The Idol Mafia von Haio ================================================================================ Kapitel 1: Jack --------------- Die vergangene Woche war ziemlich verregnet gewesen und noch immer hielt das trübe, ungemütliche Wetter an. Es war ein Montagmorgen wie er unbeliebter nicht sein könnte. Der Großteil der Leute sehnte sich nach einem trockenen, heißen und lichterfüllten Sommer, der jedoch - selbst Ende Juli - weiter auf sich warten ließ. Wo andere anfingen zu jammern, wenn sie sich beim Verlassen des Hauses den Regenmantel überstreifen mussten, gab es ebenso den ein oder anderen seltenen Ausnahmefall, der sich speziell bei solchen Witterungsverhältnissen besonders wohl fühlte. Mit einem guten Buch war es problemlos möglich, den Aufenthalt im Bett um einige Stunden zu verlängern. Zumindest solange, bis ein knurrender Magen dazwischenfunkte. „Ich glaube, dass ich allmählich etwas essen sollte“, dachte er und legte gähnend seine Lektüre beiseite. Langsam erhob sich der Mann, schob die Terrassentür noch ein Stück weiter auf, trottete in das Nebenzimmer und spähte auf die Wanduhr, die links über der Küchenzeile hing. „10:15 Uhr? Dann kann ich mich ja nochmal hinlegen.“ Während vier Scheiben Brot im Toaster verschwanden, holte sich der Mittzwanziger eine Packung Tilsiter und Butter aus dem Kühlschrank. Wenig später saß er bereits kauend an einem alten hölzernen Tisch, der am Ende des Raumes stand und dessen Platte mit etlichen Kratzern übersät war. Genüsslich lauschte er dem Radio: „Für die kommenden Tage ist bis Ende der Woche keine wirkliche Besserung in Sicht. Schuld daran haben vor allem die beiden Tiefs Olga und Petar. Zwischen diesen und einem Atlantikhoch wird am morgigen Dienstag, den 28. Juli, Meeresluft aus polaren Breiten herangetrieben, sodass sich bis auf weiteres das wolkenreiche und recht kühle Wetter fortsetzt. Des Weiteren wird für die Region Unterfranken…“ Zufrieden schaltete er ab, beförderte das Geschirr in die Spüle und wollte sich wieder dem Lesen widmen. Doch der Weg zurück ins Schlafzimmer endete, als plötzlich ein schrilles Läuten durch die Wohnung halte. Gefolgt von einem Rufen. „Hallo, Jack. Bist du schon wach? Hallo?“, kam es mehrfach von draußen. „Ignorier es. Ignorier es einfach“, sprach er mit sich selbst. Eine Minute verging. Zwei Minuten. Drei Minuten. Insgesamt fünf Minuten schrillen Läutens brauchte es, bis ihm schließlich der Kragen platzte. Entnervt trat er in den anliegenden Flur und erkannte durch das Milchglas die Silhouette des Störenfrieds. Kaum war die Türe geöffnet, brüllte er drauf los: „Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Was soll der Mist? Verzieh dich und geh…“ Schlagartig wurde es ruhig. Vor ihm stand nicht die Person, die er erwartet hatte. Stattdessen sah Jack nun in die tiefbraunen Augen einer jungen Frau, die durch sein barsches Auftreten verängstigt und eingeschüchtert wirkte. Seufzend ging er zwei Schritte nach vorne und zog sie behutsam in die Wohnung. „Es tut mir leid.“ Versöhnend wuschelte er durch ihr pechschwarzes Haar. Anschließend nahm Jack wieder schweigend auf der Sitzecke Platz, sodass der Eingang des Schlafzimmers nun genau in seinem Blickfeld lag. „Lass das alberne Versteckspiel bleiben. Komm endlich da raus“, rief er und stützte seinen Kopf gelangweilt auf der linken Hand ab. Einige Sekunden verstrichen und es passierte rein gar nichts. Solange, bis sich unter einem leisem Knarzen der Dielen ein Mann näherte und sich wie selbstverständlich an das andere Ende des Tisches setzte. Darauf reagierte Jack nicht sonderlich, wohl