My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 15: Gemeinsames Grab ---------------------------- Nervös saßen wir vier im kleinen Zimmer von Alexanders Anwesen. Jiros Mutter war bereits unterwegs und brachte unsere Wechselklamotten. Alexanders Tante würde sie an der Kreuzung empfangen und uns die ersehnte Kleidung bringen. Und Kippen, so hatte Jiro ebenfalls bestellt. Eine Menge Kippen. »Was, wenn wir entdeckt werden?«, murmelte Kiyoshi und hielt sich an meiner Hand fest. »Wird schon nicht passiert sein«, säuselte ich und strich beruhigend mit dem Daumen über seinen Handrücken. Eine Geste, die Alexander nur entnervt zur Seite blicken ließ. Jiro hingegen verstand wieder mal nicht, worum es eigentlich ging. »Fühl mich echt wie in einer dieser Filme, man. Über fünf Ecken Klamotten beziehen. In einem geheimen Versteck hausen. Ich hab nicht mal mitbekommen, was eigentlich passiert ist und ihr erklärt mir alles mit so einer billigen Ausrede.« »Billig?«, hakte Alexander gereizt nach. »Wieso schmeißen wir den nicht einfach raus, huh? Der ist viel zu dumm, um weiter zu leben.« »Alexander, bitte ...«, mahnte ich unseren Gastgeber, der widerwillig neben meinem Freund saß. Doch Jiro nahm die Hetze mittlerweile gelassen hin. »Wenigstens hab ich ein Leben.« Der Konterschlag saß tief. Das merkte man daran, dass Alexander nichts darauf antwortete, sondern nur verbittert auf den Boden blickte. Ein wunder Punkt, wie mir schien.   Da klopfte es zaghaft an der Tür. »Alex, Schatz? Ich bin's mit den Sachen!«, ertönte eine sanfte, weibliche Stimme. Vorsichtig erhob sich Alexander und ging zur Tür, öffnete sie und nahm dankend die Sachen in die Hand. Wie ausgewechselt lächelte er die etwas rundlichere Frau an und nickte eifrig. Beantwortete einige Fragen bezüglich unseres Vorrats an Blut und schloss letztendlich sachte die Tür. »Eine nette Tante hast du«, bemerkte ich und erhob mich ebenfalls, um ihm humpelt entgegen zu kommen. »Sie sorgt sich nur«, gab er knapp zurück und streckte mir einen großen, schwarzen Sack entgegen. Ein Müllsack, wie passend, Mom, danke. »Weiß sie Bescheid? Wegen Vincent?«, hakte Kiyoshi nach und gesellte sich zu mir, nahm den schweren Sack ab und stellte ihn auf den kleinen Tisch neben dem Karmin. »Nein. Nur, dass wir vorerst aufpassen müssen, wer unser Grundstück betritt. Doch das ist sie sowieso: Achtsam.« Alexander ließ seinen Nacken knacken und ging in die kleine Kochnische, um einige Blutkonserven zu zählen. Es waren in der Tat noch einige. Schade, dachte ich, dass die Blutpillen noch zu hause lagen. Aber das konnte ich Mom nur wirklich nicht bitten mitzubringen. Nachher hätte sie noch einen neugierigen Blick hineingeworfen und alles wäre aufgeflogen! Jiros Nerven schienen blank zu liegen, als er die vielen Konserven im Kühlschrank sah. So langsam ratterte es wohl doch in seinem Kopf, ob nicht etwas an unserem Geständnis dran sei. Da er aber weiterhin nichts dazu äußerte, sondern es gekonnt runterschluckte, ging ich davon auf, dass er noch immer an der Sekte festhielt. »Hier, das sind deine.« Damit verteilte ich die Kleidung unter uns Dreien auf. Kiyoshi nahm zügig seine Sachen und hielt sie sich an. »Oh man ... meine schöne Lederjacke«, seufzte Jiro und betrachtete die Nietenjacke, die er seufzend aus der Badewanne gezogen hatte. Sie war an einigen Stellen aufgerissen und abgeschrammt. Einige Nieten hatten ebenfalls gelitten. »Wieso?«, fragte Alexander und steckte sich eine Zigarette an. »Kannst dir doch ne neue aus der Mülltonne ziehen.