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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Eine Reise geht zu Ende

„Du hast WAS getan?“
 

Carina verdrehte die Augen, was Alice aber durch das Kommunikationsgerät Gott sei Dank nicht sehen konnte. „Alice, das ist jetzt bereits das dritte Mal, dass du mir diese Frage stellst.“ „Ja und sie ist durchaus berechtigt! Verdammt noch mal Carina, glaubst du denn wirklich, er hat dich einfach so ohne Grund geküsst? Der Kerl hat Gefühle für dich, lass dir das von mir gesagt sein.“ Die Blondine seufzte. „Nein, das hat er nicht.“ Sie seufzte ein weiteres Mal. „Und selbst wenn“, fuhr sie fort und konnte nicht verhindern, dass sich ein bitterer Unterton in ihre Stimme schlich. „dann käme ich immer noch nicht an Claudia heran.“
 

Am anderen Ende der Leitung schnaubte die Schwarzhaarige laut auf. „Vergiss diese Claudia und hab mal ein wenig mehr Selbstvertrauen. Du bist stark, du bist schön und wirst in nicht allzu ferner Zukunft die Mutter seines Kindes sein. Alles genug Gründe, dass er sich für dich entscheiden wird.“ „So einfach ist das aber nicht, Alice. Vor allem der letzte Punkt mag zwar in dieser Zeit eine entscheidende Rolle spielen, aber nicht in der Zukunft. Ganz ehrlich, da ist es gar nicht so selten, dass ein Mann seine schwangere Freundin sitzen lässt. Außerdem kannst du aufgrund eines Kindes nicht eine komplette Beziehung aufbauen, verdammt.“ Sie machte eine kurze Kunstpause, um einmal tief durchzuatmen. „Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen. Akzeptiere das bitte, Alice.“
 

Dieses Mal war es ihre beste Freundin, die seufzte. „Ich weiß, ich weiß. Trotzdem. Ich hätte mir einfach so gerne ein Happy End für euch beide gewünscht…“

Carina lächelte leicht. „Ich auch. Aber manche Dinge sollen anscheinend einfach nicht sein.“ Beide Frauen schwiegen einige Sekunden lang und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Schließlich ergriff die Rezeptionistin wieder das Wort. „Und was hast du jetzt vor?“
 

Carina zuckte mit den Schultern, gleich darauf fiel ihr ein, dass ihre Freundin auch das ja gar nicht sehen konnte. „Keine Ahnung. Ich hatte mir überlegt, ich könnte doch mal nach Köln reisen. Das ist nicht allzu weit von meiner Heimat entfernt und ich war in der Zukunft ziemlich oft dort. Mich würde es wirklich interessieren, wie viel Ähnlichkeit zwischen dem jetzigen Köln und dem von 2015 besteht.“ Sie überlegte kurz. „Tja und dann könnte Grell mal langsam mit seiner Idee bezüglich meines künftigen Unterschlupfs herausrücken.“ „Ich hoffe wirklich, dass er da was in Petto hat. Ich würde dir ja gerne was anbieten, aber ich habe leider absolut keine Idee“, sagte Alice und Carina konnte sich beinahe bildlich vorstellen, wie sie sich genervt am Kopf kratzte.
 

„Keine Sorge“, erwiderte Carina und musste nun ein wenig hinterhältig grinsen. „Im Notfall lasse ich mir von Grell einfach sagen, welcher alleinstehende Hausbesitzer ohne Erben in nächster Zeit das Zeitliche segnet.“ „…Das meinst du nicht ernst“, antwortete Alice nach einer kurzen Pause so entsetzt, das Carina laut losprusten musste. „Du bist so gemein, Carina“, rief Alice über ihr Gelächter hinweg und klang tatsächlich ein wenig beleidigt. „Entschuldige, aber ich musste mir gerade einfach deinen fassungslosen Gesichtsausdruck vorstellen“, gluckste die 19-Jährige weiter und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein tiefes Schnauben. „Mensch, das war nicht lustig. Grell würde ich so eine Tat glatt zutrauen und da du ja seine Schülerin gewesen bist…“
 

