Als Helden geboren von caty ================================================================================ Prolog: -------- „Ich halte das immer noch für eine schlechte Idee.“, verkündete ich und wusste zugleich nicht mehr, wie oft ich dies bereits erwähnt hatte. Eigentlich war mir klar, dass es keinen Zweck hatte. Wenn sich Arias etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann saß das fest bis es umgesetzt worden war. Der wahre Narr war ich selbst, weil ich mich immer wieder breitschlagen ließ mitzumachen. „Ganz im Gegenteil, mein Freund! Das ist nicht nur eine gute Idee, sondern sogar unsere Pflicht als Helden, uns der Sache anzunehmen!“, entgegnete Arias mit den ihm üblichen pathetischen Heldenallüren und ging zielstrebig weiter. Die kühle Nachtluft strich mir durch das kurze, zerzauste Haar und ich stellte den Kragen meines Kapuzenmantels auf. Die Tage wurden kälter und ich konnte mir wahrlich Besseres vorstellen als mich nachts nach der Sperrstunde aus der Ausbildungskaserne zu schleichen, die mein und Arias’ Zuhause war. „Zuhause“ wohl nur in dem Sinne, dass wir dort lebten, denn ein richtiges Zuhause… ich glaubte nicht, dass ich so etwas jemals hatte. Ich erinnerte mich noch vage an das Gefühl, eine Familie zu haben. Eltern und Geschwister, doch wenn diese Erinnerungen einmal glücklich gewesen waren, wurden sie spätestens dann von einem dunklen Schatten überzogen als meine Mutter nach dem Tod meines Vaters von Geldnot getrieben entschieden hatte, mich an diese Ausbildungsstätte zu verkaufen. Der Ort für waise, heimatlose oder einfach ungewollte Kinder, an dem wir zu Kriegern ausgebildet wurden, um unserem Leben zum Zwecke des Königreiches einen Sinn zu geben. Mit sechs Jahren kam ich hierher. Inzwischen war ich ein heranwachsender Mann von 15. Man gewöhnte sich an alles. Ich hatte mein Schicksal vor langem akzeptiert und schließlich war ich nicht der einzige hier. Jeder von uns hatte seine eigene traurige Geschichte und es lohnte sich nicht, in Selbstmitleid zu vergehen. Die Akademie mochte nicht der herzlichste oder kinderfreundlichste Ort sein, aber zumindest waren wir am Leben und nicht alleine! „Außerdem…“, Arias wandte sich nun doch zu mir um und grinste mir entgegen, „kannst du gerne zurückgehen, wenn du willst. ‚Ich zwinge dich zu nichts. Nur glaub ja nicht, dass ich dann die Lorbeeren mit dir teile.“ „Die darfst du gerne behalten.“, erwiderte ich, ohne aber Anstalten zu machen umzudrehen, „Ich komm nur mit, weil ja irgendwer aufpassen muss, dass dein durchgeplanter ‚Heldentod’ nicht zu früh eintritt.“ „Haha, so spricht ein wahrer Freund!“, meinte Arias lachend und klopfte mir gut gelaunt auf die Schulter, „Und wer sollte schließlich im Falle meines Heldentodes meine letzten Worte verewigen, wenn niemand da wäre sie zu hören? Ich nehme an, das ist ein wesentlicher Grund, weshalb jeder Held einen treuen Gefährten an seiner Seite braucht.“ Mit einem etwas bitteren Lächeln schüttelte ich den Kopf, unterließ es aber, mich weiter auf dieses Thema einzulassen. Arias von seinem Tod sprechen zu hören – gleich, ob ernst gemeint oder scherzend – bereitete mir jedes Mal ein mulmiges Gefühl im Magen. Tatsächlich war eben dies der wesentliche Grund, weshalb ich auch heute Nacht wieder mein warmes Bett verlassen hatte und bereit war, die Strafe zu riskieren, die uns erwarten würde, wenn unser nächtlicher Ausflug bemerkt werden würde. Keine Strafe könnte schmerzhafter sein als das Gefühl, mit dem ich Leben müsste, wenn ich Arias alleine losziehen ließe und ihm dabei etwas zustoßen würde. Arias war vor etwa vier Jahren in die Akademie gekommen. Man hatte ihn auf etwa neun Jahre geschätzt und zu diesem Zeitpunkt war er mehr tot als lebendig gewesen. Eine Schwertklinge hatte seinen Brustkorb durchbohrt und nur knapp sein Herz verfehlt. Ein paar Händler hatten ihn in diesem Zustand im gefürchteten Niemandsland gefunden und… verhandelt. Sie selbst hatten keine Verwendung für einen halbtoten Jungen also verkauften sie ihn an die Akademie. Zwar war anfangs nicht klar, ob er das Geld wert wäre oder einfach wegsterben würde, aber die Tatsache, dass er sich trotz der schweren Verwundung so lange am Leben gehalten hatte, schien dem obersten Ausbilder zu imponieren. Da ich schon lange genug in der Akademie lebte und als gewissenhaft und pflichtbewusst galt, wurde mir dann wohl die Aufgabe zuteil, mich ein wenig um unseren Neuzugang zu kümmern. Dabei zu helfen, ihn gesund zu pflegen, ihn mit allem hier vertraut zu machen und die Regeln zu erklären, sobald sein Zustand es zuließ. Und irgendwie tat ich das wohl bis heute. Nicht, dass es etwas bringen würde, Arias immer wieder die Regeln zu erklären, die er sich immer so drehte wie es ihm gerade am besten passte, aber… er war mir inzwischen die wichtigste Person in meinem Leben. Trotz seiner großen Klappe, den wahnwitzigen Ideen, der ständigen Selbstbeweihräucherung, den Heldenallüren und dem Drang, überall wo er war, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war er der beste und treuste Freund, den ich je hatte. Das Leben in der Kaserne hatte sich verändert seit er da war. Es war alles irgendwie freundlicher, wärmer und bunter geworden. Auch wenn er anstrengend und manchmal ziemlich nervig sein konnte, brachte er die Leute in seinem Umkreis zum lachen und gab ihnen das, was ihnen gefehlt hatte, ohne dass sie sich dessen selbst bewusst waren. Ich konnte es schwer in Worte fassen, aber ich wusste, dass ich alles für diesen Jungen tun würde und es nicht ertragen könnte, ein Leben zu führen in dem es ihn nicht mehr gab. „Nun denn, klär mich auf! Welche Heldentaten stehen für den ‚furchtlosen Arias’ heute auf dem Programm?“, fragte ich schließlich in Anspielung auf die ruhmreichen Geschichten, die er gerne von sich zum besten gab. „Jetzt fängst du an, die richtigen Fragen zu stellen!“, meinte Arias mit unermüdlichem Enthusiasmus und ließ mit der Antwort dann nicht lange auf sich warten, „Also folgender Fall: Bei meinem letzten Besuch in unser schönes Nachbardörfchen Kronsteg kam mir durch zuverlässige Quellen zu Ohren, dass ein paar Dorfbewohner vermisst werden, nachdem diese zuletzt im nahen Wald unterwegs waren. Die Angst ist groß, dass sich eine blutrünstige Bestie in dem Wald heimisch gemacht hat und auf Reisende, Jäger oder Kräuter sammelnde Frauen lauert. Naja oder eben alle anderen, die irgendetwas in dem Wald zu suchen haben. Und da sich dieses arme, tyrannisierte Dorf schon in unmittelbarer Nähe zu unserer Ausbildungsstätte befindet, sehe ich dies als unmissverständlichen Wink des Schicksals, dass unsere Hilfe gefordert ist, diesen verängstigten Leuten ein Gefühl von Sicherheit zurückzugeben!“ Ich schmunzelte unwillkürlich bei diesem inbrünstigen Bericht. Es war gleichgültig ob es sich um verschwundene Dorfbewohner oder den Küchendienst in der Kaserne handelte, wenn Arias etwas erzählte klang es immer als ginge es um die Errettung der Welt. „Gut. Um wie viele Dorfbewohner handelt es sich? Und wann ist der letzte verschwunden?“, hakte ich nach, denn wenn wir diesen „Fall“ schon bearbeiteten, wollte ich einen Eindruck dessen haben, auf was wir uns einließen. „Um… mehr als einen und der letzte verschwand… erst kürzlich.“ „Du hast keine Ahnung!“, folgerte ich aus den nachdenklichen Pausen und der wenig aufschlussreichen Antwort meines Freundes. „Hey, ich sagte etwas von ‚zuverlässigen Quellen’, nicht von sonderlich informativen.“, rechtfertigte er sich grinsend mit einem sachten Schulternzucken, „Aber wir werden die Antworten darauf noch in Erfahrung bringen! Dazu haben wir nun zwei Optionen: Entweder wir hören uns im Dorf nochmal genauer in meiner Lieblingstaverne um und versuchen Näheres zu den Vorfällen zu erfahren. Oder wir verlassen uns auf das ‚Glück der Helden’, unsere ausgezeichneten Instinkte und Fährtensuchfähigkeiten und gehen direkt in den Wald auf Monsterjagd. Mit etwas Glück findet diese Kreatur ja auch uns und erspart uns die Suche. Wenn sie so gefährlich ist und auf Eindringlinge des Waldes lauert, klingt das gar nicht so unwahrscheinlich. Aber die Entscheidung liegt bei dir, mein treuer Gefährte!