« »Du mieser -«, fing Jiro an, hielt jedoch inne, als er meinen rügenden Blick sah. »Lass ihn«, riet ich meinem Freund und sah etwas erschöpft zu unserem Gastgeber. In der Tat machte er es uns mit seinen spitzzüngigen Kommentaren nicht gerade einfacher. Trotzdem war und blieb er unser Retter in der Not mit seiner Unterkunft. Bis Vincent das herausgefunden hatte, würde es vielleicht noch einmal 2-3 Tage dauern. »Können wir duschen gehen?«, fragte Kiyoshi höflich in seinem anmutigen Ton und hielt seine Sachen vor die Brust. Alexander nickte und aschte aus dem Fenster, welches er geöffnet hatte, um den Rauch aus der Wohnung zu entlassen. Die Sonne stand bereits auf der anderen Seite des Hauses, sodass er im Schatten stehen konnte. »Dann geh ruhig zuerst«, schlug ich vor und deutete mit meinem Kinn das Badezimmer an. Doch Kiyoshi zögerte. Seine Augen sahen sehnsüchtig in meine. Als ich mir kurz auf die Lippe biss, schaltete sich Alexander dazwischen. »Ihr seid so widerlich, ernsthaft«, entfuhr es ihm, als er die Zigarette aus dem Fenster warf und das Fenster schloss. »He, niemand hat nach deiner Meinung gefragt, klar?«, konterte ich und zeigte ihm den Mittelfinger. Doch der zuckte nur mit den Schultern und hockte sich mit seinem Handy auf das Sofa, wo Jiro saß. »Macht, was ihr wollt. Solange das Bad danach noch betretbar ist.« »Sehr witzig«, raunte ich, nahm Kiyoshi an die Hand und ging mit ihm ins Bad. Jiros Blick konnte ich dabei nicht ungeachtet lassen.   »Öh«, stutzte der gepiercte Mann und sah uns hinterher. »Gehen die jetzt echt zusammen duschen?« »Was denkst du denn?«, fragte Alexander dagegen schmunzelnd, als er auf seinem Handy tippte. »Natürlich.« »Ja, aber ...«, stammelte Jiro. »Es ist ... Hiros Bruder!« »Das interessiert die beiden herzlich wenig. Sag mir bloß, das hast du auch noch nicht gemerkt?« Der Ton des schwarzhaarigen mit den eisblauen Augen wurde sarkastisch. Jiro schüttelte nur den Kopf. »Nicht wirklich. Hiro ... ist doch nicht schwul!« »Na, dann, willkommen in der Realität.«   Kichernd zog Kiyoshi seine Sachen über den Kopf und warf sie in eine Ecke. Erotisch kam er auf mich zu und fuhr mit einer Hand unter meinen Pulli. »Wir sind leise .. oder?«, fragte er mit vibrierender Stimme. Woher er die Kraft nahm jetzt auch noch an Sex zu denken, war mir unbegreiflich. Ich vegetierte dahin, hatte Schmerzen und kämpfte mit der Angst um Vincent. »Wir sind leise«, gab ich weniger enthusiastisch von mir. Doch Kiyoshi ließ sich nicht beirren, zog mir die Kleidung wie im Akkord aus und strich über meine Beine. »Wird es gehen?« Sein besorgter Blick ging sorgsam über meine immer noch rötlich brennende Wunde. »Versuch nicht... drauf zu fassen, dann wird das schon klappen.« »Machen wir es ... so ...«, murmelte er und nahm mich an die Hände, führte mich zu einer freien Wand neben der Toilette, wo er sich mit der Brust gegen die Marmorfliesen lehnte. »Dann kannst du selber entscheiden... wann und wie weit es geht.« Kiyoshis Lächeln war so aufrichtig und schön, dass ich fast für einen Moment vergaß in welcher Situation wir uns befanden. Aber hey, dachte ich. Vielleicht war es das letzte Mal? Eine leichte Melancholie überkam mich, als ich über Kiyoshis nackte Schultern küsste und er leise seufzte. Meine Hände fuhren über seine Brust, ertasteten die herausstehenden Knochen ab und massierten seinen Hintern. Es war noch immer dieser Körper, der mich so verrückt machte und mich die Welt vergessen ließ. Dieser eine Körper ... der so gleich und doch so anders zu meinem war. Kiyoshi beugte sich ein Stück weit vor und hielt sich an einem Handtuchhalter fest. Wie ein Pornostar grinste er mich über die Schulter an. »Ich will nicht wissen, woher du diese Stellung her hast ...