Zugelaufen von Kunoichi (Wichtelgeschichte für Izy) ================================================================================ Kapitel 1: Zugelaufen --------------------- Nur drei Sekunden. Ich hätte schwören können: Es waren nur drei Sekunden, in denen ich meine Augen kurz geschlossen hatte. Doch als der Bus mit einem Ruck zum Stillstand kommt und ich dabei fast kopfüber vom Sitz segle, hätten mir die Straßen und Häuser draußen vor dem Fenster nicht fremder vorkommen können. Wie benebelt setze ich mich auf und blinzle gegen das grelle Licht, das das Fahrzeug taghell erleuchtet, während hinter der Scheibe bereits stockfinstere Nacht herrscht. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren, denn es fühlt sich an, als schwebe mein Kopf noch einen halben Meter über dem Hals und müsse erst wieder auf seinem rechtmäßigen Platz landen. Außer mir ist nur noch eine weitere Person im Bus. Ein junges Mädchen in Schuluniform, kaum jünger als ich, sitzt einige Reihen vor mir und blättert in einem Magazin. Ihr langer Pferdeschwanz baumelt im Takt der Fahrt hin und her, als sich der Bus wieder in Bewegung setzt. Rasch greife ich nach meiner Gitarre und hangle mich vorsichtig zu ihr nach vorne. „Verzeihung“, spreche ich sie an und sie wendet überrascht den Kopf, schaut mich aus großen, fragenden Augen an und zieht sich dann die Kopfhörer aus den Ohren. „Entschuldige“, wiederhole ich nun etwas eindringlicher. „Kannst du mir sagen, wo wir gerade sind?“ „Gleich in Ueno“, antwortet sie. „Dort drüben ist der Park.“ Sie zeigt mit dem Finger hinaus auf einen fernen Fleck im schwarzen Nichts, doch ich sehe nur mein blasses, abgespanntes Spiegelbild. Na, das Make-up saß auch schon mal besser. „Danke“, seufze ich, erleichtert über ihre Aussage. Mein Apartment ist von hier aus zwar nicht gerade um die Ecke, aber entgegen meiner Befürchtung haben wir Tokyo noch nicht verlassen und wenn ich gleich aussteige, kann ich den Weg in knapp einer Stunde zurücklegen. Ich habe keine Uhr dabei und das Mädchen hat ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Musik gewidmet, sodass ich sie kein zweites Mal stören mag, aber es ist offensichtlich schon sehr spät. Auf einen Bus in die Gegenrichtung würde ich um diese Zeit wohl ewig warten und vom Geld für ein Taxi wollen wir besser gar nicht erst anfangen… An der nächsten Haltestelle werde ich, kaum dass ich auf den Bürgersteig hinausgetreten bin, von einem ungeahnt kühlen Wind begrüßt. Ich richte den Kragen meiner Lederjacke auf und ziehe den Reißverschluss hoch bis zum Kinn. Zumindest sind meine Lebensgeister jetzt wieder aus ihrem Koma erwacht. Dafür, dass es schon Mai ist, ist das Wetter das reinste Intermezzo: Die Nächte sind winterlich kalt, die Tage sommerlich warm. Da kann man anziehen, was man will, es ist immer das Falsche. Ich werfe mir die Tasche mit meiner Gitarre über die Schulter und marschiere zügig die Hauptstraße hinunter – an Hochhäusern und Wohnblöcken vorbei, dessen unzählige Fenster in die Dunkelheit stahlen, wie Sterne am Himmel. Passanten kommen mir nur selten entgegen. Ich vermute mal, dass die meisten schon längst zu Hause sind. Genauso wie Hachi. Oh je, hoffentlich wartet sie nicht mit dem Essen auf mich. Schlagartig bekomme ich ein schlechtes Gewissen und schreite noch ein bisschen schneller aus. So wie ich meine Mitbewohnerin kenne, wird sie treuherzig ausharren, bis ich wieder da bin, bevor sie etwas isst oder ins Bett geht. Immerhin rechnet sie nicht damit, dass es heute so spät wird und ich kann sie nicht mal anrufen, um ihr zu sagen, wo ich stecke, denn ich besitze ja kein Handy. Verdammter Shin! Hätte er vorhin