“ Wie schon öfter kam mir Arias’ Definition von „Glück“ etwas seltsam vor und dass ein 13-jähriger von seiner „Lieblingstaverne“ sprach, mochte manch anderen auch etwas skeptisch machen, aber ich kannte ihn so und ließ mich daher nicht weiter beirren. Mir kam sogar kurz der Verdacht, dass sich Arias diesen Fall nur ausgedacht hatte, um mich irgendwie dazu zu bewegen, ihn auf einen nächtlichen Waldspaziergang oder Tavernenbesuch zu begleiten. Die Ausbildung in der Kaserne war sehr anspruchsvoll, aber im Wesentlichen ziemlich strukturiert und monoton. Da zudem nicht viel Freizeit blieb, wunderte es mich nicht, dass sich jemand wie Arias schnell zu langweilen begann, wenn er nicht hin und wieder ein wenig Abwechslung geboten bekam. Oder sich diese gegebenenfalls selbst suchte. Zuzutrauen war ihm so ziemlich alles. Wäre somit für mich die Frage, ob ich nun mehr Lust hatte, im Kalten durch einen dunklen Wald zu spazieren oder in einer Taverne eine Schar taumelnder Besoffener nach möglicherweise erfundenen Geschichten zu befragen… Entscheidungsfrage: a) In der Taverne umhören b) Direkt in den Wald Kapitel 1: Taverne ------------------ Wenn wir schon auf Monsterjagd gingen, hielt ich es für besser, vorher konkrete Hinweise zu sammeln, womit wir es vielleicht zu tun bekamen. Und sollte das alles nur Arias’ Vorwand sein um außerhalb der Ausbildungsstätte ein wenig „Lebensluft“ zu schnappen, zog ich bei dem kühlen Wetter eine warme Taverne dem dunklen Wald vor. Kronsteg war alles in allem ein eher beschauliches Dorf. Die Auswahl an Tavernen hielt sich somit in Grenzen und da ich Arias nicht erst seit gestern kannte, war mir seine Lieblingstaverne bereits bekannt. Schon als ich diese zum ersten Mal mit ihm besucht hatte, musste ich feststellen, dass dieser Ort wie für ihn geschaffen war! Das begann bereits bei dem Namen – „Zur einarmigen Elster“! Das Schild, das unter dem Namenszug hing, stellte passend dazu eine bizarre Zeichnung einer Elster dar, die auf der einen Seite einen normalen Flügel hatte, während ihr auf der anderen Seite ein Arm aus dem Rücken ragte, in dessen Hand ein Bierkrug gehalten wurde. Es erklärte sich wohl von selbst, dass Arias sich mit Bronx, dem Besitzer dieser Taverne, prächtig verstand! Sie hatten dieselbe Art von verqueren, möchtegerntiefsinnigen Humor und da Arias kaum etwas mehr liebte als Menschenmassen zu unterhalten, konnte Bronx sich darauf verlassen, immer volles Haus zu haben, sobald Arias ihn besuchen kam. Arias und ich bekamen hier seit geraumer Zeit alle Getränke aufs Haus. Alkoholische Freigetränke für zwei Heranwachsende! Zu Bronx’ Verteidigung – er hielt uns für zwei junge Männer in der Mitte unserer Zwanziger. Auch wenn das seltsam klingen mochte, war es leicht erklärt. Eine von Arias’ – wie er nie müde wurde zu betonen – „unzähligen Talenten“ war Illusionsmagie. Und was er damit alles anstellen konnte… das beeindruckte auch mich noch immer wieder. Hauptsächlich nutzte er diese Fähigkeit um seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen und Leute zu unterhalten. Taschenspielertricks, Feuershows ohne echtes Feuer, mehrstimmiger Gesang samt Begleitmusik, ohne dass irgendwer außer ihm sang oder Instrumente spielte oder Visualisierungen der Geschichten, die er erzählte, indem er seine Zuhörer in die Kulissen seiner Erzählungen entführte und ihnen den Eindruck vermittelte, wahrhaftig neben dem Helden zu stehen und alles als direkte Augenzeugen mit anzusehen. Und er wurde immer besser darin! Anfangs waren seine Illusionen transparent und durchschimmernd, inzwischen waren sie so massiv dass man sie regelrecht anfassen konnte. So als wären sie tatsächlich da. Manchmal wenn Arias unkonzentriert wurde, flackerte es noch, ließ kurz die Realität durchscheinen, aber neben dem Kampftraining arbeitete er hart daran, seine Fähigkeit zu perfektionieren. Wo es anfangs auch hauptsächlich nur die Augen waren, die er hatte täuschen können, so hatte er dies inzwischen auf alle Sinnesorgane ausgeweitet. Wenn er also wollte, dass ich mich mit ihm am Sandstrand eines weiten Meeres wiederfand, während am Horizont die Abendsonne unterging, konnte ich es nicht nur sehen! Sondern auch das Salz der Meeresluft riechen, das Rauschen der Wellen hören, den kühlen Wind auf meiner Haut und den Sand zwischen meinen Zehen spüren… Dass manche Personen über besondere Fähigkeiten verfügten war eher selten, aber bei weitem kein Einzelfall. Im Wesentlichen schien es eine Frage der Vererbung zu sein und war daher besonders im Adel nicht unüblich. Diese hatten schließlich genug Einfluss, Reichtum und Ansehen, um eine breite Auswahl zu haben, wenn es darum ging, mit wem sie ihren Nachwuchs zeugten. Hatte jemand eine besondere und am besten noch nützliche Fähigkeit in seiner Erblinie oder beherrschte gar selbst eine, zählte dieser oder diese als eine gute Partie. Dass Arias aber eine solche Fähigkeit besaß, hatte uns alle vor ein paar Jahren ziemlich überrascht. Nicht zuletzt wohl ihn selbst, denn nachdem er vor vier Jahren seine Verletzungen überlebt hatte und zu sich gekommen war, hatte er von sich nicht mehr gewusst als seinen Namen. Bis heute hatte sich an diesem Umstand nichts geändert. Nun ja, abgesehen davon, dass er irgendwie festgestellt hatte, dass er wohl ein Held war. Es gab viele Spekulationen zu Arias’ Herkunft innerhalb der Kaserne. Die meisten stammten nicht zuletzt von ihm selbst. Man könnte manchmal fast glauben, dass er es genoss, ein solches Mysterium zu sein. So konnte er sich zumindest jede Menge Geschichten dazu ausdenken und sich sein Leben, seine Familie und die Geschehnisse, die ihn zu uns gebracht hatten, selbst erfinden. Aber so überzeugend Arias’ Täuschungskünste auch sein mochten, diese Nummer zumindest kaufte ich ihm nicht ab! Ich war mir sicher, dass ihn die Unwissenheit seiner Herkunft mehr beschäftigte als er bereit war zuzugeben. Jedenfalls war es für Arias inzwischen nicht mehr viel mehr als eine Fingerübung, sich selbst und mich etwa zehn Jahre älter zu illusionieren, wenn wir wie heute einen abendlichen Ausflug unter die Leute machten. Und mir war das nur recht, denn sicherlich ersparte es uns einiges an seltsamen Blicken und Fragen. Schon bevor wir die Schänke betraten, drang das Scheppern von Bechern, das Geklapper von Geschirr und laute Stimmen an meine Ohren. Scheinbar war es trotz der vermissten Dorfbewohner gut besucht. Mollige Wärme empfing mich, nachdem ich hinter meinem Freund die Schänke betrat und die Kälte hinter uns aussperrte. Männer grölten alte Heimat- oder vulgäre Sauflieder, Damen schwatzten und kicherten und irgendwie schien jeder bestrebt zu sein, den anderen noch zu übertönen. Der Geruch von köstlichen Speisen, Alkohol und Pfeifenrauch ließ die Luft etwas stickiger werden, doch ich störte mich nicht daran und beobachtete mit einem Schmunzeln wie Arias diesen Geruch genüsslich einatmete. „Das hier ist das Leben, Lexilein!“, philosophierte er mit einem seligen Lächeln, „Sei froh, dass du mich hast, sonst würdest du nun langweilig in deinem warmen Bettchen liegen und alles verschlafen.“ „Ich Glückspilz!“, entgegnete ich trocken, konnte mein Lächeln aber nicht ganz verbergen. Tatsächlich konnte ich mir weit Schlimmeres vorstellen, als nun in einem warmen Bett zu liegen und zu schlafen, erst recht wenn man bedachte, was uns blühen würde, wenn die Ausbilder von unserem Ausflug Wind bekamen. Auf der anderen Seite konnte ich zumindest vor mir selbst nicht leugnen, dass wohl auch mir hin und wieder ein wenig Abwechslung und Abenteuer gut tat und ich zudem durchaus sehr froh war, Arias zu haben. Aber das vor ihm zugeben?! Als wäre sein Ego nicht bereits groß genug! Oh und Notiz am Rande: mein richtiger Name war eigentlich Alexiel! Arias war der einzige, der mich ‚Lexi’ nennen durfte und das letztendlich auch nur, weil er konsequenter darin gewesen war, diesen Spitznamen zu gebrauchen als ich darin, nicht darauf zu reagieren. Inzwischen war ich allerdings schon so weit, dass es sich für mich ungewohnt oder gar alarmierend anhörte, wenn Arias mich ausnahmsweise mal bei meinem vollen Namen nannte. Während wir uns einen Weg durch den Raum in Richtung Ausschank bahnten, bemerkte ich wie die Blicke einer Damenrunde uns folgten, was mir eine Spur heißer werden ließ. Es könnte schmeichelhaft sein, aber irgendwas sagte mir, dass die jungen Frauen uns nicht auf diese Weise ansehen würden, wenn sie erkennen könnten, wie alt beziehungsweise wie jung wir tatsächlich waren. Da Arias sich nicht bemühte, mich zu täuschen, konnte ich die Realität noch erkennen. Aber auch ich nahm ein Schemen dessen wahr, was für unser Umfeld aktuell wie manifeste Körper aussah. Wenn ich also Arias anschaute, sah ich den Jungen wie ich ihn kannte, aber zugleich wirkte es als wäre er von einer Art Geist eingehüllt. Ein Geist von einem hochgewachsenen, stattlichen jungen Mann. Bartschatten und etwas kantigere Gesichtszüge ließen ihn älter und reifer wirken, doch in den goldenen Augen saß der Schalk, der ihn auch heute auszeichnete. Arias’ Version von sich war natürlich größer als die, die er von mir erschuf, da er davon überzeugt war, größer zu sein als ich wenn wir erstmal ausgewachsen waren. Doch bedachte man, dass er aus mir eigentlich alles machen könnte was er wollte und mir gerne mal androhte, mich für andere wie eine attraktive Frau aussehen zu lassen, so konnte auch ich mich nicht beklagen. Bei den Gesichtszügen, der Augenfarbe und unseren Haaren orientierte er sich an unserem jetzigen aussehen und die Reaktion von Frauen auf unsere älteren Versionen hatten schon häufiger gezeigt, dass wir sicherlich nie einsam sein würden, wenn wir in zehn Jahren so aussahen, wie Arias es sich vorstellte. Vorausgesetzt natürlich es gelang mir, ihn so lange am Leben zu halten! „Hey Bronx! Ich hoffe, du hast noch ein wenig Met für deine liebsten Stammkunden übrig.