Stormpaw's Destiny von Kalliope (Warrior Cats - New Clans, New Stories) ================================================================================ Kapitel 26: ------------ Aus Stunden formte sich ein ganzer Tag, dann die dunkle, kalte Nacht. Aus Tagen formte sich eine ganze Woche. Die vier Auserwählten liefen und liefen unermüdlich, bis ihre Pfoten geschwollen waren und schmerzten. Sie redeten nicht viel miteinander, beschränkten sich auf kurze, notwendige Mitteilungen. Abends suchten sie gemeinsam eine Möglichkeit zur Rast – oder eher Schneewolke, die sich noch immer als Anführerin sah, während die anderen ihr stumm folgten und sich dort hinlegten, wo auch sie schlief. Je weiter sie sich von dem Heiligen Berg entfernten, desto stärker sehnte Sturmherz sich nach dem FeuerClan, der seine Familie war. Wie weit würden sie wohl noch laufen müssen, bis sie ihre neue Heimat fanden? Allmählich begann sich auch die Wildnis zu verändern. Wo vor einigen Tagen noch unendlicher Wald stand und es kaum nennenswerte Berge gab, begann nun eine Steigung. Immer öfter liefen sie über Lichtungen, mal groß, mal klein. Laubbäume wurden zunehmend von Nadelbäumen verdrängt. Der weiche Waldboden wich gefrorener Erde, die von schroffen, scharfkantigen Felsen durchbrochen wurde. Immerhin schneite es nur noch wenig und auch Rauchsturm schaffte es hin und wieder, sich Frischbeute zu fangen. Trotzdem magerte er ab und weigerte sich noch immer, die anderen um Hilfe zu bitten. Als die Sonne an jenem Tag am höchsten stand, hörten sie aus weiter Ferne das Rauschen eines Flusses. Schneewolke blieb stehen, lauschte, und zum ersten Mal seit Tagen hellte sich ihre Miene wieder etwas auf. „Ein Fluss! Fast wie zu Hause.“ Rauchsturm sah ebenfalls glücklich aus. „Das ist bestimmt ein gutes Zeichen.“ „Wir werden sehen“, sagte Hummelschatten, der seit des Zwischenfalls mit Schneewolke seine lockere, lustige Art gegen Schweigen und Grimmigkeit getauscht hatte. Sturmherz seufzte, beschleunigte sein Tempo etwas und zog an Schneewolke vorbei an die Spitze ihrer Formation. Auch in ihm verursachte das Rauschen des Wassers freudiges Herzklopfen. Das bedeutete nämlich nicht nur, dass sie endlich wieder frisches Wasser trinken konnten – Schnee und abgestandene Pfützen waren kein akzeptabler Ersatz – sondern auch, dass die Temperaturen soweit gestiegen waren, dass es allmählich taute. Es dauerte nicht lange, bis sich der Wald vor ihnen zu lichten begann. Ihre Schritte wurden dadurch nur noch weiter beflügelt. Sie brachen durch den Waldrand hindurch, bremsten ab, gerade noch rechtzeitig. „Beim SternenClan!“, stieß Rauchsturm mit großen Augen aus. Vor ihnen schlängelte sich ein reißender Fluss mitten durch den Wald. Kristallklares Wasser wütete wild und stürmisch umher, hier und dort war es von weißen Schaumkronen gesäumt oder von glitschigen Felsen durchzogen. Ohne es zu merken mussten sie in den letzten Stunden eine Anhöhe erklommen haben, denn einige hundert Meter weiter stürzte das Wasser schlagartig in die Tiefe. „Ein Wasserfall!“ Schneewolke trabte mit respektvollem Abstand neben dem Flussufer entlang, die Augen auf den Wasserfall in der Ferne gerichtet. „Das ist gefährlich“, murrte Hummelschatten sofort, folgte ihr aber. „Ich sehe keine Möglichkeit, wie wir diesen Fluss überqueren können.“ „Wir könnten schwimmen“, schlug Schneewolke nachdenklich vor. Sturmherz schnaubte. „Ganz sicher nicht. Das andere Ufer ist viel zu weit weg und außerdem würde uns die Strömung sofort mit sich reißen.“ „Wir würden ertrinken“, stimmte Rauchsturm ihm zu. „Ich will zum Wasserfall“, sagte Schneewolke unbeirrt. „Vielleicht sehen wir von dort, was unter uns liegt.