bei der Bandprobe keine Faxen gemacht, hätte ich noch einen Bus eher erwischt. Dieser kleine Bengel! Andererseits ist es meine eigene Schuld, dass ich während der Fahrt eingeschlafen bin, da gibt es leider nichts dran zu rütteln. Ich nehme eine Abkürzung über Privatgelände, quetsche mich durch eine schmale Seitengasse und renne bei Rot über die Ampel, als kein Verkehr in Sicht ist. Trotzdem habe ich den Eindruck, niemals ans Ziel zu kommen. Ich bin komplett außer Atem und muss mich zum Durchschnaufen auf meine Knie stützen, als ich endlich die Eingangstür unseres Wohnhauses erreiche. Dabei steht mir das Schlimmste noch bevor: Ein Treppenmarathon bis in den siebten Stock. Langsam wandert mein Blick das Gebäude hinauf und findet unser Küchenfenster. Es brennt noch Licht. Ich hab‘s doch gewusst! Während ich mühselig Stufe um Stufe erklimme, male ich mir in der Fantasie bereits die Szene aus, die ich meine, gleich vorzufinden. Hachi wird an gedecktem Tisch sitzen, mit einer solchen Menge selbstgekochtem Essen, dass es auch für eine ganze Sportmannschaft reichen würde. Sie wird aufspringen, wenn ich das Apartment betrete, mich freudig begrüßen und fragen, wie mein Tag gewesen ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie auch äußern, sie habe sich Sorgen gemacht, weil ich nicht schon früher heimgekommen bin. Bei dieser Vorstellung stielt sich ein sanftes Lächeln auf meine Lippen. Einerseits bin ich diese Fürsorge und Aufdringlichkeit nicht gewohnt, andererseits genieße ich sie sehr. Es ist fast so, als habe ich einen kleinen Hund. Ich kann es nicht verhindern – der Gedanke kommt mir immer wieder. Erschöpft bleibe ich vor der Wohnungstür stehen und krame nach meinem Schlüssel, als von innen plötzlich ein lautes Kläffen ertönt und mir beinahe alles aus den Händen fällt. Jetzt ist es passiert: Hachi hat sich in einen Hund verwandelt! Ach, was für ein Blödsinn! Wir sind hier doch nicht im Anime! Ich schnappe mir meinen Schlüssel, drehe ihn im Schloss und stoße schwungvoll die Tür auf. Mir bleibt kaum Zeit mich umzusehen, da springt schon ein kleines braunes Fellbündel an meiner Hose hoch. Der Hund muss noch jung sein, denn er schnappt verspielt nach einem Schnürsenkel, tänzelt um mich herum und läuft dann zu Hachi zurück, als ich ihm nicht mehr interessant genug erscheine. Diese sitzt kichernd vor unserem Küchentisch auf dem Boden und nimmt den kleinen Kerl mit offenen Armen in Empfang. „Was zur Hölle-“, beginne ich entgeistert und breche den Satz ab, weil ich nicht recht weiß, was ich sagen soll. „Nana, willkommen Zuhause“, ruft Hachi fröhlich. „Sieh nur, wen ich auf dem Heimweg aufgelesen hab! Er war ganz allein unterwegs und wäre fast von einem Auto überfahren worden.“ „Na, sowas“, murmele ich zerstreut, lehne meine Gitarre gegen die Wand und beuge mich zu Hachi und ihrem Findelkind hinunter. „Hast du niemanden gefunden, dem er gehört?“ „Ich habe überall rumgefragt, aber keiner wusste was“, antwortet sie und streichelt dem Hund zärtlich übers Fell. Es ist rostbraun und stoppelig, wirkt aber gepflegt. Ich kraule ihm den Kopf, lasse meine Finger belecken und schaue dabei, ob er ein Halsband trägt. Fehlanzeige. „Aber er muss einen Besitzer haben“, sage ich. „Wo genau hast du ihn gefunden?“ „Zwei Straßen von meiner Arbeitsstelle entfernt.“ Das überrascht mich wenig. In der Nähe gibt es eine reiche Gegend und wer in Tokyo hätte auch sonst genug Zeit, Platz und Geld für ein Haustier? Ich richte mich wieder auf, ziehe meine Jacke aus und lasse mich auf die Sitzbank plumpsen. Der kleine Hund hat sich aus Hachis Umklammerung gewunden und ist jetzt unter den Tisch gekrochen. Er schnüffelt und schmatzt und ich nehme an, er hat irgendwo noch ein paar Krümel gefunden. „Du weißt, dass wir ihn nicht behalten können?