“, grüßte Arias den Wirt gut gelaunt, während wir uns an einen freien Platz an der Theke stellten. Ähnlich wie bei dem Trugbild von Arias konnte ich ein begleitendes Echo seiner Stimme hören. Ein wenig tiefer als seine echte, aber von gleicher Klangfarbe. „Der Tag, an dem mir der Met für meine Lieblingskunden ausgeht, ist der Tag, an dem die Welt untergeht!“, prophezeite Bronx munter, der durch seine hünenhafte Statur bedrohlich wirken könnte, doch das aufgeschlossene, sympathische Lächeln, das er meist auf den Lippen trug, machte schnell deutlich, dass er zu der Gattung der ‚sanften Riesen’ gehörte. „Ach, das macht dann auch nichts mehr! Was wäre das schließlich für eine trostlose Welt ohne Met?!“, entgegnete Arias theatralisch, während Bronx mit einem inbrünstigen „Du sagst es!“ zwei Krüge füllte und diese vor uns auf den Tresen stellte. „Wohl bekomms, Jungs!“, meinte er noch und wir nahmen dankend unsere Krüge entgegen, ehe Bronx sich anderer Kundschaft zuwenden musste. „Gut, also raus mit der Sprache!“, forderte ich meinen Freund dann mit einem wissenden Schmunzeln auf, „Es gibt keine verschollenen Dorfbewohner oder eine Monsterjagd, hab ich Recht? Sonst würden wir ja nun wohl kaum Alkohol trinken.“ Arias, der gerade den Krug gehoben hatte um vermutlich zu einem ausschweifenden Trinkspruch anzusetzen, ließ diesen wieder sinken und sah mich aus großen, fragenden Augen an. „Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?“, wollte er wissen und brachte damit meine geniale Konklusion wieder zum zerbrechen. Ja, klar! Hätte ich mir denken können. Lektion Nummer… es war nicht die eins, aber es war dennoch recht weit vorne bei den Lektionen unserer Ausbildung – Verzicht auf Alkohol, wenn du dich einem unmittelbaren Kampf bevor siehst! Aber was interessierten Arias diese Lektionen? War sein Desinteresse an diesen nicht ein wesentlicher Grund, weshalb wir überhaupt hier waren? „Also manchmal bist du echt seltsam.“, meinte Arias dann noch schmunzelnd, was aus seinem Mund so ironisch war, dass mir fassungslos die Worte fehlten, „Mal abgesehen davon, würde ich doch mit so etwas wie verschollenen Dorfbewohnern und Monstern niemals Scherze treiben!“ „Oh doch, würdest du!“, entgegnete ich entschieden, ohne mich von dem Schauspiel trügen zu lassen, „Nämlich dann wenn du glaubst, mich auf diese Weise dazu überreden zu können, mit dir trotz Sperrstunde etwas trinken zu gehen, weil du weißt, dass ich es nie verantworten könnte, einen Irren wie dich alleine auf Monsterjagd gehen zu lassen!“ Kurz herrschte Schweigen, während Arias mit gerunzelter Stirn über meine Worte nachzudenken schien. „Ja, das klingt schon ein bisschen nach mir. Wäre sogar ziemlich genial.“, folgte dann sein Resümee mit einem verschmitzten Grinsen, „Danke! Merk ich mir fürs nächste Mal. Aber ich muss dich enttäuschen, Lexi. So scharf deine analytische Spürnase auch sein mag – das mit den Dorfbewohnern ist wahr! Hör dich ruhig hier um, wenn du mir nicht glaubst. Natürlich wäre es ein erheblicher Vertrauensbruch und fast schon Verrat gleichzusetzen, und sehr verletzend wenn du den Dorfbewohnern mehr Glauben schenkst, als deinem aller aller besten und immer ehrlichen, darüber hinaus umwerfend gut aussehenden und vor allem bescheidenen Freund der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aber… da wir ohnehin hier sind, um uns umzuhören, werde ich es dir ausnahmsweise mal nachsehen. Und nun…“, er ließ seinen Krug gegen meinen scheppern, „Prost, Kamerad und dann auf an die Arbeit!“ Er nahm einen großen Schluck seines Mets, während ich mit einem leisen Lachen nur den Kopf schütteln konnte. Immerhin hatte er sich für die Kurzversion seiner Selbstbeweihräucherung entschieden! Womöglich ein kleiner Schritt in Richtung Bescheidenheit… oder ihm hatte die Puste gefehlt um seinen Satz noch länger zu machen. „Und ICH bin der Seltsame von uns!“, murmelte ich grinsend, ehe auch ich einen Schluck des Honigmets nahm und den süßen Geschmack genoss. Wahrscheinlich hatte Arias Recht. Ich machte mir oft einfach zu viele Gedanken. Mal abgesehen davon dass nicht einmal feststand, ob es ein Monster gab und falls doch, ob wir diesem begegnen würden, würde uns ein einziger Krug Met nicht gleich aus den Stiefeln hauen! „Nun denn, mein aller aller bester, immer ehrlicher, umwerfend gut aussehender und vor allem selbstverliebter Freund der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft…“, wiederholte ich amüsiert mit einer kleinen Abwandlung, „wie gehen wir’s an?“ „Erst einmal – ich habe eben Geschmack!“, konterte er grinsend auf den Spruch der Selbstverliebtheit, während er mir über mein ohnehin immer hoffnungslos zu Berge stehendes Haar wuschelte, was bei ihm ebenso eine Angewohnheit geworden war, wie bei mir hinterher der Versuch, es wieder zu richten. Sofern man das so nennen konnte, denn wahrscheinlich sah man keinen Unterschied. „Und zweitens…“, setzte er dann hinzu, stellte seinen bereits geleerten Krug hinter uns auf der Theke ab und zwinkerte mir verschmitzt zu, „sieh zu und lerne, getreuer Gefährte!“ Bevor ich nachhaken konnte, stieß er sich auch schon beschwingt von dem Tresen ab und bahnte sich einen Weg zum Mittelpunkt der Taverne. Mit einem belustigten Schmunzeln erkannte ich schnell, dass er dabei seinen Lieblingstisch anstrebte, der sich zentral der Schänke befand und einen guten Überblick über den gesamten Raum ermöglichte. Zwar war dieser Tisch besetzt und auch vollgeladen mit Krügen und Geschirr, aber dies hinderte Arias nicht daran, nonchalant zwischen zwei der dort sitzenden zu treten, sich auf deren Schultern zu stützen und auf diese Weise ihren Tisch zu erklimmen. Wahrscheinlich würde Arias aus allen Wolken fallen, wenn ich ihn mal darauf hinweisen würde, dass dies tatsächlich ein Tisch und keine Bühne war. Doch ich ließ ihm die Freude, denn was war schon dabei? Zur einarmigen Elster kamen die, die Spaß haben wollten und wer begann, rumzustänkern wurde von Bronx vor die Tür gesetzt. Zudem kannte man Arias hier schon und die, die ihn noch nicht kannten, waren von solchen Aktionen meist erstmal so perplex, dass sie gar nicht imstande wären, ihn… ihres Tisches zu verweisen oder Sonstiges. Manchmal – mit etwas mehr Alkohol – ließ ich mich sogar von Arias dazu hinreißen, selbst auf die Tische zu klettern und mit ihm gemeinsam zu singen und zu tanzen und war damit nicht der einzige. Ich hatte schon Abende mit ihm hier erlebt, wo jeder einzelne Tisch zur Bühne zweckentfremdet worden war, Frauen wie Männer laut mitgesungen oder begleitende Instrumente gespielt hatten, die sie entweder mit dabei oder von Bronx zur Verfügung gestellt bekommen hatten. Arias war zweifellos ein Selbstdarsteller, aber den größten Spaß hatte er dann, wenn er seinen Spaß teilen konnte und ab und zu war er sogar gerne bereit, aus seinem heißgeliebten Rampenlicht zu treten um dieses jemand anderem zu überlassen. Diese Art, Menschen mitzureißen, sie zu motivieren und sie dazu zu bringen, aus sich herauszugehen und ihre inneren Barrieren zu überwinden war etwas, das ich zutiefst an ihm bewunderte. Auch mich brachte er schließlich immer wieder dazu, Grenzen zu überschreiten und neue Erfahrungen zu machen oder Seiten an mir zu entdecken, die ich vorher nicht kannte. Ganz nach dem Motto – nicht zu lange denken, einfach tun! Bereuen tat man seiner Meinung nach vor allem die Dinge, die man nicht getan hatte. Also besser man konnte in seinen alten Tagen über Fehler berichten, statt nie etwas zu erzählen zu haben! Während Arias sich vernehmlich räusperte, um auch die Aufmerksamkeit der letzten auf sich zu ziehen, die noch nicht den Narren auf dem Tisch bemerkt hatten, nippte ich an meinem Honigmet und beobachtete gespannt, was passierte. Ich hatte bereits eine Vermutung, denn auch wenn es erstmal wie der leichtere Weg erscheinen mochte, sich einfach hier durch die Menge zu fragen, ob jemand etwas zu den Vorfällen wusste, so erschien es ihm wohl noch einfacher, sich auf einen Schlag gleich an alle zu wenden. „Seid gegrüßt, werte Gesellen!