For the World Is Hollow and I Have Touched the Sky von Morwen ================================================================================ Kapitel 20: Cullen ------------------ Cullen erwachte mit unerträglichen Gliederschmerzen. Trotz der kalten Luft, die durch sein Dachzimmer zog, war er völlig nassgeschwitzt und seine Sachen klebten feucht an seinem Körper. Er fühlte sich ausgelaugt, und in seinen Armen und Beinen pochte ein anhaltender Schmerz, nachdem sich seine Muskeln im Schlaf in rascher Folge verkrampft und wieder entkrampft hatten – einer der Nebeneffekte des Lyriumentzugs, wie er mittlerweile wusste. Es war nicht das erste Mal, dass dies passierte, aber es war schon seit langem nicht mehr so schlimm gewesen, wie an diesem Morgen. Cullen schloss die Augen und rezitierte lautlos die ersten Verse aus dem Gesang des Segens. Wie immer erfüllten ihn die Worte mit einem inneren Frieden, und sein Atem und Herzschlag beruhigten sich nach einer Weile wieder, bis er schließlich die Kraft fand, sich hochzustemmen und aufzustehen. Doch kaum hatte er ein paar Schritte getan, erfasste ihn eine Welle der Übelkeit, und er musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen. Sein Zustand war sogar noch schlimmer, als er gedacht hatte. Cullen kämpfte für einen Moment mit sich selbst. Er war zu stolz, um Hilfe anzufordern, aber die Vernunft sagte ihm auch, dass er weder der Inquisition noch sich selbst einen Gefallen tun würde, wenn er sich dazu zwang, unter Schmerzen seiner Arbeit nachzugehen. Schließlich traf er eine Entscheidung. Er schleppte sich zum Fenster hinüber und öffnete mühsam die Läden. Aus einer Truhe unter dem Fensterbrett zog er ein weißes Tuch, das er zwischen den hölzernen Läden einklemmte, bevor er sie wieder schloss. Er lehnte sich gegen das geschlossene Fenster und ruhte sich kurz aus, bevor er unter Schmerzen wieder zu seinem Bett zurückkehrte und wartete. Es musste eine halbe Stunde vergangen sein, in der Cullen mehrmals kurz weggedöst war, als sich die Falltür zu seinem Zimmer plötzlich öffnete und Cassandra die Leiter hinaufstieg. Mit besorgter Miene trat sie an sein Bett heran. „Ich habe dein Zeichen gesehen“, sagte sie und setzte sich auf die Bettkante. „Wie schlimm ist es? Hast du schon einen Heiltrank genommen?“ Er schüttelte den Kopf, zu schwach, um zu sprechen, und deutete mit der Hand auf die Falltür. „Sie sind unten?“, fragte Cassandra, die die Geste richtig interpretierte, und er nickte. Sie seufzte und erhob sich dann. „Bei Andraste, Cullen, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du immer einen Trank in Griffweite haben solltest, wenn es dir so schlecht geht, wie heute? – Ich bin gleich wieder zurück.“ Sie stieg zügig die Leiter hinab und er hörte sie die Schubladen seines Schreibtisches aufziehen und durchstöbern, bevor sie wenig später mit einem Heiltrank wieder an seine Seite zurückzukehrte. Cullen entkorkte mühsam das Fläschchen und trank seinen Inhalt. „Danke“, stieß er mit rauer Stimme hervor, während er zurück auf das Bett sank. Sein Hals war trocken und schmerzte, als hätte er stundenlang auf dem Schlachtfeld gestanden und Befehle gebrüllt. Oder im Schlaf geschrien. Er drehte sich auf die Seite und zog die Knie an den Körper, während die Wirkung des Heiltrankes allmählich seinen ganzen Körper erfasste und den Schmerz verdrängte, bis er zu einem erträglichen Pulsieren im Hintergrund geworden war. Bruchstückhafte Erinnerungen an seinen Traum kehrten zurück – Bilder von einer brennenden Stadt, von einem stillen Turm und von Dämonen, die ihn mit den Gesichtern geliebter Menschen quälten, nur um sie vor seinen Augen in Stücke zu