“ „Hoffen wir nur, dass der Wald bald ein Ende findet.“ Hummelschatten knurrte leise vor sich hin. „Oder wir haben unser Ziel bereits erreicht.“ Ihre eigenen Worte ließen Schneewolke schneller werden, bis sie rannte. Die anderen folgten ihr, holten auf, und gemeinsam liefen sie bis zu dem Wasserfall. Sie blieben am Ufer stehen, starrten hinab in die Tiefe, wo sich feiner Nebel, Gischt und Felsen zu einer tödlichen Mischung verbanden. Eine Weile standen sie einfach nur da, betrachteten die schneebedeckte Landschaft zu ihren Pfoten. So weit das Auge reichte, erstreckte sich die weiße Landschaft und am Horizont befanden sich riesige Berge, deren scharfe Spitzen wie die Zähne eines gigantischen Tieres aus der Erde ragten. „Wald, Wald und noch mehr Wald“, klagte Hummelschatten schließlich. „Ich kann es nicht mehr sehen. Ich vermisse die weiten Ebenen im LuftClan. Und unseren See.“ „Das da unten ist so etwas wie ein See“, kommentierte Schneeflügel und deutete auf das untere Ende des Wasserfalls, deren ohrenbetäubendes Rauschen sie beinahe übertönte. „Das ist kein See, das ist der sichere Tod“, zischte Hummelschatten ungehalten. „Wir laufen seit einer geschlagenen Woche immer nur durch den Wald, aber wir kommen einfach nirgendwo an.“ „Wir haben diesen Wasserfall gefunden“, sprach Sturmherz mit ruhiger Stimme. „Von hier aus können wir uns orientieren. Wir müssen in Richtung der Bergkette dort am Horizont.“ „Und wie weit ist das noch weg? Eine Woche? Zwei?“ Rauchsturm teilte sein mitleidiges Seufzen. „Uns bleibt nichts anderes übrig. Oder willst du aufgeben?“ Weil Hummelschatten nicht sofort antwortete, setzte Sturmherz‘ Herzschlag direkt einige Male voller Furcht aus. „Du kannst nicht aufgeben! Wir müssen durchhalten. Unsere Clans vertrauen darauf, dass wir zusammenhalten.“ Hummelschatten schüttelte leicht den Kopf, grub die Krallen in die feuchte Erde. „Nein, wir gehen weiter. Aber ich werde keine Pfote mehr in diesen bescheuerten Wald setzen, wenn wir erst einmal mit den Clans in unserer neuen Heimat angekommen sind.“ „Dann lasst uns hier runter klettern.“ Hummelschatten starrte Rauchsturm abschätzend an. „Da runter? Bist du lebensmüde?“ „Hast du eine bessere Idee?“, fragte Schneewolke genervt. „Wenn wir außen rum laufen, verlieren wir mindestens einen Tag. Hier runter zu klettern, wird uns höchstens ein oder zwei Stunden kosten. Das Gebiet des WasserClans ist sehr felsig, ich kenne mich damit aus. Lasst mich vorgehen und tretet überall dort hin, wo ich es tue.“ Sie nickten Schneewolke zu, die die Felsvorsprünge neben dem Wasserfall zuerst gut inspizierte und dann wagemutig gut zwei Fuchslängen tief sprang. Sie krallte sich sofort auf den Stein, rutschte kaum weg, schüttelte sich dann die ersten Wassertropfen aus dem Fell und schaute hoch. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Folgt mir einer nach dem anderen.“ Sturmherz und Hummelschatten tauschten einen kurzen Blick. „Du zuerst“, sagte Hummelschatten. „Ich stürze mich nicht in den Tod.“ „Ich folge ihr.“ Trotz seiner Worte verharrte Rauchsturm eine Weile regungslos an der Kante. „Wird das heute noch was?“ „Sei still, Hummelschatten. Ich … bin aufgeregt.“ „Du schaffst das“, sprach Sturmherz ihm Mut zu. Rauchsturm nickte, dann seufzte er ein letztes Mal, holte tief Luft und sprang. Er kam quer auf, fand aber guten Halt. „Halb so schlimm!