aber auf das, was sein ungewollter Gast in den Händen hielt. „Ich verstehe wirklich nicht, wie du diesen Schund lesen kannst“, kommentierte dieser verächtlich, blätterte durch die Seiten des Manga und warf ihn völlig ungeniert in die Mitte des Tisches. Das Cover zeigte zwei Mädchen, die mit geschlossenen Augen nah beieinander saßen und Händchen hielten. Ohne irgendeine Regung griff Jack danach. „Ob Schund oder nicht, dass ist vollkommen subjektiv zu bewerten. Du scheinst mir auf jeden Fall nicht viel Sinnvolles mit deinem Überfluss an Freizeit anfangen zu können. Solltest du nicht lieber lernen oder deine Vorlesungen nachbereiten, anstatt mir meine perversen und kranken Vorlieben unter die Nase zu reiben?“, fragte Jack monoton und prüfte sorgsam den Manga auf eventuelle Schäden. „Oder bedienst du diverse Klischees mit voller Absicht?“, setzte er schnell nach und holte drei Becher aus einem Schrank. „Ein Spätburgunder - trocken – bitte“, befahl der Blondschopf und wies seine Begleiterin dazu an, sich ebenfalls zu setzen. Es folgte ein kurzes schmerzerfülltes Stöhnen, als ihm gereizt ein halbvoller Tetra Pak Traubensaft an den Kopf geworfen wurde. „Und den Champagner gibt es gratis dazu“, Jack schwenkte demonstrativ mit einer Glasflasche Mineralwasser. „Bitte, hört auf euch zu streiten“, sagte die junge Frau, nahm ihm vorsorglich die Glasflasche ab und stellte diese, zusammen mit dem Saft, auf den Tisch. „Er ist doch selbst schuld daran, wenn die Terrassentür im Sommer immer den ganzen Tag offen steht. Außerdem ist es nicht das erste Mal, dass ich mir so Zugang zum Haus verschafft habe. Das ist sogar nach all den Jahren noch zu verlockend, als dass man es sich einfach so abgewöhnen könnte. Mal ganz davon abgesehen…“, er schenkte seiner Schwester ein schelmisches Lächeln, „…dass wohl auch andere um die Möglichkeit wissen, auf diese Art und Weise einen heimlichen Besuch abzustatten.“ Mit leicht geröteten Wangen schenkte sie die Getränke ein. „Und du hast dann gleichermaßen nichts dagegen einzuwenden“, ergänzte er und genoss seinen Spätburgunder. „Mag schon sein“, knurrte Jack. „Aber es macht einen erheblichen Unterschied, ob jetzt meine Freundin ungefragt in mein Schlafzimmer platzt, oder ihr grenzdebiler Bruder.“ Der Mann musste herzhaft lachen. „Da hast du Recht. Deswegen studiere ich ja auch BWL. Vielleicht hätte ein duales Studium der Wirtschaftsinformatik mir besser getan. Wobei lieber nicht. Ich wäre wahrscheinlich vor Scham im Boden versunken, wenn ich bereits nach zwei Semestern das Handtuch geworfen hätte. Ja, die Mathematik war noch nie meine größte Stärke gewesen.“ Zwischenzeitlich hatte Jack den Manga zurückgestellt. Die Worte seines Freundes schmeckten bitter. „Hoffentlich erstickst du nicht irgendwann an deinem Sarkasmus“, witzelte er böswillig. Beschwichtigend redete die junge Frau auf ihren Bruder ein: „Wir sind hier, um nach Hilfe zu fragen. Du solltest ihn nicht zusätzlich provozieren.“ „Bitte?“ Er wurde hellhörig. „Mina, was meinst du mit Hilfe?“ Flehend zupfte Fabian an ihrem Ärmel. Sie verstand sofort was er wollte. „Mir ist ein Fehler unterlaufen. Johannes, Matthias und Judith sollten uns heute bei den Vorbereitungen der Generalprobe für den anstehenden Auftritt zum Schuljahresende helfen. Aber ich habe ihnen bedauerlicherweise eine falsche Uhrzeit mitgeteilt. 13:00 Uhr, anstatt 11:00 Uhr. Deshalb sind wir jetzt leider unterbesetzt.