Dinge, die von Herzen kommen von KiraNear ================================================================================ Kapitel 1: Dinge, die von Herzen kommen ---------------------------------------  „… aus diesem Grunde beschenken sich die Menschen auch heute noch gerne auf der ganzen Welt zum Weihnachtsfest. Nachdem jedoch über die letzten Jahrzehnte die Religionen immer mehr und mehr an Bedeutung verloren haben, gehen die Menschen immer noch gerne den glaubensfreien Traditionen nach wie vor nach, und  haben ihre Freude daran. Doch die Menschheit ist nach wie vor einem ständigen Wandel unterlegen, weswegen Experten es nicht ganz ausschließen können, dass wir irgendwann gänzlich auf irgendwelche Traditionen verzichten werden. So, wie wir es bereits mit dem Verwenden von Tafelkreide und Kopierpapier machen, um unsere Schule als Beispiel zu nehmen. Wer weiß, ob unsere Enkel und Ur-Enkel überhaupt noch nicht-digitale Geschenke bekommen werden? Oder man sich zu ihrer Zeit überhaupt noch beschenken wird? Oder werden diese Traditionen irgendwann wiedergeboren werden, in einer anderen Form mit einem anderen Namen?“ Der Lehrer machte eine kurze Pause; sah seine Klasse an. Es war mehr als offensichtlich, dass er schon lange nicht mehr die volle Konzentration aller genoss; doch da konnte er nicht viel machen. Die meisten davon würden sich hinterher die Aufnahmen, die ihr Neuro Linker für sie aufgenommen hatte, nachsehen und die prüfungsrelevanten Punkte herausfiltern. Und diejenigen, die das nicht taten – nun, sie sortierten sich damit von selbst aus. Zumal er die Schulstunde, die letzte an diesem Tag, in wenigen Minuten beenden würde. Daran hielt er selbst nach über 15 Dienstjahren fest, da konnte ihm der Schulgong erzählen, was er wollte. Für ihn war er nur eine Art Orientierung, er selbst hatte seiner Meinung nach immer noch das letzte Wort. Selbst, wenn es die meisten seiner Kollegen mittlerweile anders sahen. Waren doch die Zeiten anders als zu die seines Vaters und Großvaters. Er sah sich um, die müden und gelangweilten Gesichter seiner Schüler bemerkte er schon gar nicht mehr. „Nun ja, kommen wir auch gleich zu euren Hausaufgaben. Ich möchte, dass ihr euch Gedanken über eure Freunde und eure Familie macht; und ihnen etwas schenkt. Aber nichts über euer Neuro Linker, denkt daran, dass ihr die erste Generation mit diesen seid. Macht es wie die Generationen vor euch, macht euch Gedanken und schreibt das zu einem Bericht zusammen. Natürlich könnt ihr den Beitrag ohne Namen schreiben. Ich erwarte eure PDF-Datei in vier Tagen, bis dahin wünsche ich euch noch einen schönen Tag! Und denkt daran, ich kann sehen, von wem die Datei kommt, STRGC&V könnt ihr also getrost bleiben lassen!“ Zeitgleich ertönte der Gong, die Schüler vermummten sich in ihre warmen Winterkleidungen und machten sich auf dem Nachhauseweg. Da sie außer dem Neuro Linker so gut wie keine Schulmaterialien benötigten, verließen die meisten den Klassenraum mit leeren Händen. Manche von ihnen besuchten noch ein paar Nachmittagskurse, wie die Schülerzeitung (auch wenn es keine Papierzeitung  mehr war) oder der Russisch-Leistungskurs; andere wie Haruyuki machten sich direkt auf den Weg nach Hause. Die Schule macht zwar auf modern, aber dann hält sie noch an so alten Traditionen fest, wie eine Anwesenheitspflicht. Mittlerweile sind unsere Leitungen doch so gut und sicher, dass man den Unterricht auch locker über einen Stream verfolgen kann … Das Thema hatte er mit seinen beiden Freunden des Öfteren, aber auch mit den Lehrern, wenn er sich wieder mal etwas Zeit damit ließ, sich im Unterrichtsraum blicken zu lassen. Wenn er sich wieder in das schulinterne Programm eingeloggt und sich als Ferkel seine Zeit mit dem Aufstellen neuer Zeitrekorde vertrieb. Doch er kannte den Grund: Das schulinterne Netzwerk war, wie der Name so schön sagte, auf die Schule begrenzt und wurde in keinem anderem Gebiet genutzt. Auch konnte man, wenn man nicht gerade eine Sondererlaubnis hatte, außerhalb auf dieses Netz eingreifen. Was aber auch den Vorteil mit sich brachte, dass man in der Schule kein Opfer eines Hackerangriffes werden konnte. Dennoch würde es Haruyuki bevorzugen, könnte er in den Genuss eines Heimunterrichts kommen. Leider erfüllte er die Voraussetzungen dafür nicht, und auch waren seine Eltern von der Idee nicht sehr begeistert gewesen. Zumindest waren sie es bis zu ihrer Scheidung, nun sahen sie ihn kaum noch und kümmerten sich darum nicht mehr. Da Haruyuki selbst zu jung war, um sich selbst ein Attest auszustellen, war er wohl oder übel gezwungen, weiterhin in der Schule physikalisch anwesend zu sein.   Komm schon, Haruyuki, so schlimm ist das doch gar nicht. Sonst würdest du ja zu gar keiner Bewegung mehr kommen. Und wir bekämen dich gar nicht mehr zu sehen, nur, wenn wir uns zufällig im Supermarkt treffen. Das wäre echt schade … für uns. Außerdem hast du ja noch Kuroyukihime; sie würde dich vermutlich noch mehr als wir in der Schule vermissen. Das sieht man doch … wie auch immer. Komm zur Schule oder wir drei werden dich jeden Tag dorthin schleifen! Das hatte ihm Chiyuri mit ernstem Blick nahegelegt; und er konnte sich bei seinen Kindheitsfreunden vorstellen, dass sie das auch wirklich umsetzen würden. Doch am meisten hatte ihn die Vorstellung von Kuroyukihimes traurigem Gesicht gemacht, würde sie erfahren, dass er nicht mehr zu ihren gemeinsamen Mittagessen auftauchen würde. Er wollte sie beschützen; dazu gehörten auch ihre Gefühle; welche er damit mehr als verletzen würde.   