“ Dann folgte er Schneewolke auf einen anderen Felsvorsprung. Sturmherz konnte verstehen, wieso Rauchsturm Angst gehabt hatte. Alle Felsen waren feucht und rutschig, drei Fuchslängen neben ihnen toste der Wasserfall in die Tiefe, unter ihnen gluckerte das Wasser wie ein hungriger Schlund. Er sprang, ohne darüber nachzudenken, knallte auf den harten Stein. Dann rappelte er sich wieder auf. Schneeflügel und Rauchsturm waren bereits über zwei schmale Felsstreifen auf einen weiteren Vorsprung weiter unten gelangt. Es sah schlimmer aus, als es im Endeffekt war, aber Sturmherz plante dennoch jeden einzelnen Sprung mit penibler Sorgfalt. Eines war sicher: Mit den Clans würden sie außen herum laufen, egal wie viel Zeit es kostete. Nach und nach arbeiteten sie sich auf diese Weise die Steilwand hinab. Nachdem sie schon über die Hälfte hinter sich gebracht hatten, kam endlich der Boden in Sicht. Doch Schneeflügel verharrte unsicher auf ihrem Felsen. „Hier geht es nicht mehr weiter.“ „Was meinst du damit, dass es nicht weitergeht!“, schnarrte Hummelschatten sie ungehalten an. „Wir können nicht zurück, falls du das vergessen hast!“ „Habe ich nicht!“, erwiderte sie fauchend und sträubte dabei das nasse, verschwitzte Fell. Sie schüttelte sich, schaute noch einmal zu allen Seiten runter und blieb stehen. „Okay. Das wird euch nicht gefallen.“ Sturmherz hörte, wie Hummelschatten hinter ihm laut stöhnte. „Was ist los?“ Schneewolke zuckte leicht mit den Schultern. „Wir werden springen müssen. Es ist ein ganzes Stück und besonders breit ist die Felskante nicht. Wir müssen ganz nah an den Wasserfall heran, aber ab da führt ein schmaler Weg direkt bis zum Boden. Versucht, möglichst dicht an der Wand zu landen, verlagert euer Gewicht von der Kante weg, sobald ihr könnt, sonst rutscht ihr ab. Verstanden?“ „Wenn du das sagst, klingt es so einfach.“ Hummelschatten schnitt eine Grimasse, doch der schneidende Unterton war aus seiner Stimme verschwunden. „Reden wir nicht lange drum herum.“ Sie ließ ihren Schwerpunkt über die Kante fallen, landete mit einem dumpfen Aufschlag, rappelte sich auf und ging leichtfüßig an der Kante entlang gut zehn Meter weiter. Mit dem Schwanz winkte sie ihnen zu. Die drei Kater sahen sich lange an. Keiner wollte den Anfang machen. „Das ist lebensmüde, ganz eindeutig“, meinte Hummelschatten schließlich. Er kniff die Augen zusammen, trat an die Kante. „Ach, Mäusedreck.“ Er zögerte nicht länger, ließ sich fallen, knallte seitlich gegen den Felsen, fing sich aber gut ab und landete, ohne sich zu verletzen. Dort unter ihnen rappelte er sich auf und lief zu Schneewolke herüber. Nun waren es nur noch Rauchsturm und Sturmherz. Dieser musterte den abgemagerten Heiler. „Du solltest zuerst springen. Und wenn wir unten angekommen sind, haben wir uns einen großen Frischbeutehaufen verdient.“ „Wie du weißt, bin ich nicht gerade der beste Jäger“, witzelte er mit belegter Stimme. „Das ist egal. Wir haben das hier gemeinsam geschafft. Wir müssen füreinander da sein.“ Ein dankbarer Ausdruck trat in Rauchsturms Gesicht. „Danke, Sturmherz.“ Er trat an die Kante und sprang. In dem Augenblick, in dem Rauchsturm sich fallen ließ, erkannte Sturmherz bereits, dass etwas falsch lief. Rauchsturm drehte sich, prallte gegen den Felsen, landete viel zu weit vorne. Er schlug schräg auf, seine Beine knickten kraftlos weg. Wie in Zeitlupe mussten sie zusehen, wie Rauchsturm das Gleichgewicht verlor. Er schrie, krallte sich in den Felsen, bekam keinen Halt, fiel erneut. Die Wassermassen verschluckten seinen grauschwarzen Körper mit Leichtigkeit. Sturmherz hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er sah die geschockten Gesichter von Hummelschatten und Schneewolke. Er sprang, ohne darüber nachzudenken, direkt in den nächstgelegenen Wasserstrahl hinein. FeuerClan, die mutigen Krieger. Mutig. Und manchmal auch verdammt