Ein würdiger Traum von Sharry (Der Preis des Vertrauens) ================================================================================ Kapitel 33 - Der Traum ---------------------- Kapitel 33 – Der Traum   Es fiel ihm schwer zu atmen. Hinter sich konnte er Schreie hören. Sterbende Menschen. Ja, er war ein Monster geworden. Er bereute es nicht, während er den Arm in den Himmel stieß, als Zeichen des Sieges, der Hoffnung, der Freundschaft. Um seine Freunde zu beschützen würde er alles tun, denn dies war seine Aufgabe als Crewmitglied. Er wusste, dass er vielen guten, vielen unschuldigen Menschen gerade das Leben genommen hatte, wusste wie viel Leid es so vielen weiteren noch bereiten würde. Er meinte die Schreie seiner Freunde zu hören, aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Die Flammen leckten an seinen Schuhsohlen, umarmten seine Taille. Ein nie gefühlter Schmerz durchdrang seinen Körper, doch schreien konnte er nicht da die Hitze sich ihren Weg in seine Kehle bahnte, als plötzlich der Boden unter ihm nachgab. Den Aufprall auf dem Boden merkte er nicht mehr, seine eigenen Schreie und seine brennende Haut spürte er nicht mehr, die schmelzenden Ohrringe und das glühende Haar nahm er nicht mehr wahr. Vor seinem inneren Auge sah er die Dinge, die ihm wichtig gewesen waren. Kein Gott konnte ihm gnädig sein, er würde nie in Frieden ruhen, aber das war egal.  Er hatte nie um Schutz gebeten, nie um Milde. Er wusste, dass er alles ertragen konnte, alles aushalten konnte, das war sein Weg gewesen. Aber sie lebten, das war alles was zählte. Ach, was wäre gewesen, wenn… Langsam kam er zu sich. Wie nach einem endlosen Schlaf. Die Welt war dunkel. Es war, als würde er im völligen Nichts dahintreiben. War das der Tod? Wenn ja, war es nicht so schlimm, wie er erwartet hatte. Wo war das Feuer? Wo waren die Höllenqualen, die einen wie ihn nur sehnsüchtig erwarten würden? Ein Glück glaubte er nicht an diesen Schwachsinn. Aber da war nichts. Doch vielleicht war genau das die schlimmste Strafe, die es gab. Während er sich umsah, obwohl es nichts zu sehen gab, stellte er beinahe amüsiert fest, dass selbst er nicht wirklich da war. Da waren keine Arme, keine Beine, kein Körper. Er versuchte zu sprechen, aber da war kein Mund, keine Stimme, die reden konnte. Ganz super. Er war also nicht mehr, als seine eigenen Gedanken. Das war ja fast so schlimm, wie über eine Woche mit dem Koch in irgendeiner Zelle zu vergammeln, denn seine eigenen wirren Hirngespinste gaben nicht einen Moment Ruhe. Er war also nun wirklich tot? Wenn man das bedachte, fühlte er sich doch relativ lebendig, wenn man mal von der Sache absah, dass er keinen Körper hatte und gestorben war. Aber die anderen hatten überlebt, hoffentlich. Das war das einzige, was für ihn zählte. Nun ja, er hatte eigentlich nicht sterben wollen, nicht jetzt schon, nicht bevor er sein Versprechen wahr machen konnte, aber er hatte keine Wahl gehabt. Er würde es wieder tun! Sofort! Ohne einen Moment des Zweifelns, ohne einen Moment des Zögerns würde er sein eigenes Herz heraus reißen, wenn das nötig wäre, um seinen Kapitän, seinen Freund zu beschützen und wenn es den anderen helfen würde, dann umso besser. Es war nun mal seine Art, sein Wesen. Er war dafür geboren worden, diesen Jungen mit seinem