«, gab ich schmunzelnd von mir und massierte seine Pobacken. Als ich mich vorbeugte, um seinen Eingang mit meiner Zunge zu befeuchten, seufzte er angestrengt und voller Lust. »Alles ... alles will ich mit dir ausprobieren ... «, säuselte er bereits vollkommen in Ekstase. Sein Körper war viel zu einfach zu erregen. So empfindlich und so zart; nicht einmal ein Frauenkörper konnte da mithalten. Aber wer achtzehn Jahre auf jegliche Berührungen verzichtete... konnte natürlich mit der neu gewonnen Lust eine Menge anfangen. Auf einmal war da mehr. Auf einmal konnte der Körper ganz seltsame Dinge mit einem machen. Besonders mit dem Verstand. Daher wehte sicherlich auch sein leichter Hang zur Sexsucht. »Ah, Hiro«, flüsterte er und stellte sich willig mit den Beinen auseinander geschoben vor mich. Seine Hand wanderte in meinen Schritt und führte mich blind zu ihm. »Kannst es wie immer kaum erwarten, hm?« »Geduld war noch nie meine Stärke!« Ich folgte seinen Bewegungen und drang genüsslich in seine Enge ein. Wie immer umschloss mich ein wohliges Gefühl, welches sich sofort in Hitze wandelte. Mit leichten Stößen drang ich weiter in ihn ein und brachte ihn zum Stöhnen. Doch seine Laute waren leise, gedämpft; wahrscheinlich nur für mich hörbar, sodass weder Alexander noch Jiro sich in der Spüle übergeben müssten bei dem Gedanken, dass wir gerade Sex hatten. "Widerlich" hatte Alexanders uns genannt. Ja, mit Sicherheit war das widerlich. Aber wen interessierte es? Solange ich Kiyoshi hatte ... konnten andere Leute ihre Meinungen gerne haben. Und sie dort hinstecken, wo die Sonne nie hin scheint. »Kiyoshi ...«, raunte ich leise auf und verkrampfte mich für einen Moment an seiner Hüfte. Die Stöße taten gut und ließen mich meinem Höhepunkt näher kommen, doch für einen Moment schmerzte mein Bein. Es brannte und schien dem Druck sich zu bewegen nicht standzuhalten. Ein prüfender Blick an mir herunter versicherte mir jedoch, dass nichts aufgeplatzt war. »Alles okay?«, fragte mich Kiyoshi keuchend und drehte sich ein Stück um. »Ja ... alles gut ...« Noch, dachte ich. Noch. In mir drehte sich kurz der Magen, ich sah Sternchen und musste mich an der Wand abstützen, um nicht umzukippen. Mein Kreislauf machte Mätzchen, ließ mich nur noch zaghaft in Kiyoshi stoßen. Der spürte meinen zögerlichen Akt und half mir, indem er sich von alleine gegen mich bewegte. Es fühlte sich selbstverständlich wunderbar an, trotzdem ließen mich meine Wunden nicht in Ruhe. Als Kiyoshis Stöhnen lauter wurde, seine Bewegungen hektischer, spürte ich, wie er sich verengte und schlussendlich in seiner Hand kam. Für einen Moment fühlte ich mich ein wenig nutzlos, da er so gut wie alles alleine getan hatte. Es dauerte auch nicht lange und ich konzentrierte mich auf meinen Höhepunkt. Mit schnellen Stößen zog ich noch einmal Kiyoshis Hinter zu mir und beendete den Akt recht zufrieden stellend. Zuckend ejakulierte ich auf seinem unteren Rücken. Meinen Partner jedenfalls schien das nicht zu stören. »Danke«, flüsterte Kiyoshi mir zu, als er sich erhob und die Flüssigkeit an sich herunter laufen ließ. »Danke?«, hakte ich verwundert nach und zog die Augenbrauen zusammen. Etwas erschöpft lehnte ich an der kalten Marmorwand. »Du bist schwach ... und hast dich trotzdem um mich gekümmert.« Ein seichter und feuchter Kuss auf meine Lippen folgte. »Ist doch selbstverständlich ...Ich hatte doch auch meinen Spaß«, murmelte ich. Er hatte es also bemerkt; meine Schwäche. »Nicht wirklich.