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Ein würdiger Traum

Der Preis des Vertrauens
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Guten Abend,

Tut mir leid, dass ich mich einen Tag verspätet habe, aber jetzt geht es weiter.
Viel Spaß und liebe Grüße

P.S. Vielen Dank an meine Beta-Leserin und den fleißigen Kommi-schreibern Komplett anzeigen

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Kapitel 1 - Der Fund

Kapitel 1- Der Fund
 

Es war dunkel.

Niemand war zu sehen und bis auf die ruhigen Wellen des Meeres, die langsam gegen das kleine Boot schlugen, war es still. Mit einem leisen Seufzen betrachtete er die kleine Insel vor sich. Er kannte sie gut und er wusste, dass sich auch in den letzten drei Monaten wenig verändert haben würde. Wie jedes Mal, wenn er hier zu Besuch kam.

Mit entschiedenen Schritten eilte er den Steg entlang. Das Holz knarzte unter seinen Schuhsohlen. Ein kalter Wind umarmte ihn, riss an Hut und Mantel. Es war ein Frühjahrswind. Er mochte die Jahreszeiten auf dieser Insel. Das einzige, was er wirklich noch ihr zugutehalten konnte. Egal was passierte, diese Insel würde immer so bleiben, wie in den letzten Jahren und mit ihr würden die Jahreszeiten kommen und gehen.

Während er am Hafen entlang ging, konnte er noch weitere kleine Boote erkennen. Hauptsächlich die von Fischern. Das ein oder andere sah fremd aus, vermutlich von seereisenden Händlern. Ein kurzer, breiter Weg aus hellen Pflastersteinen führte ihn fort vom Meer ins Innere dieser Landschaft. Trotz der Dunkelheit wusste er genau, wo er hin musste, seine Füße kannten den Weg von alleine.

Nach einigen Metern erreichte er schließlich den Rand des Dorfes. In einzelnen Häusern war manches Fenster noch hell und strahlte eine gewisse Wärme aus, ein paar Straßenlaternen spendete noch etwas Licht.

Zielstrebig passierte er den großen Marktplatz. Zu seiner nicht gerade berauschenden Verwunderung, war der Brunnen in der Mitte des Platzes ausgetrocknet. Wahrscheinlich ein kleiner Weltuntergang für das verschlafene Völkchen hier.

Nach wenigen Minuten Fußmarsch hatte er das Dorf einmal durchquert. Die einzelnen Häuser, die hier noch standen, waren die etwas Wohlhabenderen, meistens umgeben von beeindruckenden Zäunen aus Holz oder Metall. Ihm waren diese Häuser so egal wie deren Einwohner. Nicht ihnen zur Liebe war er hier, nein, ganz gewiss nicht.

Hinter dem Dorf begann das Herz der Insel. Er folgte einem verschlungenen Weg, der breit genug für ein oder auch zwei Pferde war, aber wo kein Wagen hindurch passen würde. Je weiter er ging, desto mehr wurde der Pfad von der Natur eingerahmt. Die kleinen Büsche wichen mehr und mehr den großen Bäumen, die hoch über ihn hinaus wuchsen und die Sicht auf die Sterne verdeckten. Manch einer hätte wohl Angst, wenn er alleine diese Straße nehmen musste, er hingegen genoss die Ruhe, das leise Flüstern des Waldes, den Schrei eines Vogels, das Knistern von Ästen und entfernte Pfoten, die über den Boden huschten. Er atmete tief ein und entspannte sich, wie jedes Mal, wenn er die Enge und die Steife des Dorfes verließ.

Er wusste, dass er bereits die Hälfte seines Weges zurückgelegt hatte, als er die kleine Lichtung erreichte, die im fahlen Licht des wachsenden Mondes der Welt etwas Magisches verlieh. Wie jedes Mal, wenn er hier war, blieb er einen Moment stehen und schloss die Augen. Alle Probleme der Welt schienen auf einmal verschwunden. Die Last auf seinen Schultern wurde ihm genommen. Alle dunklen Gefühle waren plötzlich ausgelöscht. Eine kleine Ewigkeit stand er so da und fragte sich im Stillen, warum er nicht einfach hier bleiben konnte. Bilder der Kindheit tauchten vor seinem inneren Auge auf. Diese Lichtung war sein Zufluchtsort gewesen, und nicht nur seiner. Er erinnerte sich daran, wie sie dort am Rande der Richtung lag und schlief, mitten im Sommer. Alles war damals so friedlich. Er hatte einfach dagestanden und sie beobachtet. Doch sobald er die Augen öffnete und die Realität wieder über ihn hereinbrach, wusste er, dass diese unnütze Sentimentalität ihn nur schwächen konnte.

Mit verschränkten Armen verließ er die Lichtung, doch sein Gang war nicht mehr so harsch, seine Schritte nicht mehr so resolut. Die sonst so hektische Welt war ein bisschen langsamer geworden.

Der Wald um ihn herum wurde allmählich wieder dünner, ließ Blumen und Gras wieder mehr Raum und in der Ferne konnte er den großen Schatten sehen, der ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Wie ein Bote des Unglücks verschluckte der Schatten des bedrohlich aussehenden Hauses den Mond. Wieder blieb er stehen, doch diesmal, um dieses unwohle Gefühl zu verdrängen. Er ärgerte sich jedes Mal, dass er so reagierte und das, obwohl er diesen Ort so gut kannte, aber er hasste es hier zu sein. Hier, wo ihn nichts mehr hielt und trotzdem kehrte er immer wieder zurück, als hätte er keine Wahl.

Entschieden öffnete er das Tor zum Vorgarten, welches sanft zur Seite schwang und ihn einlud doch näher zu kommen. Erneut ließ er sich Zeit das große, ehrwürdige Haus einen Moment zu betrachten, ehe er weiter ging und die Klinke der schweren Tür hinunter drückte.

„Willkommen daheim“, empfing ihn eine ruhige Stimme. Die einzige Stimme, die er erwartet hatte. Allerdings erst am nächsten Morgen. Er schloss die Tür hinter sich und begutachtete den dunklen Eingangsbereich, ein schwaches Schimmern zog groteske Schatten über die wenigen Möbel im Flur. Der Ursprung schien die Küche zur Linken zu sein. Nachdem er sich seiner schweren Stiefel entledigt, sowie Hut und Mantel an die dafür vorgesehenen Haken gehangen hatte, hob er sein Schwert hoch und ging in Richtung der kleinen Lichtquelle. Im Türrahmen blieb er stehen.

Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, die kleine Kerze vor ihr legte einen sanften Schein um ihren Körper. Einen Moment betrachtete er sie ruhig.

„Warum sind Sie hier?“, fragte er tonlos. Er hatte sie nicht erwartet. Hatte nicht erwartet, sich heute schon mit ihr auseinandersetzen zu müssen. Langsam stand sie auf und drehte sich zu ihm um. Auf dem Tisch waren neben der kleinen Kerze eine leere Tasse sowie halb fertig gestrickte Handschuhe. Mit hochgezogenen Augenbrauen begutachtete er ihre Arbeit halbherzig.

„Ist der Winter nicht schon längst vorbei?“

Sie ließ die Frage unkommentiert und lächelte leicht.

„Ich weiß doch immer, wann der verlorene Sohn nach Hause kommt. Es ist schön Euch wieder zu sehen. Ihr seht erschöpft aus.“

„Dies hier ist nicht mein Zuhause, Kanan.“

Die Angesprochene öffnete den Mund doch sagte nichts, als er müde die Hand hob.

„Ich möchte heute Abend nicht mit Ihnen streiten, gehen Sie schlafen.“

Sie nickte während sich ihr Lächeln in eine ausdruckslose Miene verwandelt hatte.

„Natürlich.“

Doch anstatt an ihm vorbei, in den Tiefen des leeren Hauses zu verschwinden, wandte sie sich der kleinen Tasse zu und trug sie zur Spüle hinüber.

„Habt Ihr irgendwelche Wünsche für das Frühstück morgen?“, führte sie die Konversation fort, als wäre ihre Begegnung ein herzliches Aufeinandertreffen. Er schüttelte den Kopf, obwohl sie das gar nicht sehen konnte, während sie das Geschirr säuberte.