Leben zu beschützen, dessen war er sich mittlerweile bewusst. Nur dafür war er wohl am Leben gewesen. Und auch wenn ihn das unglaublich stolz machte, dass er der eine Auserwählte gewesen war, der die Macht und das Privileg gehabt hatte, den zukünftigen König der Piraten zu beschützen, so war da etwas, tief in seinem Herzen, das trauerte. Etwas tief in seinem Herzen trauerte? Schlechter Scherz für jemanden, der nicht mehr existierte und dadurch auch keinen Körper hatte. Hätte beinahe von Brook kommen können. Natürlich würde er es wieder tun. Natürlich würde er seine Freunde beschützen, mit allem, was er hatte und noch mehr, wenn es sein musste, schließlich war er ein stolzer Krieger, ein ehrbarer Mann. Nie würde er aufgeben. Aber tief verborgen, unter den Schichten eines Schwertkämpfers, eines Piraten, eines Piratenjägers, war da dieser kleine Junge, der weinte. Er war gestorben, gestorben bevor er seinen Traum verwirklicht hatte, bevor er all diese Dinge erlebt hatte, bevor er seinen Freunden dabei hatte zusehen können, wie sie ihre Träume verwirklichen. Er hatte nicht sterben wollen! Er wollte leben! Er wollte all das erleben, all das fühlen. Bevor er gegen Falkenauge gekämpft hatte, hatte er bereits mit seinem Leben abgeschlossen. Nach dem Kampf hatte er aber entschieden, dass nichts ihn töten dürfte, bis er seinen Traum erreichen würde. Er hatte Unmögliches geschafft, alleine deswegen. Aber dann, dann hatte er gesehen, dass es Wertvolleres gab, als sein Leben. Er hatte gesehen, dass die Person die er war, einem anderen Zweck dienlich sein musste. Wenn er nicht der wäre, der er nun mal war. Wenn nicht er derjenige wäre, der alle anderen beschützen wollte, dann würde er jetzt vielleicht noch leben. Wenn er egoistisch wäre und nur sich selbst gerettet hätte, dann wäre er jetzt noch am Leben, beladen von Schuld und Selbsthass, aber am Leben. Immer noch in der Lage seinen Traum zu verwirklichen. Wenn er schwach wäre und nicht in der Lage gewesen wäre andere zu beschützen, dann hätte ein anderer die Verantwortung getragen, vielleicht auch um ihn zu retten, dann wäre er zwar schwach und ohne jegliche Selbstachtung, aber er wäre am Leben. Immer noch in der Lage Träume zu haben. Wenn er nur einmal an sich gedacht hätte, hätte er vielleicht nicht alle retten können, aber er wäre am Leben gewesen, er hätte überlebt. Was für lächerliche Gedanken. Gedanken für die er sich hasste, alleine weil er sie hatte. Nie im Leben hätte er so handeln können, nie im Leben hätten solche Gedanken ihn erreicht, als er noch am Leben war. Nie hätte er zugelassen, dass auch nur einer seiner Freunde für seinen Egoismus hätte leiden müssen. Und genau das war der Grund, warum er jetzt tot war. Aber vielleicht hätten sie es verhindern können, dachte er leise. Nicht er, er hatte genauso handeln müssen, wie er es getan hatte. Aber vielleicht, nur vielleicht, hätten seine Freunde eine Möglichkeit gesehen ihn zu retten. Wenn er nur nicht zu stolz gewesen wäre, sie um Hilfe zu bitten. Sein Stolz hatte ihm verboten, ihnen auch nur einen Hauch seiner Last aufzubürden, weil er sie nicht belasten wollte, gefährden wollte. Aber auch, um sich und aller Welt zu beweisen, dass er alles alleine schaffen konnte. Aber war es nicht genau das, worum es bei Freundschaft ging, fragte er sich traurig. Ging es bei Freundschaft nicht genau darum, dass man, obwohl man etwas alleine schaffen könnte, es nicht alleine schaffen musste? Wie dumm er doch gewesen war, dass er dieses einfache Prinzip erst jetzt verstand, jetzt wo es zu spät war. „Ist es denn schon zu spät?