Herzenswille von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 6: Endlich erwacht -------------------------- André erwachte erst beim Morgengrauen des nächsten Tages. Langsam schlug er seine Augenlider auf – sein Kopf dröhnte leicht und vor seinem Auge sah er noch alles verschwommen. Seine Sicht musste sich für eine Weile klären, bis er die Umrisse des Raumes realisieren konnte und starte reglos an die Decke hoch. Erinnerungen an seinen Sturz von der Treppe kam wieder vor seinem geistigen Auge zum Vorschein und davor war noch der Kutschenüberfall, dann der Ritt mit Oscar auf einem Pferd und schlussendlich ihr Lächeln, welches nicht ihm gegolten hatte...   Erneut keimte der seelische Schmerz in ihm auf und André atmete tief ein und aus, um es wenigstens halbwegs zu verdrängen, aber spürte plötzlich einen leichten Druck auf seiner Bettdecke, so, als würde jemand auf der Bettkante sitzen. Das war bestimmt seine Großmutter, kam ihm gleich durch den Sinn - auf jemand anderes hoffte André nicht. Er versuchte sich auf sein gesundes Arm hochzurappeln und seine Großmutter über Oscar auszufragen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und schaute ganz überrascht auf den blonden Kopf: Oscar saß auf dem Stuhl, hatte ihren Oberkörper auf die Bettkante abgelegt, ihre Arme eingewickelt und darauf ihren Kopf gebetet. Ob sie schlief oder nicht wusste André nicht. Auf jeden Fall waren ihre Augen geschlossen und sie war hier, bei ihm! André schluckte hart, ihm verschlug es die Sprache! Wie gerne hätte er ihre blonde Locken berührt, aber dadurch hätte er sie geweckt - das wollte er nicht. Er wollte sie lieber stundenlang betrachten, bis sie selbst aufwachte....   Als hätte Oscar seine Gedanken gelesen, regte sie sich schwach und öffnete die Augen. Der Blick ihrer klaren blauen Augen war direkt auf ihn gerichtet. Sie schimmerten freudig, obwohl ihr Gesichtsausdruck unverändert verhärmt blieb. Nur ein kleines Lächeln stahl sich auf ihren Mundwinkel. Oder war das nur seine Einbildung?   Oscar hob den Kopf und setzte sich auf dem Stuhl gerade hin. „Guten Morgen, André... Du hast gestern den ganzen Tag verschlafen. Weißt du das?“   André schüttelte verneinend den Kopf. Nein, das wusste er nicht. Er versuchte sich jetzt richtig aufzusetzen und das gelang ihm mühevoll. Oscar hätte ihm gerne geholfen, aber sie wusste, dass er das ablehnen würde. „Ich werde deine Großmutter holen.“, sagte sie und eilte schon aus seinem Zimmer. Was war da mit ihr los?! Ihr Herz pochte so aufgeregt, als stünde es in Flammen! Sie hatte zu tief in Andrés Auge gesehen und entdeckte dort etwas, was sie noch nie bemerkt hatte oder besser gesagt, nie wahr haben wollte: diese aufrichtige Liebe, die er ihr schon einmal gestanden hatte! Aber was war mit ihr? Liebte sie ihn denn auch? War das möglich, zwei Mal zu lieben? Oder war das zu von Fersen keine Liebe, sondern etwas anderes, als sie damals angenommen hatte? Denn bei von Fersen hatte ihr Herz nie so wild gepocht, als wollte es aus ihrem Brustkorb herausspringen...   Hin und hergerissen, als stünde sie zwischen zwei Fronten, erreichte Oscar die Küche. Sophie war gerade aufgestanden und bereitete das Frühstück zu. Oscar versuchte schnell ihre Aufregung zu dämpfen, bevor sie ihr einstiges Kindermädchen mit einer langersehnten Nachricht konfrontierte: „Sophie! André ist wach!“   Diese schien ihren Schützling nicht ganz verstanden zu haben und schaute zu ihr leicht irritiert hin. „Was sagt Ihr?