« Sein Blick wurde auf einmal nachdenklich. Er musterte meine Wunden an der Brust und fuhr mit dem Finger über die einzelnen Schnitte, die noch rötlich glänzten. »Hoffentlich ist es bald vorbei«, säuselte er und schmiegte sich an mich heran. Mit geschlossenen Augen umarmte er meinen Torso. »Es wird erst zu Ende sein, wenn einer von uns tot ist.« Erschrocken über meine Worte, löste sich mein Bruder und starrte mich mit aufgerissenen Augen an. »Wie? Einer von uns?« »Nicht einer von uns beiden«, verbesserte ich meine Aussage grinsend. »Vincent oder wir.« »... das klingt nicht unbedingt besser.« Natürlich nicht, dachte ich, aber so war es doch. Vielleicht war es auch meine jetzige Verfassung, die mich so melancholisch und depressiv denken ließ, doch die Wahrheit schlug mir ins Gesicht, wie das warme Wasser aus dem Duschkopf. Achtsam schrubbte Kiyoshi meinen Körper mit Duschgel ein, während ich wie ein Kind gegen die Wand lehnte und hin und wieder vor Erschöpfung seufzte. Vincent musste sterben. Ansonsten taten wir es.   Als wir gut duftend aus dem Bad kamen, musterten Jiro und Alexander uns eindringlich. Was die beiden wohl besprochen hatten? Sie sahen etwas verstört aus ... »Fertig?«, fragte der Gastgeber recht schroff und stand auf. »Ja, das Bad ist frei«, murmelte ich und zubbelte mein Shirt zurecht, welches frisch nach zu Hause roch. Schön, wieder in den eigenen Klamotten zu stecken. »Deine Sachen haben wir mal zur Seite gelegt. Danke noch mal dafür.« »Klar.« Mit diesen Worten verschwand Alexander im Bad und knallte regelrecht die Tür zu, als hätte er es eilig gehabt. »Alles klar bei euch?«, hakte ich nach, während sich Kiyoshi bereits auf dem Sofa platziert hatte und mir beim Hinsetzen half. »Ja ... doch.« Jiros blick hingegen deutete auf etwas ganz anderes hin. Starr und etwas zerknirscht sah er auf den Boden. »Gestritten?« »Nein, nein. Nur ... bisschen gestichelt. Weißt schon.« »Hm«, brummte ich. Jiro wollte wohl nicht drüber reden. Ob Alexander ihm doch erzählt hatte, dass er sein Retter war? Oder flogen wohlmöglich wieder verletzende Worte? Die beiden schienen sich absolut nicht grün zu sein ... »Was passiert als nächstes?«, fragte er aufgeregt und überschlug seine Beine. Eine Geste, die er sonst nur bei unangenehmen Situationen tat. Hatte er uns vielleicht doch beim Sex gehört? »Gute Frage ...« Nachdenklich kratzte ich mich im Nacken. Kiyoshi nickte nur stumm. »Vielleicht ... abwarten?« »Wie lange denn? Wir können hier ja nicht ewig bleiben!« »Natürlich nicht, aber was sollen wir schon tun?«, raunte ich etwas genervt über die Tatsache, dass Jiro wieder mal nur aus meinem Mund eine Lösung für alles hören wollte. »Was schlägst du denn vor?« »Ich?«, rief er empört, »Ihr erzählt mir ja nicht mal, worum es hier geht! Woher soll ich dann wissen, was wir tun könnten!« »Na, es reicht doch, dass du um einen Kerl weißt, der uns alle umbringen will. Ist doch schrecklich genug, was willst du da noch Einzelheiten hören?« »Einzelheiten? Grobe Infos!«, fauchte er mich an. Jiro und ich stritten selten, aber wenn wir stritten, dann flogen die fetzen. Nicht zuletzt endeten solche Eskapaden in Prügeleien. Natürlich Freundschaftliche. Aus denen man lachend herausging. Aber diese Situation erforderte einen kühlen Kopf. Keine Prügelei würde dieses Problem lösen können. So unwahrscheinlich kämen wir wohl auch mit einem Lachen aus der Sache wieder raus. »Okay, Jiro ... Wir haben dir doch erklärt, dass wir Vampire sind«, fing ich an, doch Jiro winkte ab. »Fang mir nicht mit dem Scheiß an, man. Ich will die Wahrheit hören!