„Nein. Sie brauchen gar nicht hier zu sein. Kanan, wir haben das doch schon so oft durchgesprochen. Sie sind Niemandem hier verpflichtet. Gehen Sie nach Hause!“

Sie wandte sich zu ihm um, lächelte erneut.

„Und ich möchte heute Abend nicht mit Euch streiten. Geht schlafen.“

Sie war noch nie um eine Antwort verlegen gewesen und hielt seinem kalten Blick problemlos stand. Er wusste, dass er diesen einen Kampf nicht gewinnen würde. Mit einer wegwerfenden Handbewegung drehte er sich um.

„Machen Sie, was Sie wollen. Wir beide wissen, dass ich vor morgen Abend die Insel bereits wieder verlassen habe. Gute Nacht.“

„Schlaft schön“, klang ihre Stimme dem Hausherrn hinter her.

Mit einem Lächeln nahm sie Kerze und Strickwolle und verließ ebenfalls die Küche. Natürlich konnte sie nach Hause gehen, aber auch dort würde niemand auf sie warten. Außerdem hatte sie damals, als sie in dieses Haus gekommen war, sich auch erklärt die Pflichten dieser Familie zu tragen. Eine der Wichtigsten war, dass man die Verantwortung, sobald man sie einmal übernommen hatte, nicht wieder abgeben konnte. Dies war gegen die eigene Ehre und sie hatte damals die Verantwortung übernommen für ihn zu sorgen und das würde sie tun, bis an ihr Lebensende. Das hatte sie damals seiner Mutter versprochen.
 

Fast schon ein bisschen wütend stapfte er die Treppe hinauf. Obwohl es stockdüster war, wusste er, wo er hin musste. Kannte den dunklen Flur, den er hinunter ging, so gut wie sein kleines Boot. Er wusste überhaupt nicht, warum sie da war. Er hatte ihr schon so oft gesagt, dass ihre Dienste nicht mehr gebraucht wurden, da niemand mehr hier wohnte und die vier Tage im Jahr, die er hier war, brauchte er kein Herrenhaus. Nie würde er sich eingestehen, dass ihre Anwesenheit ein warmes Gefühl in ihm weckte. Dass die frisch gewaschenen weißen Laken auf seinem Bett Dankbarkeit in ihm hervorriefen. Dass das Wissen, das sie sich aufopferungsvoll um das alte Haus seiner Kindheit kümmerte ihn immer wieder rührte und beruhigte. Letzten Endes war sie der Hauptgrund, warum er immer wieder hierhin zurückkam. Sie und sein Versprechen.

Mit einem leisen Seufzen legte er sein Schwert in die dafür vorgesehene Halterung, ehe er sich schließlich auszog. Anstelle der großen Lampe hatte er nur das kleine Nachtlicht eingeschaltet, genoss das Dämmerlicht anstelle vom grellen Weiß. Er streckte sich ein paar Mal, ehe er zum großen Fenster hinüberging, sich über den kleinen Schreibtisch, den er nur selten nutzte, hinüberbeugte und frische Luft ins Zimmer ließ. Eigentlich hätte er noch ein paar wichtige Unterlagen durchgehen müssen, aber durch eine kleine Auseinandersetzung mit ein paar unbekannten Piraten hatte er sich schließlich so sehr verspätet, dass er wirklich keine Lust mehr hatte sich mit langweiligem Papierkram auseinanderzusetzen.

Während er sich seine Schlafsachen anzog, welche aus einem weißen Hemd und einer dunkelblauen Leinenhose bestanden, entdeckte er zu seiner Überraschung eine kleine Flasche Rotwein mit zugehörigem Glas auf dem kleinen Lesetisch vor dem großen Fenster, welche ihm vorher nicht aufgefallen war. Erneut fühlte er eine beinahe unwillkommene Wärme in seiner Brust, die er nie zugeben würde. Gemächlich zog er den Stuhl mit der hohen Rückenlehne zurück und ließ sich hinein fallen. Die nackten Füße warf er mit einem dumpfen Poltern auf den kleinen Tisch, welcher sich krächzend beschwerte. Die Flasche Wein und das Glas rettete er vom Runterfallen indem er sich den Wein eingoss. Eigentlich sollte ihn ärgern, dass Kanan sich dazu ermächtigt hatte, ihm einen Wein auszusuchen und ihn dann auch noch ungekühlt ins Zimmer zu stellen, wodurch er nicht die passende Temperatur hatte. Eigentlich sollte er erbost darüber sein, dass sie seine Anweisungen ignorierte und stur weiter dieses alte Haus umsorgte und auch ihn nie vergaß.

Ja, eigentlich sollte er am besten dieses Haus selber in die Luft jagen und nie mehr wieder kommen, aber er wusste, dass er das nie tun würde und daher saß er da, genoss den Wein und blickte hinaus in die dunkle Nacht, während eine frische Brise sein Zimmer besuchte. Gedankenverloren beobachtete er die Schatten der Baumwipfel, die sich hin und her wiegten und hörte das Flüstern der Bäume.

Erneut hörte er den Schrei eines Vogels, wie bereits auf seinem Weg hierher, doch diesmal klang er anders, klagend und sterbend, vermutlich war er Opfer eines Jägers geworden. Ein plötzlicher kalter Wind durchfegte den ausladenden Raum, wühlte die Vorhänge auf und riss an seiner Kleidung. Das Bettlaken hinter ihm raschelte aufgebracht und die scheinbar nur angelehnte Tür knallte laut zu. Die leere Weinflasche kippte um und rollte leise über den kalten Boden. Seine Augen folgten ihr einen Moment, ehe sie wieder die Dunkelheit durchbohrten. Dann stand er auf und schloss das Fenster.

Unheilbringende Vorboten machten ihm keine Angst, war er selber nichts anderes als das Unglück anderer auf zwei Beinen. Mit diesem amüsierenden Gedanken und einem bösen Grinsen auf den Lippen stellte er das Weinglas ab, hob die leere Flasche auf und wandte sich dann endlich seinem Bett zu. Die weichen Kissen und die sanfte Decke begrüßten ihn liebevoll. Eine der vier Nächte im Jahr wo er ausnahmsweise mal einen erholsamen Schlaf erwarten konnte…
 

„Guten Morgen!“

Schwungvoll wurde die Tür zum Büro von Frau Bosatsu aufgeworfen. Ein riesiges Tablett in der einen Hand balancierend rauschte sie hinein und schloss die Tür. Seine gegrummelte Antwort nahm sie kaum war, da sie bereits an ihm vorbeistürmte, Fenster und Türe zum Balkon öffnete und die Vorhänge zur Seite schob. Dabei warf sie das Tablett elegant auf seinen Schreibtisch und begrub die wichtigen Unterlagen, die er gerade bearbeitete, darunter.

„Kanan, ist das wirklich…“

„Wie könnt Ihr nur in diesem dunklen Zimmer sitzen. Ich habe Euch schon tausendmal gesagt, wie schlecht fehlendes Licht für die Augen ist.“

Ein wenig aufgebracht riss sie ihm die letzten Papiere aus der Hand und fegte sie auf die andere Seite des Tisches. Für ihr Alter und ihre Figur war sie wirklich behände und ihre Lebenslust jagte ihn beinahe zur Weißglut.

„Kanan, bitte…“

„Und wer arbeitet schon, bevor er was ordentliches gegessen hat? Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am…“

„Kanan!“

Mit jedem Mal war seine Stimme lauter geworden, doch erst jetzt hörte sie auf zu reden. Langsam ließ er seine Hände auf den Schreibtisch und damit unweigerlich auf das Frühstückstablett sinken.

„Erstens, ich habe keine schlechten Augen. Zweitens, ich habe keinen Hunger. Und Drittens,…“

„Ihr habt wie immer hundsmiserable Laune.“

Ihr breites Lächeln auf dem warmherzigen Gesicht, sowie der schmackhafte Geruch des frischen Kaffes stimmten ihn milde. Seufzend gab er nach, wie so oft.