“ Überrascht wandte er sich um, als er eine unbekannte Stimme hörte. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er wieder einen Körper hatte, seinen Körper. Wie auf festem Boden stand er im grenzenlosen Nichts. „Wer ist da?“, fragte er in die Leere. „Du bist wirklich nicht der hellste Stern am Firmament, nicht wahr? Allerdings scheinst du ein Wanderer zu sein. Deine Seele ist viel zu alt für die kurze Lebensspanne, die dein Körper durchgehalten hat.“ Die Antwort, die er erhielt, war absolut nichtssagend für ihn. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob er gerade beleidigt wurde. „Noch einmal, wer bist du und wo sind wir?“, hakte er deutlich kühler nach und ging in Kampfposition. Er ärgerte sich darüber, dass er seine Schwerter nicht dabei hatte, auf der anderen Seite war er tot und er hatte keine Ahnung, wie er so an sie drankommen sollte. „Oh nein, du bist noch nicht tot, Wanderer. Noch nicht.“ Er wusste nicht, was ihn mehr irritierte: Dass die körperlose Stimme seine Gedanken gelesen hatte oder dass sie ihm sagte, dass er noch nicht gestorben war? Aber wie konnte das sein? Er hatte es selbst mitbekommen, die Flammen, die Hitze, den Rauch. Hatte gefühlt, wie sein Körper brannte, beinahe schmolz. Es war unmöglich, dass er überlebt haben konnte. „Mir scheint, dir ist nicht bewusst, dass die Zerstörung der organischen Hülle nicht zugleich den Exitus deiner Seele bedeutet.“ „Was?“ Wieder verstand er kein Wort. „Gedulde dich, Wanderer. Meine Aufgabe ist, dir alles zu erklären und dir bei deiner Entscheidung beizustehen.“ Entscheidung? Was konnte er schon entscheiden? Er war tot. Aus dem Nichts tauchten vor ihm drei leere Tore auf, um sie herum weiterhin Dunkelheit. Nun gut, er glaubte eine leise Ahnung zu haben, um was es sich hier handelte. Er würde vermutlich irgendeine Prüfung bestehen müssen. „Mitnichten. Aber zuerst möchte ich dir erklären, dass dein Scheiden aus der weltlichen Sphäre nicht direkt deinen unabdingbaren Tod bedeutet.“ „Wie meinst du das?“, fragte er die körperlose Stimme, „Wie kann ich nicht tot sein?“ „Ich will es dir zeigen.“ Und plötzlich lag da etwas zwischen Zorro und den Toren, das ihm die Sprache raubte. Dort vor ihm lag sein Leichnam. Es war ein seltsames Gefühl. Es war nicht die erste Leiche die er sah, noch nicht einmal die erste Brandleiche und sein rational denkender Teil war gerade unglaublich dankbar, dass er, warum auch immer, nichts riechen konnte. Woher er genau wusste, dass er es war, konnte er nicht sagen, denn dieser Körper hatte nichts mehr mit ihm gemein. Die Leiche war verkohlt und verbrannt, die Haut hatte sich komplett aufgelöst, die Muskeln waren zusammengeschrumpft. Die verwundete Seite war aufgeplatzt und hatte den halben Torso weggesprengt. Der rechte Arm sowie beide Füße fehlten, vermutlich beim Sturz zerstört. Der Schädel war hinten aufgeplatzt, Augenlider und Lippen waren verbrannt, hinterließen das nasenlose Wesen in einem qualvollen Schrei mit aufgerissenen Augen, die Zähne ironischer Weise noch voll intakt, doch beinahe schwarz vom Ruß. Dieses etwas war er selbst. Dies war sein Körper. Dies war das, was von ihm übrig geblieben war, nachdem er sich aufgegeben hatte, nachdem er gestorben war. Ihm wurde schlecht. „Ich bitte dich, mir zuzuhören. Wie gesagt, du bist nicht tot. Dies hier sind lediglich die Überreste deiner organischen Hülle.