Ranmas Abtritt von Hibiki (Seltsame Dinge geschehen in Nerima) ================================================================================ Kapitel 6: Ranmas Abtritt ------------------------- Kapitel 6 Ranmas' Abtritt Unten auf der Straße, ein Stockwerk tiefer, war ein Mann erstarrt, der den Kopf halb gedreht hatte, um die Frau an der Ecke zu beobachten, die gerade in den Bus Nummer achtundfünfzig Richtung Innenstadt einstieg. Sie hatte vorübergehend ein wunderschönes Bein entblößt, und der Mann bewunderte es. Ein Stück weiter die Straße hinab hielt ein Junge einen fadenscheinigen alten Baseballhandschuh hoch, um einen Ball zu fangen, der erstarrt über seinem Kopf in der Luft hing. Und knapp zwei Meter über der Straße schwebte wie ein Geist, den ein drittklassiger Beschwörer auf einem Jahrmarkt beschworen hatte, eine der Zeitungen vom Stand des Neko Hanten. Ich konnte eines der Bilder sehen, die auf der Zeitung abgedruckt waren: Bill Clinton bei der Eröffnung der Sommer-Olympiade in Atlanta. Hepbournes Stimme klang wie aus weiter Ferne. "Zuerst dachte ich, das bedeutet, daß ich den Rest meines Lebens in einem Irrenhaus verbringen und denken würde, ich wäre du, aber das hätte mich nicht gestört, weil ja nur mein Körper in der Klapsmühle eingesperrt wäre, verstehst du? Doch allmählich wurde mir klar, dass es wesentlich mehr sein könnte . . . dass es eventuell eine Möglichkeit gab, wie ich . . . nun . . . ganz überwechseln konnte. Und weißt du, wer der Schlüssel war?" "Ja", sagte ich, ohne mich umzudrehen. Das Surren der Maschine ertönte wieder, und plötzlich flatterte die Zeitung, die in der Luft hing, auf den erstarrten Gehsteig. Einen oder zwei Augenblicke später rollte ein alter Honda über die Straße. Er stieß mit dem Jungen zusammen, der den Baseballhandschuh trug, woraufhin er und das Auto verschwanden. Aber nicht der Ball: er fiel auf die Straße, rollte halb in den Rinnstein und erstarrte wieder. "Tatsächlich?" Er hörte sich überrascht an. "Ja. Akane war der Schlüssel." "Stimmt genau." Er lachte, dann räusperte er sich - beides nervöse Geräusche. "Sie war der Schlüssel, weil Sie nach dir der wichtigste Charakter war. Und ich wusste, wenn ich Sie herausnahm, konnte ich wirklich hierherkommen. Ich vergesse manchmal, dass du zum Teil Ich bist. Das war ein Luxus, über den ich nicht verfügte. "Ich habe an einem neuen Buch herumgeschrieben, aber das führte zu nichts. Ich habe bis Sonntag sechs verschiedene Entwürfe für Kapitel eins geschrieben, bis mir etwas Interessantes einfiel: Akane Tendou konnte dich nicht leiden." Da wirbelte ich hastig herum. "Was Sie nicht sagen." "Ich dachte mir, dass du es nicht glauben würdest, aber irgendwie wusste ich, dass es das sein könnte. Ich will nicht schon wieder Literaturunterricht erteilen, Ranma, aber eines kann ich dir über unser Metier verraten. Geschichten in der ersten Person zu schreiben, ist eine ziemlich vertrackte Sache. Es ist, als käme alles, was der Autor weiß, seiner Hauptperson in Briefen und Berichten aus einem weit entfernten Kampfgebiet. Dann ist es sehr selten, dass der Autor ein Geheimnis vor seiner Hauptperson hat. Und in diesem Fall hatte ich eines. Es schien, als wäre dein Teil von Nerima der Garten Eden . . ." "Ich habe noch nie gehört, dass man diesen Stadtteil je so genannt hat." "Und es gab eine Schlange, die ich sah und du nicht. Eine Schlange namens Akane Tendou. Draußen wurde es dunkel und plötzlich löste sich das Red Door, eine Disco die angeblich Sergeij Nostrow gehörte, in bläulichen Dunst auf, der so aussah als käme er aus einer Lucky Strike. Statt dessen erschien ein anderes Restaurant mit dem Namen Petit Déjeuner, dessen Fensterrahmen üppig mit Farnen ausgestattet waren. Ich sah die Straße hinauf und stellte fest, daß noch