„Nun gut. Ich frühstücke, während ich mir diese Sachen durchgucke und dann gehe ich runter ins Dorf. Vorm Abendessen bin ich wieder zurück. Aber Sie brauchen mir nichts bereitzustellen. Machen Sie einfach das, was Sie immer machen.“

„Natürlich, als würde ich mir von Euch auch was anderes vorschreiben lassen.“, erwiderte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, ehe sie sich zur Tür wandte.

„Ach Übrigens. Vielleicht wollt Ihr heute anstelle von diesem langweiligem Rechtskram ausnahmsweise mal die Zeitung lesen.“ Mit ernstem Unterton verließ sie den Raum.

Der Zurückgebliebene rollte mit den Augen. Sie hatte sich in all den Jahren nicht verändert, war immer noch so voller Freude und Tatendrang wie früher. Er betrachtete ihr liebevoll zubereitetes Frühstück, welches wahrscheinlich gefüllt war mit wertvollen Vitaminen und Ballaststoffen, oder wie der Kram auch immer hieß.

Mit dem Kaffee in der Hand wandte er sich vom Schreibtisch ab und betrachtete die gegenüberliegende Wand. Sie war voller Steckbriefe. Manche von ihnen waren schon sehr alt, die meisten durchgestrichen. Über die Zeit hatte er die Sammlung immer mehr erweitert, hatte die Besten unter den Besten gefunden und vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er das wertvollste Stück hinzugefügt. Ein vielversprechendes Talent, wenn auch ein wenig grün hinter den Ohren, wortwörtlich.

Ihm vielen wieder die Worte der Haushälterin ein und mit einer hochgezogenen Augenbraue zog er die Zeitung unter einem noch beladenen Teller hervor. Er wusste nicht, warum sie ihm das geraten hatte, denn er las immer die Zeitung. Er war ein Taktiker und Stratege, wäre nie dumm genug seine Feinde nicht im Auge zu behalten, auch wenn ihm natürlich bewusst war, dass die Presse nicht immer die ehrlichsten Aussagen enthielt. Er schlug die Zeitung auf und blickte aufs Titelblatt.

Langsam ließ er die Tasse sinken, während er entgeistert auf die Fotos vor ihm starrte. Plötzlich fuhr eine Windböe durchs Fenster hinein. Die schweren Vorhänge schlugen drohend gegen die Rahmen, die Papiere hinter ihm bäumten sich auf und jagten durch den Raum. Der schwere Bürostuhl stieß gegen den großen Schreibtisch. Es lief ihm kalt den Nacken herunter, als er angestrengt den Artikel las. Der Kaffee und das Frühstück waren längst vergessen, während die unsichtbaren Hände weiter an Kleidung und Unterlagen zerrten. Ungestüm öffnete er die Zeitung und durchforstete den ausführlicheren Artikel im Inneren.

Dann stürmte er hinaus in den Flur und die Treppe hinunter, die Zeitung immer noch in der Hand. Unten angekommen stieß er beinahe mit der einzigen weiteren Person im Hause zusammen.

„Was ist denn los? Wo wollt Ihr hin?“

Er antwortete nicht, sondern stürmte zur Haustür und stopfte seine Füße in die Stiefel.

„Beruhigt Euch. Unüberlegtes Handeln führt nur zu noch mehr Problemen.“

„Ich brauch keine Glückskeksweisheiten!“, schnauzte er sie an, während er sich den Mantel überwarf.

„Aber…“

„Nein!“, brüllte er nun fast.

„Was fällt diesem verdammten Mistkerl ein?!“

Mit diesen Worten riss er die Tür auf und rannte hinaus, den Hut in der einen, die Zeitung in der anderen Hand.
 

Seufzend folgte sie ihm in den Flur und schloss die Tür. Sie hatte es befürchtet, aber verhindern konnte sie es nicht. Sie kannte ihn seit klein auf. Er war immer ein überaus überlegter und bedachter Mensch gewesen, der nie seine Emotionen zeigte sondern bewusst Kontrolle über sie ausübte und sie nur dann erlaubte, wenn sie ihm nutzen konnten.

Dieses Talent war in ihren Augen sowohl Gabe als auch Fluch, eine Mauer mit einer einzelnen Tür, die er nach Belieben öffnen und schließen konnte. Doch manchmal geschahen Dinge, die kleine Risse in dieser Mauer hinterließen und durch diese Risse rauschten die Gefühle hindurch wie lauter Wasserfälle. Und eines Tages wusste sie, dass diese Risse aufbrechen würden, ihn brechen würden, wenn er nicht vorher in der Lage sein würde seine Emotionen dauerhaft zuzulassen.

Vor vielen Jahren hatte ihn die Kraft der Trauer und der Wut beinahe zerstört, hatten ihn verändert. Seit dem hatte sie ihn nie mehr lachen, nie mehr weinen, nie mehr schreien gehört. Aber gerade hatte er geschrien. Gerade hatte er alles andere als rational gehandelt. Gerade hatte er das erste Mal seit langem aufgelebt, hatte diese Hülle ausgefüllt, wenn auch aus einem furchtbaren Grund.

Wahrscheinlich würde er die Insel sofort verlassen. Vielleicht wäre er bei heute Abend bereits tot.
 

Er hatte den Weg, für den er sonst mehrere Minuten brauchte, so schnell zurückgelegt, wie selten zuvor. Vor ihm breitete sich das erwachende Dorf aus, wirkte ruhig und friedlich, während er selber aufbrausend war, wie ein herannahender Orkan. Eilig durchquerte er die Straßen, kam am vertrockneten Brunnen vorbei und stürmte in das größte Gebäude am Marktplatz.

Das Rathaus. Auch hier war alles noch morgendlich still. Einzelne Frühaufsteher waren auf ihrem Weg zum Arbeitsplatz oder zur Kaffeemaschine, doch sobald sie ihn sahen, beeilten sie sich zügig zu verschwinden. Er jedoch wusste genau, wo er hin wollte und nahm dafür keine Umwege hin. Immer noch aufgebracht erreichte er das gewünschte Ziel und zerrte die Tür auf.

Wie erwartet war der Gesuchte schon da. Was für ein Glück, dass er heute auf der Insel war. Die Zeitung auf dem Schreibtisch und den schwarzen Tee in der Hand. Mantel und Hut lagen gefaltet über der Stuhllehne in der Ecke, während er selber in einem hochwertigen dunkelroten Anzug mit perfekt sitzender blauer Krawatte auf seinem schwarzen Ledersessel thronte. Blonde Haare waren streng zurückgekämmt, nur eine Locke ließ sich nicht bändigen und hing ihm ins Gesicht. Die grünen Augen weiteten sich wegen des plötzlichen Besuchs. Überrascht über den Neuankömmling stellte Konteradmiral Cho Jiroushin seine Tasse ab.

„Hawky!“, entfuhr es ihm freudig. Dieser jedoch stieß nur wütend die Tür zu und warf die Zeitung dem andern vors Gesicht.

„Darüber brauche ich Informationen!“, entkam es dem Gast hart.

„Mann, dir auch einen guten Morgen.“ Er lehnte sich angesäuert zurück. Der andere stand immer noch schwer atmend vor ihm.

„Jiroushin!“ Seine Stimme war dunkel und laut wie Donner, als würde es um Leben oder Tod gehen. Diesen Anblick kannte der Mann der Marine kaum von seinem guten Freund. Er wirkte beinahe verzweifelt.

„Beruhig dich erst mal. Setzt dich hin. Möchtest du was trinken? Kaffee oder Tee?“

Falkenauge schlug mit der Hand auf den Tisch.

„Ich brauche keinen Kaffee! Ich brauche dich!“ Vergesst das beinahe, er war verzweifelt.

„Okay. Ich werde dir helfen. Aber erst setzt du dich hin!“

Gelassen stand Cho auf und drückte den anderen bestimmt auf den Besucherstuhl, dieser ließ es zu, obwohl er sich ohne Probleme hätte wehren können. Dann umrundete er den Schreibtisch und nahm wieder Platz. Einen Moment lang betrachtete er den Samurai. Dieser war völlig durch den Wind. Seine Haare waren zerzaust, seine Augen groß als hätte er zu viel Koffein zu sich genommen und sein Mund zitterte leicht.