“ „Und Aridan kümmert sich um die komplette Technik. Wir möchten ihn nicht noch damit belästigen“, wandte Fabian ein. Argwöhnisch musterte er seine beiden Gäste. „Was wird dann aus unserer Verabredung, Mina? Aus diesem Grund habe ich mir heute doch überhaupt erst freigenommen. Um mit dir auszugehen. Stattdessen soll ich mich nun abrackern, um die Fehler anderer zu beseitigen? Ich hätte meinen Urlaub wohl nicht sinnvoller verschwenden können.“ Ihm war eine gewisse Übellaunigkeit anzumerken. Normalerweise stand es für Jack außer Frage, Freunden und Familienmitgliedern zu helfen. Doch er konnte es absolut nicht leiden, wenn seine Hilfsbereitschaft für selbstverständlich genommen wurde und man ihn darüber hinaus noch anlog. „Es tut mir wirklich leid“, entschuldigte sich Mina und stand von ihrem Stuhl auf. „Heute Nachmittag koche ich dir dann etwas und wir schauen uns alle Filme an, die du möchtest. Das verspreche ich dir“, sagte sie und drückte ihm liebevoll einen Kuss auf die Wange. Allem Unmut zum Trotz stimmte er letztendlich zu. „Gebt mir wenigstens die Zeit, mich umzuziehen“, murrte Jack, holte sich passende Wechselklamotten aus dem Schlafzimmer und verschwand zügig im Bad, das am Ende des Flurs lag. Erleichtert atmete Fabian einmal tief durch. „Schwein gehabt. Das hat geklappt, wie ich es vermutet habe“, gab er selbstzufrieden von sich. „Überstrapazier es aber besser nicht. Sonst kann sich Glück ganz schnell in das exakte Gegenteil wandeln“, wies Mina ihren Bruder mahnend an. Gegen kurz nach 11:00 Uhr erreichten sie die Schule. Diese lag etwa fünf Minuten mit dem Auto von Jacks Haus entfernt. Von einem kleinen Parkplatz aus, führte ein gepflasterter Weg zu insgesamt zwei verschiedenen Gebäuden. Dem Neubau mit gläserner Fassade auf der rechten Seite, stand der größere, mehrteilige Altbau gegenüber. An diesen schloss sich zudem einer der Pausenhöfe an, der dezent mit einer Reihe von Sitzsteinen abgegrenzt war. Die Pause hatte zwar gerade erst begonnen, trotzdem herrschte dort längst reges Treiben und dutzende Grund- und Realschüler tummelten umher. Die Gymnasiasten verbrachten die freie Zeit während des Unterrichts bevorzugt auf der großen Wiese, zu der man über eine Treppe am Ende des Weges gelangte. Dort wurde längst eifrig gearbeitet. Auf einer überdachten Bühne stand Aridan Wensel, der Hausmeister und ein Mitglied der Schulband. Er war damit beschäftigt, zwei sperrige Lautsprecher von einem Transportwagen zu hieven. „Fleißig wie eh und je“, rief Fabian ihm zu. Vorsichtig setzte er seine schwere Fracht ab, hob den Kopf an und sprang zugleich behände von der Bühne. Mit einem verschmitzten Lächeln begrüßte Aridan die drei. „Hallo. Es freut mich euch zu sehen, wenn auch nicht in der Aufstellung, die ich erwartet habe.“ „Es gab Differenzen in der Kommunikation. Wir mussten kurzfristig unsere Personalplanung geringfügig umstellen“, dabei deutete er auf Jack. „Ich verstehe schon“, lachte der Enddreißiger den ehemaligen Gitarristen der Schulband an. „Manch einer besitzt wahrlich Talent beim Musizieren, sucht es aber vergebens in anderen Bereichen.“ Mina konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Als Reaktion darauf zuckte Fabian gleichgültig mit den Schultern. „Solange wir hier sind, um dich wie versprochen zu unterstützen, ist doch alles in Ordnung.