töricht. *** Das Wasser umfing seinen Körper. Rau. Wild. So hart wie die Felsen. Sobald Sturmherz den Wasserfall berührte, verlor er die Kontrolle über seine Gliedmaßen. Er wurde herumgeschleudert, zusammengedrückt, schnappte nach Luft. Wasser, überall Wasser. Oben und unten verschwamm zu einer einzigen Sturmflut, die ihn zu ertränken drohte. Alles an ihm schmerzte. Aber Schmerzen waren gut, denn das bedeutete, dass er noch lebte. Doch allmählich zweifelte Sturmherz daran, dass er es schaffen würde. Das Wasser drücke ihm auch das letzte Stück Luft aus seinen Lungen, schleuderte ihn umher wie ein Blatt. Er begann schwarze Punkte zu sehen, die zuerst flimmerten und dann immer größer wurden. Das Rauschen des Wasserfalls entfernte sich. Und dann, wie aus dem Nichts, prallte er gegen einen Felsen, verlor an Tempo, trieb um eine Kurve herum, durchbrach die Oberfläche. Gierig schnappte er nach Luft, strampelte mit den schmerzenden Gliedern. Der Wasserfall war nur noch ein schmaler Strich in der Ferne, entfernte sich immer weiter, während kleinere und größere Wellen in sein Sichtfeld schwappten. Die Strömung zog ihn weiter mit sich, ließ nach, wurde schwächer. Irgendwann hatte er die Chance, in Richtung Ufer zu schwimmen. Der Fluss verbreiterte sich, wurde langsamer, flacher und gutmütiger. Mit letzter Kraft hievte er sich an einer Kiesbank hinauf und blieb einfach dort liegen. Sturmherz atmete schwer, hatte die Augen geschlossen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Wo war Rauchsturm? Er hatte ihn nicht gesehen, natürlich nicht, weil das Wasser ihn beinahe umgebracht hätte. Womöglich war Rauchsturm schon längst tot. Er war eingeschlafen, ohne es zu merken, und als er die Augen wieder öffnete, hatte der Himmel seine Farbe gewechselt. Es war Abend geworden und die anderen waren nicht bei ihm. Hatten sie ihn nicht gefunden? Erst jetzt besaß Sturmherz genügend Kraft, um sich aufzusetzen und die letzten Schritte ins Trockene zu laufen. „Bist ja mächtig ins Straucheln gekommen, Schneckenhirn. Echt tolle Show mit dem Sprung vom Wasserfall. Mächtig dämlich, eh?“ Die vertraute Stimme jagte ihm einen so mächtigen Schrecken ein, dass Sturmherz zur Seite kippte und sich ängstlich gegen den Baumstamm der Tanne drückte. „Du?!“ Einige Fuchslängen entfernt saß Flohnacken im Trockenen und grinste ihn mit fauligen Zähnen an. „Flohnacken ist euch gefolgt. Dachte mir, das wird interessant. Am Heiligen Berg passiert ja nicht viel Neues. Manche kommen, manche gehen, das Übliche.“ Sturmherz konnte nicht glauben, dass eine so abgewrackte Gestalt wie Flohnacken ihnen eine Woche lang quer durch die Wildnis gefolgt war, ohne zu sterben. Und wie hatte er ihn so schnell gefunden? „Weißt du, wo die anderen sind?“ „Suchen nach dir, Schneckenhirn.“ Er kratzte sich genüsslich hinter dem Ohr, wo das Fell vollständig fehlte und die nackte, schuppige Haut zu sehen war. „Sind aber an der Flussbiegung in die falsche Richtung gelaufen.“ Sturmherz‘ Herz setzte einmal aus. „Sie suchen in der falschen Richtung nach mir? Aber das geht nicht, wir müssen zusammenbleiben!“ „Tja, nicht Flohnackens Problem.“ Er bleckte einmal kurz die Zähne. „Hast du gesehen, wohin es Rauchsturm verschlagen hat? Und … lebt er noch?“ Diese Antwort fürchtete er am meisten, doch als Flohnacken nur lässig gähnte, beruhigte er sich ein wenig. „Er lebt noch, nicht wahr? Wo ist Rauchsturm? Ist er verletzt?“ „Heiler können sich doch selbst heilen oder nicht?“, lautete Flohnackens Gegenfrage. „Flohnacken hat in seinem Leben schon viel gesehen, oh ja. Immer Richtung Norden, eh?