„Fangen wir nochmal von vorne an. Wobei willst du meine Hilfe?“

Der Blick seines Gegenübers sprang zwischen ihm und der Zeitung hin und her.

„Ich will die Wahrheit wissen. Darüber!“

Mit einem Finger tippte er heftig auf ein Foto der Titelgeschichte. Ernst nickte der Blonde.

„Schlimme Sache, hab’s auch schon gesehen. Ein schwarzer Tag für die Marine und das alles wegen einer einzelnen Crew.“

„Jirou. Der Artikel stinkt vor lauter Lügen und Ungereimtheiten. Ich will die Wahrheit! Ich will die Akten.“

Verwirrt blickte sein Freund auf.

„Hawky, was soll das? Du bist einer der Samurai. Du kommst an alle Unterlagen dran.“

„Nicht die. Ich will die Echten!“

Cho schluckte. „Hey. Mihawk. Du weißt ich würde alles für dich tun, aber…“

„Bitte.“ Die gelbgoldenen Augen sahen ihn ernst an.

Der Offizier seufzte: „Es geht um diesen Piraten, nicht wahr? Der, der gestorben ist.“

Der Pirat nickte.

Jiroushin ließ die Stirn auf seine Hände sinken und schüttelte den Kopf.

„Mann. Du bist immer unterwegs und dann kommst du endlich mal nach Hause, besuchst mich auch noch, während ich hier bin und alles was du willst, sind streng geheime Informationen über einen windigen Piraten, der dich töten wollte.“

„Es ist nicht so, als wenn er jemals eine ernsthafte Bedrohung dargestellt hätte.“

„Darum geht es nicht. Warum interessiert es dich so? Er ist tot, na und? Er war ein Pirat. Er ist gefangen genommen worden, das war’s.“

Falkenauge schüttelte den Kopf.

„Aber das, was in dieser Zeitung steht, ist nicht die Wahrheit und ich muss die Wahrheit wissen.“

Der Beamte wollte widersprechen, stoppte sich aber selbst, sah erst seinen Kindheitsfreund an und blickte dann aus dem Fenster.

„Na gut“, gab er klein bei, „Ich muss heute sowieso noch rüber fahren. Meinetwegen. Ich besorge dir die Unterlagen, alles ungeschwärzt. Aber dann schuldest du mir wirklich was!“

Dem Schwarzhaarigen wurde plötzlich bewusst, wie er sich aufführte, wie seine Gefühle mit ihm durchgegangen waren. Wütend auf sich selber lehnte er sich zurück und setzte einen entspannten, fast schon gelangweilten, Gesichtsausdruck auf. Wie konnte ein Mensch, den er erst einmal in seinem Leben getroffen hatte, es schaffen, ihn so aus der Fassung zu bringen und das obwohl er noch nicht einmal anwesend war?

„Danke, das wäre sehr freundlich von dir.“

Sein Gegenüber lachte leise. „Unverbesserlich.“

Ihre Blicke trafen sich kurz.

„Wie lange glaubst du, wirst du brauchen?“

Der Mann im Anzug zuckte mit den Achseln.

„Wenn ich mich beeile schaffe ich es vor Sonnenuntergang wieder hier zu sein.“

„So lange? Was machst du denn noch alles auf der Basis?“

„Das geht dich gar nichts an. Die Basis ist mein Hauptarbeitsplatz seit ich befördert wurde, hier bin ich nur noch zwei Mal die Woche und auch nur, wenn ich für die Marine nicht unterwegs bin. Also ist es selbstverständlich, dass ich da heute nochmal hin muss und auch noch anderen Kram zu erledigen habe. Außerdem herrscht da mit Sicherheit gerade der Ausnahmezustand nachdem heute Nacht die G6 untergegangen ist. Und du weißt, dass alleine die Fahrt zwei Stunden dauert, wenn nichts dazwischen kommt. Du hast mehr Glück als Verstand, dass ich heute hier bin. Außerdem, nur wegen dir komme ich heute Abend nochmal hierhin. Zeig etwas Dankbarkeit!“

Verwirrt schaute Falkenauge seinen Freund an.

„Was meinst du damit? Du wohnst doch hier.“

Nichtverstehend schüttelte Cho den Kopf. „Nein, du weißt doch, dass ich schon seit über einem Jahr mit Lirin auf Sadao lebe. Habe ich dir das nicht schon bei deinem letzten Besuch hier erzählt? Außerdem warst du doch auf der Hochzeit!“

„Ach wirklich. An diesen Teil vom Gespräch kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Im Übrigen war deine Hochzeit hier, wo deine Glucke von Mutter alles kontrollieren konnte. Aber Sadao? Warum? Du liebst dein Heimatdorf.“

„Natürlich, darum geht es doch nicht. Lirins Eltern leben auf Sadao. Außerdem fährt dort jeden Tag eine Fähre zur Basis, die Strecke dauert nur 20 Minuten und ich mag es dort. Die Menschen sind nett und keiner kennt meine Vergangenheit.“

Der Ältere grinste leicht, wobei seine Gesichtsmuskeln unangenehm ziepten.

„Ach hör mal, auch hier wirst du geachtet. Schließlich bist du ein hochdekorierter Marineoffizier.“

„Ja, und ich bin der Junge, der dem Bürgermeister den Bart abrasiert hat, der dem Bäcker den Ofen gesprengt hat und der dafür verantwortlich war, dass drei Sonntage in Folge der Markt überschwemmt wurde. Rate mal wer noch mit dran schuld war.“

Beide funkelten sie sich schelmisch an. Dann wurde der Samurai wieder ernst und auch der Offizier wirkte nachdenklich.

„Ich bin froh, dass du noch mal hier bist, Hawky. Ich weiß, das Volk von Sasaki ist nicht immer freundlich, aber nur deinem Schutz haben sie es zu verdanken, dass es hier nie Piratenangriffe gibt.“ Der Schwarzhaarige wandte den Blick ab.

„Darüber müssen wir uns nicht unterhalten. Ich erfülle meine Pflicht und du deine.“

Simultan standen sie auf und gingen zur Tür.

„Aber Danke, dass du immer noch regelmäßig hierhin kommst auch wenn du jetzt umgezogen bist. Ich denke deine dauernde Anwesenheit beruhigt die Leute hier mehr als mein vierteljährliches Auftauchen.“

Jiroushin klopfte ihm auf die Schulter.

„Bis heute Abend.“

Dann schloss er die Tür hinter ihm.
 

Er atmete langsam aus. Die Emotionen brodelten immer noch in ihm, doch die kurze Auseinandersetzung mit seinem alten Kumpel hatte ihm geholfen sich wieder selbst zu kontrollieren. Hatte ihn einen Moment abgelenkt, ihn an bessere Zeiten erinnert.

Allerdings spürte er, dass er nun wieder wütender wurde. Er entschied sich um persönliche Dinge später zu kümmern und eilte bestimmten Schrittes den Flur hinunter.

Vor einer großen Doppeltür aus hellem Holz blieb er schließlich stehen und klopfte. Eine ruhige Stimme erlaubte ihm einzutreten. Vor ihm saß eine junge Dame mit hochgesteckten lila Locken in einem hochgeschlossenen Etuikleid. Ihr Kugelschreiber flog in einer atemberaubenden Geschwindigkeit über die Papiere auf ihrem Schreibtisch. Sie blickte rasch auf und sah ihn über ihre halbmondförmige Brille kurz an.

„Guten Morgen. Wenn Sie bitte einen Moment warten möchten. Der Herr Bürgermeister wird Sie jeden Moment herein bitten.“

Er nickte nur und verschränkte die Arme. Wenige Sekunden später wurde die unscheinbare Tür zu seiner Rechten geöffnet und er trat ein.