“   Oscar nickte ihr schmunzelnd zu und wiederholte es: „André ist gerade aufgewacht. Geh zu ihm und bring ihm etwas zu Essen. Er muss verhungert sein. Und ich hole Doktor Lasonne. Siehst du, Sophie, es wird wieder alles gut!“ Sie wartete auf keine Antwort und stürmte schon eilends in Richtung des Stalles.       - - -       Oscar war fort und wieder hatte sie ihn alleine gelassen, ohne mit ihm lange zu reden... Das war typisch von ihr und doch schmerzte es André sehr. Aber warum war sie dann auf seiner Bettkante eingeschlafen? Er hätte sich sehr gewünscht, dass sie bei ihm länger geblieben wäre, aber stattdessen war sie vor ihm wieder auf und davon...   Ein Rascheln hinter der Tür erregte seine Aufmerksamkeit und er sah hellhörig hin. War das etwa Oscar? Kehrte sie zu ihm zurück?   Aber leider nein... Seine Grußmutter kam mit dem Essen für ihn herein und überschüttete ihn mit Fragen: „Wie geht es dir mein Junge? Ich bringe dir eine warme Hühnersuppe, mit knusprigen Brot – so, wie du es magst. Wieso bist du eigentlich die Treppe heruntergefallen? Die Teppiche sind doch glatt ausgelegt! Oder bist du über deine eigenen Füße gestolpert? Du hast uns damit alle wahnsinnig erschreckt! Weißt du das eigentlich? Aber als der Doktor sagte, dass es dir besser gehen wird, dann waren wir erleichtert...“ André hörte ihr nur mit halben Ohr zu und aß, damit er nicht viel antworten musste und grübelte weiter über Oscar, bis die weiteren Worte seiner Großmutter ihn wieder aufhorchen ließen. „Ach, ja, mein Junge, fast hätte ich es vergessen.“, riss seine Großmutter ihn aus seinen Grübeleien. Sophie bewegte ihre Füße zu der Kommode, die sich gegenüber seinem Bett am Fußende befand, und blieb dort stehen. André folgte ihr mit seinem Blick und erkannte erst jetzt eine Kiste auf der Kommode. Er glaubte sich sogar zu erinnern, was das war und schluckte hart das gekaute Stück Hähnchenfleisch. Seine Großmutter bestätigte ihm die Vorahnung. „Lady Oscar hatte ihren alten Schatz ausgegraben und hier abgestellt. Hast du schon gegessen?“, fragte sie, als er ganz baff die Schatzkiste betrachtete und nicht mehr weiter aß.   André bejahte mit einem Nicken. Er konnte nichts sagen und starrte ganz gebannt auf den Zinnsoldaten, der auf der Schatzkiste stand. Sophie räumte das Geschirr weg und verließ sein Zimmer. André, als hätte er nur darauf gewartet, schlug die Bettdecke hoch und stieg aus dem Bett. Er musste das aus der Nähe betrachten! Leicht wackelig ging er auf seine Kommode zu, ungeachtet darauf, dass er nur ein Hemd trug, das ihm bis zu den Knien reichte und Kindheitserinnerungen strömten dabei nur so auf ihn ein – besonders wie er mit Oscar diesen Schatz vergraben hatte... Oscar war damals so stolz darauf und ihre Fröhlichkeit, helles Lachen und leuchtenden Augen hatten sich für immer in ihn eingeprägt... Aber jetzt war alles anders gekommen: Sie beide waren erwachsen geworden und Oscars einstmalig so schönes, ansteckendes und unbeschwertes Kinderlachen existierte schon lange nicht mehr...   André nahm den Zinnsoldaten an sich und öffnete den Deckel: ein rotes Messer und ein Kreisel aus Blei lagen darin. Es war alles da, außer den Zinnsoldaten, den er gerade in der Hand hielt. Erneut übermannten ihn die Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit, aber diesmal noch intensiver, wehmütiger und melancholischer... Wie glücklich und unbeschwert sie doch damals waren! André seufzte schwer, legte den Zinnsoldaten in die Kiste zurück und schloss den Deckel. Die Kindheit war unwiderruflich vorbei und keine Macht der Welt würde sie zurückbringen können! Oscar hätte den alten Schatz nicht ausgraben brauchen. Man sollte die Vergangenheit am besten ruhen lassen, sonst würde es noch schmerzlicher in der Seele werden. Oder wollte sie ihm damit etwas sagen?   