“ „Ja. Von dem Detail mal abgesehen, dass wir jetzt nur drei anstatt fünf Leute sind“, merkte Jack trocken an. „Das müssten immer noch mehr als genug sein“, kommentierte Aridan zuversichtlich und teilte jedem ein Paar Arbeitshandschuhe aus. Und in der Tat schafften sie es die verringerte Anzahl an Helfern recht gut zu kompensieren. Zunächst wurden die zwei großen Lautsprecher jeweils an der vorderen linken und rechten Ecke der Bühne platziert. Danach holten sie ein halbes Dutzend Monitor-Lautsprecher, drei Mikrofone, einen Verstärker sowie jede Menge Kabel, die für die vollständige Installation der Tontechnik benötigt wurden, aus einem der Keller des Altbaus. Nachdem alles ausgerichtet war, begann der Hausmeister schließlich mit der fachgerechten Verkabelung der PA-Anlage. Unterdessen saß Fabian auf den Stufen der Bühnentreppe. „Wie geht es eigentlich deiner Tochter?“ „Soweit wirklich gut. Sarah arbeitet jetzt für eine große Firma in Frankfurt. Eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.“ „Freut mich zu hören…“, er unterbrach das Gespräch und kramte in seiner Hosentasche. „Willst du auch eine?“, Fabian streckte seiner Schwester eine Zigarettenschachtel entgegen. „Nein, danke“, lehnte sie rasch ab. „Du rauchst wieder, Mina?“, hakte Jack nach und verzog angewidert das Gesicht, als er den ersten Tabakgeruch wahrnahm. Sie schüttelte den Kopf und versicherte ihm, dass dem nicht so wäre. „Und wenn sie rauchen sollte“, fing Fabian an und klopfte die Asche ab, „dann ist sie längst alt genug, um das für sich selbst zu entscheiden. Oder etwa nicht?“ „Ich werde dir nicht widersprechen. Dennoch müssen manche Menschen vor bestimmten Dummheiten geschützt werden“, antwortete er und wechselte seine jetzige Position. Der Wind hatte gedreht und trieb nun den Rauch genau in seine Richtung. „Für mich hört sich das vielmehr nach einer Bevormundung an“, entgegnete Fabian pöbelhaft. „Nenn es wie du willst, aber…“ „Seid gefälligst still“, schrie Mina aus heiterem Himmel und unterbrach damit den anbahnenden Streit. „Frikadellen- oder Schnitzelbrötchen?“ Beide verstanden nicht so recht. Als im Hintergrund die Kirchturmuhr zur Mittagsstunde schlug, war es Aridan, der zuerst etwas sagte: „Frikadellenbrötchen, bitte. Zwei Stück.“ Er drückte ihr fünf Euro in die Hand. „Ich werde uns im Supermarkt etwas zum Mittagessen holen. Was wollt ihr haben?“, fragte sie, wartete jedoch keine Antwort ab. „Fabian, du nimmst je eines von beiden. Zwei Frikadellenbrötchen auch für dich, Jack. Ich werde für jeden noch Getränke mitnehmen. 20 Euro sollten dafür ausreichen.“ Ohne Widerworte bekam sie das Geld. Mina setzte eine liebreizende Stimme auf: „Schatz, du lädst mich mit Sicherheit ein.“ Schweigend, fast schon perplex, starrten sie Mina hinterher, als diese die Treppe hinaufstieg. „Du hast Recht“, gab er Fabian ironisch zu verstehen. „Ich bevormunde sie.“ Mit einem fidelen Grinsen drückte dieser seine Zigarette aus, streckte sich und meinte: „Als Kind war sie ein regelrechter Hasenfuß. Und heute? Sie bietet mir gerne mal die Stirn und ist viel selbstbewusster geworden.“ Jack verschränkte die Arme ineinander und nickte zustimmend. „Einerseits macht sie mich in solchen Momenten sprachlos, andererseits besitzt sie oft genug ein Leck an Selbstvertrauen. Eine gewiefte junge Frau, die gleichzeitig quengeln kann wie ein kleines Mädchen.“ „Und unter Garantie längst nicht so vergesslich ist, wie ihr es seid“, spottete Aridan, der in der Hocke sitzend ein Paar der Monitor-Lautsprecher umgekippt hatte. „Ihr versteht, was hier geschrieben steht?“, er zeigte auf zwei grüne Aufkleber, die mit dem Wort „Defekt“ beschriftet waren. „Ich habe es ausdrücklich betont, dass ihr darauf achten müsst, nur die funktionierenden Geräte herzubringen.“ „Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich lediglich eine Aushilfskraft bin“, witzelte Jack mit einer abwinkenden Handbewegung. „Ich bin eigentlich gar nicht hier, sondern im Urlaub.“ Es setzte einen Hirnbatzl. „Mag sein, allerdings erst nach getaner Arbeit.