Der Bürgermeister von Sasaki war ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit langen silbergrauen Haaren, die er wie ein Wikinger zu zwei dicken Zöpfen geflochten hatte. Sein mintgrüner Anzug war farblich abgestimmt mit Schuhen und Schleifen, die die Haare festhielten. Eine silberne Brosche schmückte sein Revers. Er hielt dem Gast eine sonnengebräunte Hand hin, welcher diese höflich ergriff.

„Mihawk. Es tut gut Sie zu sehen. Willkommen daheim.“

Er nickte leicht. „Danke, Herr Koumyou. Ich freue mich wieder hier zu sein. Kommen wir nun zum Geschäftlichen.“

Der ältere Herr lächelte warm.

„Natürlich. Sie sind ein vielbeschäftigter Mann. Ich hole nur gerade die Unterlagen. Setzen Sie sich doch schon mal. Houran, sei so nett und bring unserem Gast etwas zu trinken.“

Die letzten Minuten schienen weit weg, als er sich hinsetzte und der Bärenstimme des Bürgermeisters lauschte. Die Stimme, die ihn früher über den Marktplatz gejagt hatte. Die Stimme, die früher mit seinen Eltern über seine Streiche gestritten hatte. Die Stimme, die ihm Großes prophezeit hatte. Der alte Koumyou war der einzige gewesen, der an ihn geglaubt hatte. So wie er an den jungen Mann aus dem East Blue geglaubt hatte. Aber er hatte sich geirrt.

„Also, hier sind die Berichte. Dann wollen wir doch mal sehen. Houran, wo bleibt denn der Kaffee?“

Der Bürgermeister setzte sich ihm gegenüber und lächelte ihn offen an. Dann öffnete er die Ordner vor sich und begann mit ihm über Zahlen und Statistiken zu reden. Ja es war eine ganz andere Welt als noch vor wenigen Stunden…
 

Der Samurai konnte ein herzhaftes Gähnen kaum verbergen, während er sich die Zusammenfassung der Marineeinsätze der letzten Monate durchlas. Hauptsächlich unbedeutender Kleinkram. Der alte Mann vor ihm lachte.

„Oh Mihawk. Es tut mir leid. Ich weiß, der ganze Papierkram ist nicht besonders interessant, aber hiernach haben Sie es geschafft.“

Nachdenklich blickte er von den Zeilen vor ihm auf.

„Ist was?“, fragte sein Gegenüber besorgt.

„Wann haben Sie angefangen mich mit Mihawk anzusprechen?“

Die grauen Augen weiteten sich eine Spur, er erwiderte jedoch nichts sondern klappte den Ordner zu.

„Ich denke es reicht für heute. Das Wichtigste haben wir besprochen und der Rest kann auch noch drei Monate warten.“

Der Bürgermeister stand auf und geleitete ihn zur Tür. Seine Sekretärin arbeitete dort immer noch in einem unermüdlichen Tempo. Die beiden Männer reichten einander die Hände.

„Es war schön Sie wieder zu sehen, Mihawk. Und ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen.“ Höflich nickend stimmte er dem anderen zu.

„Passen Sie auf sich auf.“

Dann schloss sich die Türe vor seiner Nase und zurück blieben Melancholie und Erinnerungen an unschuldigere Zeiten.

„Herr Mihawk.“ Er wandte sich um.

„Ja, was ist?“

Die Sekretärin reichte ihm einen Zettel.

„Frau Bosatsu hat angerufen und mich gebeten Ihnen diese Einkaufsliste mit der Bitte zu überreichen, die Sachen zu besorgen.“

Sein Blick wanderte von dem Stück Papier zur jungen Frau

„Sie hat mich darum gebeten?“

Ein Lächeln erhellte die sonst so ernsthaft wirkenden Züge der Frau, die dadurch um Jahre jünger wirkte.

„Nun ja. Es war zwar nicht als Bitte formuliert, aber ich bin mir sicher, dass sie beabsichtigt hatte, mit allem nötigen Respekt anzufragen.“

Er schüttelte den Kopf. „Mit Nichten, aber danke für die Liste.“

Mit diesen Worten verabschiedete er sich und ging wieder den langen Flur hinunter.

Als er das Zimmer des Marineabgeordneten passierte stellte er fest, dass es dunkel hinter dem Milchglas war. Vermutlich war Jiroushin schon längst unterwegs zu der nächsten Marinebasis auf Suzuno. Hoffentlich würde er an die Akten kommen.

Draußen angekommen musste Falkenauge feststellen, dass es schon weit nach Mittag war und das kleine Dorf nun von geschäftigem Treiben erfüllt wurde. Pflichtbewusst erfüllte der Samurai alle Aufträge, die auf der Liste standen, einschließlich der Abholung von bestellten Waren, sowie den Einkauf von Lebensmitteln. Überall wo er hinkam erstarben die Gespräche und Augen verfolgten ihn misstrauisch.

Es stimmte, dass diese Insel unter dem Schutz seines Namens stand, nachdem sein Vater sie im Stich gelassen hatte und die Marine oft erst verspätet reagiert hatte und das, obwohl eine Basis nicht weit entfernt war. Deswegen respektierten ihn die meisten Dorfbewohner. Dankbar waren sie allerdings nicht. Viele der jungen Leute hatten Angst vor ihm, da er als einer der sieben Samurai einen nicht ganz unbedeutenden Ruf hatte. Die Älteren erinnerten sich teilweise noch an seine Kindheit und Jugend. Er wusste nicht, was sie ihm genau entgegen brachten. Vielleicht Abscheu und Verachtung, vielleicht wollten sie aber auch nur die Distanz wahren, denn mit dem Jungen von damals hatte er nicht mehr viel gemein.

Möglicherweise waren alle Einwohner auch nur eingeschüchtert von seinem Namen. Schließlich war es sein Ururgroßvater Mihawk Yakumo gewesen, der dieses Dorf gegründet und diese Insel beschützt hatte. Und nun gehörte sie zu einer der friedlichsten und wohlhabendsten auf der gesamten Grand Line. Ihre Nähe zur Red Line und zum Sabaody Archipel hatte ihr Macht in Wirtschaft und Politik gegeben. Durch dieses Erbe war er selber immer noch in viele organisatorische Dinge involviert, auch wenn es hauptsächlich am Bürgermeister lag, dass der Stadtrat ihn nicht schon längst rausgeworfen hatte. Aber auch das wäre dem Schwertkämpfer eigentlich gleichgültig, denn er schütze diese Insel nicht wegen seines Erbes, denn darauf gab er überhaupt nichts.

Voll gepackt trat er den vertrauten Heimweg an. Die Kisten klapperten, die Taschen raschelten und der Korb mit dem Blumenstrauß in seiner rechten Armbeuge kratzte unangenehm. Jeder Schritt, den er sich weiter vom Dorf entfernte schien schwerer zu werden und das nicht, weil die Sachen ein nicht unbeträchtliches Gewicht an den Tag lehnten, sondern weil er sich immer mehr in seinen eigenen Gedanken verstrickte. Es ärgerte ihn, dass der Tod irgendeines Piraten ihn so aufwühlte. Cho hatte Recht, er war ein Pirat, solche Dinge passierten nun mal und außerdem hatte er ihn selbst töten wollen.

Aber irgendwas an diesem Jungen hatte ihn fasziniert, und irgendwann hatte er angefangen sich darauf zu verlassen. Er hatte sich darauf verlassen, dass dieser unbedeutende Junge aus dem East Blue ihn eines Tages besiegen würde und seinen Titel mit ebenso viel Ehrfurcht weitertragen und ihm noch mehr Ehre bringen würde. Dieser Titel war das Letzte, was ihm geblieben war und nun war der Junge tot.

Das Haus war ruhig als er eintrat, niemand begrüßte ihn und bis auf das Feuer im Wohnzimmerkamin, welches leise vor sich hin knisterte, war es friedlich. Durch die Fenster in der Küche konnte er die ersten orangenfarbigen Streifen am Himmel erkennen, es würde bald dunkel werden. Nachdem er alle Einkäufe auf dem Tresen und dem kleinen Küchentisch verteilt hatte und die Dinge, die notwendig gekühlt werden mussten, in den Kühlschrank verstaut hatte, sah er sich nachdenklich um.