« Da rollte ich die Augen. Kiyoshi saß nur stumm neben uns und starrte auf den Karmin, der wohl noch nie Verwendung fand. »Mehr als die Wahrheit kann ich dir aber nicht bringen!«, stöhnte ich genervt und verschränkte dir Arme. Ein leichter Schmerz durchzog meine Sehnen. Noch immer litt ich unter den Verletzungen ... Wie lange es wohl dauern würde, bis sie geheilt waren? »Glaubt ihr, die Polizei hat über den Fall am See berichtet?«, unterbrach Kiyoshi die kurze unangenehme Stille zwischen mir und Jiro und sah gebannt auf Alexanders Handy. »Kann schon sein ...«, murmelte ich und sah ebenfalls auf das Objekt der Begierde, welches noch neben Jiro lag. Der nahm es wortlos auf und entsperrte den Bildschirm, als sei es sein eigenes. Die Scham an ein fremdes Handy zu gehen und es zu benutzen kannte er offensichtlich nicht. Kiyoshi stand auf einmal auf und gesellte sich neben Jiro, der das Internet durchforstete. Ich blieb auf meinem Platz sitzen, zu schwach mich überhaupt irgendwohin zu bewegen. Die Energie, so dachte ich, sollte ich mir lieber für eine weitere Flucht aufsparen. »Ja ... hier steht was über unsere Pfütze«, sagte Jiro und schient den Bericht quer zu lesen. »Es geht wieder um einen Amoklauf.« »Oh man, die können doch nicht alles auf Terroristen schieben!«, fluchte ich auf und ließ mich im Sitz rutschen. Wenigstens gab es dieses mal keine Toten ... »Sie beschreiben es hier auch mehr als ... Vandale. Da die Feier beschädigt wurde und einzelne Badegäste vergrault wurden. Jugendliche sollen dafür verantwortlich gewesen sein; mit dem Hintergedanken die Leute dort etwas aufzumischen.« »Jugendliche? Ernsthaft?« Fassungslos rieb ich meine Hände. »Und was macht die Polizei jetzt dagegen?«, fragte Kiyoshi ruhig und erhaschte einen kurzen Blick auf den Bildschirm, welcher in Jiros Hände lag. »Sie fahnden nach den Jugendlichen, da sie Schusspatronen gefunden haben.« »Sollen sie die mal lieber untersuchen ...«, raunte ich und wollte mich schon weiter aufregen, da machtes es Plopp in meinem Kopf. Die Patrone. Sofort sah ich energisch Richtung Bad, wo noch Alexander zugange war. Mein hektischer Blick fiel Kiyoshi sofort auf. »Alles klar, Hiro?«, erkundigte er sich über meine aufgewühlte Verfassung. Ich nickte apathisch. »Weißt du noch, wo Vincent in den Baum geschossen hat?« Kiyoshi nickte. Jiro sah vom Bildschirm auf. »Die Patrone ist im Holz stecken geblieben. Aus ihr kam etwas Violettes gelaufen ... Und das war mit Sicherheit nicht der Baum.« »Was? Ehrlich? Hast du es mitgenommen?« Kiyoshi schien auf einmal ganz aufgewühlt zu sein. In dem Moment kam Alexander aus dem Bad – oberkörperfrei. »Sie befindet sich in meiner Hosentasche!« Ohne zu zögern sprang mein Bruder auf, hechtete an Alexander vorbei und stürzte auf die dreckigen Klamotten in der Wanne zu. Mit flinken Fingern durchwühlte er die Sachen, bis er fündig wurde. »Ah!«, schrie er auf und ließ die Patronenhülse fallen. »Was machst du da?«, raunte Alexander auf und folgte Kiyoshi ins Bad; sah ihn dann mit erhobenen Händen erschrocken vor einer Patrone stehen, welche am Boden entlang rollte und schließlich am Teppich zum Stillstand kam. »Was ist das...?« »Eine ... Patrone von Vincent ... sie brennt!« Fassungslos starrte mein Bruder auf das Stückchen Metall, aus dem noch immer ein wenig Flüssigkeit floss. Alexander beugte sich vor und betrachtete die Patrone von weitem. »Ist es was gefährliches?