„Um Gottes Willen, Alice! Ich würde doch nie in einem Haus wohnen wollen, was mir nicht zusteht! Echt mal, traust du mir das wirklich zu?“ Nun war es eindeutig die Blondine, die beleidigt klang. Doch gleich darauf hörte sie ein leises Kichern durch den Hörer. „Natürlich nicht“, lachte Alice und Carina begriff zu spät, dass die Schwarzhaarige nun wiederum sie reingelegt hatte. „Okay, das hatte ich wohl verdient“, gab sie zu und ließ sich rückwärts auf ihr Bett fallen. Es war wirklich entspannend einfach mal wieder mit Alice zu plaudern. Es brachte ein Stück Normalität in ihr Leben zurück, wofür Carina mehr als alles andere dankbar war.
 

„Wann wirst du aufbrechen?“ „Gleich morgen früh. Ich möchte keinen Tag länger als nötig in dieser Stadt bleiben. Sie hat mir ohnehin nichts als Unglück gebracht.“ „Wobei ich das meiste davon selbst verursacht habe“, fügte sie gedanklich hinzu und wäre am liebsten erneut in Tränen ausgebrochen. Doch ihr Körper schien fertig damit zu sein. Anscheinend hatte sie alle Tränen aufgebraucht, die ihre Augen hatten aufbringen können. Alles was blieb war der dumpfe Schmerz in ihrer Brust.
 

„Okay, aber sei bitte vorsichtig. Du bist nach wie vor auf der Flucht vor dem Dispatch.“ „Ich passe schon auf mich auf. Auf uns“, korrigierte sie und unterdrückte ein Gähnen. „Würdest du bitte Grell bei Gelegenheit über alles informieren? Er hat morgen Frühschicht, daher werden wir vor übermorgen sicherlich keine Möglichkeit mehr haben miteinander zu sprechen. Ich kann ja schlecht in der Öffentlichkeit an das Telefon gehen.“ „Gut, ich sag ihm Bescheid. Aber ich kann dir jetzt schon prophezeien, dass ihm das Ganze nicht gefallen wird. Wahrscheinlich werde ich nach seinem Anfall halb taub sein.“ „Ich entschuldige mich schon mal vorab“, lachte Carina und gähnte erneut.
 

„Geh ins Bett und schlaf dich bitte richtig aus, bevor du morgen aufbrichst. Die ganze Aufregung war weder für dich, noch für das Baby gut.“ „Ich weiß. Danke, dass du immer auf mich achtest, Alice. Ich fürchte in diesem Punkt bin ich eine absolute Niete. Gute Nacht und schlaf gut. Ich melde mich sobald ich kann.“ „Das ist doch mein Job als beste Freundin. Schlaf auch gut, wir hören uns.“ Kurz darauf ertönte das leise Piepsen, das das Ende des Gespräches anzeigte, und Stille senkte sich wieder über den Raum.
 

Diese verdammte Stille…
 

„Wenn ich nicht Alice und Grell hätte, mit denen ich öfters reden kann, dann würde mich diese Stille wirklich noch in den Wahnsinn treiben“, murmelte Carina und zog sich die Decke fest um den Körper, ihren Bauch dabei sanft reibend. Obwohl seit ihrem Aufeinandertreffen bereits mehrere Stunden vergangen waren, hatte sie immer noch Cedrics Geruch in der Nase. „Dein Papa ist so ein Vollidiot“, flüsterte sie und streichelte weiterhin über die leichte Wölbung. Sie seufzte, wie so oft in letzter Zeit. „Und deine Mama wie es scheint auch“, fügte sie hinzu und rief sich das Gespräch vom Nachmittag in Erinnerung.
 

„Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin, Carina.“
 

Die 19-Jährige schluckte. Wenn der Bestatter jemals herausfinden würde, wie sehr sie ihn an diesem Tag tatsächlich belogen hatte, dann würde er ihr mit ziemlicher Sicherheit den Hals umdrehen…
 

Am nächsten Morgen verließ sie bereits früh das Hotel, jedoch nicht ohne sich von der freundlichen Frau des Besitzers zu verabschieden. Die ältere Dame wünschte ihr und dem Baby alles Gute und schlug ihr vor, doch nach der Geburt einmal mit ihrem Mann zusammen in das Hotel zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt verrutschte Carinas Lächeln ganz kurz, dennoch stimmte sie der Frau zu und versprach ihr mit ihrem Ehemann zusammen darüber nachzudenken. „Ich hatte beinahe schon wieder vergessen, dass man als schwangere Frau entweder verheiratet ist oder eine Hure“, schoss es ihr durch den Kopf, während sie in die noch recht kühle Morgenluft hinaustrat und sich auf den Weg in Richtung Bahnhof machte. Vermutlich war es das Beste, wenn sie alle in dem Glauben ließ, dass sie tatsächlich nicht alleinstehend war. Sie konnte sagen, dass ihr Ehemann Soldat und zurzeit nicht in England stationiert war. Oder ein wichtiger Firmenchef auf Geschäftsreise. „Nun ja, irgendetwas in der Art. Ich hab schon genug Probleme, da brauch ich nicht auch noch Leute, die hinter meinem Rücken über mich tuscheln.“
 

Sie kaufte ihre Fahrkarte direkt am Schalter und stieg keine 15 Minuten später in die Dampflokomotive ein, die auf direktem Wege nach Köln fuhr. Doch im Gegensatz zu ihrer letzten Zugfahrt war sie dieses Mal allein in ihrem Abteil und fand diesen Umstand gar nicht mal so schlecht. Bei ihrem momentanen Gesichtsausdruck hätten sogar Kinder angefangen zu weinen. Und die Schnitterin hatte so überhaupt keine Lust eine freundliche Miene zu ziehen. Darin war sie mittlerweile zwar wirklich gut, aber jeder, der sie auch nur ein bisschen kannte, hätte sofort bemerkt, dass das Lächeln ihre Augen nicht erreichte. Dass sie stumpf blieben.
 

Carina bemerkte es ja selbst, wenn sie in den Spiegel schaute. „Ob sich das jemals wieder ändern wird? Ob es jemals leichter wird?“, dachte sie und schloss grübelnd die Augen. Angeblich heilte Zeit alle Wunden, aber dieser Spruch war Carina immer schon suspekt vorgekommen. War es nicht viel mehr so, dass man mit der Zeit einfach lernte besser mit dem Schmerz zu leben?
 

Die Fahrt dauerte einen guten halben Tag und als die junge Frau am späten Nachmittag am Kölner Hauptbahnhof ausstieg, kam sie nicht umhin sofort Vergleiche zwischen der Vergangenheit und Zukunft zu ziehen. Dort, wo nun teilweise noch leere Stellen waren oder Bänke für die Zugreisenden, befanden sich im 21. Jahrhundert Unmengen an Geschäften. Dennoch hatte das riesige Gebäude den gleichen Charme. „Was sich hier noch alles verändern wird. Unglaublich…“
 

Unzählige Menschen strömten mit ihr zusammen aus dem Bahnhofsgebäude heraus, dessen Ausgang zurzeit jedoch noch nicht dort war, wo Carina ihn in Erinnerung hatte. Er war genau auf der anderen Seite. Ein kleiner Umweg war nötig, um auf die Nordseite zu gelangen und gleich darauf konnte man genau erkennen, wer sich zum ersten Mal in Köln befand und wer nicht. Denn viele der Touristen blieben sofort stehen und bestaunten das Wahrzeichen der Stadt, den Kölner Dom. „Kaum zu glauben, dass er erst vor 9 Jahren fertig gestellt worden ist. Wenn ich mich recht entsinne, war er bis 1884 sogar noch das höchste Gebäude der Welt. Na ja, bis er vom Washington Monument abgelöst wurde.“
 