Obwohl er noch nichts gegessen hatte, war er nicht wirklich hungrig und so begab er sich wieder in sein Büro um seine Arbeit vom Morgen wieder aufzunehmen. Es überraschte ihn kaum, dass das Zimmer unberührt war. Vom vergessenen Frühstück war nichts mehr zu sehen und alle Papiere lagen feinsäuberlich gestapelt auf dem Schreibtisch. Ein Fenster stand leicht offen und die kühle Frühlingsluft erfrischte den Raum. Das warme Tageslicht wich nach und nach der Dämmerung, während der Samurai den nötigen Papierkram erledigte und ein paar Telefonate mit Beamten der Marine führte. Sie alle schienen emotional durch den Wind, einige hatten eine heisere Stimme.

Die vergangene Nacht hatte der Marine viel Kummer bereitet. Für ihn war es allerdings eher nervend, denn seine Telefonpartner waren so unkonzentriert, dass sich der Informationsaustausch als sehr ermüdend erwies. Alles andere als professionell. Dafür, dass er eigentlich ein Pirat war, musste er sich mit ziemlich viel Schreibtischarbeit rumschlagen wie er immer wieder ernüchternd feststellen musste. Zum Glück hatte er das Wichtigste geschafft, als plötzlich seine Teleschnecke wieder Alarm schlug. Murrend nahm er den Hörer ab.

„Ja?“, meldete er sich nur kühl.

„Mann, Hawky, ich bin’s. Wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich mich jetzt auf den Weg zurück nach Sasaki mache. Sollte so kurz nach Sonnenuntergang im Rathaus sein.“

Einen Moment wurde es still in der Leitung.

„Hast du die…“

„Halt bloß die Klappe!“, wurde er unsanft unterbrochen.

„Wir sehen uns im Rathaus.“

Dann unterbrach der Konteradmiral die Verbindung. Seufzend lehnte er sich zurück und vergrub einen Moment das müde Gesicht in den Händen. Er würde die Wahrheit erfahren, zumindest das würde ihm bleiben. Dass er dem schlechten Artikel aus der Zeitung nicht glauben konnte, war ihm sofort klar gewesen.

Ein so ehrloses Verhalten passte nicht zu dem Jungen, den er damals getroffen hatte und er musste daran festhalten, dass er genauso gestorben war, wie er gelebt hatte. Das war das Einzige, was er noch hatte, was ihm noch in irgendeiner Form wichtig sein konnte. Und er verachtete sich dafür, dass ein unbedeutender Pirat ihn so aus der Form werfen konnte. Aber er wusste genau, dass es nicht erst der Tod des Jungen gewesen war.

Nachdem er ihn damals besiegt und beinahe getötet hatte, hatte er unbewusst angefangen verstärkt nach Informationen über ihn Ausschau zu halten. Natürlich hätte er sich das nie erlaubt und deswegen hätte er auch alles abgestritten. Zuerst war es auch nur unbewusst gewesen, dass er die Zeitung etwas genauer gelesen hatte, dass er bei Gesprächen mit der Marine etwas tiefer nachgefragt hatte, dass er den Steckbrief des Strohhutjungen diesem alten Freund und Krüppel gebracht hatte um mehr Details über ihn zu erfahren.

Erst später war ihm aufgefallen, dass er sich da in etwas verrannt hatte, aber da war es schon zu spät gewesen. Er hatte angefangen zusätzliche Informationen zu sammeln. Jedes Mal, wenn er auf Stützpunkten der Marine war, hatte er seinen Titel als Samurai genutzt, um an die Akten zu kommen. An die Akten, in denen die Berichte der Soldaten waren. Berichte, die viel umfänglicher und wahrheitsgemäßer waren, als jeder Zeitungsartikel sein konnte.

Aber ihm war immer bewusst gewesen, dass diese Unterlagen nicht die ganze Wahrheit enthielten, denn diese war in den geheimen Akten verborgen, auf die nur wenige Auserwählte Zugriff hatten. Einer von diesen war sein guter Kindheitsfreund, der Konteradmiral Cho Jiroushin. Unter normalen Umständen hätte er nie von diesem verlangt seine Position auszunutzen. Er wusste zu gut, wie rechtsliebend der Blondschopf war und wie sehr es an ihm nagte, wenn er sich nicht an Anweisungen hielt. Allerdings waren die Umstände auch alles andere als normal, denn der, auf den er sich verlassen hatte war verdammt nochmal tot.

Es klopfte an der Tür zum Büro und seine Haushälterin betrat das Zimmer. Sie lächelte sachte, wie sie es früher immer getan hatte, wenn er ihr Blumen gebracht hatte. Damals als er noch ein unschuldiges Kind gewesen war. Sie hatte sich kaum verändert seit damals. War immer noch so voller Leidenschaft und Tatendrang. Ein strenger Gegensatz zu ihrem äußerlichen Auftreten. Die mollige Figur wurde von einem modischen dunkelblauen Kleid bedeckt. Darüber trug sie ihre Lieblingsschürze in blassrosa mit braunen Stickereien. Die schwarzen Schuhe klackten leise über den Boden. Ihre rabenschwarzen Haare hatte sie in einen strengen Dutt gedreht, kein einzelnes Haar lag falsch. Ihr rundliches Gesicht war wie so oft dezent geschminkt, während sie kleine schimmernde Ohrstecker trug. Ein Geschenk von seiner Mutter, damals als Kanan ihres Sohnes bekam. Auch für ihn war die Haushälterin immer wie eine Mutter gewesen, aber auch das würde er wohl nie zugeben.

Schnell wandte er seinem Blick wieder den Unterlagen in seiner Hand zu und überspielte sein Starren, obwohl ihm bewusst war, dass sie es wahrscheinlich trotzdem gesehen hatte. Sie trug ein kleines Tablett mit Kaffee und kam langsam zum großen Schreibtisch aus dunklem Holz.

„Ich bin froh, dass Ihr noch hier seid“, sagte sie sanft.

Er vermied den Blickkontakt, während sie ihm die Tasse eingoss.

„Ich warte noch auf ein paar wichtige Akten. Es wird also was später, als erwartet.“

„Natürlich“, murmelte sie, „Vielleicht…“

Widerwillig sah er sie an, als sie fragend die Stimme erhob.

„Vielleicht ist es sinnvoll, wenn Ihr mit Eurer Abreise bis zum morgigen Tag warten würdet. Ich könnte ein herrliches Frühstück vorbereiten und dann…“

„Das wird wohl nicht möglich sein“, unterbrach er sie während er sich wieder seinen Blättern widmete.

„Natürlich“, antwortete sie niedergeschlagen und wandte sich zur Tür.

„Kanan.“ Sie hob den Kopf.

„Ich muss gleich nochmal in die Stadt, um die Akten abzuholen, danach komme ich noch meine Sachen abholen. Da ich heute noch keine Zeit zum Essen hatte würde ich ein nahrhaftes Abendbrot willkommen heißen.“

Aus dem Augenwinkel sah er zu, wie ihr Gesicht sich aufhellte und sie breit lächelnd das Zimmer verließ.

Kurze Zeit später folgte er ihr und stieg die Treppe hinab. Aus der Küche konnte er schon den Geruch des Kochens vernehmen, sowie die starke Stimme der Haushälterin, welche freudestrahlend vor sich hin werkelte und dabei ihre Lieblingslieder trällerte. Kopfschüttelnd verließ er das Haus.

Draußen war es schon fast ganz dunkel, einzig und allein am Rande des Horizontes leuchtete noch ein gelb-roter Streifen, welcher der letzte Zeuge eines langen Tages war. Falkenauge schritt eilig den Weg entlang Richtung Dorf. Er mochte die Zeit hier auf Sasaki nicht. Im besten Fall waren es öde Stunden vollgepackt mit langweiligem Papierkram die ihm die Zeit raubten. Im schlimmsten Fall war es so wie an diesem Tag, öde Stunden vollgepackt mit langweiligem Papierkram, dazu noch eine Haushälterin und ein Freund, die ihn immer wieder an vergangene Tage erinnerten und dann auch noch eine Hiobsbotschaft, die ihm mehr zusetzte, als er es je eingestehen konnte. Nein, er war wirklich nicht gerne auf Sasaki.