So seufzte er auf, bevor ihm eine Hand auf die Schulter klopfte. Er erkannte sie sofort, kannte er diese Hand doch bereits fast sein ganzes Leben lang. „Haru, schön, dass du auch bereits Schulschluss hast! Wollen wir zusammen heim gehen?“ Kleine Wölkchen stiegen aus ihrem Mund in den Himmel, erst jetzt bemerkte er, dass sachte kleine Schneeflocken hinunterfielen. Auch bemerkte er den Schal, den sie um ihren Hals gewickelt hatte. „Ist das ein Geschenk von Taku?“, dabei deutete er auf das rot-orangefarbene Farbenspiel. „Der Schal hier? Nein, den hat mir meine Mutter gestrickt; für Geschenke ist es doch noch viel zu früh. Sie will es mir beibringen, damit ich es später selbst mal machen kann. Denke aber nicht, dass ich es allzu schnell lernen werde. Bei ihr sieht es so einfach aus …“ „Hast du es schon mal mit ein paar Tutorial-Videos versucht? Die bieten eigentlich für alles Mögliche eine gute Anleitung, da müsste es bestimmt auch eins dafür geben, wie man das Stricken super einfach erlenen kann!“ Chiyuri verschloss ihre Augen. „Und das weißt du sicherlich deswegen, weil du eins benutzt hast, dass dir sagt, wie man eine Tiefkühlpizza nicht anbrennt, nicht wahr?“ Haru blieb ihr eine Antwort schuldig, doch Chiyuri konnte sich diese bereits denken. Hatte sie die Scheidung seiner Eltern doch mehr als gut mitbekommen; und auch die negativen körperlichen Auswirkungen auf den Jungen selbst. Doch solange er sich nicht helfen lassen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als es immer wieder erfolglos zu versuchen. Wieder schwieg sich Haru aus, da versuchte Chiyuri ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie sah sich ein wenig um. „Achja, Haru, wie kommt es eigentlich, dass du alleine unterwegs bist? Hast du dich mit Kuroyukihime zerstritten?“ Hatte sie sie früher verachtet, war sie ihr zwar heute noch etwas suspekt, aber auch vertrauenswürdig. Immerhin konnte man ihre Gefühle für Haru von der Nasenspitze ablesen; und auch wenn sie schon lange mit Taku zusammen war, so fühlte sie sich für Haru noch immer verantwortlich. Wie für einen kleinen Bruder, auf den man aufpassen muss. Haru selbst sah sie fast schon geschockt an. „Nein, nein, es ist nichts in der Richtung. Wir haben uns zwar geschrieben, aber sie muss heute noch zur Schülersprecherversammlung. Auch wenn sie nicht gerade den Eindruck machte, als hätte sie sonderlich Lust drauf. Naja, kann ich verstehen, ich würde auch nicht gerne zu solchen Treffen gehen, wären mir viel zu diplomatisch.“ Dass das nicht der Grund war, weshalb Kuroyukihime keine Lust auf die Schülersprecherversammlung hatte, konnte Chiyuri sich denken. Sie wollte nur mit dir zusammen nach Hause gehen. Was sie jedoch für sich behielt. Stattdessen stieß sie ein paar gespielte Grummellaute aus, dabei bildeten sich ein paar weitere Wölkchen um ihr Gesicht. Obwohl sie sich noch nicht sehr lange im Freien aufhielten, waren ihre Lippen und Fingerspitzen bereits blau angelaufen. „Ja, das kommt mir bekannt vor. Taku hat heute auch wieder Training und konnte mit mir nicht zusammen nach Hause gehen. Er bereitet sich auf ein wichtiges Turnier vor – also ein echtes und nicht eins in der virtuellen Kampfwelt, in der ihr fast schon lebt.“ Obwohl sie selbst ein Mitglied von Team Nega Nebulus war und selbst in der beschleunigten Welt mitkämpfte, konnte sie sich im Gegensatz zu ihren Teammitglieder nie voll und ganz dafür begeistern. Dennoch tat sie alles, was in ihrer Macht stand, um ihre Freunde bei ihren Kämpfen, Eroberungsfeldzügen und Revierverteidigungen zu unterstützen. Haru sagte nichts, er ging stumm neben ihr her. Leise Flocken verfingen sich in seinem Haar; und auch wenn er nichts sagte, so konnte Chiyu die Enttäuschung ihres Freundes spüren. Hatte er doch gehofft, dass sie wenigstens ein bisschen Begeisterung für das Hobby der Jungs zeigen würde; oder dass sie wenigstens nachvollziehen würde, warum sie gerne in dieser Welt kämpften.   Vom schlechten Gewissen gezwickt, lächelte sie ihn an und haute ihm sachte auf die Schulter. „Aber hey, wenigstens haben wir uns und es ist wirklich eine Ewigkeit her, dass wir beide alleine waren, uns unterhalten haben. Die meiste Zeit sehen wir uns ja doch nur in der Schule oder wenn wir irgendwas im Clan machen. So eine Unterhaltung, nur du und ich, das hatten wir wirklich schon lange nicht mehr und ich finde es schön, dass wir endlich dazu kommen.“ Haru erwiderte nun ihr Lächeln, er selbst genoss die Gespräche mit ihr ebenfalls sehr. Zwar unterhielt er sich oft auch mit Kuroyukihime; oder Taku, doch diese Gespräche waren sehr von ihrem Clan oder den Kämpfen geprägt. Hin und wieder unterhalten sich Taku und er über Mädchen im Allgemeinen; und Kuroyukihime erkundigte sich nach seinem Befinden, doch mit Chiyu war es doch noch etwas anderes. „Sag mir“, fing sie an und wechselte tanzend von einer Seite zur anderen. „Wie war dein Unterricht heute? War dieser Kageguwa schon wieder so abartig streng?