“ Doch er ignorierte die Worte, viel zu sehr schockte ihn das grauenhafte Opfer vor seinen Augen. Er war tot! Etwas in ihm schrie und er stolperte rückwärts, fort von diesem grauenhaften Monster, das Beweis und Strafe seiner Taten war. Strafe dafür, dass er nicht vertrauen konnte, zu stolz gewesen war. „Sieh mich an, Lorenor Zorro. Dein toter Körper wird schon nicht davon laufen.“ Ein leises Lachen hallte durch das All aus Nichts. Zorro hob den Kopf. Ihm gegenüber, neben den drei raumlosen Toren, stand eine Frau. Sie war komplett weiß, selbst ihre Augen waren weiß und die Konturen ihres Körpers schienen unscharf, als würden sie immer wieder verlaufen, als wäre ihr Körper nicht aus einer festen Materie. Augenblicklich griff er erneut nach seinen Schwertern, die natürlich nicht da waren. Er hatte sie in diese verfluchte Tasche getan. Außerdem war er tot, wie ihm wieder mal bewusst wurde, da konnte er schlecht seine Schwerter mitnehmen. Wieder lachte die Frau, doch ihre Lippen bewegten sich nicht. „Ich bin nicht dein Feind, Lorenor Zorro.“ „Was bist du?“, fragte er angespannt, immer noch zum Kampf bereit. Doch wieder lachte die Frau, es wirkte komisch, angestrengt, wie jemand, der nicht wusste, wie er sich verhalten soll. „Diese Frage dir zu beantworten, Lorenor Zorro, würde das, was dein Verstand greifen kann, bei weitem übersteigen. Deswegen lass mich dir sagen, dass deine Vorfahren uns tausende Namen gaben und sie alle sind sowohl falsch als auch richtig.“ „Das war jetzt nicht besonders hilfreich“, murrte er, ohne seine Anspannung zu lösen, „Wo sind wir?“ „Das ist wieder eine Frage, deren Antwort du nicht bereit bist zu erfahren. Denn, Lorenor Zorro, wir sind und sind auch nicht, und wenn etwas nicht ist, kann es nirgends nirgendwo sein.“ „Ich verstehe kein Wort“, meinte er nur. „Dann lass es mich dir so simpel wie nur irgend möglich erklären“, sagte die Frau, weiterhin ohne ihre Lippen zu bewegen. „Zu deinem einfachen Verständnis, sei dir gesagt, dass für das Gebilde, welches ihr Menschen ein lebendiges Wesen nennt, drei Dinge notwendig sind. Das eine ist ein Geist, oder auch der Verstand, wenn du so magst, welcher ausmacht was und wer du bist. Jeder Geist hat eine Seele, dies ist die Fähigkeit, die ihr benötigt, um in der irdischen Welt zu verharren. Je älter die Seele, desto stärker deren Macht. Deine zum Beispiel gehört noch zu den ursprünglichen Seelen, ein äußerst seltenes Exemplar. Das letzte was ihr benötigt um eine weltliche Existenz zu sein, ist eine organische Hülle, so wie dein menschlicher Körper, der hier vor uns liegt. Verstehst du mich soweit?