“, erhob Arias schließlich mit dem ihm typischen ungezwungenen Gemüt die Stimme und dass er hier kein unbeschriebenes Blatt mehr war wurde deutlich, als durch seinen bloßen Anblick vorfreudiges Grölen ertönte. Eine Gruppe Männer stimmte schon beeindruckend unsynchron den Refrain eines bekannten Saufliedes an, wohl um auf diese Weise ihren „Musikwunsch“ zu äußern. Andere riefen einfach wie anfeuernd seinen Namen. Ich lachte amüsiert auf, als ich erkannte, dass sogar Arias für einen kurzen Augenblick von der Wirkung seines Erscheinens verwundert war. „Oh… verstehe, ihr denkt, dass ich…“, murmelte er ein wenig zerstreut, ehe er sich schnell wieder fing und ein schweres Seufzen vernehmen ließ, „Ich fürchte, ich muss euch enttäuschen, meine Freunde. So sehr es mein Herz mit Freude und Wärme erfüllt, mit euch zu lachen, zu feiern und zu trinken, so führt mich heute doch leider ein trauriger Anlass in eure Mitte…“ Die Sauflieder verstummten wieder und als ich meinen Blick über die Menge schweifen ließ, erkannte ich größtenteils überaus verwirrte und fragende Gesichter. Manchen lag das Lächeln noch auf den Lippen als warteten sie nur darauf, dass Arias die angedeutete Hiobsbotschaft zu einem Scherz weiterleitete. Was aber besonders meine Aufmerksamkeit erweckte, waren die vereinzelten betroffenen Mienen, die zu ahnen schienen, worum es ging. So erkannte ich, wie in der Damenrunde, die mir zu Beginn aufgefallen war, eine der jungen Frauen den Blick senkte, während eine andere mitfühlend den Arm um ihre Schultern legte und ihr etwas zuflüsterte. Ich ertappte mich dabei, dass ich wohl bis eben noch daran gezweifelt hatte, dass an Arias’ Geschichte etwas dran war, aber die jungen Frauen schienen etwas zu wissen. „Mein Name ist Arias und ich bin ausgebildeter Krieger der nahegelegenen Kriegerakademie der nördlichen Schilde.“, erklärte Arias der versammelten Runde mit seiner illusionierten Erwachsenen-Stimme, „Mir kam zu Ohren… beziehungsweise meine Akademie wurde darüber unterrichtet, dass hier im Dorf Einwohner im Wald verschollen sind. Darum hat man mich und meinen tapferen, kampferprobten Kameraden dort drüben ausgewählt, um uns dem Fall anzunehmen.“ Dass er dabei auf mich verwies und sich plötzlich eine Vielzahl an Köpfen zu mir umwandte, traf mich so unerwartet, dass mir vor Schreck mein Krug Met aus der Hand rutschte und in der eingetretenen Stille scheppernd zu Boden fiel. Es war diese gelegentliche Tollpatschigkeit, wegen der ich eigentlich immer ganz froh war, dass Arias es genoss, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, denn meist wenn er sie mit mir teilte geschah etwas wie das. „Er ist… besser im Kämpfen als im Festhalten eines Trinkgefäßes, das versichere ich euch!“, versuchte Arias es zu retten, während ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Wie war das mit dem tapfer und kampferprobt? Da erzählte Arias ihnen gerade, wir wären fertig ausgebildete Krieger, in die sie ihre Hoffnung setzen sollten, ihre Vermissten zurückzubekommen und dann stand da ein Narr wie ich, der nicht einmal einen blöden Krug festhalten konnte! So wirkte ich sicherlich fürchterlich kompetent! Unsicher, was ich nun tun oder sagen sollte, hob ich mit einem kleinen Lächeln grüßend die Hand. „Jedenfalls wären wir euch sehr dankbar für eure Hilfe bei der Aufklärung!“, fuhr Arias nun fort und ich atmete erleichtert auf, als man sich wieder ihm zuwandte, „Wie viele verschwunden sind. Ob es bestimmte Muster gab, wie eine spezielle Tageszeit oder Gelegenheit. Wann es begonnen hat und wann der letzte verschwunden ist… Alles könnte hilfreich sein! Also wer etwas weiß, kann uns dort im Nebenraum…“ „Warum schicken sie zwei Kinder?“, rief plötzlich ein Mann mittleren Alters dazwischen und mir blieb für einen Augenblick das Herz stehen. Kurz fürchtete ich, dass die Illusion nachgelassen hatte und sie erkannten, wie jung wir waren, aber als ich zur Kontrolle auf meinen Arm blickte, sah ich auch bei mir immer noch den umhüllenden Illusionsschemen meiner erwachsenen Gestalt. „Wie alt seid ihr? 20? 22?“, hakte der Mann missmutig nach und seiner Miene war anzusehen, dass er nicht sonderlich überzeugt war, „Auch nicht älter als mein Sohn…“ Die letzten Worte waren leiser gesprochen, gequälter und halb gedämpft durch den Weinkelch, den er bereits wieder an seine Lippen ansetzte und langsam verstand ich. Nur weil es hier wie üblich gut gefüllt war, bedeutete das noch lange nicht, dass jeder in Feierlaune war. Wie Bronx öfter betonte – Grund zu trinken gab es immer! Davon lebte das Geschäft. Ob nun um zu Feiern oder zu Vergessen, Freude oder Frust, der Alkohol floss! Die meisten hier waren offenbar in guter Stimmung gekommen, aber nach und nach erkannte ich, wer hier war, um sich abzulenken. „Wir sehen jünger aus als wir sind.“, redete sich Arias heraus und ich schnaubte leise. Wenn diese Menschen wüssten! Das nächste mal würde Arias uns sicherlich wie zwei Greise Anfang der 50er aussehen lassen! „Ihr seid trotzdem nur zu zweit!“, diesmal war es die junge Frau, die die Stimme erhob. Ihr braunes Haar war ein wenig zerzaust, als habe man ihr ständig darüber gestreichelt und ihre Augen glänzten feucht, ob nun wegen Tränen oder dem Alkohol, war schwer zu sagen, „Nachdem meine Mutter verschwunden ist, sind mein Vater, mein Bruder und mein Freund los und ratet! Sie sind nicht wiedergekehrt! Keiner! Sie… SIE SIND ALLE FORT! Alle…“ Ihre Stimme wurde lauter und erstickter, ehe die Tränen sie übermannten. Ihre Freundin zog sie wieder an sich und ließ sie an ihrer Brust weinen. Stille legte sich drückend auf die Gäste nieder. Plötzlich war es kaum zu glauben, dass die Taverne vor wenigen Momenten noch voller Lachen und Leben gewesen war. Auch wenn ich selbst nie eine liebende Familie gehabt hatte, so zog sich mir beim Anblick des schluchzenden Mädchens das Herz zusammen. Wie schrecklich musste es sein, Eltern, Geschwister und eine Liebe zu haben und von jetzt auf gleich alle zu verlieren… Nun schämte ich mich tatsächlich dafür, angenommen zu haben, Arias hätte mit den verschwundenen Dorfbewohnern nur einen Scherz gemacht. Das hier war kein Scherz! Das wurde mir in diesem Moment bitter bewusst und ein Blick zu Arias verriet mir, dass es ihm ebenso erging. Er betrachtete das Mädchen mit einer Ernsthaftigkeit und Betroffenheit, die ich selten bei ihm sah und ich hoffte, dass er zu demselben Schluss kommen würde wie ich. Dass er zumindest einmal der Realität ins Gesicht sah und erkannte, dass wir – Illusion hin oder her – tatsächlich nur zwei Kinder waren! Noch in der Ausbildung und nur zu zweit! Je mehr ich hörte, desto sicherer war ich mir, dass das eine Nummer zu groß für uns war. Gleich morgen könnten wir uns an die Ausbilder wenden und ihnen von den Vorfällen berichten, damit sie tatsächlich ein paar ausgebildete Krieger entsenden konnten, um diesen Menschen zu helfen, denn zwei weitere verschwundene Kinder… damit halfen wir niemandem und wurden ganz sicher nicht zu Helden! „Seid unbesorgt!“, Arias’ Stimme brach die drückende Stille, eine Spur leiser als zuvor und seine Miene zeigte Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit, was mir nicht so recht gefallen wollte, „Man hätte uns nicht ausgewählt, wenn man uns nicht für fähig halten würde, mit dem Problem umzugehen!“ Entgeistert sah ich meinen Freund an, doch jegliches Stoßgebet, er möge sich nun auf die Zunge beißen, vom Tisch fallen oder sonst wie daran gehindert werden, weiterzusprechen blieb ungehört. „Wir werden alle Informationen zusammentragen, die über die Vorfälle bekannt sind und dann werden wir eure Vermissten finden!“, versprach er mit einer begütigenden Zuversicht, dass ich ihm wohl selbst geglaubt hätte, wenn ich in diesen ganzen Wahnsinn nicht verwickelt wäre und unsere Grenzen vermutlich um ein Vielfaches besser einzuschätzen vermochte als dieser Größenwahnsinnige. „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber vor allem die Hinweise der Angehörigen sind vermutlich überaus hilfreich.“, erklärte er und sah entschuldigend von dem Mädchen zu dem älteren Mann, der resigniert in seinen Kelch blickte, „Wir brauchen eure Hilfe… damit wir euch helfen können! Wer etwas weiß findet uns im Nebenzimmer… Danke für eure Aufmerksamkeit.“ Damit stieg er wieder von dem Tisch herunter und kam in meine Richtung. Mein Blick musste wohl Funken sprühen, aber Arias ignorierte es, ging an mir vorüber und winkte mir, ihm zu folgen. Und das tat ich. Bis in das besagte Nebenzimmer, für dessen Benutzung er sich vorher mit einem kurzen Blickwechsel Bronx’ Einverständnis hatte geben lassen. Dort angekommen und die Tür hinter uns geschlossen, konnte ich es allerdings nicht mehr zurückhalten. Zornig packte ich ihn am Kragen und drückte ihn mit dem Rücken gegen die Wand. „Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?!