“ Haru begann, ein paar Mienen des recht strengen Mathematiklehrers nachzuahmen, ebenso auch ein paar seiner berühmt-berüchtigten Sätze über die Wichtigkeit der Mathematik im Leben und dem melodischen Klang mancher Formeln. „Wenigstens hat er nicht wieder versucht, uns seine uralte Formelsammlung schmackhaft zu machen. Es mag sein, dass es vor ein paar Jahrzehnten so üblich war, dass man auf ein kleines Buch angewiesen war. Aber unsere Generation wächst mit dem Neuro Linker auf; und dieser enthält eine ziemlich gut detaillierte Formelsammlung. Aber wenn es nach ihm gehen würde, würde man die Dinger heute noch drucken. Nicht, dass Papier nicht sehr wertvoll und selten wäre …“ Chiyu kannte seine Einstellung zur digitalen Welt sehr gut; und auch wenn sie die Vorzüge des Neuro Linker nicht von der Hand weisen konnte, so wollte sie das Leben, dass ihre Eltern oder auch die älteren Mitschüler gelebt hatten, nicht komplett abweisen. So hatte sie erst vor kurzem die Freude an analogen Büchern entdeckt, den Geruch von altem Papier und Staub; etwas, was für den jungen Haruyuki unvorstellbar ist. „Hol dir das doch auf dein E-Book, wenn du es nicht per Neuro Linker lesen möchtest;“ hätte er ihr vermutlich geraten. Doch so sehr sie ihr E-Book liebte, so liebte sie auch das Gefühl von alten Büchern in ihren Händen. „Ansonsten war es ganz ok; die letzte Stunde war etwas langweilig, aber sonst ging es eigentlich. Und, wie war es bei dir so?“ Er sah sie neugierig an, seine Wangen leicht rosa von der Kälte. „Och, bei mir war es auch ok, wir haben einen kleinen Test geschrieben, aber der war echt kinderleicht. Wir konnten zwar nicht das Internet nutzen; oder das interne Schulsystem, aber wir konnten uns recht gut untereinander austauschen. Der alte Herr Takagi ist nicht gerade sehr aufmerksam; und so konnten wir einfach voneinander abschreiben.“ „Takagi, Takagi …“, begann Haru nachzudenken. „Ist das nicht einer der wenigen Lehrer, die ihre Schüler noch Papierprüfungen schreiben lässt, weil sie selbst keinen Zugriff auf das Lernsystem haben?“ Chiyu nickte. „Vermutlich wollte er auch keinen Zugriff bekommen; weswegen wir dieses uralte Recyclingpapier bekommen. Aber reden wir lieber nicht darüber. Mich würde eher dieses langweilige Thema aus deiner letzten Stunde interessieren; worum ging es denn?“   Haru zögert einen Augenblick, dann fing er zu erzählen an. „Es ging um Weihnachten und den Sinn von Geschenken. Dass das Ganze mit der Geburt eines kleinen Jungen angefangen hatte und dass die Menschen den Sinn und die Art des Festes über die Jahre immer mehr so weit änderten, bis es irgendwann nichts mehr mit dem Ursprung zu tun hatte. Dass die Menschen sich früher mehr Mühe und Gedanken beim Beschenken gemacht hatten, und dass sie sich nicht nur digitale Dinge oder Bestellungen per Drohne gegeben haben. So wie es unsere Eltern noch gewohnt waren. Angeblich sind die Menschen vor rund 30 Jahren noch in kirchliche Einrichtungen gegangen, um dort mit ihrer Gemeinden Weihnachten zu feiern und haben dabei ihre religiösen Abbilder verehrt. Ziemlich seltsam, wenn du mich das fragst …“ Chiyu grinste in sich hinein, wenn auch gleich sie ihm aufmerksam zugehört hatte. Gleichzeitig bereute sie es, dass ihr Religionslehrer nicht solche Geschichten erzählte, sondern immer nur auf den Fehlern der einzelnen Religionen pochte und auf den diversen Kriegen, die ihretwegen ausgebrochen waren. „Dafür, dass es langweilig war, ist dir aber recht viel davon hängen geblieben“; zwinkerte sie ihm zu. „Ja, ich dachte, ich könnte trotzdem mal aufmerksam sein; und ich konnte mir davon wohl doch mehr merken, als ich dachte.“ Nervös rieb er sich über seinen Neuro Linker, dass es weder etwas Aufregendes in der beschleunigten Welt gab, noch von seinen Freunden, verschwieg er ihr lieber. Sie musste nicht noch einen schlechteren Eindruck von ihm bekommen als sie sowieso schon in dem Thema von ihm hatte. „Jedenfalls hat er uns als Hausaufgabe aufgegeben, dass wir uns Gedanken darüber machen sollen, was wir unserer Familie und Freunden zu Weihnachten schenken würden. Aber nichts rein digitales, er will, dass wir uns Mühe bei der Geschenkwahl geben sollen. Als ob es so etwas besonders wäre …“ Traurig sah sie zum Jungen hinunter, wie er versuchte, seine Traurigkeit durch Gleichgültigkeit zu überspielen. Seit seine Eltern geschieden waren und seine Mutter am Tag arbeiten musste, haben sich die beiden kaum zu sehen bekommen. Auch nicht an den Weihnachtsfeiertagen, an welchem sie ihm nur irgendeinen Spiele-Downloadcode oder gleich einen gewissen Geldbetrag überwies. Zwar verbrachte er den einen oder anderen Feiertag mit ihr und ihrer Familie, trotzdem glänzten seine Augen schon lange nicht mehr so intensiv, wie sie es vor Jahren um die Zeit rum getan haben. Als seine Eltern noch glücklich zusammen waren und er selbst fröhlich. Bevor er anfing, an Gewicht und Masse zuzulegen. „Ach, komm schon, das ist doch gar nicht so schlecht! Ich finde, dass das eine süße Aufgabe ist. Ich wollte dich an Heiligabend sowieso zu uns einladen, mit meiner Familie und Taku das Fest zu feiern. Dann wäre es doch eine super Gelegenheit, deine Hausaufgabe zu erledigen! Wie ich deine Mutter kenne, wird sie an dem Tag auch wieder arbeiten müssen. Und nein, ich möchte keine Ausflüchte hören, sondern einfach nur ein „Ja, ich komme gerne!“. Ansonsten gehe ich dir mit der Einladung so lange auf die Nerven, bis du nicht anders als kannst als zuzustimmen.“ Sie wuschelte ihm den Kopf, brachte seine Haare noch mehr durcheinander als sie es bereits waren. Einzelne Tropfen flogen herum, verteilten sich auf seinem Kopf und sahen aus wie Frühlingstau. Er lächelte, und presste ein gerührtes „Ja, ich komme gerne“ heraus, was sie zufrieden stimmte. Noch immer liefen die beiden nebeneinander her, einzelne Passanten kamen ihnen entgegen und auf der Straße kämpften ein paar wenige Autos gegen den matschigen Schnee, der sich überall gebildet hatte.   „Wenn du möchtest, laden wir Kuroyukihime auch zu uns ein, damit sie gemeinsam mit uns feiern kann, wenn sie das möchte“, meinte Chiyu nach ein paar Minuten, gefüllt mit stummem Schweigen. „Sie ist … auch alleine, nicht wahr?“ Chiyus Augen trafen die seinen, sie konnte seinen Blick nicht recht deuten. War es Mitleid, das sie dort sah? War er traurig? „Sie wird bestimmt kommen, vor allem wenn du sie fragst, Haru. Immerhin kennt ihr euch am längsten und ich glaube, dass sie dich am liebsten mag … immerhin sind wir ja jetzt eine Gilde, da können wir auch gerne mal gemeinsame Aktivitäten neben der Gilden-Kämpfe haben. Also, noch mehr gemeinsame Aktivitäten in der Art.“ Sie brach ab, dass das Gespräch in die Richtung rutschen würde, hatte sie so nicht geplant. Sie wollte den internetsüchtigen Jungen dazu ermutigen, endlich wieder außerhalb seiner virtuellen Welten aktiver zu werden; doch sie wollte dies nicht mit einer Mitleidstour tun. Hatte sie ihm doch bereits mehr als einmal deutlich gemacht, dass sie sich die früheren Zeiten zurückwünschte. Doch das wollte sie nicht ein weiteres Mal durchkauen, nicht in diesen Moment, der ihr dafür nicht passend erschien. Viel lieber wollte sie über Harus Geschenkpläne sprechen. Jeder mag Geschenke; und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Haru eine Ausnahme davon war. Was sowohl das Beschenken, als das Geschenkt werden betraf, war zumindest sie selbst jedes Jahr mit Feuereifer dabei. „Sag mal, was würdest du ihr eigentlich zu Weihnachten schenken? Sie wirkt jetzt nicht so auf mich, als würde sie auf die klassischen Geschenke ala Parfüm, Schmuck und Pralinen stehen.“ Haru wurde augenblicklich rot, seine Wangen glühten nahezu. Er selbst hatte sich auch darum keine Gedanken gemacht und fühlte sich daher ein wenig von seiner Freundin überrumpelt. „Naja“, fing er stammelnd an. „Ich würde wohl versuchen, in der Accel World irgendeinen besonderen Gegenstand zu finden, den ihn ihr dann schenken kann. Oder versuchen ein Gebiet für unsere Gilde zu finden …“ Eine Handkante traf den Jungen, sich leise beschwerend hielt er sich den Kopf. „Chiyu, was sollte das denn bitte werden?“ Diese baute sich vor ihm auf, die Hände in die Hände gestützt. Mehrere kleine Atemwölkchen stiegen an ihrem Gesicht entlang auf; und er konnte deutlich an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie von der Idee alles andere als begeistert war. „Mein Lieber, deine Ausdauer ist wohl nicht das einzige, das du dringend mal wieder trainieren solltest!“ Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. „Ich mein, so ein olles Gameitem oder ein Gebiet kannst du jederzeit für sie holen. Aber was hat dein Lehrer gesagt? Dass man sich Mühe mit der Wahl seines Geschenkes geben soll. Besonders Weihnachten ist neben dem Geburtstag einer der zwei Festlichkeiten, bei denen man sich Gedanken um den Beschenkten machen soll. Komm schon, ich bin mir sicher, dass es etwas gibt, über dass sie sich noch mehr freuen würde …“ Sie dachte eine Weile nach, dann begann sie wieder zu lächeln. Haru war sich nicht sicher, ob er ihr noch weiter zuhören oder lieber nach Hause gehen sollte. „Mal eine Frage, mein Lieber … wie viel Geld hat dir deine Mutter überwiesen?“ Dass sie ihn „mein Lieber“ nannte, machte sie in seinen Augen noch verdächtiger. „Öhm, da ich nicht mehr von Araya belästigt werde, habe ich genug von meinem Mittagsessen übrig … und meine Mutter hat mir auch erst eine Taschengelderhöhung gegeben, auch wenn ich fast keine kostenpflichtigen Onlinespiele mehr spiele … wieso, was hast du denn vor?“ Chiyu grinste ihn schon fast diabolisch an. „Das trifft sich gut, ich habe ebenfalls vor kurzem mein Taschengeld bekommen. Aber keine Angst, es wird nicht wehtun. Ich möchte einfach nur, dass du mir mit mitkommst; das ist alles. Du hast doch heute nichts vor, oder?“ Harus Tag war größtenteils frei von Terminen, er hätte sich lediglich in die Accel World begeben, um dort ein wenig zu trainieren und eventuell mit Kuroyukihime ein paar Stunden lang gechattet. Doch fürchtete er ihre Reaktion, wenn er ihre Pläne, welche das auch immer sein mögen, ablehnen würde. Daher schüttelte er dezent den Kopf. „Na also, geht doch! Ich verspreche dir, es wird toll werden! Viel besser, als einfach über ein Internetportal ganz unpersönlich eine Massenbestellung zu machen!“ Mit diesen Worten schnappte sie sich seine Hand und zog ihn mit flotten Schritten in die Richtung eines Einkaufsviertels.   In Zeiten wie diesen, in welchen immer mehr Dinge der realen Welt in die virtuelle Welt verlagert wurde, gingen immer kleine Tante-Emma-Läden in den Bankrott. Die Menschen verlegten ihre Einkäufe in die virtuelle Welt, auch wurden Apotheken, Nahrungs- und Futterlieferservices immer beliebter. Sogar Kleidungen wurden vermehrt online bestellt, wobei die heutigen im Gegensatz zu ihren Vorfahren auf armdicke Kataloge verzichteten, man konnte ihr gesamtes Sortiment wunderbar auf den jeweiligen Internetseiten betrachten, bestellen und auch gegebenenfalls wieder zurückschicken. Ginge es nach Haru, sollte jeder all seine Tätigkeiten über das Internet tätigen, aber auch in diesem Punkt war er bei seiner Freundin auf taube Ohren gestoßen. Das Resultat vom Lieferboom war jedoch nicht, dass massenweise Geschäfte aufgegeben und geschlossen werden mussten. Viele, teils auch erbitterte Konkurrenten haben sich immer und immer wieder zusammengesetzt, miteinander diskutiert und Lösungen für die modernen Probleme des Einzelhandels gesucht. Am Ende kamen einigten sie sich darauf, sämtliche Läden, Filialen oder Ketten zu fusionieren und zusammen zu arbeiten. Dadurch entstanden vielerorts Einkaufsviertel, die sich mehr denn je gegen das Sterben des Einzelhandels einsetzten. Das Neo-Shibuya-Einkaufsviertel gehörte zu den beliebtesten Vierteln in der Gegend, und genau dieses hatte sich Chiyu für ihre spontane Shoppingtour ausgesucht.   