“ „Wir haben aber alle Lautsprecher mitgenommen. Es gab sonst keine weiteren“, merkte Fabian an. „Ok. Dann liegen sie vermutlich im Keller von Trakt C.“ Mit dem Transporthund im Gefolge, betraten sie über eine weitere mehrteilige Treppe, die links von der Bühne aus gesehen lag, den Altbau. Und nur wenig später durchstöberten sie bereits den besagten Keller. In sechs metallenen Lagerregalen waren allerlei Lehrbücher, Landkarten, Plakate und sonstige Unterrichtsmaterialien fein säuberlich einsortiert. Auch eine breite Palette von Büroartikeln fand hier Platz. Ob Papier, Locher, Tacker, Klebstoff, Scheren, Folien, Stifte, Blöcke, Stempel, Lineale, Schnellhefter oder Büroklammern, einfach alles war übersichtlich in roten Plastikboxen untergebracht und beschriftet. Dieser Bestand deckte den Bedarf der Verwaltung und des eigenen, durch Schüler geführten, Schreibwarenladens. Daneben gab es noch eine Vielzahl an Gütern für den alltäglichen Gebrauch, etwa Toilettenpapier, Küchenrollen, Seife, Putzmittel und Gummihandschuhe. An den jeweiligen Regalen hingen Klemmbretter, mit penibel geführten Lagerlisten. „Entnahme vom 22. Juli: vier Aktenordner, sieben Trennstreifen, drei Bleistifte. An seiner krankhaften Ordnungsliebe wird sich wohl nie etwas ändern“, scherzte Fabian leicht gehässig. „Und bei dir sieht es permanent aus wie bei Hempels unterm Sofa. Ich kann mir vorstellen, warum du das hier als krankhaft bezeichnest“, erwähnte Jack beiläufig, während er auf dem Boden kniend zwei schwarze unhandliche Boxen unter einem der Regale hervorzog. „Manchmal ist es eine echte Zumutung, dein Zimmer zu betreten. Sei deiner Schwester ja schön dankbar.“ Er fuhr sich durch das blonde Haar und zog missbilligend die Augenbrauen hoch. „Ich muss doch sehr bitten. Als ob ich Mina dazu zwingen würde, ständig hinter mir herzuräumen. Ich habe ihr bereits öfters gesagt, dass sie das unterlassen soll. Jedes Mal weiß ich am Ende nicht mehr, wo meine Sachen abgeblieben sind“, klagte er und blickte neidisch auf ihn herab. „Dein Glück möchte ich haben. Eine eigene Wohnung erscheint mir wie purer Luxus. Du hast deine Ruhe und niemand schreibt dir Regeln vor.“ „Es hängt immer von der Betrachtungsweise ab“, widersprach Jack mit einem düsteren Gesichtsausdruck. Seiner Stimme mischte sich nun unüberhörbarer Zorn mit bei. „Soll dir wirklich dasselbe Glück widerfahren? Unter den gleichen Bedingungen?“ Er erhielt keine Antwort, keine Entschuldigung aber erkannte eindeutig, dass Fabian seine unbedachten Äußerungen bereute. Rasch trugen die Männer die kiloschweren Gerätschaften aus dem Lager, über das Treppenhaus zum Transporthund. Dort angekommen klopfte Jack ihm ermutigend auf die Schulter. „Sobald du deinen Master-Abschluss gemacht hast und wieder regelmäßig Geld verdienst, kannst du dir bequem die gewünschte eigene Wohnung leisten. Und dort, mutterseelenallein, im eigenen Müll ersticken.“ „Jetzt lass aber mal die Kirche im Dorf“, schnaufte er. Die angespannte Situation begann sich zu lockern und war schon gänzlich verfolgen, ehe tatsächlich daraus etwas Schlimmeres hätte resultieren können. „Ich gehe natürlich davon aus, dass dein Lerneifer dafür sorgen wird, dass das Ganze in der Regelstudienzeit passiert.“ Ein erhobener Daumen bekräftigte seine Vermutung. „Und was ist mit dir? Kein Interesse mehr an einem neuen Studium?“, fragte Fabian und schob den Wagen den Korridor entlang. „Derzeit nicht. Mein Fokus liegt nach wie vor auf dem Sammeln von Berufserfahrung. Danach lasse ich mir alle Wege offen. Es gibt ja zum Beispiel die…“ Ein gedämpfter, dennoch gut wahrnehmbarer Knall war zu hören. Abrupt blieben sie stehen. Es herrschte Totenstille. „Was war das?