“ Sturmherz seufzte, wurde dann aber hellhörig und setzte sich gerade hin. „Flohnacken … weißt du, wohin wir gehen müssen? Kennst du den Ort, an dem der SternenClan in strahlender Pracht am Himmel tanzt?“ Der kränkliche Kater wiegte seinen Kopf hin und her. „Stellst endlich bessere Fragen, Schneckenhirn.“ „Ja oder nein?“ „Tja …“ „Sag schon!“ „Flohnacken sieht viel, sieht wenig, sieht alles“, flötete er gut gelaunt. Es machte ihm Spaß, Sturmherz an der Nase herumzuführen. Dann glitt sein Blick den Flusslauf entlang. „Schöner Fluss, oh ja. Lädt zu einem ausgedehnten Spaziergang ein.“ Er stand auf, trottete näher an das Ufer heran und schlenderte stromabwärts. „Ist das dein Ernst?“ Ungläubig starrte er dem Kater hinterher. „Es wird gleich dunkel!“ „Macht die Dunkelheit dir Angst?“, rief er ihm über die Schulter zu. „Was? Nein! Natürlich nicht!“ Sturmherz erhob sich ebenfalls und folgte Flohnackens Geruch von Eiter und Verwesung in gebührendem Abstand. „Flohnacken mag die Dunkelheit. Im Dunklen sieht man manchmal mehr.“ „Das ergibt keinen Sinn“, murrte Sturmherz. Wie aus dem Nichts traf ihn eine Windböe. Er kniff die Augen zusammen, schüttelte sich einmal und als er die Augen wieder öffnete, waren Flohnacken und sein ekelerregender Gestank verschwunden. An diesem Kater verwunderte ihn nichts mehr. *** Mitten in der Nacht überwältige ihn die Erschöpfung. Sturmherz rollte sich im schützenden Dickicht ein. Sein Schlaf war traumlos, aber erholsam, und als er noch vor dem ersten Morgengrauen erwachte, staunte er nicht schlecht. In weiter Ferne, über den Gipfeln der riesigen Bergkette, schimmerte blassgrünes Licht, dazwischen das Sternenvlies. Das Licht verblasste in den letzten Zügen, doch die langsame Bewegung gab ihm das Gefühl, dass die Sterne tanzen würden. Augenblicklich spürte er, wie ihn neue Energie durchflutete. Das musste er sein! Der Ort, an dem der SternenClan in strahlender Pracht am Himmel tanzte! Oh wenn doch nur die anderen hier bei ihm wären … Er seufzte, begann sich zu putzen, und als er fertig war, folgte er dem Fluss weiter stromabwärts. Zwar lief er nun gen Osten, aber was hatte er schon zu verlieren, wenn er Flohnackens diffuser Anleitung folgte? Sicher, er hätte zu dem Wasserfall zurückkehren können, doch die anderen waren längst fort und suchten in einer ganz anderen Richtung nach ihm. Er musste darauf vertrauen, dass sie auch sie das grüne Himmelslicht gesehen hatten. Dort würden sie sich treffen. Immer weiter folgte er dem Fluss, der mal schmaler und mal breiter war, aber an keiner Stelle so gefährlich und tosend wie am Wasserfall. Irgendwann hörte er auf, darüber nachzudenken, wie weit er sich wohl von den anderen entfernte. Er musste weitergehen, bis er eine Stelle fand, an der er den Fluss überqueren konnte. Eine andere Möglichkeit hatte er nicht. Nach weiteren quälenden Stunden waren auch alle übrigen Gedanken aus seinem Kopf verschwunden. Er verfiel in einen gleichmäßigen Laufschritt, atmete regelmäßig ein und aus. Die Sonne brannte mit einer ungewohnten Intensität auf ihn herab und ließ den Schnee am Ufer des Flusses bereits schmelzen. Nur einmal hielt er an, um eine Pause zu machen, zu trinken und zu jagen. Er sah Vögel, die es rund um den Heiligen Berg nicht gab, und andere, die ihm vertraut waren. Finken, Zeisige, Drosseln und Kardinale gaben ihm ein Gefühl von Heimat. Einmal sah er eine Schneeeule, deren weißes Gefieder mit den schwarzen Flecken er nur aus alten Clangeschichten kannte. Wie weit nördlich hatten sie es in dieser einen Woche geschafft? Gegen Abend tauchten Gänse auf, die in Formation weit über seinem Kopf schnatternd vorbeizogen, und am nächsten Morgen begrüßte ihn das laute Krächzen