“, lasse ich behutsam anklingen und taxiere meine Freundin mit strengem Blick. „Hunde sind hier im Haus verboten und so sauber und zutraulich wie er ist, wird er garantiert jemandem gehören.“ Hachi sieht mich nicht an, nickt aber unmerklich. Sie ist klug genug um zu wissen, dass ich recht habe. Ich greife in meine Hosentasche und taste nach meiner Zigarettenschachtel, doch die Packung ist leer. Ach ja, die letzte habe ich geraucht, bevor ich in den Bus gestiegen bin. Wie ärgerlich! Ich hätte jetzt so gerne eine… „Wahrscheinlich ist es das Beste, wir bringen ihn morgen in ein Tierheim“, fahre ich schließlich fort und zucke erschrocken zurück, als Hachi voller Empörung aufspringt. „Unmöglich!“, protestiert sie. „Da kommt er in einen winzigen Käfig und wird bestimmt ganz schlecht behandelt. Das kannst du ihm nicht antun! Sieh doch nur, wie süß er ist!“ Sie greift unter den Tisch, holt den Hund hervor und setzt ihn auf meinem Schoß ab. Stimmt, er ist wirklich niedlich, wie er mit seinem Schwänzchen wedelt, die Schlappohren anlegt und mich aus hilflosen Knopfaugen anstarrt. Da werde selbst ich schwach. Aber es ändert nichts daran, dass wir schnell eine Lösung für ihn brauchen. „Gut, du hast gewonnen“, gebe ich nach. „Wir überlegen morgen weiter, was wir mit ihm machen.“ Hachi fällt mir mit einem Jubelschrei um den Hals und hüpft dann mit dem armen Hund durch unsere Wohnung. Es ist bemerkenswert, wie schnell man sie glücklich machen kann. Seltsamerweise macht es auch mich glücklich, sie so zu sehen. „Ich habe beschlossen, ihn Cookie zu nennen“, verkündet sie freudestrahlend und ich verbeiße mir den Kommentar, dass es sinnlos sei, ihm einen Namen zu geben, wenn man ihn ja doch nicht behalten könne. „Vorhin, bevor du gekommen bist, hat er die ganzen Kekse aufgefressen, die auf meinem Bett lagen.“ „Apropos Essen.“ Vor lauter Aufregung habe ich gar nicht bemerkt, was für einen Bärenhunger ich habe, doch nun meldet sich mein Magen lautstark zu Wort. „Haben wir noch irgendwas im Kühlschrank?“ Ich kann förmlich dabei zusehen, wie alle Farbe aus Hachis Gesicht verschwindet. „Oh nein“, japst sie. „Ich habe völlig vergessen zu kochen. Oh Nana, es tut mir schrecklich leid!“ Sie macht eine dermaßen betretene Miene, dass ich anfangen muss zu lachen. „Ist doch nicht schlimm“, sage ich und meine es wirklich so. „Du hattest eben andere Sorgen. Ich gehe schnell zum Combini um die Ecke, dann kann ich mir auch gleich noch Zigaretten holen.“ „Nein, auf keinen Fall! Es ist meine Schuld, also werde ich gehen.“ In Windeseile hat Hachi ihre Jacke übergeworfen und die Türklinke in der Hand. Ich schaffe es gerade noch, sie im Hausflur abzubremsen. „Pass du lieber auf den Zwerg auf“, bestimme ich und dirigiere sie zurück ins Apartment, „bevor er noch etwas anderes frisst.“ „Geht das wirklich in Ordnung?“ „Wirklich!“ Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust, noch mal rauszugehen. Es ist dunkel, kalt und ungemütlich und ich bin furchtbar kaputt. Aber Hachi ist ja nicht verpflichtet, uns beide mit Essen zu versorgen und weil sie es trotzdem wesentlich öfter tut als ich, springe ich heute auch gern in die Bresche. Der Combini liegt hinter einer Autobahnbrücke an einer belebten Straße, die um diese Uhrzeit natürlich völlig ausgestorben ist. Ich brauche keine zehn Minuten Fußmarsch dorthin. Unschlüssig streife ich durch die Regale, nehme zwei Becher Fertignudeln und ein paar Onigiri heraus und frage mich, ob ich dem Hund auch etwas mitbringen soll. Ich entscheide