zerreißen. Cullen presste die Handballen auf seine geschlossenen Augenlider, als könnte er dadurch die Bilder vertreiben, doch sie ließen ihn nicht in Ruhe. „Es wird wieder schlimmer“, sagte Cassandra leise. Cullen gab keine Antwort. Er wusste, dass sie Recht hatte. Es war fast fünf Monate her, seitdem Cassandra die Inquisition ins Leben gerufen hatte, und sechs, seitdem Cullen aufgehört hatte, Lyrium zu nehmen. Die Schmerzen des Entzugs waren am Anfang kaum zu ertragen gewesen, doch obwohl diese Anfälle seitdem nicht mehr so häufig auftraten, schien ihre Intensität keinem festen Muster zu folgen. Anstatt mit der Zeit abzunehmen gab es Tage, an denen er sich wieder so schlecht fühlte, wie in den ersten Wochen, und der Schmerz es ihm unmöglich machte, sein Zimmer zu verlassen. Ohne Cassandra hätte er diese Momente nicht überstehen können, und er war ihr unendlich dankbar für ihre Hilfe – und insbesondere für ihre Verschwiegenheit. Obwohl sie aus Gründen der Sicherheit beschlossen hatten, sowohl Leliana als auch Josephine in die ganze Sache einzuweihen, war Cassandra bisher die einzige gewesen, die ihn an diesem Tiefpunkt erlebt hatte, und Cullen hoffte, dass es auch dabei blieb. Er wollte nicht, dass noch mehr Menschen sahen, wie wenig Kontrolle der Kommandant der Inquisition an Tagen wie diesen über sich selbst hatte. „Cullen“, sagte Cassandra und berührte ihn sanft an der Schulter. Cullen öffnete die Augen und sah sie erschöpft an. „Kannst du für einen Moment aufstehen und dich auf diesen Hocker hier setzen? Ich will dein Bett neu beziehen.“ Er horchte einen Augenblick lang in sich hinein und nickte dann. Mühsam schwang er die Beine aus dem Bett und ließ sich schwer auf dem Hocker nieder, den sie bereitgestellt hatte. Seine Augen fielen wieder zu, während sie das schweißgetränkte Laken abzog und es durch ein trockenes ersetzte, und seine Gedanken drifteten ab. Er fragte sich auf einmal, wie es Dorian ging. Er konnte nicht genau sagen, ob es Teil seines Alptraums gewesen war, oder ob er in der Nacht tatsächlich erwacht war, während der Name auf seinem Handgelenk gebrannt hatte und ihn das ungute Gefühl gequält hatte, dass der andere in Gefahr war. Er hatte in der Finsternis nach seinem Schwert gesucht, um ihm zur Hilfe zu eilen, doch kurz darauf war das Gefühl der Dringlichkeit wieder verschwunden, und welche Gefahr auch immer seinem Seelenpartner gedroht hatte, Cullen hatte gespürt, dass sie vorerst abgewandt worden war. Danach war er erneut eingeschlafen und erst am Morgen wieder erwacht, und im Nachhinein konnte er nicht sagen, ob er sich die Sache mit Dorian nur eingebildet hatte oder nicht. Er wollte Cassandra nach Dorian fragen, doch die Gefahr war zu groß, dass sie Verdacht schöpfte. Und mit Lavellan, die als einzige um seinen Seelenpartner wusste, konnte er auch nicht darüber sprechen, weil sie nichts von seinem Lyriumentzug wusste und Cullen wollte, dass es dabei blieb. Es war ein Dilemma. „Zieh das an.“ Er sah verwirrt zu Cassandra auf, die ihm ein Paar Unterhosen und ein Hemd hinhielt. „Deine Sachen sind völlig nass, du erkältest dich sonst“, erklärte sie ruhig. Dann drehte sie sich um, um ihm etwas Privatsphäre zu geben, während er sich aus seinen nassgeschwitzten Sachen schälte und sich umzog, bevor er sich wieder ins Bett legte. „Ich werde deinen Sekretären mitteilen, dass du Fieber hast und heute nicht arbeiten kannst“, sagte sie dann und nahm die schmutzige Wäsche entgegen. „Sie werden sich um die Briefwechsel kümmern und die dringenderen Anfragen in Absprache mit Leliana und Josephine bearbeiten, du musst dir also keine Gedanken machen.