andere Veränderungen vonstatten gingen - neue Häuser ersetzten alte mit lautloser, unheimlicher Schnelligkeit. Das bedeutete meine Zeit wurde knapp; ich wusste es. Unglücklicherweise wusste ich noch etwas - wahrscheinlich hatte ich in der verbliebenen Zeit keine Chance mehr. Wenn Gott einem ins Haus spaziert kommt und sagt, dass ihm dein Leben besser gefällt als sein eigenes, was hat man da schon für Möglichkeiten? "Ich vernichtete die verschiedenen Fassungen des Romans, den ich zwei Monate nach dem Tod meiner Frau angefangen hatte", sagte Hepbourne. "Das fiel mir leicht - es waren armselige, verkrüppelte Versuche. Und dann fing ich einen neuen an. Er trägt den Titel . . . kannst du ihn erraten, Ranma?" "Klar", sagte ich und wirbelte herum. Es erforderte meine ganze Kraft, aber was dieser Penner meine "Motivation" nennen würde, war gut. Nerima ist nicht gerade der wichtigste Ort, aber es ist meine Welt. Ich wollte nicht mit ansehen, wie er ihn zerstörte und so wieder aufbaute, wie er ihn haben wollte. "Ich vermute, Sie haben ihn Ranma's Abtritt genannt." Er sah mich gelinde überrascht an. "Da vermutest du richtig." Ich winkte mit der Hand. Es war ein Kraftakt, aber ich schaffte es. "Wissen Sie, ich habe letztes Jahr nicht umsonst den Rätselwettbewerb gewonnen." Darüber musste er lächeln. "Ja. Der Satz hat mir immer gut gefallen." Plötzlich hasste ich ihn - hasste ihn wie die Pest. Wenn ich die Kraft hätte aufbringen können, über den Schreibtisch zu hechten und ihm den Hals umzudrehen, hätte ich es getan. Und das sah er mir an. Das Lächeln verschwand. "Vergiss es, Ranma - du hättest keine Chance." "Warum verschwinden Sie nicht einfach von hier?" knurrte ich ihn an. "Weil ich es nicht kann. Ich könnte es nicht einmal, wenn ich es wollte. Und ich will es auch nicht." Er sah mich mit einer seltsamen Mischung aus Zorn und Flehen an. "Versuch es von meiner Warte aus zu sehen, Ranma . . ." "Habe ich eine andere Wahl? Hatte ich je eine?" Das überhörte er. "Hier ist eine Welt, in der ich nie älter werde. Keine Wirtschaftsflaute wird eintreffen. Hier kann ich so viel rohes Fleisch essen, wie ich will, ohne mir wegen meines Cholesterinspiegels Gedanken machen zu müssen." "Ich habe nicht die geringste Ahnung, von was Sie reden." Er beugte sich ernst nach vorn. "Nein, natürlich nicht! Und genau darum geht es, Ranma! Dies ist eine Welt, wo ich wirklich das tun kann, was ich immer schon tun wollte. Hier kann ich der größte Martial Artist überhaupt sein. Hier kann ich mit Dämonen kämpfen - und weiß, dass sie sterben können, aber ich nicht. Und ich kann einige Stunden später aufwachen, wenn mich die Sonne am Morgen weckt." "Mein Schlafzimmerfenster liegt nach Westen", sagte ich. "Nicht mehr", antwortete er gelassen, und ich spürte, wie die Hände sich auf den Stuhllehnen zu kraftlosen Fäusten ballten. "Siehst du, wie wunderbar es ist? Wie perfekt? In dieser Welt werden die Leute wegen einer dummen würdelosen Krankheit namens Gürtelrose nicht halb verrückt vor Juckreiz. In dieser Welt werden Menschen nicht grau, geschweige denn kahl." Er sah mich gleichgültig an, und in diesem Blick sah ich keine Hoffnung für mich. Überhaupt keine Hoffnung. "In dieser Welt sterben geliebte Söhne nie an AIDS, und geliebte Ehefrauen nehmen nie eine Überdosis Schlaftabletten. Außerdem warst du immer der Außenseiter hier, nicht ich, wie du es selbst auch immer gesehen haben magst. Dies ist meine Welt, die aus meiner Phantasie geboren wurde und durch meine Bemühungen bestehen bleibt. Ich habe sie die eine Zeitlang geliehen, das ist alles. Und jetzt hole ich sie mir zurück." "Erzählen Sie mir noch, wie Sie hergekommen sind, würden Sie das wenigstens tun? Ich möchte es wirklich wissen. "Das war ganz leicht. Ich nahm sie auseinander, angefangen