The Black Substitute von CaroZ (Miragia-Trilogie 3) ================================================================================ Kapitel 2: Vincent ------------------ Vincent Frost kroch durch seine Adern. Zitternd hob er den Kopf und fühlte gleichzeitig die Kühle des raureifbedeckten Grases, auf dem er lag, an den nackten Schulterblättern. Oh Gott, es war nicht seine Zeit. Weshalb nur war es schon wieder passiert? Schon wieder? „Vincent?“, fragte eine sanfte Stimme, und ihre Besitzerin berührte fast zaghaft seinen Arm. „Du bist wach.“ Er nickte. Diese Information war überflüssig. „Kannst du nicht schlafen?“ „Doch, ich kann. Aber es hält nie lange vor.“ Und das sollte nicht sein. Nicht während der einjährigen Erholungsphase des Planeten. Der Winterschlaf, in den die Bewohner des Verheißenen Landes versetzt worden waren, überbrückte diese Zeit, denn der Planet konnte keine Energie an sie verschwenden. Er war einerseits hoch regenerativ, sodass keine zugefügte Verletzung ein ernstes Problem für ihn darstellte, doch gleichzeitig war es besonders einfach, ihn zu verletzen. Seine Kräfte waren stark minimiert, versammelt, nicht leichtfertig einsetzbar. „Versuch weiterzuschlafen“, sagte Lukretia eindringlich. „Es ist nicht gut, wach zu sein. Du kannst nichts tun, Miragia bietet uns nichts ...“ „Ich weiß“, antwortete er schärfer als beabsichtigt. „Ich weiß. Sag mir, was ich tun soll!“ Ihre Augen musterten ihn ohne jede Verletztheit ob seines anklagenden Tonfalls. Zweifellos kannte sie die Antwort nicht. Sie konnte nicht einmal erahnen, was in ihm vorging. Leise fiel der Schnee auf die in düsteres Zwielicht getauchte Ebene. Kein Laut unterbrach das Schweigen. Hier war niemand, niemand außer der vielen Cetra, die Miragia bewohnten. Tief schlafend lagen sie alle beieinander, ihre Leiber gaben wenig Wärme an die in weißes Eis gehüllte Umgebung ab. Es war ein einjähriger Winterschlaf. Ein Schlaf, der keine Träume mit sich bringen sollte. „Es ist zu kalt“, sagte Vincent irgendwann. Es war, das wusste er, nur eine Ausflucht. „Das spürst du nicht, wenn du schläfst“, erwiderte Lukretia. Voller Geduld wiederholte sie alles, was Bugenhagen ihnen vor Beginn der Regenerationszeit beigebracht hatte. „Ich weiß.“ Still fielen die Flocken. Gleichmäßig und ununterbrochen. Es gibt viele Prophezeiungen über Dinge, die sich während dem Schlaf des Planeten ereignen können. Einige sind glückverheißend, andere durchweg böse und fürchterlich. Alle hundert Jahre, wenn der Planet schläft, erfahren seine Bewohner, ob er Gutes oder Schlechtes für sie bereithält. Es ist die Zeit des Gerichtes. Nach all den Jahren sah Vincent diese Seite seines aufgeschlagenen Schulbuches vor sich, als sei seither kein Tag vergangen. Wie viel war ihn über diese geheimnisvolle Zeit gelehrt worden, und wie viel davon hatte sich als bloße Befürchtung, als apokalyptisches Gerücht einer zutiefst verängstigten Menschheit herausgestellt. Ifalna schlug ihre strahlenden Augen auf, als Vincent sich über sie beugte und sacht mit seiner menschlichen Hand ihre kalten Finger berührte. Eine fahle Blässe beherrschte ihr von Müdigkeit gezeichnetes Gesicht, doch sofort setzte sie sich auf, als sie ihn erblickte. „Was ist passiert? Bist du wieder ...“ „Ja.“ „Und hattest du wieder einen ...“ „Ja“, fuhr er ungeduldig fort. „Er war detailreicher als die beiden vorherigen.“ „Erzähl ihn mir. Auch wenn es nicht gut ist, dass wir wach sind ... Ich will ihn hören. Obwohl ich nicht weiß, was es bedeuten könnte ... Du solltest nicht träumen, Vincent. Du solltest nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was will der Planet dir mitteilen, wenn wir Cetra die Botschaft nicht hören können?