“ Cullen nickte. „Ich danke dir“, sagte er, weil es das einzige war, was er sagen konnte. Sie tat so viel für ihn, mehr, als er je wiedergutmachen konnte. Cassandra lächelte schwach, dann stellte sie mehrere Fläschchen auf die Kommode neben dem Bett. „Sollten die Schmerzen wieder schlimmer werden, nimm einen Heiltrank“, wies sie ihn an. Dann zögerte sie kurz. „Ich werde morgen mit der Inquisitorin nach Orlais aufbrechen“, sagte sie. „Ich bete, dass es dir bis dahin wieder besser geht. Wenn nicht, wird Leliana nach dir sehen.“ Er nickte erneut. Es gefiel ihm nicht, aber er sah ein, dass es nötig war. In diesem Zustand war er für gewöhnlich völlig hilflos und auf die Unterstützung anderer angewiesen, doch er vertraute Leliana und wusste, dass sie dieses Vertrauen nicht missbrauchen würde. Cassandra öffnete die Falltür. „Ich hole dir etwas zu essen aus der Küche“, sagte sie und begann die Leiter hinabzusteigen. „Ich bin bald wieder da.“ Mit diesen Worten war sie verschwunden. Cullen starrte an die Decke seines Zimmers und beobachtete die Staubpartikel, die langsam durch die Luft schwebten und aufleuchteten, wo das Sonnenlicht, das durch die Ritzen drang, sie traf. Der Anblick hatte etwas Beruhigendes, und nach einer Weile fielen ihm die Augen zu. Als Cassandra wenig später zurückkehrte, war er bereits wieder eingeschlafen. Er empfand es als Gnade, dass er dieses Mal nichts träumte.   „Ah, Kommandant Cullen! Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, wenn ich Euch Gesellschaft leiste.“ Cullen hob überrascht den Kopf und sah von dem Brief auf, der vor ihm auf dem steinernen Tisch lag. „... Dorian“, entgegnete er mit etwas Verspätung und nickte, während sich der andere Mann bereits auf dem Sitz ihm gegenüber niederließ. „Es wäre mir eine Ehre.“ Die Schmerzen vom Vortag waren mittlerweile fast gänzlich verschwunden, und Cullen hatte die Gelegenheit genutzt, sich in den Garten zu setzen, der mit seiner Stille und Abgeschiedenheit zu einem seiner Lieblingsorte in der Festung geworden war. Nachdem er am Morgen erwacht war, war er die Briefe durchgegangen, die am Vortrag eingetroffen und an ihn persönlich adressiert waren, darunter ein Brief seiner Schwester Mia. Cullen schrieb ihr nicht so oft, wie er es sich gewünscht hätte, ein Umstand, den Mia in jedem zweiten Brief beklagte, auch wenn sie Verständnis für seine Lage zeigte. Jeder ihrer Briefe umfasste mehrere Bögen Papier, auf denen sie ihm in allen Einzelheiten von ihrem Leben mit ihrem Mann und Cullens stetig wachsender Anzahl von Neffen und Nichten erzählte, die ihn jedes Mal zum Schmunzeln brachten und ihm bewusst machten, wie sehr er sie vermisste. Doch er hatte zu viel zu tun, als dass er der Inquisition für mehrere Wochen den Rücken kehren konnte, um seine Familie zu besuchen. Und so begnügte er sich mit Mias farbenfrohen Schilderungen der Feierlichkeiten von Wintersend oder der ersten Laufversuche seiner jüngsten Nichte, und nahm sich vor, zu ihnen zurückzukehren, sobald all dies vorbei war. „Eine Nachricht von Eurer Familie?“, fragte Dorian, als er den Ausdruck auf Cullens Gesicht sah. Der andere nickte. „Von meiner Schwester“, entgegnete er knapp, während er den Brief vorsichtig zusammenfaltete und zurück in den Umschlag schob. Dorian sah ihn nachdenklich an. „Ihr müsst Euch sehr nahe stehen“, meinte er. „Früher waren wir unzertrennlich“, erwiderte Cullen und lächelte, als er an die Momente kindlichen Glücks zurückdachte, in denen er und Mia über die Felder gerannt waren oder in den kurzen Sommermonaten im nahen See gebadet hatten. Dann hob er den Blick und musterte den anderen Mann für eine Weile. „Habt Ihr Geschwister?“, fragte er schließlich. Doch Dorian verneinte. „Meine Eltern wollten nie mehr als ein Kind.