«, fragte Jiro und stellte sich an die Badtür. Interessierte blickte er die zwei Männer an, die ratlos vor einer Patrone standen. »Für uns ist es gefährlich. Es scheint ... Ultraviolette Strahlung zu sein. Quecksilberatome«, murmelte Alexander, während er die Patrone missmutig im Augenmerk hatte. »Ihr habt's echt dicke mit den Vampirgeschichten, oder?«, raunte Jiro, ging auf die beiden zu und fasste die Patrone mit bloßen Händen an, als sei sie ein bloßes Stück Schrott. »Und? Das tut euch weh?« »Ja«, hisste Alexander ehrfürchtig, dass nun Jiro im Besitz eines für ihn gefährlichen Objekts war. »Und das hast du einfach so angefasst, Hiro?«, rief Kiyoshi mir zu und stellte sich an die Badtür, um mich anzusehen, wie ich noch auf dem Sofa saß und auf dem Handy nach Informationen suchte. Ich nickte zustimmend. »Es ging alles so schnell, dass ich nicht nachgedacht habe. Hatte wohl noch mal Glück, dass ich nicht an die Flüssigkeit gekommen bin.« »Du kannst vor allen Dingen von Glück sprechen, dass die Patrone, die dich getroffen hat, nicht in dir stecken blieb, sondern durch dich durch flog.« Mit diesen Worten ging Alexander an Jiro und Kiyoshi vorbei, kam auf mich zu und nahm mir das Handy ab. Interessiert durchflog er die Texte über den Vorfall am See. »Tz«, war alles, was er dabei machte und schmiss das Mobiltelefon auf das Sofa neben mir. »Was würde passieren ... wenn eine solche Patrone in uns stecken bliebe?«, hauchte Kiyoshi, der sich langsam wieder neben mich fallen ließ. Sanft umschloss er meinen Arm, als sei er selbst etwas über die Tatsache erschrocken, dass ich noch einmal Glück im Unglück hatte. »Keine Ahnung«, brummte unser Gastgeber, als er sich ein T-Shirt anzog. »Vielleicht verbrennen wir von innen.« »Wie soll das funktionieren?« Jiro hielt noch immer die Patrone in seiner Hand, als wäre es aus einem Überraschungsei entsprungen. »UV Strahlung in Flüssigkeit? Das geht doch gar nicht ... das eine ist Licht und das andere ist ... flüssig?« »Doch keine Bildung auf der Straße, hm?«, gab Alexander spitzzüngig zu Jiros Frage hinzu und hob beide Augenbrauen, als überrasche ihn dies nicht sonderlich. »Quecksilberatome ... strahlen UV Licht aus, wenn sie miteinander reagieren. Oft durch eine Energiequelle ausgelöst ... Vielleicht gibt Vincents Waffe kurz vor dem Schuss einen elektrischen Schlag ab.« Kiyoshi schien wieder einmal das wandelnde Wissen schlechthin zu sein. Doch statt so wie damals darüber die Nase zu rümpfen, betrachtete ich ihn verliebt bei seiner Erklärung und strich über sein Bein. Ein sofortiges Lächeln streifte seine Lippen; stolz, dass ich stolz auf ihn war. »Aha?«, war alles, was von Jiro kam, der die Patrone nun auf den Tisch in der Kochnische abstellte. »Dann ... ist das gefährlich?« »Ja«, seufzte Alexander, als würde er einem Kind gegenüberstehen. »Und zwar auch für dich. Quecksilber ist krebserregend. Wasch dir die Hände.« Jiro verzog sofort das Gesicht und hielt die Hände von sich. Zwar stank es ihm, die Befehle von Alexander anzunehmen, sah aber die Tatsache ein, dass Quecksilber krebserregend war und wusch sich in der Spüle hektisch die Hände. »Vincent ist wirklich mit allen Wassern gewaschen ...«, seufzte ich schließlich und ließ den Kopf auf die Lehne des Sofas fallen. Was konnten wir nur tun? Sich ihm stellen? Wenn er solche Waffen mit sich führte? Klar, Vincent war ein Mensch, ein einfacher Schnitt in seine Kehle und es wäre vorbei mit ihm. Aber so nah kam man ihm einfach nicht. Und keiner von uns schien mit Schusswaffen umgehen zu können, geschweige denn eine zu besitzen. Also was blieb? Fliehen? Doch wohin? Egal, wohin wir gehen würden, er wäre uns auf den Fersen. Das Ausland wäre eine Alternative gewesen, doch wie erklärt man das