Nachdem sie mit dem Bus mehrere Haltestationen hinter sich gebracht hatten, stiegen die beiden direkt vor dem Einkaufsviertel aus. Der Schneefall war mittlerweile gestoppt, wärmer war es in der kurzen Zeit nicht geworden. Chiyu zog den Schal enger um sich, ihre roten Wangen und Nase bildeten einen angenehmen Kontrast zur orangen Farbe des Schals. Haru wünschte sich, er hätte wenigstens an seine Mütze gedacht; doch diese lag zuhause auf der Kommode, wo sie ihm jetzt herzlich wenig brachte. Zwar war das Internet seit Jahrzehnten ein fester Bestand des täglichen Lebens und dennoch nutzten viele immer sehr gerne die Vorteile, die ein Offline-Handel mit sich brachte. Viele Kunden, in Mantel, Schal und Mütze eingewickelt, wuselten aufgeregt zwischen den Läden hin und her. Beratungsfreudige Kunden versorgten einen Kunden nach dem anderen mit Rat und Tat; oder räumten dem heillosen Chaos hinterher, das gelangweilte Kinder, aufgedrehte Mütter und aggressive Teenager hinterließen. Hier und da schnappte ein Hund nach herunterfallenden Schneeflocken und Bratwürsten; wenn sie nicht gerade an einem Überfluss an interessanten Gerüchen litten. Haru selbst betrat eher selten einen Laden, um sich beraten zu lassen. Wenn doch, dann meistens nur, um ein paar Vergleiche zu stellen und dann das jeweilige Produkt für ein paar hundert Yen günstiger im Online-Versandhandel zu bestellen. „Genau solche Leute wie du sind an der Einzelhandelskrise vor ein paar Jahren schuld“, beschwerte sich Chiyu, wenn auch gleich sie bei dem Thema wieder auf taube Ohren bei ihm stieß. Diese baute sich vor ihrem Kumpel auf und sah ihn vergnügt an.   „Also, da das Ganze bei dir ja doch ein paar Jährchen her ist, dass du dir ernsthaft Mühe bei der Geschenkewahl gegeben hast; und in einem Laden unterwegs, werden wir einen kleinen Plan ausarbeiten. Sieh es … wie eine Art Spiel, wie eine … Quest!“; fügte sie rasch hinzu. Er sah sie verwundert an, sie erwiderte den Blick siegessicher. „Ich bin mir nicht sicher, wie du das meinst, Chiyu …“ „Ach, im Grunde ist es doch ganz einfach: Du kannst es einfach mit einer Sammelquest vergleichen, bei der du verschiedene Gegenstände sammeln und dem Questgeber übergeben musst. Für diese Mission hier bin ich dein Questmeister; und es wird deine Aufgabe sein, passende Weihnachtsgeschenke zu finden, die du deinen Lieben schenken willst. Die Bedingungen dabei sind, dass es den jeweiligen Personen gefallen könnte, und dass es etwas kreativer als ein oller Gutschein ist. Außerdem muss alles in das Budget hineinpassen, dass wir zur Verfügung hab en. Außerdem sind es Einzelmissionen, damit auch unsere Geschenke ein Geheimnis bleiben. Aber die Geschenke für die anderen können wir uns ruhig zeigen, das ist kein Problem. Du kannst zweimal den Chiyu-Cheat benutzen, wenn du bei einer Geschenkewahl gar nicht mehr weiterkommst. Ebenso darf ich dann aber auch den Haru-Cheat benutzen. Ansonsten ist Nachsehen mit dem Neuro Linker verboten. Habe ich etwas vergessen … achja! Alle Geschenke müssen in diesem Viertel gefunden UND gekauft werden. Also kannst du deine Onlinekäufe gleich wieder vergessen, mein Lieber. Das Ganze geht drei Stunden, ich denke, das müsste für uns beide reichen. Treffpunkt ist …“ Sie sah sich um, dann deutete sie auf einen mannshohen Blumentopf. „Wir treffen uns dann einfach dort, bei diesem Topf. Hast du noch irgendwelche Fragen oder ist dir noch irgendetwas unklar?“ Haru sah sie mit offenen Mund an; so, wie sie es formulierte, klang es bestimmend, aber auch ein wenig wie ein Quest in einem seiner Lieblings-MMORPGs, von einem schwierigen Klienten. Ob sie sich das alles jetzt während der Busfahrt hat einfallen lassen? Oder ob sie schon den ganzen Tag darüber brütete? In Harus Sicht war es so oder so beeindruckend, fühlte er sich doch bereits motiviert. Dann stockte er. „Moment, eine Sache hast du vergessen! Am Ende jeder Quest bekommt der Spieler eine Belohnung, in Form von Ingame-Geld, Erfahrungspunkten oder Items. Aber was ist denn die Belohnung für diese Quest? Etwa die Geschenke und die Erfahrung, die wir beim Einkaufen dieser machen werden?“ Chiyu sah ihn amüsiert an, dann holte sie aus ihrer Schultasche ein paar Zettel hervor und winkte damit vor seiner Nase herum. „Nun, eigentlich wollte ich dir diese Pizza-Gutscheine geben, damit du auch mal andere Pizzen isst als immer nur diesen ekligen Auftaukram, aber gut, wenn dir die Einkauferfahrungen reichen ….“ Haru sah sie alarmiert  an, als sie zu lächeln begann, wusste er, dass er aufatmen konnte „Ach was, ich mach doch nur Scherze mit dir. Natürlich bekommst du ein diese Gutscheine. Aber erst, wenn du die Quest erfüllst und ein paar ordentliche Geschenke abliefern kannst. Meinetwegen auch hier bereits eingepackt. Na, meinst du, du schaffst das? Oder heißt es für dich etwa jetzt schon: Game end?“ „Chiyu, es heißt immer noch Game Over“, berichtigte er sie amüsiert. Wenn es um Videospiele ging, tat sie sich oft mit den für ihn einfachsten Dingen schwer. Doch sie zeigte ein gewisses (wenn auch ein sehr geringes in seinen Augen) Interesse für sein Hobby, weswegen er sich nicht ganz so verloren fühlte. Dafür machte es ihr nichts aus, wenn er sie in irgendeiner Weise korrigierte. „Dann eben Game Over, mir auch recht!