“ Er ließ den Blick über den Garten schweifen. „Im Nachhinein war das für alle Beteiligten vermutlich auch das Beste“, fügte er abwesend hinzu. Cullen spürte eine Verbitterung hinter diesen Worten, die wehtat, doch er wagte es nicht, Dorian dazu zu drängen, weiter auf seine Bemerkung einzugehen. Aber das war auch nicht nötig, denn nach einer Weile sprach der andere von selbst weiter. „Die Erwartungen, die in Tevinter an Kinder aus Altus-Familien gestellt werden, sind enorm“, sagte er. „Gewiss, man hat finanzielle Sicherheit und bekommt sehr viel Anerkennung, insbesondere, wenn man als Magier nicht ganz unbegabt ist, aber die Freiheiten, die man dafür aufgeben muss... sie sind es nicht wert.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bereue es nicht, meine Heimat verlassen zu haben.“ Cullen zögerte für einen Moment, doch dann wagte er zu fragen: „Und Eure Eltern? Vermisst Ihr sie nicht?“ Ein harter Ausdruck trat in die grauen Augen des Magiers. „Sie sind der Grund, weshalb ich Tevinter überhaupt erst den Rücken gekehrt habe.“ Er richtete den Blick wieder auf Cullen und lächelte plötzlich, und wäre der Schmerz in seinen Augen nicht gewesen, hätte Cullen ihm das Lächeln vielleicht sogar abgekauft. „Aber genug über meine Familie“, sagte er. „Ich bin nicht hergekommen, um Euch mit meiner Geschichte zu langweilen.“ Cullen schüttelte den Kopf, um dem anderen zu zeigen, dass er sich gewiss nicht langweilte, dann fragte er: „Warum seid Ihr dann gekommen?“ Nicht, dass er sich über Dorians Anwesenheit beklagte. Der Name auf seiner Haut pulsierte warm unter dem Lederband an seinem Handgelenk, und allein die körperliche Nähe zu dem anderen erfüllte Cullen mit einem Gefühl der... Vollständigkeit, das er nie wieder missen wollte, auch wenn er wusste, dass es nur für die Dauer ihres Gesprächs anhalten würde. Ein Funkeln trat in Dorians Augen. „Wie gut, dass Ihr fragt.“ Er griff nach einem Holzkasten, der unter seinem Stuhl stand, wie Cullen plötzlich bemerkte. Der andere musste ihn dort abgestellt haben, während er noch den Brief von Mia gelesen hatte. „Ich suche schon seit einer Weile nach einem würdigen Gegner“, erklärte Dorian, während er den Kasten aufklappte und ihm ein Schachbrett und eine Reihe von Spielsteinen entnahm. „Lady Josephine war so freundlich, mich an Euch zu verweisen. Sie meinte, beim Kartenspiel wäret Ihr ein lausiger Gegner, aber dafür ein umso begnadeterer Schachspieler. Ich möchte mich darum selbst von Euren Talenten überzeugen.“ Cullens Mundwinkel hoben sich. „Hat sie das wirklich gesagt?“, entgegnete er und half dem anderen dabei, die Steine auf dem Brett zu verteilen und in die Startposition zu bringen. „Lausig?“ Dorian sah auf und erwiderte das Lächeln. „Vielleicht nicht mit Worten, aber ihr Blick sagte mehr, als es mir der Anstand erlaubt, an dieser Stelle zu wiederholen.“ „... tatsächlich?“, fragte Cullen amüsiert. Ihre Finger trafen sich für einen Moment, als sie gleichzeitig nach dem letzten Spielstein griffen. Dorian zog seine Hand nicht weg, und auch Cullen ließ sich ein paar Sekunden mehr Zeit, als nötig gewesen wäre, bevor er den Stein wieder freigab und ihn dem anderen überließ. Als sich ihre Blicke wieder begegneten, schienen Dorians Augen dunkler geworden zu sein und ein seltsamer Ausdruck lag darin, den Cullen nicht zu deuten wusste. Doch dann verging der Moment, und Cullen wandte mit roten Wangen den Blick ab und sah auf das Spielbrett hinab. „Nun“, sagte er. „Dann zeigt mir, was Ihr könnt.“ „Mit Vergnügen“, erwiderte Dorian und lächelte. Und das Spiel begann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)