Mit diesem Gedanken rauschte er die Straßen des Dorfes hinunter, wo die Lichter und die Wärme der Restaurants ihm den Weg erhellten, die ersten Straßenlaternen flimmerten auf. Gelächter und Stimmengewirr füllten seinen Weg, erreichten aber nicht seine Gedanken während er schnurstracks auf das Rathaus zulief. Kein einziges Fenster war mehr erleuchtet. Alle Beamten hatten ihren mehr oder weniger verdienten Feierabend angetreten. Ein Ruck an der Tür gab ihm zu verstehen, dass abgeschlossen war. Missmutig starrte er auf die dunkle Glasscheibe und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Anscheinend hatte sein ach so toller Freund ihn versetzt und nun stand er hier in einer verdammt kalten Frühlingsnacht.

„Hawky!!“

Laut brüllte eben genannter Freund nach ihm. Falkenauge drehte sich um und sah den Konteradmiral auf ihn zulaufen. Dieser kam rutschend vor ihm zum Stehen, beide Hände auf den Knien abgestützt und schwer atmend.

„Man, du bist früh!“, keuchte er wie ein Schuljunge, der zu spät zum Unterricht kam.

„Nein, du bist zu spät.“ Der Samurai verschränkte die Arme, „Hast du, was ich will?“

Die grünen Augen sahen zu ihm auf, ehe sich auch der Mann im Anzug aufrichtete und nun mit ihm auf Augenhöhe war. Für eine ewige Sekunde führten sie einen Kampf. Keiner wollte den Blickkontakt brechen.

„Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst?“

Der Samurai blinzelte nicht einmal. „Hätte ich dich sonst gefragt?“

Seufzend zog Jiroushin eine Tragetasche von seiner Schulter und hielt sie ihm hin, doch bevor Falkenauge sie greifen konnte, zögerte der Mann der Marine.

„Dulacre.“

Es war selten, dass er seinen Namen nutzte und so angespannt wirkte, meistens lächelte er doch. Der Schwarzhaarige griff die freie Hand des anderen.

„Jiroushin, hör mir zu. Ich weiß, dass du dafür gefeuert werden könntest. Ich weiß, dass du dafür bestraft werden könntest und ich weiß, dass es das Allerschlimmste für dich ist, selbst wenn nie jemand davon erfahren wird und trotzdem habe ich dich darum gebeten.“

Sein Freund sah ihn an.

„Du weißt, dass ich alles für dich tue. Alles. Ich will nur wissen ob er es wert war!“

Der Ältere sah weg doch dann nickte er.

„Er wäre würdig gewesen. Er war der Einzige, der es wert gewesen wäre mein Nachfolger zu werden. Ich muss die Wahrheit wissen!“

Mit einem festen Griff nahm Dulacre seinem Freund die Tasche ab.

„Ich danke dir Jiroushin. Ich stehe in deiner Schuld.“

Sein Freund lächelte traurig und obwohl er den Kampf nicht so sehr liebte wie der Schwertkämpfer, schien er zu verstehen, was in dem anderen vorging.

„Erinnere mich daran, wenn meine Kollegen mich einbuchten. Dann bin ich auf dich angewiesen.“

Er packte seinen Unterarm.

„Und wenn ich das Hauptquartier stürzen muss.“

Dann lachten sie beide. Es war schön, dass ihre gemeinsamen Erinnerungen noch von beiden gelebt wurden.

„Na gut. Dann mach ich mich jetzt auf nach Hause.“

„Grüß Lirin von mir.“

„Mach ich, hoffentlich dauert es nicht wieder drei Monate bis ich was von dir höre.“

Er nickte.

„Und Hawky.“ Erneut wurde es ruhig um sie, „Mach ja weiter, hörst du.“

Falkenauge grinste bereits zum zweiten Mal an diesem Tag. „Klar. Und nächstes Mal, wenn wir uns treffen, musst du unbedingt Lirin mitbringen.“

Der Konteradmiral erhob die Hand zum Gruß und ging den Weg zurück, den er gerade erst gekommen war. Er verschwand in der Dunkelheit, als wäre er vom Meer verschluckt worden.

Der Samurai riskierte einen kurzen Blick in die Tasche, doch aufgrund der Dunkelheit konnte er nichts erkennen. Somit schmiss er sie sich über die Schulter und begab sich ebenfalls auf den Weg, der auf jeden Fall nicht sein Heimweg war. Die Leute, die immer noch draußen ihre Speisen und ihren Wein genossen, nahmen ihn kaum wahr. Er selber war in Gedanken bereits in den Akten verschwunden, hatte schon seine eigenen Überlegungen zu den Geschehnissen angestellt und wollte, dass sie wahr waren. Seine Beine fanden den Weg von alleine und zwar so schnell, dass er fast rannte. Schon längst hatte er die wohlhabenden Villen am Rande des Dorfes hinter sich gelassen. Nun, in der Dunkelheit wirkte dieser Wald schon fast wieder bedrohlich, doch für ihn entstand erneut nur diese innere Ruhe, welche seine Gedanken ein bisschen zähmte. Wie jedes Mal genoss er das Flüstern des Waldes, während sich seine Füße einen Weg durch den verschlungenen Pfad suchten.

Dann blieb er stehen, wie immer, wenn er am Rande der Lichtung angekommen war. Doch dieses Mal war alles anders.

Dort, am anderen Ende der Lichtung lag sie. Halb verborgen vom Schatten der Bäume. Ein junges Mädchen. Im Licht des fast vollen Mondes schienen ihre Haut weiß und ihr Haar silbern. Sie wirkte wie aus Porzellan. Für einen unendlichen Augenblick stand die Welt still. Für eine Ewigkeit hörte er auf zu atmen. Dann fing das Gras an aufgebracht zu raunen während die Bäume unheilvoll flüsterten. Die Tasche raschelte ungehalten. Sein Mantel wollte fliehen und sein Hut zerrte ihn fort, einzig und allein das Mädchen blieb still, als würde der Wind sie nicht erfassen.

Es war fast wie damals…

Und das brach den Zauber um den Samurai. Gereizt über diese selbstgewünschte Halluzination wandte er den Blick ab, doch als er wieder aufsah musste er feststellen, dass das Mädchen immer noch da lag. Nun gut, dann war das so. Jedem das Seine. Es war nicht seine Angelegenheit und er war kein barmherziger Samariter. Er sollte einfach gehen. Er war niemanden gegenüber verpflichtet.

Er hatte schon zwei Schritte auf seinem Weg hinter sich gebracht, aber seine Augen lagen immer noch auf dem Kind dort drüben. Es war kalt. Und selbst von der Entfernung aus konnte er erkennen, dass sie keine Schuhe trug. Unschlüssig stand er da. Was hinderte ihn daran weiterzugehen? Er hatte schon dutzende Menschen umgebracht, ach was, er hatte schon hunderte getötet, wieso also meldete sich ausgerechnet jetzt sein Gewissen?

Wütend biss er die Zähne zusammen. Ausgerechnet hier, an diesem Ort. Stillschweigend fluchend verließ er den Weg und ging langsam auf das Mädchen zu. Wenige Meter vor ihm blieb er stehen. Obwohl er angespannt war konnte er ziemlich sicher sein, dass es sich hier nicht um eine Falle handelte. Nachdenklich blickte er auf das Kind hinab. Stellte fest, dass sie kein weißes Kleidchen trug, sondern nur ein viel zu großes weißes Männerhemd. Die oberen Knöpfe waren geöffnet. Ihr Brustkorb hob und senkte sich langsam, sie lebte war aber offensichtlich nicht bei Bewusstsein. Kopfschüttelnd beugte er sich schließlich hinab. Nach einem kurzen Zögern hob er das Porzellanmädchen hoch. Es war federleicht. Das kindliche Gesicht ruhte unschuldig auf seiner Brust. Mit einem aufgebenden Seufzen ging er schließlich seinen Weg, das Mädchen im Arm und die Akten über der Schulter.