“ Sie trat einen Schritt auf ihn zu und stemmte die Arme in die Hüfte. Mehr Wölkchen stiegen aus ihrer Nase und Mund heraus. „Trotzdem, lenk nicht ab! Bist du nun bei der Quest mit dabei, oder nicht?“ Langsam etwas motiviert von Chiyus liebenswerter Idee, ballte er die Faust und lächelte sie siegessicher an. „Es gibt keine Herausforderung, der ich mich nicht stellen kann. Das werde ich dir zeigen!“ Chiyu grinste vor sich hin, warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr und hob die Hand. „Gut, dann sehe ich das mal als ein Ja an … gut, dann … geht’s jetzt los! Bis in drei Stunden, ‚Haru!“ Sie winkte ihm zu, dann war sie bereits in der Menschenmenge verschwunden. Haru dagegen sah ihr ein wenig unsicher hinterher, dann machte er sich ebenfalls auf den Weg.   Doch so leicht, wie er es Chiyu gegenüber behauptet hatte, fiel es ihm doch nicht. War er schon lange nicht mehr gewohnt, größere Menschenmassen außerhalb der Schule zu sehen, machte ihn die ganze Situation ein wenig nervös. Die Jacke hochgezogen, die Händen in den Taschen vergraben, schlich er langsam in die erste Mall. Von Laden zu Laden sah er sich um, betrachtete schüchtern die Auslagen und Artikel und achtete darauf, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu bekommen. Zwar hatte er in der Richtung nichts zu befürchten, wenn auch gleich er sich wünschte, er hätte sich nicht auf diese Sache eingelassen und könnte die Geschenke bequem auf dem Sofa sitzend bestellen. Tief seufzend versuchte er sich zu entspannen, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Seine Gedanken sammelnd, setze er sich auf eine Männerbank und beobachtete seine Mitmenschen, wie sie locker und fröhlich durch die Gänge und in die Geschäfte liefen, mehrere Einkaufstaschen tragend. Geschenke, Geschenke … was könnte ich ihnen überhaupt schenken?     Ratlos sah der junge Teenager in seine leeren Hände. Zuhause würde er einfach in den Merklisten der jeweiligen Personen nachsehen und dann etwas von dem bestellen, was sie sich wünschen würden.  Was ihm Chiyu im Rahmen ihrer Einkaufs-Quest verboten hatte. Komm schon, Haru! Du hast dich schon viel schlimmeren Aufgaben gestellt. Was ist da schon dabei? Ich sollte mich endlich mal zusammenreißen! Sachte, aber bestimmt klopfte er sich auf die Wangen, dann sprang er auf und betrat den nächstbesten Laden, den er von seinem Sitzplatz aus sah. Dort inspizierte er die angebotenen Artikel, verglich sie, wie sehr sie als Geschenk tauglich waren und verließ den Laden zur Not auch wieder mit leeren Händen. Das Geschenk für seine Mutter stellte sich als die leichteste Aufgabe in der gesamten Quest. In einem Geschäft für Haushaltswaren und –Artikeln fand er einen hellblauen Reiskocher, der gut für einen Zwei-Personen-Haushalt geeignet war. Er wusste, dass seine Mutter sich schon lange einen funktionierenden Reiskocher für sich und ihn wünschte, aber aufgrund ihrer Arbeit nie dazu kam, sich einen zu bestellen. Haru inspizierte das Gerät, und auch wenn es nicht kompatibel mit seinem Neuro Linker war (dazu war das Gerät zu preiswert), doch das störte ihn kaum. Als kleines Kind fand er Reiskocher mehr als faszinierend und er bereute es, dass er nie einen neuen geholt hatte. Mit großer Vorfreude auf so manches leckeres Reisgericht ließ er den Kocher einpacken und verließ das Geschäft, mit der guten Hoffnung, bei den Anderen ebenfalls so schnell etwas Gutes finden zu können. Sein bester Freund Takumu machte es ihm ebenfalls einfach. Nachdem er sich in mehreren Sportgeschäften umgesehen und Preise verglichen hatte, hatte er sich für ihn ein Paar neue Ellenbogenschütze und ein neues, tiefschwarzes Hakama herausgesucht. Wusste er  doch, das Takumu als aktiver und begeisterter Kendokämpfer immer mal wieder neue Ausrüstung brauchte. Vor allem über sein Hakama hatte er sich die letzte Zeit beim Mittagessen beschwert, und er hoffte, dass Chiyu nicht auf die gleiche Idee gekommen war. Er pokerte einfach darauf, dass sie ihm etwas persönlicheres schenken würde. Etwas, was nur zwischen ihnen beiden eine besondere Bedeutung hatte. Aber er wollte die Entscheidung nicht bereuen und schüttelte somit sämtliche Gedanken ab. Als nächstes nahm er sich Chiyus Geschenk vor, dafür brauchte er ein wenig mehr Anläufe und Versuche. Er hatte sich dafür entschieden, ihr einen neuen digitalen Bilderrahmen zu kaufen (der letzte ist ihr bei einem Unfall zerbrochen) – einen einfachen, schlichten, wie ihn nun so gut wie jede Drogerie massenweise im Sortiment hatte. Jedoch war es einer in ihrer Lieblingsfarbe und er wusste, dass sie sich darüber freuen würde. Da die modernen Bilderrahmen bis zu 32 Terabyte Speicherplatz verfügten, konnte sie nun auch all ihre Bilder darauf speichern – dass sie es früher nicht konnte, war eine Tatsache, die sie ihm beiläufig erzählte, als er sie einmal besucht hatte.   