Carina fand es auf eine seltsame Art und Weise schön mal wieder ein vertrautes Bild vor Augen zu haben. Sie trat ein wenig näher und legte den Kopf in den Nacken, um bis ganz nach oben schauen zu können. „Kommt einem echt so vor, als würde die Spitze schwanken, so hoch ist das Ding.“ Einige Sekunden lang genoss sie einfach den gewohnten Anblick, doch schlussendlich riss die untergehende Sonne die Shinigami aus ihren Gedanken. In ein, maximal zwei Stunden würde es dunkel sein und sie hatte sich noch keine Bleibe gesucht. „Dann mal los“, murmelte sie sich selbst zu und machte sich auf den Weg in die Innenstadt.
 

Es dauerte gar nicht so lange, wie Carina vermutet hatte. Nicht mal eine Stunde später bezog sie ihr Einzelzimmer, das sich über einer der unzähligen Kneipen in Köln befand. Es war nicht besonders groß, aber die werdende Mutter hatte ohnehin nicht vor ewig in der deutschen Stadt zu verbleiben. Sie wollte einfach für ein paar Tage den ganzen Stress vergessen und sich ausnahmsweise nur auf ihre eigenen Bedürfnisse konzentrieren. Doch für den heutigen Tag war es definitiv genug. Ohne auch nur irgendetwas von ihren Sachen auszupacken, ließ sich die 19-Jährige auf das Bett fallen und schlief innerhalb von wenigen Sekunden ein.
 

Die Nacht verlief ruhig, erst am nächsten Morgen wurde Carina vom regen Treiben in der Kneipe unter ihr geweckt. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Schade, dass wir Juli haben und nicht November. Dann wäre hier schon wieder der Karneval los.“ Die fünfte Jahreszeit hatte sie schon von klein auf immer gemocht. Die bunten Kostüme, die Musik, den Umzug in ihrem kleinen Dorf und diese ansteckende Fröhlichkeit. Im Karneval war es völlig egal woher man kam oder welche Vorgeschichte man hatte. Im Feierrausch waren alle Menschen gleich und diese Einstellung hatte sie von Anfang an fasziniert.
 

„Wer weiß, vielleicht kommen wir noch einmal hierher zurück, wenn du auf der Welt bist“, flüsterte sie grinsend und tätschelte ihren Bauch. „Aber besser erst in ein paar Jahren. Mit einem Baby an Karneval in Köln zu sein, stelle ich mir dann doch nicht so prickelnd vor.“ Gähnend machte sie ihr Bett zurecht, wusch sich anschließend in der wirklich kleinen Badewanne und zog sich zügig an. Kurz aktivierte sie das Kommunikationsgerät, jedoch blieb es sowohl bei Alice, als auch bei Grell stumm. „Sind bestimmt beide auf der Arbeit“, seufzte die Blondine und beschloss es am Abend noch einmal zu versuchen.
 

Ausgehfertig stieg sie die Holztreppen hinunter und frühstückte an einem kleinen Tisch, der direkt am Fenster stand. Genüsslich schloss sie die Augen, als sie zum ersten Mal seit 3 Jahren wieder deutsches Brot aß. Es war weich und sogar noch warm. „Gott, jetzt weiß ich wieder, warum wir Deutschen für unser Brot und Bier berühmt sind. Letzteres wird aber leider noch etwas warten müssen.“
 