Wenige Minuten später erreichte er das Herrenhaus. Die Fenster zur Küche und zum Esszimmer waren hell erleuchtet und selbst durch die geschlossene Türe konnte man die trällernde Stimme der Haushälterin hören. Umständlich verschaffte er sich mit dem Ellenbogen zutritt. Drinnen trat er die Haustüre mit dem Fuß wieder zu.

„Ihr seid wieder da“, hörte er sofort die Begrüßung aus der Küche.

„Danke für die beeindruckende Schlussfolgerung“, murrte er nur.

„Was seid ihr denn so… oh, wer ist denn das?“

Überrascht war sie in der Küchentür stehen geblieben, in der Hand noch einen Kochtopf haltend.

„Ich habe sie im Wald gefunden. Sie ist nicht bei Bewusstsein. Ich bringe sie ins Gästezimmer. Wären Sie so gut sie auf Verletzungen zu untersuchen.“

„Selbstverständlich.“ nickte sie zustimmend. „Ich dreh nur schnell das Feuer leiser, dann komme ich nach. Das Abendessen kann warten.“

Samt Stiefeln, Hut und Mantel ging der Herr des Hauses durch den Flur und die Treppe hinauf. Das Gästezimmer war genau gegenüber von seinem Büro und auch hier war alles sauber und ordentlich, als wären die Laken erst am Morgen gewechselt geworden. Vorsichtig legte er das Mädchen auf dem Bett ab, ehe er mit der kleinen Nachttischlampe das Zimmer erhellte.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr silbriges Haar, welches in langen Wellen ihren zierlichen Körper umspielte in Wirklichkeit grün war, so grün wie das Gras, auf dem sie vor wenigen Minuten noch gelegen hatte. Sie wirkte noch wirklich jung, aber ein Kind war sie nicht mehr, es schien, als hätte sie gerade erst die Schwelle zur Frau übertreten. Einen Moment blieb er noch vor ihr stehen, als schließlich Kanan dazu kam. Auch sie begutachtete das Mädchen nachdenklich.

„Wo habt Ihr sie gefunden? Sie ist ja fast nackt.“

„Auf der Lichtung.“

Er konnte ihren Blick auf sich spüren, doch er sagte nichts. Sie nickte nur.

„Es war gut, dass Ihr sie hergebracht habt. Da draußen hätte sie nur den Tod gefunden. Ich werde mich nun um sie kümmern.“

„In Ordnung. Ich bin in meinem Büro“, erklärte er zustimmend.

In seinem Büro hatte er die zwei Aktenbündel vor sich ausgepackt, doch er traute sich kaum sie zu öffnen. Was, wenn sie bestätigen würden, was in der Presse stand? Er schüttelte den Kopf. Nein, das war er dem anderen schuldig. Zumindest er musste die Wahrheit wissen. Entschieden öffnete er den ersten Verschluss. Der vollgestopfte Ordner platzte auf. So viel Wahrheit konnte nicht auf drei Seiten Zeitung zusammengefasst werden.

Er hatte noch nicht mal Ordnung in das Chaos gebracht, als die Wächterin des Hauses zu ihm herein kam. Milde interessiert blickte er auf.

„Und?“

„Ihr geht es gut“, sagte sie nachdenklich.

„Aber?“, hakte er nach, denn er kannte diesen Ausdruck nur zu gut.

„Es ist merkwürdig.“ Langsam legte er die Blätter in seiner Hand zur Seite und sah ihr zu, wie sie sich abwesend über den Oberarm strich.

„Was ist merkwürdig, Kanan?“

Erst jetzt sah sie ihn an. „Dieses Kind zeigt keinerlei Verletzungen!“

„Und warum ist das was Schlechtes? Ist doch gut.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Ihr versteht nicht. Sie hat sich noch nie verletzt. Sie hat keine Narben, keine Schürfungen, keine Falten, noch nicht einmal Hornhaut. Die Haut von dem Mädchen ist die eines Kleinkindes. So etwas habe ich noch nie gesehen. Selbst das Hemd, dass sie trug war perlweiß, wie frisch gekauft, und ansonsten war sie komplett nackt.“

Verwundert hielt er ihrem Blick stand. „Wie ist das möglich?“

„Ich habe keine Ahnung. Aber normal ist das nicht. Ein Mädchen in ihrem Alter müsste doch zumindest einen Pickel haben.“

„Wie alt schätzen Sie unseren Gast?“, fragte er, ohne auf ihre Aussage weiter einzugehen.

Sie zuckte mit den Achseln. „So um die 16.“

Dann wurde es still.

„Was habt Ihr jetzt vor? Werdet Ihr abreisen?“

Abweisend stand er auf und legte die Akten aufeinander.

„Nein, Sie wissen, dass das nicht geht. Das Mädchen ist nun meine Verantwortung“, antwortete er schlicht, hob die Akten hoch und ging zur Tür. Die Haushälterin trat in den Flur zurück.

„Gehen Sie schlafen“, befahl er milde. „Ich passe auf. Wenn sie aufwacht, rufe ich Sie.“

Sie nickte und wünschte ihm einen ruhigen Abend, ehe sie in den Tiefen des Hauses verschwand.

Mit einem Seufzen trug er die Unterlagen in das Gästezimmer, legte sie dort auf den kleinen Schreibtisch und ging wieder. Gemächlich ging er die Treppe hinunter und in die Küche. Dort nahm er sich den erst besten Wein sowie einen Teller voller Essen, den Kanan ihm wohl bereit gestellt hatte, und kehrte wieder um.

Im Zimmer war immer noch alles ruhig als er ankam. So nahm er sich den Stuhl vom Schreibtisch und zerrte ihn mit genügend Abstand neben das Bett, stellte seine Weinflasche und den Teller auf dem Nachttisch ab und schob die Vorhänge zur Seite, sodass das fahle Mondlicht hineinfiel. Während er die Akten neben sich auf den Boden warf, stellte er fest, dass man aus diesem Zimmer einen ganz ausgezeichneten Blick auf das Meer hatte. Nicht weiter darüber nachdenkend begann er schließlich damit die Wahrheit zu finden. Die Wahrheit, warum Lorenor Zorro gestorben war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  DoD
2021-01-31T14:18:27+00:00 31.01.2021 15:18
Ich war ja zu Beginn nicht so begeistert, genderswapping ist eigentlich nicht so meins, aber.. herrlich. Ich hätte gedacht, dass da irgendwas mal läuft, die Spannung war spürbar, aber ach, wie schön eine Geschichte zu lesen, die einen fixen Ausgans und Zielpunkt hat und sich so in den Canon einfügt.
Ja, ich habe villeicht später mehr dazu zu sagen, jetzt bin ich grad ein bisschen platt.

Antwort von:  Sharry
31.01.2021 20:56
Und Hallo zum Vierten!
Tja, was soll ich dazu sagen... Die Idee dieser Geschichte kam mir schon vor über zehn Jahren, lange bevor mir bewusst war, dass genderswapping ein Ding ist (jung und naiv...) und dementsprechend habe ich halt mein eigenes Ding draus gemacht^^'
Es freut mich total, dass die Geschichte dir gefällt, aber ich hoffe du hast etwas Sitzfleisch, denn gerade die Fortsetzung ist etwas länger und für Zorro gar nicht so einfach^^'
Vielen, vielen lieben Dank für deine netten Worte!

Hab noch einen schönen Abend und liebe Grüße
Von:  LittleMarimo
2016-03-23T04:41:39+00:00 23.03.2016 05:41
Woooow...
Das myhawk sie so sehr für zorro interessiert... Naja war verständlich..
Wer ist die kleine?

Antwort von:  Sharry
28.03.2016 17:54
Freut mich, dass es dir gefällt ;-)
Psst, das wird nicht verraten. DIe Antwort kommt im nächsten Chap ;-)
Von:  fahnm
2016-03-22T21:31:37+00:00 22.03.2016 22:31
Hammer Kapitel
Mach weiter so
Antwort von:  Sharry
28.03.2016 17:54
Danke und keine Sorge, das habe ich vor ;-)


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