“ Drei weitere Knalle folgten. „Verdammt, was ist da los?“, fragte Jack erschrocken. Verunsichert rannten sie durch die Türe und standen am Anfang der Treppe. Von dieser Position aus konnte man direkt seitlich auf die Bühne sehen. Bevor ihnen klar wurde, was dort aber genau vor sich ging, ertönte ein gellender Schrei. Entsetzt mussten sie feststellen, dass Aridan von einem Unbekannten mit einer Eisenstange angegriffen wurde. Er lag einige Meter vor der Bühne im Gras, wandte sich vor Schmerzen und musste gerade mehrere harte Tritte in die Magengrube einstecken. Ohne zu zögern hetzten sie die Stufen hinab. “Lass ihn in gefälligst Ruhe“, brüllte Fabian aus Leibeskräften und erlangte damit die Aufmerksamkeit des Angreifers. Überrascht von den heranstürmenden Männern, ließ dieser von seinem Ziel ab und wich ein paar Schritte zurück. Unten angekommen, stellte sich Jack schützend vor Aridan. Fabian prüfte derweil dessen Verletzungen. Äußerlich war zwar nichts auszumachen, die Reaktion beim Abtasten seines linken Armes deutete aber auf eine Prellung, gar einen Knochenbruch hin. „Elendes Drecksschwein“, beschimpfte Jack den grobschlächtig wirkenden Mann, erntete aber lediglich ein hämisches Grinsen zur Antwort. „Was ist dein Problem, Fettgewächs?“ Er schulterte seine Waffe und drehte den Kopf kommentarlos etwas zur Seite. „Ich bin ein bisschen zur Hand gegangen“, grölte er höhnisch. Erst jetzt realisierten sie überhaupt, was für ein Chaos sich auf der Bühne wiederfand. Der Verstärker und ein Großteil der Lautsprecher waren zertrümmert. Scherben der Lichtanlage bedeckten den Boden, zusammen mit etlichen herausgerissenen Kabeln. „Wieso…?“ In einem kurzen Augenblick der Fassungslosigkeit versunken, blieb Jack nur der Bruchteil einer Sekunde, um auf den quer angesetzten Schlag mit der Eisenstange zu reagieren. Strauchelnd wich er nach vorne links aus und gelangte so hinter den Schläger. Gleich nachdem er sich wieder gefangen hatte, bohrte sich sein Ellenbogen in dessen Rücken. Das war ausreichend für eine Entwaffnung, ein kräftiger Schubs brachte ihn schließlich zu Fall. Unbarmherzig setzte er mit einem gezielten Tritt gegen den Kopf nach. „Knockout“, befürwortete Fabian schadenfroh. Als der Unruhestifter sich nicht mehr rührte, halfen sie dem Hausmeister vorsichtig auf die Beine. „Wir sollten die Polizei rufen“, ächzte Aridan. An seinem Unterarm bildete sich langsam ein Bluterguss. Traurig betrachtete er das angerichtete Desaster. „Denk nicht weiter darüber nach. Der Typ wird zur Rechenschaft gezogen“, sagte Fabian und war schon im Begriff zu wählen, da landete ein kubischer Kanonenschlag unmittelbar vor seinen Füßen. Erschrocken machte er einen Hopser nach hinten, ehe dieser lautstark explodierte. Weißer Rauch wallte auf und es brauchte einen Moment, bis das Pfeifen aus den Ohren verschwand. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Jack. Beide bejahten. „Gut. Verschwindet jetzt von hier. Fabian, du musst Mina anrufen und ihr Bescheid geben, dass sie nicht hierher zurückkommen darf.