“ Langsam nickte er. Er hatte nicht erwartet, dass die Hölle eine Lernanstalt sein würde. „Diese Hülle ist nicht beständig, sie vergeht, das ist das, was ihr in Zeit berechnet. Durch ihre zerbrechliche Gegebenheit limitiert sie sowohl den Geist, der in ihr aufbewahrt wird, als auch die Fähigkeit der Seele in der irdischen Welt zu verbleiben. Je schwächer die Hülle wird, desto schwieriger wird es für die Seele. Dadurch, dass deine bereits so alt ist, kannst du die Haltbarkeit deiner Hülle fast alleine durch deine reine Willenskraft maßgeblich verlängern, aber ab einem gewissen Punkt ist die Hülle zerstört und die Seele und Geist verlassen die körperliche Welt.“ „Und landen hier“, führte Zorro ihren Satz fort. Die Frau nickte: „Obwohl es sich hierbei natürlich nicht um einen physischen Ort im eigentlichen Sinne handelt. Tatsächlich wäre es treffender zu sagen, dass alles hier nichts anderes ist als Gedanken. Den Körper den du meinst innezuhaben, ist in Wahrheit nicht mehr als eine Illusion deines Geistes, da du an eine organische Gestalt von dir gewöhnt bist. Ich hingegen besitze keine Seele und habe meinen Verstand noch nie durch eine Hülle eingrenzen müssen. Du wirst dementsprechend entschuldigen müssen, dass meine Vorstellung eines Körpers sehr ungenau ist.“ Zorros Kopf drehte. Das war alles etwas viel für ihn. Gerade erst hatte er seinen Leichnam vor sich sehen und sich mit seinem Tod auseinandersetzen müssen, beziehungsweise seinen körperlichen Tod, wenn er der weißen Frau glauben sollte und nun erzählte sie ihm so komische Dinge. „Warum sagst du mir das alles? Was soll ich denn hier? Und was tust du hier?“ „Ich bin ein Seelenwächter. Meine Aufgabe ist es, dir deine Möglichkeiten offen zu legen, jetzt, da deine körperliche Hülle vergangen ist, und für den Fall, dass du es möchtest, werde ich dir deine Seele abnehmen, damit du weiterziehen kannst.“ „Wie bitte, was?“ „Lorenor Zorro, wir befinden uns zurzeit in einer Dimension, die weder existiert noch nicht existiert. In einem nicht bestehenden Zwischenstadium zwischen dem, was ihr Menschen Tod und Leben nennt. Dein Körper ist vergangen, aber sowohl Geist als auch Seele existieren noch und sind immer noch miteinander verbunden. Es liegt jetzt an dir, was geschehen soll.“ Er sah sie an, unsicher was er davon halten sollte, doch sie sprach einfach weiter. „Vor dir liegen drei Tore, Lorenor Zorro. Sie stehen für die drei Wege, die du gehen könnest.“ Nun sah er die drei offenen Löcher an, die hinter seinem verkohlten Kadaver im Nichts standen. „Die erste Möglichkeit ist der Weg der Reinkarnation.“ Das Tor zu Zorros linken wurde allmählich erfüllt von einem warmen, gedämpften roten Licht und ein Herzschlag war laut zu hören. „Wenn du diesen Weg wählst, wird dein Geist in diese neu erschaffene Hülle fahren und du wirst ein neues irdisches Leben beginnen. Deine Seele erhält neue Kraft, um sich festzuhalten. Natürlich wirst du durch die Begrenztheit deiner Hülle alles Bisherige vergessen.“ Es wurde ihm bewusst, er blickte in einen Mutterleib, dort entstand gerade ein neues Leben. „Du kannst dich auch für den zweiten Weg entscheiden. Für das Weitergehen.“ Das mittlere Tor zeigte ihm plötzlich sein Ebenbild, als wäre es ein Spiegel. „Wenn du diese Möglichkeit wählen möchtest, brauchst du deine Seele nicht mehr und dementsprechend würde ich sie dir abnehmen, um daraus neue Seelen herzustellen.“ Zorro sah sie nicht an, sondern blickte in den Spiegel. „Und was passiert, wenn ich da hindurch gehe?“, fragte er. „Das wissen wir nicht“, antwortete das seltsame Wesen, „Es ist uns nicht möglich, auf die andere Seite zu gehen und kein Geist der hindurch ging, kam je wieder. Was natürlich mangels Seele auch nicht möglich wäre.