Erstaunlich gut gelaunt – jedenfalls für ihre momentanen Verhältnisse – verließ sie die Gaststätte und schaute sich die Innenstadt an. Immer wieder entdeckte sie Gemeinsamkeiten zur Zukunft, aber auch Unterschiede. Wie bereits London konnte auch Köln die Armut der unteren Bevölkerungsschicht nicht verstecken. Überall konnte Carina Obdachlose sehen, die sich in kleinen Gassen herumtrieben oder am Straßenrand saßen und auf ein wenig Geld der vorbeigehenden Passanten hofften. „Es ist traurig, wie weit die Verhältnisse in dieser Zeit auseinandergehen.“ Doch es zeigte ihr einerseits auch, dass sie es gar nicht mal so schlecht getroffen hatte. Sie hatte Geld, ein Dach über dem Kopf und außerdem Freunde, die ihr zur Seite standen. „Dagegen sind meine Probleme eigentlich schwindend gering. Dennoch…“ Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hätte sie lieber Geldprobleme gehabt, anstatt eines gebrochenen Herzens.
 

Carina schüttelte den Kopf. „Hör auf Trübsal zu blasen“, sagte sie und versuchte die negativen Gedanken von sich wegzuschieben. Jetzt würde sie erstmal weiter auf Erkundungstour gehen!
 

Die Tage gingen ineinander über und ehe Carina sich versah, war sie bereits eine ganze Woche in der Metropole. Die meiste Zeit verbrachte sie damit sich die alten Sehenswürdigkeiten anzusehen, darunter auch einige Kirchen und Museen. Allerdings verbrachte sie auch viel Zeit am Rhein. Meistens setzte sie sich mitsamt einer Decke auf eine Wiese und schaute den Schiffen dabei zu, wie sie über den großen Fluss fuhren. Die Ruhe hatte etwas Entspannendes an sich und sorgte dafür, dass ihr Körper endlich einmal abschalten konnte. Mit ziemlicher Sicherheit hätte sie es noch eine ganze Zeit lang dort ausgehalten, doch ein Anruf von Grell brachte sie dazu ihre Meinung zu ändern.
 

„Ich hab dir jetzt endliche eine geeignete Unterkunft besorgt“, verkündete er ihr ganz stolz am Abend des siebten Tages und Carina konnte sich seine vor Glück strotzende Miene beinahe bildlich vorstellen. „Ach ja? Wo? Und wie bist du da dran gekommen?“, fragte sie verwundert nach, während sich gleichzeitig eine tiefe Erleichterung in ihr breit machte. Ihr Kind brauchte ein Zuhause und keine Mutter, die ständig von einem Ort zum anderen wechselte. „Hier in England natürlich. Aber genaueres verrate ich dir noch nicht, das wird eine Überraschung.“ „Och Grell, du weißt genau, dass ich Überraschungen hasse“, stöhnte die 19-Jährige und zog einen leichten Schmollmund. „Ach papperlapapp, Vorfreude ist die schönste Freude. Übe dich also noch ein wenig in Geduld.“
 

Carina seufzte tief. „Na schön. Und was hält Alice von deiner Idee?“ „Glaub es oder glaub es nicht, aber sie fand sie richtig gut. Und das zu ihrer eigenen Schande, wenn ich zitieren darf.“ Die junge Frau lachte. „Dann kann dein Vorschlag ja wirklich nicht schlecht sein.“ „Das sage ich doch schon die ganze Zeit. Also, wann kannst du hier sein?“ „Hier?“, fragte sie verdutzt nach und der Rothaarige antwortete sogleich. „Na, in London natürlich. Du kommst wieder auf dem gleichen Weg zurück, den du damals genommen hast und dann teleportiere ich uns zu deinem neuen Zuhause.“
 