mich dagegen, denn immerhin hat er sich schon an den Keksen bedient und richtiges Futter gibt es hier sowieso nicht zu kaufen. Auf dem Weg zur Kasse sticht mir das Cover eines Jugendmagazins in die Augen, das zwischen diversen Manga und Moderatgebern im Zeitschriftenständer steckt. Es preist die Trigger-Tour von Trapnest an und verspricht ein „alles enthüllendes Interview“. Rens Haltung und Mimik sind für die Kamera perfekt inszeniert und wirken auf mich steif und unnatürlich. Vielleicht liegt das aber auch schlicht daran, dass ich ihn zu gut kenne. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Hachi zuzusagen, nächste Woche mit aufs Konzert zu kommen. Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, ihn wiederzusehen… Bepackt mit Lebensmitteln und Zigaretten mache ich mich auf den Rückweg. Mein Kopf ist immer noch damit beschäftigt, herauszufinden, was mein Herz mir sagen will und so bin ich überrascht, wie schnell ich wieder vor unserem Apartment stehe. „Bin zurück“, sage ich, während ich aufschließe, und wappne mich für den nächsten Sturmangriff, doch in der Küche bewegt sich nichts. Verwundert stelle ich die Einkaufstüte ab und suche nach einer Spur von Hachi. Ihre Zimmertür steht einen spaltbreit auf und als ich einen Blick riskiere, entdecke ich sie zusammen mit dem Hund auf ihrem Bett liegen – eingerollt, aneinander gekuschelt und tief und fest schlafend. Was für ein Bild! Ich vergesse für den Moment sogar, dass ich Tiere im Bett eigentlich nicht gutheiße. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich rein und breite eine Decke über die beiden aus. Dann lösche ich das Licht, drehe mich noch ein letztes Mal um und kann immer weniger verstehen, wie Shouji dieses gutmütige, aufopferungsvolle Mädchen jemals betrügen konnte. Der nächste Morgen beginnt früh – viel zu früh. Wenn ich mich nicht täusche, müsste Hachi heute frei haben und deshalb irritiert es mich umso mehr, als schon gegen sieben Uhr das Wasser im Badezimmer läuft. Murrend drehe ich mich auf die Seite und vergrabe mein Gesicht im Kissen. Sonnenlicht flutet durch die Gardinen und ich höre von draußen die Vögel zwitschern. Hinzu kommen aus der Küche leise Schritte, das Tapsen von Hundepfötchen und gedämpftes Bellen. Für eine Weile lässt es sich ignorieren, doch dann siegt schließlich Neugierde über Müdigkeit und ich wälze mich verschlafen aus den Federn. Wer weiß, was mich diesmal erwartet. Hachi ist im Bad, hat die Tür aber speerangelweit aufgelassen. Sie lehnt über der Badewanne, in der einen Hand einen Schwamm, mit der anderen nach Leibeskräften bemüht, den Hund still zu halten, der sich immer wieder schüttelt und alles um sich herum nassspritzt. „Was machst du da?“, frage ich überflüssigerweise und Hachi fährt erschrocken herum. „Entschuldige, Nana! Hab ich dich geweckt? Ich wollte schon längst fertig sein, aber Cookie sträubt sich gegen das Baden“, klagt sie. „Kann ich ihm nicht verdenken. Warum machst du das überhaupt? Er ist doch gar nicht schmutzig.“ „Aber ich möchte gleich mit ihm spazieren gehen und dafür soll er hübsch aussehen.“ Es ist herrlich, wie naiv sie manchmal ist. Ich habe zwar auch noch nie einen Hund besessen, aber im Gegensatz zu mir, scheint Hachi noch viel ahnungsloser zu sein. „Da hast du aber viel zu tun, wenn du ihn vor jedem Spaziergang waschen willst“, pruste ich los. „Das braucht man nicht. Sowas macht keiner. Ist im Übrigen gar nicht gesund fürs Fell.