“, brach es aus mir heraus und im Bemühen zumindest leise genug zu sein, dass man uns draußen nicht hören konnte, klang meine Stimme wie ein Knurren, „Was zum Teufel fällt dir ein, solche Versprechungen auszusprechen?! Ihnen Hoffnung zu machen?! Verdammt, Arias, wir sind Kinder!! Ob dir das passt oder nicht, das ist eine Tatsache! Du siehst einfach nie, wann es genug ist! Wir sind nicht mal fertig ausgebildet. Das ist zu groß für uns! Hier geht es um Menschenleben, ist dir das eigentlich klar?“ Arias antwortete nicht und senkte den Blick. Das allein war schon so untypisch für ihn, dass mir meine Worte oder zumindest mein Tonfall in einem anderen Moment wohl schon sofort leid getan hätten, aber momentan waren der Zorn und die Fassungslosigkeit stärker. Denn nicht nur, dass er solche Versprechungen machte, zog er mich da auch noch mit rein. Und mir waren Versprechen heilig! Ich selbst hatte mich nie auf die von anderen verlassen können, war von meiner eigenen Familie verkauft worden und hatte mir vorgenommen, dass ich anders sein würde. Jemand, auf den man sich verlassen konnte! Jemand, der sein Wort hielt! Jemand, der einen nicht enttäuschte und hängen ließ! „So willst du ein Held werden, oh großer Arias?“, fragte ich nun zynisch und obwohl ich wusste, dass dies ein sensibles Thema war, so griff ich in meiner Wut womöglich sogar gezielt dieses an, „Mit Lügen, Illusionen und falschen Versprechungen?! Wir sollten in die Akademie gehen und ausgebildete Krieger die Sache in die Hand nehmen lassen, statt uns von deinem verdammten… Bewährungsdrang oder… deiner Anerkennungssucht oder… was weiß ich, was das für dich ist, umbringen zu lassen! Wem willst du was beweisen? Warum zum Teufel ist dir das so wichtig?! Warum musst unbedingt DU der Held sein?!“ Er murmelte etwas vor sich hin und obwohl ich das eigentlich als rhetorische Fragen gemeint hatte, wollte ich nun da er offenbar eine Antwort parat hatte, diese auch hören. „Das hab ich nicht verstanden!“, sagte ich und klang sogar dabei vorwurfsvoll. „Weil ich ‚Arias’ bin!“, wiederholte er nun besser vernehmlich und hob dabei wieder den Blick und etwas in diesem ließ meine Wut verrauchen. Diese Worte hörte ich von ihm öfter aber meist in scherzhaften Kontext. Zum Beispiel gerne mal auf die Frage, woher er etwas wusste oder konnte. Dann war dies seine Standardantwort, vermutlich weil es besser klang als, dass er nicht wusste, woher er etwas wusste oder konnte. Nun jedoch sah ich in seinen Augen etwas, das ich zum ersten Mal in ihnen sah. Als wäre eine Maske gefallen. Kein überspielender Humor, keine Prahlerei oder Selbstverliebtheit, sondern Verwirrung, Unsicherheit und Schmerz. „Verstehst du nicht was das heißt?“, Arias fragte dies in einem hilfesuchenden Tonfall, als hoffte er ich könnte es ihm erklären, doch ich schüttelte ehrlich den Kopf, während sich meine Fäuste schon von selbst wieder von seinem Hemdkragen lösten. „Nein, ich versteh es nicht. Erklär es mir… bitte.“, sagte ich und so schnell wie sie gekommen war, war die Wut verflogen. Arias wirkte auf einmal so seltsam verloren, dass ich keinerlei Bedürfnis mehr verspürte, ihn anzuschreien oder auf irgendeine Art anzugreifen. Im Gegenteil. Nun sah ich den Jungen, der vor vier Jahren schwer verletzt und ohne Erinnerungen zu uns gekommen war, eingehüllt in ein Trugbild von einer Version seiner Selbst, die er wohl glaubte, um jeden Preis sein zu müssen. Ich wollte es einfach nur verstehen. IHN verstehen. Ich hatte immer geglaubt, dass dieses Heldengerede lediglich Arias’ Art war, sich wichtig zu machen. Dass er einfach nur gerne im Mittelpunkt stand und bewundert werden wollte. Darum war ich auch so wütend gewesen, denn nur um ein aufgeblasenes Ego zu befriedigen wollte ich weder ein Versprechen brechen müssen noch heute Nacht mit ihm sterben. Nun jedoch erkannte ich, dass da mehr war! Dass dieses Heldending für ihn scheinbar eine Bedeutung hatte, die ich noch nicht erfasst hatte… Arias öffnete nach kurzem Zögern den Mund, doch noch bevor ein Ton seine Lippen verließ, klopfte es an der Tür. Voraussichtlich einige der Gäste mit Informationen zu unserer Monsterjagd. „Du musst nicht mitkommen, Alexiel.“, flüsterte Arias mir mit einem eindringlichen Blick zu, „Mir ist durchaus bewusst, dass es hier um Menschenleben geht. Nicht zuletzt nun auch um unseres. Das ist auf meinem Mist gewachsen, das weiß ich und ich würde dir keinerlei Vorwürfe machen, wenn du nun…“ „Ach halt die Klappe!“, unterbrach ich ihn und schüttelte entschieden den Kopf, während ich nun gänzlich von Arias’ Kragen abließ, einmal tief durchatmete und ihm dann ein schiefes Lächeln schenkte, „Was wäre ich denn für ein mieser ‚treuer Gefährte’ wenn ich bei dem ersten Anzeichen von Problemen das Weite suchen würde? Würde sich nicht so gut in deinen Geschichten machen oder? Ich lass dich nicht hängen, Kleiner! Egal, welchen Mist du baust, wir schaffen das zusammen!“ Eine angenehme Wärme durchflutete mich als meine Worte es vermochten, Arias ebenfalls wieder ein Lächeln zu entlocken. „Danke.“, sagte Arias und während wir einander ansahen, verflogen all die Ängste und Zweifel in mir. Immerhin hatte ich mir und Arias schon vor vier Jahren ein Versprechen gegeben und solange ich dieses halten konnte, war ich doch irgendwie ein Mann, der zu seinem Wort stand! Zudem hatte ich mit einem Mal das Gefühl, dass das zwischen uns, unsere Freundschaft und unser Vertrauen zueinander stark genug sein würde, um es mit allen Monstern dieser Welt aufzunehmen! „Ähm… Verzeihung. Stör ich?“, fragte eine unsichere Mädchenstimme. Es war die Freundin der Trauernden, die nun vorsichtig um die spaltbreit geöffnete Tür hervorlugte und unschlüssig schien ob sie hereinkommen sollte oder nicht. Mir wurde bewusst, dass wir gerade ein überaus seltsames Bild abgeben mussten, darum ließ ich meinem Freund rasch wieder etwas mehr Freiraum und mit neuem Elan widmeten wir uns schließlich der Informationsbeschaffung, wegen der wir hier waren. Wenige Stunden später saßen wir nun immer noch im Nebenzimmer und brüteten über einer provisorischen Karte, die Arias von den ihm bekannten Teilen des Waldes mal angefertigt hatte und immer mehr erweiterte, je mehr er entdeckte. Unser letzter Befragter hatte den Raum verlassen, wodurch uns nun die Zeit blieb, uns zu beraten. „Hältst du das immer noch für eine gute Idee?“, wollte ich zweifelnd wissen und lehnte mich erschöpft auf meinem Stuhl zurück, während ich meinem Freund dabei zusah wie er kleine Steinchen auf der Karte platzierte, „Viel schlauer als vorher sind wir nun auch nicht oder?“ „Im Gegenteil! Wir haben viel erfahren.“, entgegnete Arias und betrachtete sich stirnrunzelnd sein Werk, „Jetzt müssen wir uns nur entscheiden, welchem Hinweis wir nachgehen…“ Ich lächelte bitter: „Ich fand die Erklärung, des alten Herrn, der zuletzt hier war eigentlich am einleuchtensten. Es wird Herbst und im Wald ist Sumpfgebiet. Bereits auf dem Weg hierher war der Nebel so dicht, dass man leicht von dem Weg hätte abkommen können. Im Wald verirrt man sich da nur allzu schnell und versinkt infolge dessen im Moor oder wird Beute von irgendwelchen Raubtieren.“ Der Mann hatte sie jedenfalls davor gewarnt, zu dieser Jahreszeit zu tief in den Wald hinein zu gehen, da dies an Selbstmord grenzte. Erst recht nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Raubtiere aktiv wurden und man noch weniger sah als durch den Nebel ohnehin schon. „Ja, möglich… aber nicht am Wahrscheinlichsten!“, erwiderte Arias, der wohl unbedingt auf sein Monster bestehen wollte, „Einige der vermissten Dorfbewohner kannten sich im Wald gut aus. Der eine war sogar Jäger und das über Jahre! Er kannte die Gefahren und Tücken des Waldes. Nun verschwindet er und kurz darauf sechs weitere Personen. Zufall?“ „Nein, wahrscheinlich eine Kettenreaktion.“, vermutete ich, „Fehler geschehen auch den besten. Ob du’s glaubst oder nicht, oh Unfehlbarer! Dein Leben lang kannst du jeden Tag die gleichen Aufwärmübungen mit deinem Schwert machen bis es zur Routine wird, ein einziges Mal bist du kurz unachtsam und deine Hand ist ab! Der Jäger war vielleicht kurz unaufmerksam und kam dabei ums Leben. Die Mutter des Mädchens hat sich wenig später vielleicht zu tief in den Wald gewagt und kannte sich nicht so gut aus und dadurch, dass nach ihr gesucht wurde, sind noch weitere verschwunden, die sich nicht auskannten oder sich auf ihrer Suche selbst tiefer hinein gewagt hatten, als sie es normalerweise getan hätten. Nun kommen wir, um auch wiederum die Vermissten zu suchen und wenn wir dabei im Moor versinken oder uns hoffnungslos verirren, sind es wieder zwei Verschwundene mehr ohne dass es irgendetwas zu bekämpfen gäbe.“ „Hey Lexi...