eines silbergrauen Vogels mit gebogenem Schnabel, den er nicht zuordnen konnte. Er sprang auf das Tier zu, das keckernd auswich und davon flog. Sturmherz zog weiter, ließ sich von dem Fluss führen. Er passierte weitere Vogelschwärme, sah Fische, deren elegante Körper unter der Wasseroberfläche schimmerten. Ein großes, braunes Huftier mit massivem Geweih schlabberte Wasser aus dem Fluss und schenkte Sturmherz keinerlei Beachtung. Zwei weitere Tage vergingen. Allmählich verlor er die Hoffnung, jemals eine Stelle zu finden, an der er den Fluss überqueren konnte. Er überlegte, zu schwimmen, doch nach der Aktion am Wasserfall hatte er genug von dem Wasser und wollte nicht. Von Tag zu Tag bildeten sich die Muskeln seines Körpers stärker heraus, doch seine Ballen waren am Ende des Tages geschwollen und schmerzten. „Wie lange noch, SternenClan?“ Er schaute eines Nachts in den Himmel, erhielt jedoch keine Antwort. *** Eine ganze Woche war vergangen, in der Sturmherz alleine gereist war. Der Fluss hatte im Laufe der Zeit immer wildere Biegungen gemacht, die Berge rückten näher und verengten sich zu einem Tal. Sturmherz hörte das Rauschen eines Wasserfalls, noch bevor er ihn sah. Alles in seinem Inneren zog sich zusammen, doch er lief weiter, bis er den Wasserfall erreichte. Zu seiner Erleichterung war er weniger gefährlich als der vor einer Woche. Er ging nur etwa zehn Meter in die Tiefe – und das über eine respektable Länge. Doch was stattdessen seine Aufmerksamkeit fesselte, war der Zweibeinerort, der sich wie aus dem Nichts vor ihm erstreckte. Er stand weit über der Stadt, die er von hier oben vollständig überblicken konnte. In ihrem Zentrum streckten sich eckige, metallische Gebäude weit in die Höhe. An den Rändern wurden die Donnerpfade schmaler, wie bei einem Spinnennetz. Am Stadtrand sah er einzelne Häuser mit Gärten und Zäunen – und ein komisches Gefühl beschlich ihn. Er schnupperte in die Luft hinein, konnte aber nichts Ungewöhnliches riechen. Dafür erkannte er die Lösung für sein Problem, denn einer der Donnerpfade führte geradewegs über den Fluss. Seine Pfoten trugen ihn wie von alleine den Berghang hinab. Er ließ den schützenden Wald hinter sich und die Abenddämmerung war bereits am Himmel zu sehen, als er den Stadtrand erreichte. Der würzige Duft des Waldes war dem chemischen Gestank der Zweibeinerwelt gewichen. Sturmherz fühlte sich fehl am Platz, harrte am Donnerpfad aus und beobachtete, wie die Metallmonster immer wieder über die Brücke rollten. Nur noch wenige Schritte an der Seite der Brücke entlang, am besten im Schutz der Dunkelheit, dann hatte er es geschafft. Alles, was er tun musste, war warten, bis seine Zeit kam. Zuckrige, klebrige Puddingspeisen stiegen plötzlich in seine Nase. Der Wind trug diesen Geruch heran, direkt vom Ende des Donnerpfads, von den Wohnhäusern der Zweibeiner, von einem Grundstück, dessen Gartenzaun eine unüberwindbare Hürde für jedes Jungtier war. Unruhe machte sich in seinem Herzen breit. Verwirrt schaute Sturmherz zwischen der Brücke und dem Garten hin und her. Ohne es zu merken, schlich er sich an den Zaun heran. Der riesige Zaun war nichts weiter als eine unbedeutende Mauer. Er sprang hinauf und überblickte einen Garten mit einer Dornenhecke, die im Sommer vielleicht Rosenblüten trug. Durch das Fenster konnte er ins Innere des Hauses blicken. Er sah sie, erkannte sie, wollte sie nicht erkennen. Fünf Junge lagen an ihrem Bauch und säugten. Ihre Ohren zuckten, sie schaute auf, ihre Blicke trafen sich, doch er war ein Fremder für sie. Das hier war nicht sein Zuhause, es war nie sein Zuhause gewesen. Er hatte eine Mission zu