Die Schnitterin hob eine Augenbraue. „Hältst du das mit dem Teleportieren wirklich für eine gute Idee? Das letzte Mal bin ich damit wirklich hart auf die Schnauze gefallen.“ „Keine Sorge. Das Ganze wird doch während meiner Schicht passieren. Da wird sich keiner wundern, wenn man Spuren meiner Energie in London wahrnimmt.“ „Auch wieder wahr“, gab Carina zu und überlegte kurz. „Wenn ich morgen aufbreche, dann könnte ich übermorgen bei dir sein. Aber ich muss mir morgen früh dringend noch ein paar neue Kleider, Blusen und Röcke kaufen. Diese hier werden nämlich langsam etwas eng.“ Kurz musste sie über ihre eigenen Worte schmunzeln. Wenn sie vor ein paar Jahren so einen Satz gesagt hätte, dann wäre sie wahrscheinlich zutiefst deprimiert gewesen. Nun machten ihr die paar zusätzlichen Kilos kaum etwas aus.
 

„Fabelhaft! A-also nicht, dass deine Sachen zu eng werden, sondern deine Rückkehr“, korrigierte er schnell und lachte nervös. Er als Lady wusste immerhin, dass man eine Frau besser niemals auf ihr Gewicht ansprach. „Das will ich doch auch hoffen“, erwiderte sie gespielt böse, lachte aber sogleich auf. „Ich freue mich auch, Grell!“
 

Als Carina das zweite Mal in kurzer Zeit mit der Fähre fuhr, stellte sie relativ schnell eines fest: Sie hasste Schifffahrten! Bereits nach einer Stunde wurde ihr wieder so schlecht, dass sie die restliche Reise entweder über die Reling gebeugt oder liegend auf ihrem Bett verbringen musste. „Da bin ich schon ein Shinigami und werde trotzdem seekrank. Das gibt’s doch nicht“, stöhnte sie und versuchte den Geschmack von Erbrochenem mit einem Becher Tee aus ihrem Mund zu spülen. Von ihrer Schwangerschaft kam es jedenfalls nicht, denn in den letzten Wochen auf festem Boden war es ihr gesundheitlich blendend gegangen. „Das ist das zweite und letzte Mal, dass ich mit einer Fähre fahre. Beim nächsten Mal teleportiere ich mich. Scheiß auf die Konsequenzen.“
 

Kurz, bevor sie in London von Bord ging, veränderte sie in ihrer Kabine ihr Äußeres. Ihr blondes, langes Haar wurde lockig und tiefbraun, ihre Augen nahmen die Farbe von Vollmilchschokolade an. Sommersprossen ploppten auf ihren Wangen auf, ihrem ganzen Körper verpasste sie einen etwas dunkleren Hautton. Zusammen mit ihrem hellgelben Kleid, in dem ihre Schwangerschaft für jeden gut ersichtlich war, sah sie nun wie eine gänzlich andere Person aus. So lief sie zumindest keine Gefahr von irgendeinem Shinigami erkannt zu werden. „Selbst Grell wird Schwierigkeiten haben mich in diesem Aufzug zu erkennen“, grinste Carina in sich hinein und sie sollte Recht behalten. Von weitem konnte sie den langen, roten Haarschopf unter den unzähligen Leuten am Hafen ausmachen, der sich immer wieder suchend nach ihr umsah. Kurz streifte sein Blick ihr Gesicht, glitt dann jedoch wieder weiter.
 

Jetzt konnte die 19-Jährige sich ein offenes Grinsen nicht mehr verkneifen. Sie schlich von hinten an ihren Mentor heran und piekste ihm leicht in die Hüfte. Ihm entfuhr ein kleiner, erschrockener Aufschrei und sogleich wirbelte er herum. Der Reaper blinzelte verwirrt, doch als sie ihm in alter Manier spielerisch zuzwinkerte, erkannte er sie in diesem Körper. Das bekannte Haifischlächeln zierte nun sein Gesicht. Die Todesgötter umarmten einander fest und noch während Grell sie fast erdrückte, konnte Carina ganz deutlich spüren, wie die Welt um sie herum mit einem Mal verschwamm und andere Konturen annahm. Anscheinend hatte der Rothaarige keine Zeit verlieren wollen und sie direkt zum gewünschten Standpunkt gebracht.
 