“ Hachis Wangen nehmen einen dunklen Rotton an und sie grummelt was von „doch nicht jedes Mal“. Ich helfe ihr, den Hund aus der Wanne zu heben und mit Handtüchern trocken zu rubbeln. Das ist schwieriger, als ein Stück Seife mit den Händen zu fangen und am Ende steht unser ganzes Badezimmer unter Wasser. Als selbst unsere darauffolgende Putzaktion in ein Chaos ausartet, weil der Hund beim Herumtollen einen vollen Eimer umwirft, beschließen wir, die Sauerei erst nach dem Spaziergang zu beseitigen. Aus einem Lederarmband und einer Kordel improvisieren wir eine Leine. Dann huschen wir eilig durchs Treppenhaus, damit keiner der Nachbarn uns mit einem Tier sieht und an die Hausverwaltung verpetzt. Ich fühle mich wie ein Ninja auf geheimer Mission – und das alles noch vor dem Frühstück! Das Wetter verspricht einen herrlich warmen Frühlingstag, die Luft ist erfüllt von frischem Blumenduft. Wir schlendern gemütlich am Fluss entlang und lassen den Hund Schmetterlinge jagen. An einem Straßenstand kaufen wir zwei Bentoboxen und fläzen uns ins hohe Gras. Das könnte glatt für immer so bleiben! Schade, dass es nicht geht. „Hast du schon darüber nachgedacht, wie wir seinen Besitzer ausfindig machen?“, frage ich an Hachi gewandt und sie schüttelt den Kopf. „Wir könnten die Bandmitglieder um Hilfe bitten“, überlege ich laut, „oder wir gehen fürs Erste zu dem Ort zurück, an dem er dir zugelaufen ist. Dort sucht ihn bestimmt schon jemand.“ „Hm.“ Ich merke sofort, dass ihr irgendwas nicht passt. „Nicht gut?“, hake ich nach. „Doch, schon“, entgegnet sie knapp und wir stehen auf, packen unseren Müll zusammen und ziehen los in Richtung U-Bahn. Ich möchte zu gerne wissen, was in ihr vorgeht. Die ganze Fahrt über ist sie seltsam still und als wir aussteigen, scheint sie absichtlich zu trödeln. Halb genervt schiebe ich sie durch den Fahrkartenentwerter und schleife sie die Treppe hinauf. Die Straße, auf der wir rauskommen, ist eine lange Einkaufsmeile mit Souvenirshops, Elektronikläden, Spielhallen und Burgerbuden. In den oberen Etagen liegen die Büros, in denen auch Hachi angestellt ist. „Wir sollten die Leute in den Geschäften fragen“, schlage ich vor. „Das hab ich gestern schon gemacht.“ „Vielleicht wissen sie ja heute mehr.“ „Vielleicht auch nicht.“ Langsam bin ich mit meinem Latein echt am Ende. Hachi steht da wie angewurzelt und macht keinerlei Anstalten, mich bei unserem Vorhaben zu unterstützen. Gerade hole ich Luft, um meinem Unmut Ausdruck zu verleihen, da fällt mir ein Flugblatt auf, das neben der Straße an einem Laternenmast hängt. Der Hund auf dem großen Foto, das unter der Zeile „Vermisst“ prangt, kommt mir verdächtig bekannt vor. Ich reiße die Anzeige runter und halte sie Hachi unter die Nase. „Wir haben Glück“, sage ich. „Es ist sogar eine Telefonnummer drauf. Hast du zufällig dein Handy dabei?“ „Das ist nicht Cookie.“ Ich falle beinahe aus allen Wolken. Ist das ihr Ernst? „Klar ist er das! Guck mal richtig hin!“ Energisch deute ich auf die ganz unverkennbaren Merkmale. Wie kann sie das nicht sehen? „Das ist er nicht“, beharrt sie. „Ich bin mir ganz sicher.“ Gleich platzt mir der Kragen. „Gut, dann gib mir das Handy!“, fauche ich und strecke die Hand aus. „Die Person am Telefon wird es uns schon bestätigen. Einen Versuch ist es wert.“ Doch Hachi rührt sich nicht. Kann ein Mensch so verbohrt sein? „Ich will ihn nicht in die falschen Hände geben“, nuschelt sie. „Ich glaube, es war Schicksal, dass ich ihn gefunden habe und wenn er mir gehören würde-“ „ER GEHÖRT DIR ABER NICHT!“ Hachi verstummt augenblicklich. Sie bebt am ganzen Leib, schlägt die Hände vors Gesicht und fängt an zu weinen. Verdammt, das wollte ich nicht! Der Hund springt laut winselnd und wie ein Flummi an ihren Beinen auf und ab, bekommt aber keine Aufmerksamkeit. Beklommen trete ich an meine Freundin heran und ziehe ihre Hände in meine. „Irgendwo hier“, sage ich ruhig, „gibt es jemanden, der sehr traurig ist, weil sein kleiner Hund ihm fehlt. Möchtest du das wirklich?