchen! So viele du magst!“ „Kriege ich zwanzig?“ „Du kriegst auch dreißig!“ „Wer soll denn soviel essen?“ Kritisch stieß ich mich vom Tresen ab. „Was soll ich ihm bringen?“ „Einen Moment!“ Schon stürzte Jerry in die Küche zurück. „Ich werde es sofort fertig machen!“ „Keine Eile.“ Behaglich verschränkte ich die Arme und ergab mich einem Gähnen. Ich konnte warten und die Donuts waren mir sicher. Genau wie die Tatsache, dass ich Kanda heute noch zu Gesicht bekommen würde. Irgendwie fehlte er schon. Der Tag war ohne seine Anwesenheit einfach anders gewesen. Es wurde Zeit, dass er endlich wieder auf die Beine kam. -tbc- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)