“, meinte Arias nun und seinem Blick war zum ersten Mal am heutigen Abend ein Hauch von Unmut anzusehen, „Ich hab dir gesagt, dass du zurückgehen kannst, wenn du nicht mit willst. Aber ich kann das nicht! Vielleicht hast du Recht und da draußen ist nichts zu bekämpfen und niemand mehr zu retten, aber du hast es selbst gesagt – hier geht es um Menschenleben! Wenn es also etwas anderes ist, das die Menschen davon abhält, zu ihren Familien zurückzukehren und es auch nur den Hauch einer Chance gibt, dass sie noch leben, dann will ich zumindest diese Alternativen überprüfen, ehe ich sie für Opfer des Sumpfes erkläre!“ Ich entließ ein Seufzen, aber abgesehen von einem trotzigen „Natürlich komm ich mit!“ erwiderte ich darauf nichts. Zu welchem Zweck auch? Es war nicht so, als würde ich Arias’ Beweggründe nicht verstehen. Auch ich wünschte mir, dass die Vermissten noch lebten und noch nicht jede Hilfe zu spät wäre. Ich versuchte lediglich das Ganze etwas realistischer anzugehen und realistisch betrachtet war ich mir alles andere als sicher, ob wir nun wirklich die schicksalsbestimmten Retter waren, die Arias in uns sehen wollte. Niemandem war geholfen, wenn wir uns auch verirrten und umkamen und ein größer angelegter, besser organisierter Suchtrupp bei Tag(!) wäre sicherlich eine weisere Entscheidung. Selbst dann, wenn die Vorbereitung mehr Zeit in Anspruch nehmen würde. Aber was sollte ich tun? Arias schien manchmal mehr in seinen Heldengeschichten zu leben als in der Realität und sich bereits so tief hineingesteigert zu haben, dass er davon überzeugt war, die Menschen heute retten zu müssen oder in seiner „Pflicht“ zu versagen. Die einzige Möglichkeit, die ich sah, ihn davon zu überzeugen, mit mir zurück zur Akademie zu gehen war, ihn bewusstlos zu schlagen und zurückzuschleppen. Etwas, das ich nicht über mich bringen konnte, denn unabhängig davon, dass ich ihn körperlich nicht verletzen wollte, wäre dies tatsächlich ein Verrat an unserer Freundschaft und mein Vertrauen zu ihm, das er mir womöglich nie verzeihen könnte. Und ohne ihn zurückzukehren, kam mir nicht einmal eine Sekunde in den Sinn! „Gut, dann… wo fangen wir an?“, fragte Arias nun wieder voller Entschlossenheit und Tatendrang, während er auf ein paar der Steinchen auf der Karte verwies, „In der Gegend, wo ein paar der Männer die unbekannten Raubtierspuren entdeckt haben oder dort…“, er verwies auf ein Steinchen noch etwas tiefer im Wald, „wo laut den Damen ein kannibalischer Einsiedler hausen soll, der gerade für seinen Wintervorrat jagt?“ Entscheidungsfrage: a) Monsterspuren b) Kannibalenhütte Kapitel 2: Hütte ---------------- Es war wie ich vermutet und mehrmals erwähnt hatte eine reichlich dumme Idee mitten in der Nacht durch einen sumpfigen Wald zu staksen. Am Anfang war es halb so wild. Wir konnten uns über mehr oder weniger häufig bewanderte Trampelpfade bewegen, doch ab einem gewissen Punkt kamen wir nicht umhin, uns querfeldein durchzuschlagen, wenn wir dorthin gelangen wollten, wo sich angeblich ein kannibalischer Einsiedler eine Hütte errichtet hatte. Wir beide waren zwar mit einer Fackel ausgerüstet und machten alle paar Schritte wegweisende Markierungen in die Bäume, aber der Nebel war hier so dicht, dass man nicht einmal mehr seine eigenen Füße sehen konnte. Unsere Fackeln halfen dabei leider auch nur bedingt. Die feuchte Luft hatte meine Kleidung durchgeweicht, die wie eine zweite Haut an mir klebte, während meine Finger schon längst klamm vor Kälte waren. Das Vorankommen war zudem langsam und mühsam. Der Boden war an den meisten Stellen aufgeweicht und feucht, so dass wir jedes Mal mehrere Finger breit einsanken und uns mit klitschigen Lauten dem Sog dann wieder entziehen mussten. An anderen Stellen stolperte man regelrecht von einem Wurzelgeflecht zum nächsten. Zudem war es nicht unbedingt die einladendste Atmosphäre. Durch den wabernden Nebel und die zuckenden Flammen unserer Fackeln wirkten alle Schatten geradezu lebendig und die kahlen, hohen Bäume wie tanzende Gerippe. Ab und zu hörte man neben dem Klang unserer glitschigen Schritte und dem Rascheln von Geäst im Wind den Ruf nachtaktiver Vögel oder das Quaken einer Kröte. Inzwischen bereute ich wahrlich, meinen Freund nicht doch einfach KO geschlagen und mit mir zurück zur Kaserne geschleppt zu haben. Nun war es dafür zu spät und da er mir ja mehrmals die Wahl gelassen hatte, verkniff ich mir weitere Beschwerden. „Hey Arias“, sprach ich nach einer Weile behutsam, um die schaurige Stille zu durchbrechen, „Was meintest du vorhin in der Taverne, als du sagtest, dass du ein Held sein musst, weil du ‚Arias’ bist?“ Ich bemerkte, dass sich sein Rücken bei dieser Frage etwas verspannte, aber es bestärkte mich in der Annahme, dass es da etwas gab, das er mit sich herumtrug und bisher nicht mit mir geteilt hatte. Darum wollte ich es wissen. Immerhin waren wir beste Freunde und mir war es nicht genug, einer seiner Bewunderer zu sein, vor dem er den fehlerlosen, allwissenden, immer gut gelaunten Helden meinte mimen zu müssen. Ich wollte auch seine anderen Seiten kennen. Jede davon. Selbst die oder gerade die, bei denen er offenbar glaubte, sie vor allen anderen verstecken zu müssen. „Das… ist nicht so einfach zu erklären…“, kam schließlich eine etwas zögerliche Antwort, ohne dass er sich zu mir umdrehte oder stehen blieb, „Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt erklären kann oder ob ich es selbst richtig verstehe…“ „Versuch es einfach. Bitte.“, bat ich ihn, denn es war mir wichtig. Mit jedem Wort, das er sagte, erschien es mir immer wichtiger, dass er mich an seinen scheinbar so verworrenen Gedanken teilhaben ließ. Vielleicht konnte ich ihm ja helfen oder ihn wenigstens besser verstehen. Eine Weile gingen wir schweigend weiter durch den Matsch. Würde er nicht vorhaben zu antworten, würde er mir das sagen, so schien er allerdings nur etwas Zeit zu brauchen, seine Worte zu sortieren. „Mein Name ist das einzige, woran ich mich erinnere.“, begann er dann ungewohnt bedrückt klingend, „Nichts von meiner Familie, meiner Herkunft, meiner Vergangenheit… und egal wie sehr ich mich zu erinnern versuche, es…“, er stockte mit einem leisen Keuchen und ich registrierte eine Bewegung seiner freien Hand, die zu seinem Herzen glitt oder der Narbe der Verletzung, die sein Herz vor vier Jahren nur knapp verfehlt hatte. Schmerzte sie ihn etwa immer noch? War sie nicht längst verheilt? „Es führt jedenfalls zu nichts.“, schloss er dann seinen Satz, „’Arias’ ist das Einzige, an das ich mich erinnern kann. Aber… es ist nicht nur die Erinnerung an den Klang meines Namens. Für mich bedeutet ‚Arias’ so viel mehr. Es bedeutet, wer ich bin… oder zumindest wer ich zu sein habe. Wer ich sein muss, um… keine Ahnung, etwas Schlimmes zu verhindern. Anderen in Not helfen zu können. Dass ich mutig, tapfer, stark, unfehlbar… eben ein Held sein muss!“ Betroffen blickte ich auf seinen Rücken und schämte mich beinahe, ihn nicht schon viel früher danach gefragt zu haben. Für mich war immer so klar gewesen, dass Arias’ Heldenallüren eben nichts anderes als Aufmerksamkeitssuche samt etwas Größenwahn waren. Aber langsam glaubte ich zu verstehen, was wirklich oder zumindest noch dahinter steckte. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, es gänzlich nachvollziehen zu können, dass einem ein Name sagte, wer man zu sein hatte. Aber ich vermutete, dass egal, was Arias vor vier Jahren zugestoßen war und ihn beinahe das Leben gekostet hätte, es schrecklich gewesen war und nicht nur auf seinem Körper Narben hinterlassen hatte. Ein Teil in ihm nahm vielleicht an, dass er es hätte verhindern können, wenn er mehr der Held gewesen wäre, der er nun um jeden Preis sein wollte. „Ich weiß, das klingt verrückt.“, meinte Arias nun noch und zuckte mit den Schultern, „Aber mein Name ist alles, was ich noch habe…“ „Nein, DAS klingt verrückt!“, protestierte ich sofort entschieden, schloss mit einem Schritt zu ihm auf und legte ihm meine freie Hand auf die Schulter, damit er mich endlich ansah, „Du hast auch mich! Und im Gegensatz zu deinem tollen Namen schreib ich dir nicht vor, wie du zu sein hast… oder zumindest nur manchmal.“ Unsere Blicke begegneten sich und etwas in mir regte sich als ich das Lächeln sah, das sich auf seine Lippen stahl. Doch ich konnte nicht lange überlegen, was ich fühlte, denn wir sollten unsere Unachtsamkeit sofort bereuen. Arias gab einen erschrockenen Laut von sich als sein Fuß offenbar ins Leere trat. Ich sah ihn nach vorne straucheln und festigte meinen Griff um seine Schulter schon reflexartig, aber selbst nach vorne in Bewegung gewesen hatte ich keinen stabilen Stand, um ihn zurückzuziehen und verlor nur selbst das Gleichgewicht. Auch mein Fuß trat ins Nichts, als hätte ich beim treppabwärts gehen eine Stufe übersehen und im nächsten Moment landete ich bäuchlings auf dem erdigen Grund eines Abhangs. Halb auf der matschigen Erde schlitternd und halb in unkontrollierten Purzelbäumen und Drehungen um mich selbst, verlor ich schnell die Orientierung und versuchte nur, irgendwo Halt zu finden und zugleich meinen Kopf und meine Gliedmaßen zu schützen. Doch erst wenige lange Sekunden später kam mein Körper wieder zur Ruhe, nachdem ich am Grund des übersehenen Abhangs angelangt war. Als ich die unbewusst geschlossenen Augen wieder öffnete, drehte sich immer noch alles um mich und der aufgewirbelte Bodennebel, der um mich herum waberte machte es nicht besser. „Hngh… Hey Lexi, alles klar bei dir?