erfüllen. Sturmherz sprang wieder vom Zaun herunter, rannte den ganzen Weg zurück bis zur Brücke. Es kümmerte ihn nicht länger, dass es noch nicht Nacht war. Er rannte einfach weiter, sprang auf einen schmalen Metallvorsprung, der seitlich ein Stück unterhalb des Donnerpfads entlangführte. Er wollte nur noch weg von hier, weg von den Zweibeinern. Er rannte, bis ihm das Blut in den Ohren rauschte, bis er die Lichter der Stadt nur noch als kleine Punkte wahrnehmen konnte, bis das Tal immer steiler wurde, bis die Bäume ihn umfingen. Es wurde Nacht, die Wolken verdeckten den Himmel und noch immer schlug das Herz in Sturmherz‘ Brust wie wild geworden. Wovor hatte er nur solche Angst gehabt? „Sturmherz …?“ Die dünne, fahrige Stimme riss ihn in das Hier und Jetzt zurück. „Dem SternenClan sei Dank …“ Er wirbelte herum und dort, zwischen den dicken Wurzeln eines Baumes, lag Rauchsturm. Der junge Heiler sah fiebrig aus, blinzelte, war abgemagert. „Rauchsturm, du lebst!“ Sturmherz‘ Schwanz schoss in die Höhe, als er zu seinem Begleiter lief. Doch schnell machte sich Ernüchterung in ihm breit. „Was ist passiert? Bist du verletzt?“ Rauchsturm rollte seinen buschigen Schwanz zur Seite und präsentierte eine Fleischwunde an seiner Flanke. Das Blut war bereits getrocknet, doch die Ränder der Wunde waren geschwollen und entzündet. Sein Fell war verklebt, roch nach Kot und Urin. „Der Wasserfall hat mich fast das Leben gekostet. Ich weiß nicht, wie lange ich im Fluss getrieben bin, bis ich ans Ufer gespült wurde. Alles, was ich hatte, war ein dicker Ast, an dem ich mich festkrallen konnte. Dann kam der Zweibeinerort, der Donnerpfad, das Metallmonster …“ Sein Gesicht verzog sich bei der Erinnerung daran. „Oh nein …“, wisperte Sturmherz. „Kannst du laufen?“ „Nicht mehr … Ich habe es bis hier oben geschafft, aber dann verließen mich meine Kräfte.“ „Wie lange ist das her?“ „Drei Tage.“ Sturmherz setzte sich neben Rauchsturm und wusste nicht, was er tun sollte. „Was kann ich tun, um dir zu helfen?“ „Wenn es dir nichts ausmachen würde … vielleicht … Frischbeute? Ich habe seit Tagen nichts mehr gefressen. Mir fehlt die Kraft, um selbst zu jagen.“ „Natürlich, warte einfach hier, ich bin gleich wieder da!“ Nicht, dass Rauchsturm ohnehin hätte weglaufen können. Er jagte so schnell, wie er noch nie in seinem Leben gejagt hatte. Dank der etwas milderen Temperaturen traute sich immer mehr Frischbeute aus ihrem Versteck und da die Bäume hier nicht sonderlich dicht standen, ließen sich immer wieder Vögel auf dem Waldboden nieder. Einen davon konnte Sturmherz erwischen. Es war das silbergraue Modell mit dem gebogenen Schnabel und der nervigen, keckernden Stimme. Als er zu Rauchsturm zurückkehrte, war dieser eingeschlafen, schreckte jedoch hoch, als er Sturmherz kommen hörte. „Eine Möwe?“ „Was?“ Er legte den toten Vogel vor Rauchsturm ab, der sogleich gierig einen Bissen nahm. „So nennt man diesen Vogel. Möwe. Sie leben dort, wo es viel Wasser gibt, das zum Meer führt.“ „Was ist das Meer?“ „Ein Ort wie ein unendlich großer See. Egal wie lange man schwimmen würde, man würde niemals das andere Ufer erreichen. Tigerfuß hat mir Geschichten darüber erzählt. Alte Geschichten, die von Generation zu Generation weitergetragen werden.