mit Ukyou. Ich habe einige der geliebte Rollen herausgenommen, und jetzt entferne ich einige der alten Örtlichkeiten. Mit anderen Worten, ich ziehe dir Faden für Faden den Teppich unter den Füßen weg, und darauf bin ich nicht stolz, aber ich bin stolz auf die Willenskraft, die dazu erforderlich ist." "Was ist in ihrer eigenen Welt mit Ihnen passiert?" Ich hielt ihn immer noch hin, aber jetzt nur noch aus Gewohnheit, so wie ein alten Pferd an einem verschneiten Morgen den Weg in den Stall zurückfindet. Er zuckte die Achseln. "Wahrscheinlich tot. Oder vielleicht habe ich tatsächlich einen Körper hinterlassen - eine leere Hülle -, der in einem Sanatorium sitzt. Aber ich glaube nicht, dass es so ist - dies alles hier scheint real zu sein. Nein, ich glaube, ich habe es vollkommen herübergeschafft, Ranma. Ich glaube, zu Hause suchen sie nach einem verschwundenen Schriftsteller . . . und haben keine Ahnung, dass er im Speicher seines eigenen Textcomputers verschwunden ist. Und um die Wahrheit zu sagen, es ist mir im Grunde auch völlig egal." "Und ich? Was wird aus mir?" "Ranma", sagte er, "das ist mir auch egal." Er beugte sich wieder über seine Maschine. "Nicht!" sagte ich schneidend. Er sah auf. "Ich . . ." Ich hörte das Zittern meiner Stimme, versuchte es zu unterdrücken, musste aber feststellen, dass ich es nicht konnte. "Mister, ich habe Angst. Bitte, lassen Sie mich in Ruhe. Ich weiß, dass da draußen ist gar nicht mehr meine Welt - verdammt, hier drinnen auch nicht. Aber es ist die einzige Welt, die ich auch nur annähernd gekannt habe. Lassen Sie mir, was noch davon übrig ist. Bitte." "Zu spät, Ranma." Wieder hörte ich dieses unbarmherzige Bedauern in seiner Stimme. "Schließ die Augen. Ich mache, so schnell ich kann." Ich versuchte, mich auf ihn zu stürzen - versuchte es, so verbissen ich konnte. Ich bewegte mich kein Jota. Und was meine Augen betraf, so stellte ich fest, dass ich sie gar nicht schließen musste. Alles Licht war aus dem Tag gewichen, in dem Büro war es so finster wie in einem Kohlesack. Ich spürte mehr, wie er sich über den Schreibtisch zu mir beugte, als dass ich es sah. Ich versuchte zurückzuweichen und musste feststellen, dass ich nicht einmal das konnte. Etwas Trockenes und Raschelndes berührte meine Hand, und ich schrie. "Ganz ruhig, Ranma." Seine Stimme kam aus der Dunkelheit, von überall her. Logisch, dachte ich. Schließlich bin ich nur eine Ausgeburt seiner Phantasie. "Das ist nur ein Scheck." "Ein . . . Scheck?" "Ja. Über fünftausend Dollar. Du hast mir deine ganze Habe verkauft. Klingt hervorragend, oder nicht?" Ich versuchte zu flehen, aber auch das konnte ich nicht. Selbst meine Stimme ließ mich im Stich. "Mach dich bereit", sagte er. "Ich weiß nicht genau, was passieren wird, Ranma, aber es passiert jetzt. Ich glaube nicht, dass es weh tun wird." Aber selbst wenn, wäre es mir egal - das war der Teil, den er unausgesprochen ließ. Das leise Summen kam aus der Schwärze. Ich spürte, wie mein Stuhl unter mir schmolz, und plötzlich fiel ich. Hepbournes Stimme fiel mit mir, rezitierte im Einklang mit dem Klicken und Klappern der Tasten seines Laptops, rezitierte die beiden letzten Sätze eines Romans mit dem Titel Ranmas'Abtritt. "'Und so verließ ich die Stadt, und wo ich schließlich landete - nun Mister, ich glaube, das ist meine Angelegenheit. Finden Sie nicht auch?" Unter mir war ein gleißendes glühendes Licht zu sehen. Ich fiel darauf zu. Bald würde es mich verschlingen, und bei dem Gedanken verspürte ich nur Erleichterung. "'ENDE'", dröhte Hepbournes Stimme, und dann fiel ich durch das grüne Licht, es schien durch mich, in mir, und Ranma Saotome existierte nicht mehr. Lebwohl, Martial Artist. Ende Kapitel 6 von 7. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)