“ Vielleicht, dachte Vincent in diesem Augenblick, sollt ihr sie nicht hören. Dennoch befeuchtete er sich die Lippen und begann: „Es war zunächst dasselbe. Das Mädchen, das sich in eine Taube verwandelt. Eine schwarze ... und sie fliegt gegen einen Spiegel, der in Abertausende von Splittern zerbricht. Diesmal ging der Traum noch weiter, und zwar ...“ Er schluckte. Dieses Bild, obwohl an sich harmlos, löste ein kaltes Gefühl der Angst in ihm aus. „... die ... die Taube pickte einen dieser Splitter auf und schluckte ihn ... und kurz darauf schrie und kreischte sie so fürchterlich, dass ich es kaum ertragen konnte. Sie flatterte und hackte um sich, während sie schrie, aus Leibeskräften. Dann wurde von innen eine Klinge durch sie gestoßen, sie ragte einfach nach vorn heraus, während die Taube immer noch im Tode kämpfte, und dann fiel das Schwert herunter mitsamt dem Herzen, das es durchbohrt hatte. Die Taube lag tot, doch das Herz pulste ... es spritzte Blut heraus, immer mehr, so viel, dass ich ... zuletzt darin ertrinken musste. Es ... verklebte mich überall ...“ Die Erinnerung an die warme, zähe Flüssigkeit, sein eigener Leib darin eingetaucht, machte ihn schaudern. „Ich glaube, dass das das Ende ist. Der Traum kann nicht mehr weitergehen, da er mit meinem Tod endet“, schloss Vincent hilflos. Ifalna schwieg nur wenige Sekunden, dann nickte sie. „Ich verstehe. Und ich muss gestehen, dass ich diese Vision sehr beunruhigend finde.“ „Was soll ich tun? Ich kann nicht schlafen ... jedes Mal nach diesem Traum wache ich auf. Und er kommt immer wieder.“ Ich kann das unmöglich ein ganzes Jahr lang durchhalten, fügte er in Gedanken hinzu. Dieses Grauen, es ist ... „Beruhige dich, Vincent.“ Aeris’ Mutter bedachte ihn mit einem besänftigenden Blick. Stumm sanken die Schneeflocken auf ihr glattes Haar nieder. Seine menschliche Hand ballte sich zur Faust, doch noch immer floss kein warmes Blut in sie. Die Wärme hatte das Verheißene Land verlassen. „Eine schwarze Taube“, begann Vincent irgendwann erneut zögerlich, „kann doch nur jemand sein, der in Miragia lebt ... jemand, der eine Taube wird, wenn er durch den Spiegel in die Außenwelt reist ...“ „Ich habe ebenfalls daran gedacht“, sagte sie. Aber wir alle werden zu weißen Tauben, dachte er. Niemand von uns wird zu einer schwarzen ... „Nicht einmal Sephiroth“, sagte Ifalna, die seine Gedanken vermutlich wahrgenommen hatte. „Und auch du nicht ...“ Vincent wandte den Kopf zur Seite und entfaltete den einzelnen schwarzen Flügel, riesig und im Zwielicht bläulich glänzend, der aus seinem Schulterblatt spross. Außer ihm trugen nur Lukretia und Sephiroth dieses Erkennungszeichen – als Ehrengäste Miragias. „Ich glaube nicht, dass es damit zusammenhängt“, sagte Ifalna. „Und“, fügte sie sanft hinzu, „ich fürchte außerdem, dass ich nichts für dich tun kann.“ Er hatte nichts anderes erwartet. Stumm schüttelte er den Kopf und erhob sich fröstelnd aus dem glitzernden Gras. „Wenn es wieder passiert, wecke Bugenhagen. Vielleicht weiß er einen Rat. Trotzdem müssen wir dafür sorgen, dass wir den Planeten durch unser Wachsein nicht zu viel Kraft kosten.“ Natürlich dachte er daran. Ihm selbst wäre es weitaus lieber gewesen, wenn er hätte tief und traumlos schlafen können wie die anderen. Aus irgendeinem Grund sollte es nicht sein. Er ging zurück an seinen Platz, jene freie Stelle auf der endlosen Wiese, in der sein Körper bereits eine flache Mulde geformt hatte. Lukretia an seiner Seite war längst wieder in die bleiche Starre des Winterschlafs verfallen, und die zaghafte Berührung ihrer bleichen Hand brachte sie nicht zum Erwachen. Langsam ließ sich Vincent wieder zu Boden sinken und beobachtete einige Minuten lang den sternlosen Himmel, ehe er – ohne die Erwartung eines durchgehenden Schlafes – die Augen schloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)