Wenn sie mit ihm nur reden würde! Aber Oscar zählte nun mal nicht zu der Sorte von redseligen Menschen... Meistens war er der Geschwätzigste von ihnen - ob das ein wichtiger Bericht war oder eine belanglose Sache, aber Oscar hatte nicht immer ihren Beitrag dazu gegeben und wenn, dann äußerte sie sich knapp zu fast jedem Thema. So war eben Oscar: unergründlich wie tiefes Wasser. Doch er schien sie als einziger in und auswendig zu kennen.   „André?“   André fuhr erschrocken herum - er hatte es nicht mitbekommen, dass jemand sein Zimmer betreten hatte – zu tief war er anscheinend in Gedanken versunken. Und vor allem nicht sie! Oscar schloss die Tür hinter sich und bewegte sich langsam auf ihn zu, ohne auf seine kräftigen und sichtbaren Waden zu sehen. Sie schaute ihm nur ins Gesicht und der Unterton in ihrer Stimme verriet eine gewisse Weichheit: „Du musst doch im Bett bleiben - so lange, bis Doktor Lasonne es dir erlaubt aufzustehen. Ich war gerade bei ihm und er muss bald hier sein, da er eine Kutsche genommen hat.“   André sagte nichts und auch rührte sich nicht von der Stelle. Aber er nickte, als Zeichen, dass er sie verstanden hatte. Oscar blieb auf einer Armlänge direkt vor ihm stehen und André glaubte eine gewisse Sorge in ihren sonst so kühlen Blick zu erkennen. Aber wieso? Oder war das wegen seiner Wenigkeit?   Oscar senkte ihre langen Wimpern und schaute auf die Kiste. „Du hast den Zinnsoldaten also zurückgelegt... Ich habe den Schatz heute für dich ausgegraben... und weil ich sehen wollte, ob noch alles da ist...“   André nickte wieder. Aber diesmal versuchte er etwas zu sagen: „Damit weiter alles da ist, habe ich deshalb den Zinnsoldaten zurück in die Kiste gelegt.“   „Vielleicht auch besser so... Da bleibt es wenigstens alles zusammen...“   „Ja, das stimmt...“   „André...“ Oscar warf ihm wieder ihren Blick zu und konnte auf einmal nicht weitersprechen. Etwas nagte an ihr, das las André sofort in ihren schimmernden Augen.   „Oscar...“ Auch er wusste nicht, was er weiter sagen sollte. Sekunden schienen von einem Moment zu dem anderen sich in Stunden zu verwandeln und sich in die Länge zu ziehen: Quälend, auf eine Art berauschend und als wären sie verzaubert oder in Statue verwandelt, standen sie sich gegenüber und sahen sich tief in die Augen. Keiner wagte sich zu rühren oder eine Bewegung zu machen...   Draußen waren Geräusche und Stimmen zweier Personen. Das brachte zumindest André in Bewegung: Er flüchtete in sein Bett zurück, als wollte er nicht ertappt werden. Oscar blieb bei der Kommode, aber dann marschierte sie gleich zu dem Fenster und bezog dort ihre gewohnte Stellung, wie schon mehrere Male zuvor. Die Tür ging auf und Sophie geleitete den Arzt in das Zimmer. „Entschuldigt die Verspätung, Lady Oscar. Ihr wart auf Eurem Pferd wieder einmal schneller, als ich mit meiner Kutsche.“, äußerte er sich höflich und schmunzelte bei Betrachtung seines aufgewachten Patienten.   „Es ist schon in Ordnung, Herr Doktor. Jetzt seid Ihr hier.“ Oscar machte eine Handbewegung und legte sich ihre Arme um die Mitte auf einander.   Doktor Lasonne widmete sich gleich seinem Patienten. Er stellte ihm Fragen nach seinem Befinden und André antwortete ihm wahrheitsgemäß. Dann schaute er zum Fenster hinüber. „Lady Oscar, ich würde André jetzt die Bandagen wechseln. Darf ich Euch bitten...