“ Sturmherz wartete, bis Rauchsturm gefressen hatte, dann zog er los, um sich selbst ebenfalls Frischbeute zu jagen. Nun, da er zumindest einen seiner Gefährten wiedergefunden hatte, fühlte er, wie Zuversicht und Energie in seinen Körper zurückkehrten. Sie waren zwar schon zwei Wochen lang unterwegs, aber gemeinsam würden sie ihr Ziel mit Sicherheit erreichen. Rauchsturm schnurrte zufrieden, als Sturmherz zu ihm zurückkehrte. Er trug ihm auf, nach ein paar bestimmten Kräutern zu suchen, doch entweder gab es diese hier nicht oder Sturmherz erkannte sie einfach nicht, denn er kehrte mit leeren Pfoten zurück. Das bekam Rauchsturm schon gar nicht mehr mit, denn er schlief tief und fest, eingerollt zu einer dunklen Fellkugel. Sturmherz rollte sich neben ihm ein, damit sie ihre Körperwärme miteinander teilen konnten. Morgen war ein neuer Tag. Morgen würden sie gemeinsam weiterziehen. Morgen würde alles besser werden. Er schlief sehr schnell ein, versank in einer schwarzen Umgebung, aus der nur träge einige silberne oder blaue Tupfen hervorstachen. Das war nicht der SternenClan, bei dem er sonst war, doch seine mysteriöse Begleiterin wartete trotzdem auf ihn. „Haltet durch, ihr seid auf dem richtigen Weg.“ Sie lächelte ihn voller Güte und Freundlichkeit an. „Ich bin sehr stolz auf dich, Sturmherz.“ Er setzte sich neben sie, betrachtete sie von Kopf bis Schwanzspitze, doch er wusste noch immer nicht, wer sie war. „Weißt du etwas über Schneewolke und Hummelschatten? Wie geht es ihnen? Sind sie auch auf dem richtigen Weg?“ „Sei unbesorgt, lieber Sturmherz. Wir alle wachen über euch, auch wenn ihr uns nicht sehen könnt. Geht zu dem Ort, an dem der SternenClan in strahlender Pracht am Himmel tanzt.“ „Ich …“ Tausend Fragen wirbelten in seinem Kopf umher. „Wieso hilfst du mir immer?“ „Ich helfe dir, damit du meinem Clan helfen kannst.“ „Du …“ Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Du bist nicht aus dem FeuerClan, nicht wahr?“ Sie lächelte. „Vor vielen, vielen Generationen waren alle Clans eins. Sind wir es dann nicht immer noch?“ „Nein. Ja. Ach, ich weiß es nicht.“ Frustriert starrte er in die das silberblaue Licht hinaus, das nicht wie sonst seinen vertrauten Wald formte, sondern eine lose Umgebung, gleichmäßig wie Wellen, aber ohne feste Formen. „Wo sind wir hier? Das ist nicht der SternenClan, nicht wahr?“ „Es ist nicht das, was du kennst. Wenn die Clans vom Heiligen Berg in eine neue Heimat ziehen, muss auch ihr SternenClan erst mitkommen. Wir können nicht überall gleichzeitig sein.“ „Aber du bist mit mir mitgekommen? Mit uns allen? Wieso tust du so etwas?“ „Das sagte ich doch bereits. Ich helfe dir, damit du meinem Clan helfen kannst. Alle Clans brauchen einander, Sturmherz. Was früher eins war, muss wieder eins werden, um neu geboren werden zu können.“ Sie stand auf, streckte sich und lief zielstrebig in das silberblaue Licht hinein. „Warte, wo gehst du hin?“ „Den Rest deiner Reise musst du alleine schaffen, Sturmherz. Ich werde in der neuen Heimat auf dich warten.“ „Ich dachte, der SternenClan kann nicht einfach zwischen der neuen und der alten Heimat hin und her wechseln?“ „Oh, die anderen können das auch nicht.“ Ein verschmitzter Ausdruck trat in ihr Gesicht. „Das können nur die, die in zwei SternenClans zu Hause sind. Wir alle warten nur auf den Tag, an dem wir wieder vereint werden können, so wie es schon immer sein sollte.“ Sie begann bereits zu verblassen. Sturmherz starrte sie einige Herzschläge lang einfach nur an. „In zwei SternenClans? Wie ist das möglich? Was bedeutet das?“ Ein letztes Mal wehte ihr unverkennbarer Duft wie eine Blumenwiese an einem sonnigen Sommermorgen um ihn herum, streichelte zärtlich über sein Fell. „Wer bist du? Sag es mir, bitte!“ „Du kennst meinen Namen bereits.“ Ihr Körper war durchsichtig, ihre Konturen lösten sich auf, ihre Stimme war ein fernes Echo. „Dann sag ihn mir!“ Ihr Lachen war so klar wie ein Gebirgsbach. „Mondstern.“ Hosted by Animexx e.V. 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