“ Das sollte es also sein? Wiedergeburt und alles vergessen, was ihn, Lorenor Zorro ausmachte, oder weitergehen in etwas Ungewisses ohne die Möglichkeit je wieder zurück zu kehren? Er schüttelte den Kopf. Das wollte er nicht! Diese beiden Möglichkeiten waren keine Option für ihn. Er musste zu seiner Crew. Aber was, wenn das nicht mehr möglich war? „Dies sind normalerweise die beiden Möglichkeiten, die einer der deinen hat, wenn er seine körperliche Hülle verlässt. Du gehörst jedoch zu denjenigen welchen, denen eine dritte Option obliegt.“ Das dritte Tor blieb dunkel. Sie sprach ungehindert weiter. „Die meisten Menschen haben nach ihrem irdischen Tod einen der zwei Gedanken. Entweder sie hängen noch am Leben oder eben nicht. Doch dann gibt es noch diese, die zwar den Tod nicht bereuen, aber etwas anderes in ihrem Leben. Etwas, was sie getan haben und das sie, obwohl sie es bereuen, sofort wieder tun würden. Du gehörst zu diesen Menschen, nicht wahr?“ Ernst sah er sie an. „Ich bin freiwillig gestorben. Ich bereue nicht, dass ich gestorben bin.“ Sie lachte erneut dieses seltsame Lachen. „Das war nicht die Antwort auf meine Frage. Ich habe dich gefragt, ob du bereust, was du getan hast.“ Lange hatte er sich ihr abgewandt und betrachtete das Nichts hinter sich. „Ich wollte nie so viele Menschen umbringen, aber ich bereue es nicht. Ich bereue nicht, meinen Freunden das Leben gerettet zu haben.“ Sie sagte nichts, doch Zorro wusste genau, was sie dachte. „Aber ich bereue“, flüsterte er, „Ich bereue, dass ich meinen Traum aufgegeben habe, dass ich mich aufgegeben habe. Ich bereue nicht, dass ich was getan habe, sondern dass ich zu stolz war, um etwas nicht zu tun. Dass ich zu stolz war, um die anderen um Hilfe zu bitten. Dass ich ihnen nicht zugetraut habe, mich zu retten.“ Sie nickte: „Und darum gehörst du zu denjenigen, denen ein dritter Weg offen steht.“ Sie kam auf ihn zu, ohne dass sie ihre Beine wirklich bewegte. „Menschen, die durch eine selbstlose Tat starben, jedoch nicht den Tod bereuen, sondern ihre Fehler, erhalten die Möglichkeit, wieder ihr Leben weiterzuführen.“ Er starrte sie an. Fassungslos! „Wie?“ Das abstruse Wesen, das nicht menschlich war, lächelte. „Höre mir in Ruhe zu. Grundsätzlich kommen Menschen nach ihrem Tod erst einmal in eine Zwischendimension mit allen anderen Körperlosen. Erst nachdem euer irdischer Körper komplett vergangen ist und keine Überreste verbleiben kommt ihr zunächst hierhin, an diesen Ort, denn erst dann kann eure Seele sich komplett von der körperlichen Welt lösen.“ Langsam nickte er. „Für diejenigen unter euch, die sich aber für den dritten Weg entscheiden könnten, würde es viel zu lange dauern. Schließlich sollt ihr in euer altes Leben zurück, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die komplette Auflösung einer Hülle kann jedoch Jahrzehnte dauern und dann würde euer altes Leben nicht mehr existieren. Deswegen haben wir deine Hülle schon jetzt hierhin geholt, um dir daraus einen fertigen Körper herzustellen, womit du direkt wieder in die irdische Welt zurückkehren kannst.