Stolz betrachtete er seine Einkäufe; und wollte sich nun auf den Weg machen, das letzte zu kaufen, als er immer langsamer wurde und schließlich in der umherirrenden Menge stehen blieb. Er hatte sich die ganze Zeit keine Gedanken darüber gemacht, hatte er sich doch zuerst auf seine Mutter und seine beiden anderen Freunde konzentriert. Doch nun musste er sich Gedanken um Kuroyukihimes Geschenk machen und ihm wurde zum ersten Mal richtig bewusst, dass er so gut wie keine Ahnung hatte, in welche Richtung er zuerst gehen sollte. In welchen Laden er gehen sollte. Und was er ihr zuerst holen sollte. Immerhin sollte es etwas sein, dass ihr gefällt und dass zu ihr passt. Etwas, mit dem er sie wirklich glücklich machen würde. Komm schon, Haruyuki! Das mag zwar der schwerste Teil der Quest sein, aber das wirst du bestimmt auch schaffen. Am Ende ist es gar nicht so schwer! Von sich selbst und seinen Gedanken ein wenig ermutigt, raffte er sich auf und betrat den nächstbesten Laden, den er für richtig hielt. Doch ganz so einfach, wie er es sich erhofft und auch gleichzeitig befürchtet hatte, wurde es für ihn nicht. Immer wieder hatte er eine Idee, die er dann aus mehreren Gründen wieder verwarf. Kleider und Shirts, bei der er sich bezüglich ihrer Kleidergröße nicht sicher war; zu teuer für sein restliches Einkaufsbudget oder allgemein nicht zu ihrem Kleidungsstil passen wollten. Parfüm und die vielen verschiedenen Gerüche verwirrten ihn. Ein Haustier wollte er ihr nicht schenken, zumal er nicht wusste, ob sie nicht eine eventuelle Allergie besaß und ob sie überhaupt eins besitzen wollte. Immer mehr Zweifel überkamen ihn, und engten ihn immer mehr gedanklich ein. Sie wirkte immer so perfekt und so schön auf ihn – wie jemand, der bereits alles hat und alles bekommen kann, was er möchte. Mit einem Fingerschnippen. Doch was schenkt man so jemanden? Würde ihr überhaupt gefallen, was er ihr schenkt? Oder wäre sie zutiefst verletzt davon? Verwirrt und verunsichert saß er sich auf eine leere Sitzbank, die Taschen zwischen seine Beine gepresst. Seine Augen starrten leer auf den Boden, und er konnte seine Gedanken nicht mehr ordnen. Mittlerweile hatte er fast die Hälfte aller Läden, die sich im Viertel befanden, durchforstet und trotzdem nichts gefunden, von dem er sich sicher war, dass es das perfekte Geschenk für sie sein würde. Er spürte, wie es ihm schwer ums Herz wurde, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete und sich die Tränen in seinen Augen sammelten. Ein kleiner Seufzer, hatte er sich doch erhofft, wenigstens irgendetwas zu finden. Warum nur bin ich so unfähig? Warum nur schaffe ich es nicht? Ich will Senpai nicht enttäuschen … wieso nur? Wieso gelingt es mir nicht? Wieso? Leise liefen die Tränen seine Wangen hinunter, ein paar Sekunden wischte er sie sich schniefend mit dem Ärmel weg. Doch sie wollten nicht aufhören zu fließen und auch wenn er nicht lauthals zu schluchzen begann, so wollten die Tränen nicht aufhören. Im Gegenteil, es wurden immer mehr und er fühlte sich immer hilfloser. Er wünschte sich, Chiyu wäre hier und gleichzeitig ist er froh, dass sie nicht an seiner Seite war, denn dann würde er sich zu sehr dafür schämen und wegrennen. Dabei murmelte unverständliche Worte, von denen er hinterher nicht mehr sagen konnte, welche es waren.   „Bitte sehr, ein Taschentuch, auch für Sie, mein Herr! Nehmen Sie sich ein Taschentuch, wir verteilen sie nur heute! Und kommen sie uns in unserem Café besuchen, wir haben heute auch nette Angebote!“ Eine hübsche junge Frau bahnte sich langsam ihren Weg durch die Menge, sprach viele Passanten an und verteilte Taschentücher aus ihrem geflochtenen Einkaufskorb. Viele nahmen sie dankbar an, viele andere beschleunigten ihre Schritte oder ignorierten die junge Dame. Manch einer nahm die Einladung gerne war und machte sich auf den Weg zu besagtem Café, die meisten hatten jedoch nur ein wahres Interesse: Ihre Weihnachtseinkäufe so schnell und so stressfrei wie möglich hinter sich zu bringen. So kam die junge Frau schließlich in Harus Nähe, und als sie den Jungen, weinend und zusammengesunken sah, spürte sie Mitleid. Erinnerte er sie doch an ihren kleinen Bruder, der auch immer mal wieder seinen Gefühlen offen freie Bahn ließ. Auch schmerzte sie es zu sehen, dass da offensichtlich ein kleines Kind Probleme hat; sich aber niemand um es kümmert. Das war eines der Dinge, die sie an der Gesellschaft immer wieder suchte, aber nicht fand. Ihre Mutter und auch ihre Großmutter erzählten ihr Geschichten, von Menschen, die noch aneinander achteten und sich um sich um ihre Mitmenschen kümmerten. Aber hier und jetzt, im Jahr 2046, achteten die Menschen nun so gut wie gar nicht mehr auf andere; dabei soll es in ihren eigenen Jugenden schon schlimm gewesen sein. Ihrer guten Erziehung folgend, ging sie auf den Jungen zu und reicht ihm eines der Werbe-Taschentücher. „Ist alles in Ordnung bei dir? Hast du dir wehgetan?“ Mit tränenreichen Augen sah der fremde Junge zu ihr hoch, dann wischte er sich erneut die Tränen weg. Dabei färbten sich seine Wangen rot. Man konnte ihm ansehen, dass es ihm ein wenig unangenehm war, dass sie ihn so sah; aber er war auch ein wenig überrascht. Dieser Junge war noch mehr in dieser Gesellschaft aufgewachsen, in einer, in der zwischenmenschliche Freundlichkeit abseits von Onlinespielen und Spendengalas eine wahre Rarität geworden war. Freundlich lächelnd hielt sie ihm immer noch das eingepackte Taschentuch hin, welches er zögernd annahm und auspackte. „Danke schön …“, murmelte er, bevor er sein Gesicht darin vergrub. Die junge Frau dagegen setzte sich nur neben ihn und legte vorsichtig ihren Arm um seine breite Schulter. „Ich kann es einfach nicht sehen, wenn ein kleines Kind wie du weinen muss. Weder bei meinem Bruder, noch bei jemand anderen. Wenn du möchtest, können wir gerne darüber, was auch immer dich bedrückt … mein Name ist Mishima Ayumi, und wie heißt du, mein Kleiner?