“, hörte ich kurz darauf die Stimme meines Freundes, während ich mich aufsetzte und zu orientieren versuchte. Der Abhang war recht steil, aber zumindest kein freier Fall und nur einige Schritt tief gewesen. Hätte also deutlich schlimmer kommen können, wenn wir statt einem kleinen Steilhang einen Abgrund übersehen hätten. Schmerzen spürte ich gerade keine, dafür schlug mir das Herz noch im ganzen Leib. Aber nach einer kurzen Kontrolle der Beweglichkeit meiner Gliedmaßen war ich mir sicher, dass ich lediglich mit ein paar Kratzern und blauen Flecken davon gekommen war. „Ich denke schon. Was ist mit dir?“ Nachdem sich mein Drehwurm wieder etwas gelegt hatte, sah ich zu Arias, der unweit von mir entfernt am Boden im Nebel hockte. Der Himmel war recht klar, so dass auch der Mond sein fahles Licht spendete und meine Fackel, die nun neben mir am Boden lag, hatte die Rutschpartie glücklicherweise unbeschadet überstanden und brannte sogar noch. So konnte ich ihn gut genug erkennen, um ihn mit den Augen nach Verletzungen abzutasten. „Du blutest!“, bemerkte ich erschrocken, nahm meine Fackel auf und eilte zu ihm herüber, wo ich sein Gesicht genauer in Augenschein nahm. Ich kniete mich zu ihm und fasste mit der freien Hand sein Kinn, um seinen Blick zu mir anzuheben und mir den blutigen Schnitt anzusehen, der sich diagonal von seiner rechten Braue über die Nasenwurzel bis unter sein linkes Auge zog. „Und lebe trotzdem noch.“, entgegnete er mit einem beruhigenden Lächeln, während er sich mit dem schmutzigen Ärmel über den Schnitt wischte, „Ist nur ein Kratzer. Alles bestens.“ Zu meiner Erleichterung schien er damit ausnahmsweise Recht zu haben und es nicht nur herunterzuspielen, auch wenn er es so verschmiert hatte, dass es nun aussah, als habe er sich einer blutigen Kriegsbemalung unterzogen. Aber der Schnitt war nur oberflächlich und vermutlich nicht einmal tief genug um eine Narbe zu hinterlassen. Auch ansonsten schien er wie ich hauptsächlich Dreck oder harmlose Schrammen davongetragen zu haben. So atmete ich erleichtert auf und nachdem damit der Sorge genüge getan war, verpasste ich ihm einen recht groben Schlag gegen die Schulter. „Ich dachte du weißt, wo wir lang laufen!“, beschwerte ich mich, war aber gerade zu erleichtert, dass ihm nichts Ernstes passiert war, als dass ich wirklich sauer sein könnte. So half ich ihm wieder auf die Beine und sah mir dann nochmal den Abhang an, den wir herab gerutscht waren. Bei der feuchten, glitschigen Erde würde es nicht leicht werden da wieder hochzuklettern. „Hey, sieh mal!“, sagte Arias plötzlich und als ich tat wie geheißen, verwies er auf den schmalen Weg auf dem wir uns befanden. „Toll, ein Pfad.“, erwiderte ich schulterzuckend und ahnungslos was er mir damit sagen wollte. Wobei es zugegebenermaßen das Vorankommen vereinfachen würde, auf einem einigermaßen befestigten Pfad zu laufen, statt weiter durch Matsch und Geäst. „Kein Pfad“, korrigierte mich Arias begeistert, „Das hier…“, er gestikulierte auf die Schlucht, in der wir standen, „das ist eine Straße! Gerade noch breit genug für eine Kutsche. Mehr noch, diese Straße dürfte es gar nicht geben! Sie ist in keiner Karte verzeichnet, die ich bisher von dieser Umgebung gesehen habe und niemand im Dorf hat mir je davon erzählt. Da ist nur immer die Rede von der Handelsstraße, die durch das Dorf führt. Diese hier allerdings…“, er machte eine bedeutungsschwangere Pause, die ich offenbar nutzen sollte, um den Satz zu ergänzen, aber in Rätseln war ich nie gut und so sah ich ihn nur weiterhin ratlos an, bis er seufzte und fortfuhr, „Das hier ist eine Schmugglerstraße, Lexi! Und wir haben sie gefunden!“ „Und was machen wir jetzt damit?“, fragte ich ernsthaft verwirrt, denn selbst nach der Erklärung, war ich mir nicht sicher, was daran nun so toll sein sollte. Aber für Arias war diese Entdeckung, die er in seinen Karten einzeichnen konnte, offenbar schon Lohn genug und so verkniff ich mir den Kommentar, dass uns diese Straße in unserem eigentlichen Anliegen kein Stück weiter brachte, geschweigedenn dass es ratsam wäre, mit einer solchen Entdeckung hausieren zu gehen. Genau genommen dürften wir ja nicht einmal hier sein, sondern müssten in der Akademie brav in unseren harten Betten liegen. „Wir folgen ihr.“, entschied Arias zuversichtlich und verwies in eine Richtung dem Straßenverlauf entlang, „In dieser Richtung müsste ohnehin die Hütte liegen und vielleicht handelt es sich dabei nur um ein Versteck und Rastplatz für Räuber und Schmuggler statt dem Heim eines Kannibalen.“ „'Nur'...“, wiederholte ich schnaubend und war mir nicht ganz sicher, ob diese Theorie es besser machte. Aber wir setzten uns wieder in Bewegung und das Vorankommen war auf der Straße deutlich angenehmer. Der Boden weniger schlammig und nicht von pflanzlichen Stolperfallen übersät. Der Nebel war auch hier recht dicht und hüllte alles unterhalb unserer Knie in weißen Dunst, der mich angesichts der unbekannten Bedrohung, die hier lauerte etwas nervös machte. Die Straße hatte eine leichte Steigung nach oben, so dass sich die Steilhänge links und rechts von uns mit jedem Stück zurückgelegter Strecke wieder an unsere Höhe anpassten. Doch wir waren noch nicht weit gekommen als die nächste unerwartete Entdeckung unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Pferdewagen stand inmitten der Straße und je näher wir ihm kamen, desto stärker nahm ich einen widerwärtigen, modrigen Geruch wahr. Beim Nähertreten war auch deutlich, woher dieser rührte. Das Pferd, das ursprünglich an den Wagen gespannt war, war nicht mehr viel mehr als ein abgenagter, madenzerfressener Kadaver. Die Augen waren wohl von Vögeln ausgepickt worden und auch ansonsten hingen nur noch wenige Fleischfetzen an dem Gerippe, an denen sich nun die kleinsten Aasfresser labten. Offenbar verkam in diesem Wald nichts, wenn einen der Tod ereilte. „Wo ist der Fahrer?“, fragte ich leise, doch kaum ausgesprochen fürchtete ich, die Antwort bereits zu kennen. Mein Blick fiel auf einen undefinierbaren Haufen ein paar Schritt weiter die Straße entlang, der leicht über den Bodennebel herausragte. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend näherte ich mich dem Etwas, das den gleichen übelkeiterregenden Geruch verströmte wie der Pferdekadaver. Und ich sollte Recht behalten. Der durch meine Bewegungen aufgewirbelte und verdrängte Nebel offenbarte mir den Fahrer des Wagens, für den unverkennbar jede Hilfe zu spät kam. Ein abgenagtes, zerfressenes Gerippe, dem schwerlich anzusehen war, wie er zu Lebzeiten mal ausgesehen hatte. Seiner in Fetzen liegenden Kleidung und dem wie zum Schrei aufgerissenen Kiefer war allerdings zu entnehmen, dass sein Ende qualvoll und blutig gewesen war. „Von irgendwas muss er angegriffen worden sein.“, murmelte ich, als ich Arias’ dumpfe Schritte und das Rascheln seiner Kleidung zu mir aufschließen hörte, „Oder wahrscheinlich sein Pferd zuerst, so dass er glaubte, fliehen zu können, während sein Angreifer abgelenkt war, aber weit ist er nicht gekommen…“ „Weil es nicht nur EIN Angreifer war.“, meinte Arias, der nun neben mir stand und ich sah überrascht zu ihm. Ich wusste nicht, ob es mich mehr irritierte, dass er etwas in der Hand hielt, das wie eine scharfkantige anthrazitfarbene Scherbe aussah oder aber, dass zum ersten Mal in dieser Nacht, so etwas wie Besorgnis in seiner Miene zu erkennen war. „Das ist ein Teil einer Eierschale. Ich schätze es waren etwa vier Eier.“, erklärte er mir auf meinen fragenden Blick hin, „Dieser Mann muss ein Schmuggler oder Hehler gewesen sein. Es ist verboten, Dinge aus den Niemandslanden über die Grenze zu bringen und diese Eier stammen von dort, ebenso wie ein paar andere Sachen, die er da auf dem Karren hatte. Wahrscheinlich hat dieser arme Narr die Eier für kostbare Edelsteine oder Metalle gehalten, sonst wäre er sicherlich vorsichtiger gewesen und wäre nicht von seiner eigenen Handelsware überrascht worden. So war das sein Tod und hier in den Wäldern lebt und wächst nun etwas heran, das nicht hierher gehört…“, er betrachtete die Eierschale und verzog angestrengt das Gesicht, „Ach, verflucht! Wenn mir nur einfallen würde, um was für Kreaturen es sich handelt! Aber ich krieg’s nicht zu fassen!