“ Zorro starrte sie einfach nur an. Es gab einen Weg! Es gab einen Weg! Mehr musste er nicht verstehen. „Wenn du dich für den dritten Weg entscheidest, hast du erneut zwei Wahlmöglichkeiten. Wenn du möchtest, schmieden wir aus deiner alten Hülle eine neue, die genau deinen Wünschen entspricht. Dafür werden wir dir jedoch deine Erinnerungen an das vergangene Leben nehmen.“ „Und was ist die andere Option?“, fragte er direkt. Ohne seine Erinnerungen, ohne seinen Traum, ohne seine Freunde, brachte ihm das gar nichts. „Du behältst deine Erinnerungen und wir schmieden aus deinen Überresten einen Körper, der mit deiner ehemaligen Hülle bis in die letzte Zelle identisch ist.“ Zorro wollte schon zuschlagen, da sprach sie weiter. „Aber natürlich ist es nicht ganz so einfach. Die sogenannten Wiedergeborenen erhalten diese Möglichkeit ja nicht grundlos. Es geht darum, dass ihr etwas lernt, was ihr vergessen habt. Etwas, was euch von anderen Menschen unterscheidet. Lorenor Zorro. Weißt du, was du vergessen hast? Weißt du, was du in deinem Leben verlernt hast?“ Er sah sie an, ohne jeden Zweifel. „Ja.“ „Was ist es?“ „Es gibt noch so viel mehr, als Stärke, Stolz und Ehre.“ Sie nickte. Dann wurde ihre Stimme kühler: „Dies ist der Grund, warum wir deinem Körper zwei verschiedene Gestalten geben, die beide gleichermaßen zu deinem Geist gehören. Die zusätzliche Gestalt soll dich lehren, was du zu lernen hast. Damit, wenn du wieder deinen eigenen Körper erhältst, du dich nie wieder selbst verrätst. Deshalb kannst du deinen bisherigen Körper auch erst dann erhalten, wenn du dich an deinen Wert erinnerst und danach handelst. Verstehst du?“ „Ja, schon, aber ich weiß doch jetzt schon längst, was ich lernen muss, was ich vergessen habe. Es geht um diesen falschen Stolz.“ Sie lachte: „ Es ist nicht so, als ob du dich, an das hier erinnern würdest. Und es hat sich gezeigt, dass es den Lebenden deutlich schwerer fällt, sich zu ändern.“ Er seufzte. Das erste Tor der Reinkarnation fiel für ihn sofort raus. Was sollte er damit? Auch das zweite Tor reizte ihn wenig. Natürlich fragte er sich, ob nicht Kuina auf der anderen Seite war. Aber vielleicht hatte auch sie eine erneute Möglichkeit erhalten. Außerdem hatte er ihr Versprechen noch nicht erfüllt. Er musste zurück ins Leben. In sein Leben. Dadurch blieb ihm aber eigentlich nur eine Möglichkeit, wenn er seine Erinnerung behalten wollte. Er musste den schwächlichen Körper nehmen, denn er war sich sicher, dass es ein schwacher Körper sein würde, da er selbst doch recht stark war. „Vielleicht sollte ich noch das ein oder andere zu den verschiedenen Toren erwähnen“, murmelte die Frau plötzlich, „Zu Nummer eins: Natürlich könnte deine Reinkarnation auch nichtmenschlich sein, in welcher Gestalt du auf der Welt wandelst ist ungewiss. Zu Nummer zwei: Da wir nur die menschlichen Namen benutzen, die ihr kennt, wissen wir nicht, welche Geister weitergegangen sind. Zu Nummer drei: Selbst wenn du deine ursprüngliche Gestalt wieder erhalten hast, kannst du deine andere Gestalt nicht abstoßen, da sie zu gleichen Teilen zu deinem Körper gehören, egal wie unterschiedlich sie sein mögen. Zu Nummer vier: Dadurch, dass wir dir deine Erinnerung nehmen, ist es nicht wie bei der Reinkarnation oder bei einer körperlichen Amnesie oder ähnlichem. Es wird dir unmöglich sein, dich an ein altes Leben zu erinnern. Egal was passiert.