“ „Nein“, presst Hachi unter schluchzen hervor. „Es war nur so schön, mich um ihn kümmern zu können. Wir hatten so viel Spaß. Wenn er weg ist, dann – dann – muss ich ja wieder alleine schlafen.“ Und plötzlich verstehe ich es. Mein Gott, wie blind ich war! All das fröhliche Getue, die ganze übertriebene Vorfreude auf das Trapnest-Konzert, die gespielte Sorglosigkeit… Auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Wie konnte ich auch annehmen, dass sie innerhalb einer Woche über Shouji hinweg sein würde? Noch bevor ich meine Erkenntnis komplett realisiert habe, zückt Hachi ihr Handy und wählt die Nummer von dem Flugblatt. „Ha-Hallo?“, sagt sie mit zittriger Stimme und bemüht sich, nicht allzu verweint zu klingen. „Ich heiße Komatsu Nana und ich – Ja. Ja, genau. Ich hab ihn. – Wohin?“ Sie brummt ein paar Mal, um zu signalisieren, dass sie verstanden hat, verabschiedet sich dann höflich und legt auf. Ich bin unglaublich stolz auf sie. Schweigend führt sie mich über eine Kreuzung, dann über eine weitere und an einer Gabelung nach rechts, vorbei an einem kleinen Tempel. Die Umgebung hier hebt sich von dem Großstadtjungle Tokyos ein wenig ab. Es ist grüner, es gibt Gärten und die Häuser sind älter, aber zum Teil teuer restauriert. Ich merke, wie der Hund beginnt an der Leine zu ziehen und uns zu einem der Anwesen lenkt. Bevor wir die Pforte passieren, halten wir zum Abschied an und Hachi beugt sich zu dem Hund hinunter, atmet tief ein und aus und streichelt ihn ein letztes Mal. Sie reißt sich wirklich zusammen. An der Tür wird uns von einer rundlichen Frau geöffnet. „Dem Himmel sei Dank!“, stößt sie aus. „Wir haben nur eine Sekunde nicht aufgepasst und da war er schon weg. Kana, komm schnell her!“ Das Mädchen, das sich an der Frau vorbeidrückt, ist keine acht Jahre alt. Als der Hund sie sieht, fiept und quietscht er, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe, wedelt wild mit dem Schwanz und ist kaum mehr zu halten. Die Kleine fällt auf die Knie und drückt das Tier überglücklich an ihre Brust. Ich habe noch nie etwas so rührendes gesehen. Sie bedankt sich bestimmt tausend Mal und ihre Mutter will uns unbedingt hereinbitten und sogar Finderlohn geben, aber ich merke Hachi an, dass sie gerne wieder nach Hause möchte und so lehnen wir bescheiden ab. „Du hast das Richtige getan“, sage ich, nachdem wir fast das Ende der Straße erreicht haben und es sind die ersten Worte, die wir seit unserem Streit miteinander wechseln. „Manche Dinge lassen sich einfach nicht durch andere ersetzen.“ Ich glaube, sie weiß sehr genau, wovon ich rede. „Das denke ich auch“, erwidert Hachi leise. „Ich muss mich wohl bei dir entschuldigen. Ich war egoistisch und wollte den Hund für mich behalten. Dabei hätte ich ihn ja gar nicht versorgen können, wenn ich arbeiten gehe. Und daran, wie sich sein Besitzer wohl fühlen mag, habe ich auch überhaupt nicht gedacht.“ „Ja, das war blöd“, stimme ich zu, „aber wenn sich jemand entschuldigen sollte, bin das wohl ich. Ich hätte nicht schreien dürfen. Tut mir leid.“ Ich lege meinen Arm um Hachi und freue mich, als sie es mir gleichtut. „Trotzdem werde ich das Kerlchen vermissen“, seufzt sie ein wenig melancholisch. „Du kannst dich auch gerne um mich kümmern, wenn du möchtest“, biete ich ihr scherzhaft an und bin erleichtert, sie endlich wieder Lächeln zu sehen. „Nur baden brauchst du mich nicht. Es reicht mir, wenn du ab und zu was Leckeres für mich kochst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)