“ Ich nickte sacht und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Fragen wie, woher Arias wusste, dass diese anthrazitfarbenen Dinger Eierschalen waren oder dass diese aus den Niemandslanden stammten, stellte ich mir schon lange nicht mehr. Die Antwort darauf lag schließlich in seiner unbekannten Vergangenheit verborgen und ich sah keinen Grund an seinem Wissen zu zweifeln. „Dann haben wir nun also den Ursprung für die Vermissten gefunden. Und die Bestätigung, dass hinter der Sache mit den Monstern etwas Wahres dran ist…“, fasste ich beklommen zusammen und konnte mich nicht wirklich darüber freuen, der Lösung des Rätsels näher gekommen zu sein. Es war nicht gerade beruhigend zu wissen, dass in diesen Wäldern vier Wesen lebten, die kaum aus dem Ei geschlüpft schon hungrig und stark genug waren, ein Pferd und einen erwachsenen Mann niederzustrecken. Und wie lange war dieser Mann schon tot? Der erste Vermisste des Dorfes war der Jäger gewesen, der seit etwa zwei Wochen verschollen war. Dieser Schmuggler weilte allerdings schon länger nicht mehr unter den Lebenden. Diese Geschöpfe hatten also seit ihrem ersten Mord etwas Zeit gehabt, zu wachsen. Machte es das Überleben für die Vermissten somit nicht noch unwahrscheinlicher? Und was war mit uns? Mit einem Mal fühlte ich mich hier wie auf einem Präsentierteller. Mein Blick glitt zu dem blutverschmierten Gesicht meines Freundes. Ob diese Monster der Niemandslande Blut witterten? Oder andere Raubtiere des Waldes? Wir sollten hier besser nicht länger verweilen als nötig. Also setzten wir unseren Weg fort. Es fühlte sich zwar falsch an, die Kadaver nicht wenigstens zu begraben, aber mitten in der Nacht, ohne die richtige Ausrüstung und während unbekannte Monster womöglich gerade auf der Jagd waren, wäre das keine gute Idee. Die Fackel in der linken Hand und mein Schwert einsatzbereit in der rechten lauschte ich auf Geräusche, die Gefahr ankündigten. War da nicht gerade etwas gewesen? Ein verdächtiges Rascheln und Knacken von Ästen? Vielleicht wurde ich auch nur paranoid, denn inzwischen alarmierte mich jedes raschelnde Gebüsch. Es kam mir so vor, als würden wir aus dem Unterholz beobachtet, verfolgt oder gar umzingelt werden. Denn es kam von allen Seiten. Vermutlich also nur der Wind. Aber wenn nun ein Angriff erfolgte, wäre es meine Aufgabe, mich und Arias zu verteidigen, denn dieser hantierte mit Karte und Kompass herum und gemeinsam mit seiner eigenen Fackel blieb keine Hand frei um eine Waffe zu halten. Inzwischen hatten wir uns darauf geeinigt, noch diese Hütte zu suchen, die – wenn sie existierte – hier in der Nähe sein müsste, um dann dort die restliche Nacht zu verbringen. Offenbar hatte er endlich eingesehen, dass es zu gefährlich war, diese wahnwitzige Suche des Nachts fortzusetzen und ein wenig Tageslicht ungemein hilfreich wäre. Es gefiel mir nicht besonders, weil das bedeuten würde, dass unser Verschwinden aus der Akademie spätestens morgenfrüh auffliegen würde. Die Konsequenz wären Strafarbeiten wie verlängerter Latrinenputzdienst und vermutlich auch körperliche Züchtigung, um uns Gehorsam einzuprügeln. Schließlich war das nicht unser erster Regelverstoß. Dennoch besser als hier draufzugehen. Erstmal hatte es größere Priorität die Nacht zu überstehen und sollte es diese Hütte geben, dann war es zumindest eine Zufluchtsmöglichkeit. Nach Arias' Schmugglertheorie war die Geschichte von dem Kannibalen vermutlich ohnehin nur ein Gerücht, das Dorfbewohner davon abhalten sollte, sich der Hütte zu nähern. So konnte das diebische Gesindel mit seiner Beute und seinen illegalen Waren dort in Ruhe rasten und Unbeteiligte liefen nicht Gefahr als unerwünschte Zeugen beseitigt zu werden. Was bedeuten würde, dass die Hütte die meiste Zeit leerstand. Blieb nur zu hoffen, dass sie das gerade auch tat. „Da ist sie!“, verkündete ich leise als ich durch das Unterholz nach einigen Schritt abseits der entdeckten Straße tatsächlich eine Hütte auf einer kleinen Lichtung erkannte. Silbriger Mondschein strahlte auf das Spitzdach einer Blockhütte, etwas größer als die üblichen Jagdhütten. Manch mehrköpfige Familie in Städten und Dörfern musste mit weniger Platz auskommen. Arias steckte Kompass und Karte weg und wir gingen auf die Lichtung zu. Gerade als wir uns aus dem Schatten der dicht beieinander stehenden Bäume lösen wollten, packte mich Arias plötzlich am Ärmel. „Alexiel!“, rief er zeitgleich alarmiert aus, was schon genügt hätte, mich sofort inne halten zu lassen. „Was denn?“, die Anspannung war ansteckend und schlug sich auch in meiner Stimme nieder, doch statt einer Antwort, sah Arias sich kurz suchend um, ehe er einen langen Stock ergriff und mit diesem vor mir auf dem Boden herumstocherte. Mit einem hörbaren Knacken brach der Stock entzwei als eine von Blättern und Moos verdeckte Bärenfalle zuschnappte. Der Gedanke, dass dieses Knacken um ein Haar mein Schienbeinknochen hätte sein können ließ mich unwillkürlich schlucken. „Dachte, das interessiert dich vielleicht.“, meinte Arias grinsend und ich nickte nur matt mit einem leisen Dank. „Was macht dieses Ding überhaupt hier?“, wollte ich dann irritiert wissen, „Irgendwelche Räuber und Schmuggler würden doch keine Fallen auslegen oder?“ „Ja, kommt mir auch etwas seltsam vor.“, stimmte Arias mir stirnrunzelnd zu, „Auch dass diese Hütte noch so gut in Schuss ist. Keine Vegetation am Holz oder Schäden durch Stürme oder ähnliches, zumindest soweit sich das von hier sagen lässt. Vielleicht wohnt da ja doch ein Kannibale, der das Häuschen instand hält?“, das Grinsen kehrte belustigt zurück, während er den kaputten Stock wegwarf und weiter auf die Lichtung trat. Nach kurzem Zögern schloss ich zu ihm auf und stieg über die Falle hinweg näher auf das vielleicht doch nicht ganz unbewohnte Haus zu. „Da ich allerdings bezweifle, dass sich hier allzu oft Menschen her verirren, dürfte der arme Kannibale schon ziemlich verhungert sein.“, fuhr Arias fort und machte damit deutlich, dass er die Menschenfresser-Geschichte für ebenso unwahrscheinlich hielt wie ich. Nichts desto trotz ließen mich die Indizien, dass das Haus eventuell doch bewohnt war, wachsam werden. Weitere Fallen hatten wir auf der Lichtung vermutlich nicht mehr zu befürchten, denn hier schien der Mond hell genug, um einen Laubhügel oder sonstige Auffälligkeiten sofort zu sehen. Beim Näherkommen bemerkte ich, dass die Fenster der Hütte von innen verrammelt waren und auch dieses Holz sah noch relativ frisch aus. Allerdings dennoch nicht im besten Zustand, denn tiefe parallel verlaufende Furchen verliefen durch das Holz. Womöglich Kratzspuren von diesen neuen Monstern, die hier irgendwo herumliefen? War es möglich, dass die vermissten Personen dort drinnen vor der Bedrohung Zuflucht suchten und... Die sich öffnende Tür des Hauses ließ meine Gedanken abreißen. Wir waren noch ein paar Schritt von dem Haus entfernt und hatten noch nicht mal Gelegenheit zu klopfen, sofern wir das überhaupt vorgehabt hätten. Schon reflexartig fasste ich mein Schwert fester und meine Augen weiteten sich bei dem, was ich erblicken konnte. „Was bei allen Göttern...“, murmelte ich und starrte auf das Ungetüm, das dort im Türrahmen erschien. Das silbrige Licht erhellte das seltsam verzerrt wirkende Gesicht. Es war menschenähnlich, mit zwei Augen, einer Nase und einem Mund, aber alles reichlich schräg und völlig asymmetrisch. Wo das eine Auge beinahe herauszuquällen schien, war das andere klein und lag tief in der Höhle. Der Mund enthüllte einen schiefen Überbiss mit gelben, chaotisch angeordneten Zähnen. Ein ähnliches Bild zeigte sich in der Statur. Generell war das Ding ziemlich riesig, sicher über zwei Schritt groß und kräftig, aber buckelig und etwas unförmig, als wären an manchen Stellen zu wenig, zu viele oder unnatürlich verwachsene Knochen in seinem Skelettbau. Und während der rechte Arm vor Muskeln zu strotzen schien, war der linke verkürzt und unpassend hager. Auf dem Kopf befanden sich ein paar vereinzelte Büschel, fahles, dunkles Haar. Einen Moment lang war ich durch diesen Anblick wohl zu abgelenkt, denn erst als das Ungetüm mit unartikuliertem Gebrüll nach draußen auf uns zu humpelte, bemerkte ich die Armbrust in seiner starken Hand. Der andere Arm wedelte hektisch hin und her und das Herz sackte mir in die Hose, als dieses Ding noch im Laufen die Armbrust anhob und auf meinen besten Freund richtete, der selbst zu perplex wirkte, um sich zu rühren. Ich sah wie sich der unförmige Finger des Monsters auf den Abzug legte und für einen weiteren Gedanken blieb keine Zeit. Getrieben von Todesangst um meinen Freund, handelte mein Körper wie von selbst. Letzte Entscheidungsfrage: a) Armbrust umlenken b) Arias zu Boden reißen Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)