“ Zorro hörte ihr schon lange nicht mehr zu. Er wusste was er tun sollte. Hatte es von Anfang an gewusst. Er würde leben. Er würde stark werden und er würde vertrauen. Und wenn der Preis dafür ein schwacher Körper sein würde, dann wäre es so. „Du hast deine Entscheidung getroffen?“ Er nickte und ging auf das dritte Tor zu. „Dann lass mich dir noch eines sagen.“ Er sah sie an. „Du wirst entweder an einen Ort kommen, den du bestimmt bist zu erreichen um zu lernen was du zu lernen hast. Oder aber du wirst auf eine Person treffen, deren Schicksal es sein wird, dich zu verändern. Möchtest du diesen Weg immer noch gehen?“ „Natürlich.“ Kuina würde auf ihn warten, da war er sich sicher. Seine verkohlten Überreste ignorierte er. „Dann geh hindurch, Lorenor Zorro. Geh zurück in dein Leben und lerne aus deinen Fehlern. Bereue nichts mehr. Und lebe deinen Traum.“ Er schritt hindurch. Überrascht fand er sich auf einer Waldlichtung wieder. Der klare Himmel über ihm verdunkelte sich stetig, als wäre gerade erst die Sonne untergegangen. Dabei hätte er schwören können, dass es bei ihrem Ausbruch bereits tiefste Nacht gewesen war. Er blickte an sich hinab. Das war immer noch sein Körper, allerdings trug er nicht mehr als ein Hemd. Schien ganz so, als hätte sich diese komische Stimme verschätzt, oder vielleicht war er nun doch verrückt geworden und das vergangene Gespräch hatte nie existiert. In der Ferne konnte er Fußtritte hören. Jemand kam. Plötzlich wurde ihm schwindelig. Die Welt um ihn herum verschwamm und ehe er sich versah, fiel er ohnmächtig zu Boden. Panisch riss er die Augen auf! Wo war er? Was war passiert? „Lorenor?“ Er sah auf. Am anderen Ende des großen, kargen Raumes stand der Samurai und schloss gerade die schwere Holztür hinter sich. „Du bist spät dran fürs Training“, rügte er ihn. Doch Zorro sagte nichts, sondern umklammerte immer noch das Laken. Die gelben Augen beobachteten ihn. „Wieder dieser Traum?“ Er nickte nur langsam. „Und immer noch so verwirrend?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich an alles.“ Dulacre verschränkte die Arme ohne etwas zu erwidern. Endlich wusste Zorro, was Jade gemeint hatte. Endlich wusste er, was geschehen war. „Nun gut“, ergriff der Samurai wieder das Wort, „Ich gebe dir noch einen Moment. Aber bleib nicht mehr zu lange im Bett. Das Geistermädchen hat Frühstück gemacht und ich empfinde sie bereits jetzt als störend.“ Zorro erhob sich grummelnd, ließ zu, dass der andere seinen nackten Oberkörper genau musterte. „Ich bin wach. Lass uns trainieren. Ich habe keine Lust über längst Vergangenes nachzudenken und auf Perona habe ich erst Recht keinen Nerv.“ Der Ältere lachte hämisch: „Wie du meinst. Dann komm! Ich habe mir eine ganz besondere Lektion für heute überlegt, du wirst sie lieben.“ Der Samurai riss die Tür in die Tiefen des Schlosses auf und Zorro beeilte sich hinterher zu kommen, schließlich war dieses uralte Gemäuer ein reiner Irrgarten und er wollte sich nicht wieder verlaufen. Ruffy, ich werde stärker! Ich werde dein Vertrauen in mich nicht enttäuschen und meinen Traum erreichen! Aber voll allem vertraue ich darauf, dass ihr stark genug werdet, um mich zu beschützen! „Wo bleibst du, Lorenor?“ „Keine Sorge, Dulacre, ich bin direkt hinter dir!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)