“ Sein Blick war zielgerichtet auf etwas fokussiert, das ihn die Hände zu Fäusten ballen ließ. Fabian war dieser dominante Befehlston durchaus nicht fremd, weshalb er ohne Umwege tat, wie ihm geheißen wurde. „Bravissimo“, applaudierte man Jack begeistert aus Richtung des Neubaus. Ein Mann, gekleidet in schwarzer Anzugshose und weißem Hemd, dazu eine ebenso schwarze Weste tragend, kam ihm entgegen. Seine Sneakers sowie die hochgekrempelten Ärmel, standen im Kontrast zum restlichen Outfit. Das auffälligste Merkmal allerdings, war seine dunkelgraue Melone. „Kaum nimmt die Party an Fahrt auf, kommt derselbe alte Spießer vorbei und vergrault mir die ganzen Gäste“, johlte dieser abschätzig und winkte zwei Handlanger zu sich, die wie treudoofe Hunde heran getrottet kamen. Einer von ihnen abermals bewaffnet. „Gehört solch sinnloser Vandalismus auch zu deinen dürftigen Partys, Luca?“ „Keineswegs. Ich wollte bloß meinen, manchmal zur Impulsivität neigenden, Mitarbeitern die Möglichkeit bieten, ihre…überschüssige Energie…kontrolliert abzubauen“, seine Stimme nahm nun eine affektierte Besorgnis an: „Sonst wird am Ende noch jemand verletzt.“ Jack blieb beherrscht, wenngleich eine Mischung aus Wut und Nervosität in ihm aufkeimte. Lucas Leute begannen ihn zu umkreisen. „Du widerst mich an. Dein tägliches Brot ist das, nichts weiter.“ „Ich bitte dich,…Chef“, raunte er gelangweilt. „Als ob ich nicht bloß Chancen nutzen würde, die du mir bereitet hast.“ „Deine dogmatische Ansicht wird dir eines Tages das Genick brechen…“ Mit voller Härte drosch ihm einer der Schläger in den Rücken, sodass er das Gleichgewicht verlor und im Gras landete. „Du hast da ein gutes Stichwort gefunden“, lachte Luca bissig. „Ich würde diesem Schauspiel ja gerne beiwohnen, aber es warten noch dringende Geschäfte auf mich.“ Mit einer ironischen Verbeugung verabschiedete er sich. „Bringt ihn nicht gleich um.“ Die Eisenstange vergrub sich in der Erde, nur wenige Zentimeter neben seinem Kopf. Es kostete einige Anstrengungen, sich rechtzeitig genug aufzurappeln, um einem weiteren Schlag auszuweichen. Als er aufsah, grinste ihn der Mann diabolisch an. Unentwegt sauste die Eisenstange durch die Luft. Jack war zwar ein wenig schwindelig, doch trotzdem gelang es ihm, sich mit stetigem Rückwärtslaufen dem Radius der Waffe zu entziehen. Er wägte sich schon fast in trügerischer Sicherheit, da holte ihn ein Tritt in die Realität zurück. Mit Glück konnte er sich auf den Beinen halten, erwartete aber, dass ihm sogleich jemand den Schädel einschlug. Zu seiner Verwunderung blieb dies jedoch aus. Stattdessen schien sich der Typ mit seinem Kollegen auf etwas Sinngemäßes wie – „Lass mir auch meinen Spaß“ – verständigt zu haben. Er zog Jack zu sich heran und verpasste ihm eine Kopfnuss, daraufhin trat dieser taumelnd ein paar Schritte zurück. Spottend fuhr man ihn an: „Hast du schon genug? Außer Atem?“ Eine geringfüge Benommenheit gab ihm zu kämpfen. Ungeachtet dessen setzte er ein Schmunzeln auf. „Nein, ich mag es von Frauen geschlagen zu werden.“ Die Provokation trug Früchte. Wild zerrte der Mann mit der rechten Hand an seinem Shirt, holte derweil mit Links aus. „Scheißkerl…“ Damit bot sich die gewünschte Möglichkeit eines Konters. In einer flüssigen Bewegung griff Jack nach dem rechten Arm des Angreifers und warf diesen über seine Schulter. „Hast du schon genug?“, äffte er und versenkte mit voller Wucht seinen Schuh im Gesicht des Gegners. Zufrieden vernahm er zuerst ein Knacken, dann quälende Schreie und zu guter Letzt das Blut, das aus der Nase floss. „Außer Atem?“ Fluchend stürmte indessen der Zweite im Bunde heran, der das Ganze aus der Entfernung beobachtet hatte. Im allerhöchsten Maß auf dessen Waffe konzentriert, bemerkte Jack die Polizeisirenen im Hintergrund zunächst gar nicht. Der Schläger hielt inne und wirkte zusätzlich irritiert, als mehrere Leute sich von der Treppe aus näherten. „Lukas, verdammter Idiot. Komm her“, rief sein Kollege. Er mühte sich ab, alleine vom Boden aufzustehen. Notdürftig versuchte er mit einem Taschentuch gegen die starke Blutung vorzugehen. „Das hat ein Nachspiel, Arschloch.