“   „Aber natürlich...“ Oscar verstand und verließ das Zimmer augenblicklich - sie merkte nicht, dass sie dabei leicht errötete. Sie ging in ihren Salon und spielte Klavier, bis Sophie zu ihr kam und mitteilte, dass Doktor fertig war und mit ihr noch sprechen wollte. Also kehrte Oscar wieder in Andrés Zimmer zurück.   Doktor Lasonne erklärte, dass er Medizin da lassen würde und wie André sie einnehmen oder annwenden sollte. Sophie geleitete ihn dann aus dem Anwesen und Oscar blieb wieder mit André alleine. „Das Zeug schmeckt grässlich“, klagte er, um nicht schon wieder das Schweigen zwischen ihnen in die Länge ausbreiten zu lassen.   „Es ist aber zu deinem Besten, André“, meinte Oscar in ihrer kühlen Art wieder. „Besonders für dein rechtes Auge...“   André sah sie verdattert an. „Wie meinst du das? Ich weiß nicht wovon du sprichst...“   Oscar schüttelte den Kopf, als Zeichen, dass sie ihm nicht glaubte. „Du kannst mich nicht mehr täuschen. Doktor Lasonne hat mir alles erzählt, dass du vor einigen Monaten bei ihm warst und dass der Verdacht auf Erblindung deines rechten Auges besteht. Warum hast du mir verschwiegen, dass deine Sehkraft schwindet?!“   „Oscar...“ André konnte sie nicht mehr ansehen. Beschämend senkte er seinen Blick auf seine Hände im Schoß. „Ich wollte niemanden Sorgen bereiten, deswegen habe ich das für mich behalten.“   „Aber so etwas ist doch wichtig, André! Wie kannst du mir das antun?!“ An dieser Stelle verstummte sie plötzlich. Ihre Gefühle schienen in ihr wieder verrückt zu spielen.   André horchte auf. Aber außer dem Wort: „Entschuldige...“, brachte er nichts von sich.   Und wieder trat diese rauschende und lautlos knisternde Stille zwischen ihnen ein, die sie beide unangenehm stimmte... Oscar konnte das nicht mehr länger ertragen: „Wir werden zwei Wochen unseren Dienst nicht antreten können. Wegen unseren Wunden hat uns der Doktor das abgeraten und auch mein Vater wird heute mit seiner oder ihrer Majestät darüber sprechen. Das heißt, dass wir zwei lange Wochen zum Nichtstun verdammt sind.“, wechselte sie das Thema, in einem etwas versöhnlichen Tonfall: „Ich habe mir überlegt, dass wir in die Normandie fahren. Aber natürlich, wenn du deinen Arm in der Schlinge nicht mehr tragen brauchst.“   „Wir?“ Das überraschte André.   Wie konnte er nur so ahnungslos tun? Oscar beschloss seine Ausreden nicht mehr zum Zug kommen zu lassen. „Ja, wir! Denkst du, ich lasse dich nach so einem Vorfall alleine? Und zudem noch muss doch jemand darauf achten, dass du die Anordnungen des Arztes befolgst!“   „Aber, Oscar...“   „Keine Widerrede, André! Du bist mir sehr wichtig, ich will dich nicht verlieren...“ Und wieder hielt Oscar inne. Ihre Gefühle schienen sich hartnäckig in den Vordergrund zu rücken und die Oberhand über ihre eiserne Disziplin zu gewinnen. Am liebsten wäre sie wieder aus dem Zimmer gestürmt. Aber nein, sie hatte sich doch geschworen, nie mehr wegzurennen. Standhaft harrte sie am Fenster aus und sah André direkt an. Jedoch ihre Augen schimmerten eigenartig, als wäre sie hin und her gerissen.   Das überraschte André. Was blieb ihm anderes übrig, als nachzugeben? Er konnte ihr doch niemals eine Bitte abschlagen! „Also gut, Oscar, ich komme mit dir in die Normandie mit.“   „Wie schön!“ Ein freudiger Funke glomm in Oscars Augen und ließ André noch mehr in Verwunderung stürzen. Etwas geschah mit Oscar Außergewöhnliches, was er nicht deuten konnte. Vielleicht sie selbst, aber auch daran zweifelte er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)