Als sich ihre Umgebung wieder vollständig materialisiert hatte, ließ Grell endlich von ihr ab und schaute sie grinsend an. „Also, ich muss schon sagen. Deine Verwandlungskünste hast du echt perfektioniert.“ Sie zwinkerte erneut. „Man lernt schnell dazu, wenn man auf der Flucht ist“, antwortete sie und verwandelte sich gleichzeitig wieder in ihr eigenes Ich zurück.
 

Neugierig glitt der Blick der jungen Frau über ihren Standort. Sie befanden sich auf einer kleinen Lichtung, die an einen Wald angrenzte. Carina klappte unwillkürlich der Mund ein Stück auf. Es sah fast aus wie in einem Märchen, überall um sie herum war es grün. Eine riesige Grasfläche, eingerahmt von den Bäumen des eben genannten Waldes. Ein Hügel, auf dem vereinzelt Blumen wuchsen und an dessen Fuß sich ein recht schmaler Fluss entlang schlängelte. Eine vielleicht anderthalb Meter hohe Mauer, die aus aufeinandergestapelten, losen Steinen bestand und das große Gelände ein wenig eingrenzte.
 

Und inmitten dieser ganzen Idylle, die einem Reiseprospekt hätte entsprungen sein können, stand eine außergewöhnlich breite Blockhütte aus Holz. Vom Stil her glich sie einem Bungalow. Es gab eine kleine Treppe, bestehend aus 2 Stufen, die zur Eingangstür und einer schmalen Veranda führte.
 

Carinas Mund klappte immer mehr auf. „Wow“, brachte sie gerade noch so hervor, ehe Grell ihr triumphierend und mit seiner „Death“ Pose ein breites Lächeln zuwarf. „Na, was hab ich gesagt? Umwerfend, oder?“ Umwerfend traf es bei weitem nicht. Carina hätte eher Worte wie phänomenal, bildschön oder überwältigend gewählt. „Wo sind wir hier?“, stellte sie die Frage, die ihr auf der Zunge lag, denn solch eine friedliche ländliche Gegend hatte sie noch nie gesehen. „In Yorkshire, Nordengland. Das ist doch genau die passende Umgebung für dich und das Baby. Hier wird garantiert keiner nach dir suchen, du hast deine Ruhe und kannst machen, was du willst. Hier wohnt weit und breit niemand, den man stören könnte.“
 

„Nein, ich meinte wo sind wir hier? Wie bist du an diese Hütte gekommen bzw. wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen? Du wirst ja wohl kaum durch halb England gelaufen sein und dir am Ende einfach das schönste Fleckchen Land ausgesucht haben, oder?“
 

Grells Lächeln wurde weicher. „Nein, das habe ich tatsächlich nicht“, gab er zu, seine Stimme nun wesentlich leiser. Carina hob eine Augenbraue. „Also?“, fragte sie und beobachtete ihren besten Freund dabei, wie er die Blockhütte ins Auge fasste. Sein Blick wurde plötzlich merkwürdig melancholisch, was die Blondine seltsam betroffen machte. So hatte Grell wahrlich noch nie geschaut. Ein langgezogener Seufzer entfuhr seinem Mund, während er sich einen imaginären Staubfleck von der Hose abklopfte, um sie nicht ansehen zu müssen. „Das“, begann er zögerlich und wirkte zum ersten Mal, seit Carina ihn kannte, schwermütig.
 

„Das war mal mein Zuhause.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  lula-chan
2017-11-08T08:33:40+00:00 08.11.2017 09:33
Schönes Kapitel.
Carina ist jetzt also endlich mit ihrem Baby in Sicherheit.
Grells Offenbarung ist wirklich intetessant. Das hat auf jeden Fall noch Erklärungsbedarf.
Ich bin schon ganz gespannt, wie es weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG


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