“ Anschließend verschwanden beide über einen Zugang auf der rechten Seite der Wiese, der zum angrenzenden Wald führte. Kurz darauf war Jack von verschiedenen Leuten umringt. „Geht es dir gut? Bist du verletzt?“, fragte Mina aufgelöst. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht“, antworte er scherzhaft und sah an seinem Körper hinab. „Was ist mit Aridan?“ Fabian konnte ihn beruhigen. „Der Arm ist gebrochen, ansonsten scheint alles weitestgehend in Ordnung zu sein. Für eine absolute Sicherheit muss er aber erst im Krankenhaus untersucht werden.“ „Das gilt auch für dich, Jack“, befahl die junge Frau, griff nach seiner Hand und schleifte ihn energisch mit sich. „Lass das. Ich kann selbst laufen.“ Die anderen Personen mussten lachen. „Wenn es um seine Gesundheit geht, ist sie manchmal regelrecht aufbrausend“, kommentierte Judith sichtlich belustigt. Zwischenzeitlich wurde der dritte Störenfried von mehreren Polizisten abgeführt. „Ihr habt irgendwie eine gewisse Affinität für prekäre Situationen“, sagte Matthias gelassen. „Die Probe fällt wohl ins Wasser. Aus dem Auftritt wird so schnell leider nichts.“ Er klang hörbar enttäuscht. „Naja, das so etwas passiert, konnte niemand ahnen“, meinte Johannes. „Vielleicht können wir später noch regulär etwas proben.“ „Ich glaube, daraus wird heute nichts mehr“, äußerte sich Fabian. „Mein Schwesterlein wird mit ganz anderen Sachen beschäftigt sein.“ Etwa zwei Stunden später saßen Jack und dessen Freundin bereits in einem Bus und befanden sich auf dem Rückweg. Von einigen Prellungen und kleineren blauen Flecken abgesehen, war er glimpflich davongekommen. Mina schien bekümmert, was ihm nicht sonderlich gefiel. Die letzten 30 Minuten hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. „Hör auf dir Sorgen zu machen. Komm her.“ Zögerlich lehnte sie sich an seine Schulter. „Verzeih mir bitte. Ich wollte dich nicht anlügen.“ Er musste herzlich lachen. „Selbst wenn dein Bruder seinen Fehler zugegeben hätte, am Ende wäre es auf dasselbe hinausgelaufen. Und was die Prügelei betrifft: Ich versuche in Zukunft mehr mit Bedacht zu handeln.“ Liebevoll streichelte er über ihren Kopf. „Ich hoffe, dass du dich an dein Versprechen erinnerst und mich heute vorzüglich bekochst. Außerdem schauen wir uns zur Bestrafung Child’s Play 1 und 2 an.“ „Du magst doch gar keine Puppen?“ Er nickte zustimmend. „Und du magst keine Horrorfilme. Wir gehören beide bestraft.“ Gegen 15:30 Uhr kamen sie zu Hause an. Nach den anstrengenden Geschehnissen, freute er sich auf ein wenig Erholung. Dummerweise wurde seine Vorfreude getrübt, denn Fabian wartete schon auf sie. „Wie geht es dem werten Herren?“, begrüßte er geschwollen. „Schlecht. Der Arzt hat mir strikte Bettruhe verordnet. Behellige also bitte jemand anderen.“ „Das habe ich auch vor“, erklärte er fröhlich und übergab Mina einen Brief. „Das wird dich etwas aufmuntern.“ In der Tat dauerte es nicht lange, da strahlte sie förmlich über beide Ohren und versank in purem Enthusiasmus. Jack konnte sich denken, worum es ging. Schweigend öffnete er die Türe, um schnell vor allen Dingen zu fliehen, die seinen friedlichen Nachmittag gefährden könnten. „Es gibt aber noch ein kleines Problem, das wir lösen müssen“, ergänzte Fabian fast beiläufig und flüsterte seiner Schwester etwas ins Ohr. Dann schenkten die Zwillinge Jack einen erwartungsvollen Blick. Dieser blieb in der Tür stehen und seufzte: „Warum nur habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)