“ Ein wenig Schniefen, ein kurzes Schnäuzen. Langsam versiegten auch die Tränen, dennoch brauchte er ein paar Minuten, bis er sich beruhigt hatte und halbwegs normal reden konnte. „Mein … mein Name ist Arita Haruyuki; und … ich habe ein kleines Problem. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!“ Sachte begann sie seinen Rücken zu streicheln, hatte sie doch bei ihrem Bruder gelernt, dass Probleme in dem Alter gerne mal größer aufgenommen werden als sie eigentlich sind, man sie aber trotzdem ernst nehmen sollte. Dass es den betroffenen Kindern nicht half, wenn man ihre Probleme herunterspielte. Sie spürte, dass es ihm guttat und dass es ihm gefiel. „Was ist denn dein Problem, wenn ich dich fragen darf? Du musst es mir nicht sagen, aber vielleicht kann ich dir dabei helfen, das Problem zu lösen?“ Immer noch etwas unsicher sah er sie an, und es stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass er mit sich haderte, ob er mit ihr über sein Problem reden sollte oder nicht. Sie ließ ihm ein paar Augenblicke Zeit und wollte ihn gerade darüber beruhigen, dass er es ihr nicht sagen müsste, wenn er das nicht wollte. Da nahm er einen tiefen Atemzug und sah wieder auf den Boden.   „Es ist eigentlich nichts besonderes … ich bin gerade bei, für meine Freunde ein paar Geschenke einzukaufen. Und ich suche gerade ein ganz besonderes Geschenk für eine Freundin. Aber ich finde nichts, dass ich ihr schenken könnte; etwas, dass ihr zu 100% gefallen könnte. Ich will einfach nicht, dass sie denkt, dass ich ein schlechter Freund bin und ihr was schlechtes schenke. Vor allem, da wir noch nicht so lange befreundet sind …“ Seine Stimme starb ab, und auch wenn er nicht viel gesagt hatte, war für Ayumi der Fall glasklar. Das ist ja süß! Sie kicherte kurz vor sich hin, dann nahm sie ihren Arm zurück und sah ihn neugierig an. „Diese Freundin … sie ist wohl sehr wichtig für dich, oder? Eine ganz besondere Freundin?“ Sie war sich nicht sicher, ob er ihre Worte so verstand, wie sie es gemeint hatte; und er selbst war sich auch nicht sehr sicher darüber. „Ja, sie ist eine sehr besondere Freundin für mich. Sie ist mein Vorbild und ich möchte so sein wie sie … deswegen ist es mir ja so wichtig, dass ich ein Geschenk für sie finde! Aber ich finde nichts, dass gut genug für ist. Nichts, dass ihr wirklich gefallen könnte!“ Ayumi kicherte ein wenig weiter, dann entschuldigte sie sich dafür. „Tut mir leid, denk jetzt nicht, dass ich dich auslache. Aber ich bin mir sicher, dass du für sie genauso wichtig bist, wie sie für dich. Oder habe ich da etwa Recht?“ Haru dachte an das Geständnis, dass sie ihm gemacht hatte, bevor sie von Arayas Auto getroffen wurde und wurde ein wenig rot. Wieder flossen ein paar Tränen, doch dieses Mal musste er nicht weinen. Er wischte sich die Tränen weg, mit hochroten Wangen. Für Ayumi war das Antwort genug. „Ich kenne deine Freundin jetzt nicht, aber ich bin mir sicher, dass es ihr nicht darauf ankommt, dass ein Geschenk von dir perfekt oder teuer oder zu 100% passend sein muss. Nein, ich denke, sie wird da andere Kriterien haben, als du denkst. Ich bin mir sicher, dass sie sich über etwas freut, dass du ihr von Herzen schenkst. Das wird sie mehr zum lächeln bringen, als das es das beste Geschenk der Welt machen könnte. Bestimmt gibt es etwas, ein Geheimnis oder ein Zeichnen, dass es nur zwischen euch beiden gibt; etwas, das euch verbindet. Und darüber wird sie sich dann wirklich freuen können.“ Wie bei Chiyu und Taku …   Ohne dass er es merkte, brachten ihn diese Worte zum Nachdenken. Stumm betrachtete er das Taschentuch, dass ihm Ayumi gegeben hat; und sah zum ersten Mal das Motiv, dass darauf abgebildet war. Neben dem Logo konnte man ein paar kleine Schweinchen sehen, die fröhlich mit ein paar Maracas herumliefen und dabei fröhlich Musiknoten von sich gaben. Haru betrachtete die kleinen Tierchen, dann hellte sich sein Gesicht auf und er begann zu lächeln. Dann stand er auf, nahm seine Taschen und verbeugte sich tief. „Vielen lieben Dank, ich hatte tatsächlich eine gute Idee. Vielen Dank für alles, auch für das Taschentuch … könnte ich davon bitte noch eines bekommen?“ Ayumi winkte ab, war es doch für sie eine Selbstverständlichkeit, ihren Mitmenschen so oft und gut wie möglich zu helfen. „Das habe ich doch gerne getan! Und ich freue mich, dass ich dir helfen konnte! Natürlich kannst du noch eins haben … bitte schön!“ Sie reichte es ihm , er verneigte sich ein weiteres Mal und lief dann aufgeregt davon. Ayumi sah ihm noch eine Weile nach, dann machte sie sich selbst auf den Weg und verteilte die restliche Taschentücher an andere Einkäufer und potenzielle Kunden.   Auch dieses Mal ging er von Geschäft zu Geschäft, doch im Gegensatz zum letzten Mal hatte er eine Idee und ein Ziel, dem er nun nachging. Hier und da suchte er, verglich Artikel und Preise, bis er schließlich etwas gefunden habe, dass ihm gefiel. Etwas, das genau dem entsprach, dass er suchte; und dass er ihr unbedingt schenken möchte. Glücklich, als hätte er den größten Schatz der Welt gefunden, nahm er das Plüschschwein vom Regal und ging damit in Richtung Kasse, um es sich dort einpacken zu lassen. Und um es zu bezahlen. Sie wird sich sicherlich darüber freuen, fuhr ihm durch den Kopf. Und wie als hätten sie in Gedanken miteinander kommuniziert, kam Ayumi um die Ecke, sah den Jungen mit dem Plüschtier an der Kasse und fing zu lächeln an. Ja, sie wird sich sicherlich darüber freuen. Weil es etwas besonderes ist. 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