denn Eltern? Vater wäre außer sich, Mutter stürbe bereits bei der Verkündung der Nachricht. Und trotzdem könnte niemand etwas ausrichten ... gegen einen Hunter war man irgendwie machtlos. So erschien es mir jedenfalls in der Situation, wo vier Männer auf der Flucht ratlos in einer kleinen Hütten saßen und auf den Boden starrten. Jiro setzte sich, während wir alle schwiegen, auf das Sofa. Alexander beobachtete ihn mit scharfen Augen. »Geh dich duschen«, befahl er in einem harschen Ton. Jiro drehte sich nur genervt um und zuckte mit den Schultern. »Wüsste nicht, wieso du mir Befehle geben könntest.« »Du weißt nicht, wann du das nächste Mal eine Dusche sehen wirst. Außerdem stinkst du nach See.« »Wüsste auch hier nicht, was dich das angeht«, schmunzelte Jiro über Alexanders Beleidigung. »Immerhin willst du mir doch nicht zu Nahe treten, oder?« Alles, was kam, war ein gefährliches Knurren aus Alexanders Richtung, der zwar lässig gegen die Küchentheke lehnte, aber alles andere als ruhig zu sein schien. »Tu es doch einfach, Jiro«, bat ich meinen besten Freund, der mich sofort rügend ansah. »Fällst du mir jetzt auch in den Rücken?« Die Empörung in seinem Gesicht war unverkennbar. »Nein«, seufzte ich und streichelte Kiyoshis Rücken, der sich liebevoll an mich drückte. »Aber Alexander hat Recht ... Wir wissen nicht, wann wir das nächste Mal zu einer Dusche kommen werden.« »Pah!«, stieß er aus seinem Mund und streckte beim Vorbeigehen die gepiercte Zunge raus. Beleidigt zog er sich seine Klamotten aus dem schwarzen Sack und schlurfte ins Bad, wo er die Tür zuknallte. Ein lautes Seufzen entfuhr sowohl mir als auch Alexander. »Ist der immer so schwierig?«, fragte er, als er sich auf das kleine Sofa setzte. Ich zuckte nur mit den Schultern. »Joa, schon.« Ein Lächeln streifte meine Lippen. »Aber an sich ist er harmlos. Eigentlich ist er wirklich ein lieber Mensch.« »Na ja«, brummte der schwarzhaarige und verstaute sein Handy in seiner Hosentasche. Erstaunlicherweise trug er mal keine Spießerklamotten, sondern recht passable Dinge wie ein dunkelrotes Shirt und eine dunkelblaue Jeans. Die dicken Boots passten so gar nicht zu ihm, wurden aber wahrscheinlich aus gegebenem Anlass angezogen. Wer wusste schon, durch welches Gestrüpp wir noch so laufen müssten? »Wieso hast du eigentlich keine Tabletten hier?«, fragte ich interessiert und sah kurz zum Kühlschrank. Alexander zuckte mit den Schultern. »Das schmeckt doch nicht.« »Aber es ist gut ... für Zwischendurch.« Denn gerade jetzt bekam ich ein wenig Panik um unsere Nahrung. Würden wir auf der Flucht sein, könnten wir nicht mal so eben mehrere Blutpackungen mit uns rumschleppen. Eine wäre schon zu viel gewesen. »Tja«, zuckte er mit den Schultern und pfiff sarkastisch einen Seufzer aus. »Ich bin nicht unbedingt für einen solchen Notfall gewappnet. Das gebe ich zu. Aber für jemanden wie mich, der sich sonst an alle Regeln gehalten hat, ist das eben neu.« Kiyoshi presste die Lippen aufeinander; sah reumütig auf den Boden. Die Vorwürfe waren klar in Alexanders Worten versteckt, doch im Grunde sagten sie alle das eine aus: Kiyoshi war Schuld. Hätte er mich nicht fahrlässig gebissen und mich auch noch verwandelt, wäre das alles nicht gekommen. Hätte er aufgepasst, wären wir jetzt nicht auf der Flucht. Doch ich schrieb mir selber die Schuld zu. Ich habe das synthetische Blut getrunken. Hätte ich Kiyoshis zu mir genommen, wäre es auch ganz anders gelaufen. Aber wer konnte das wissen? Wer konnte denn schon erahnen, dass der Bruder aus der Stadt vorbeikommt und alles auf den Kopf stellt? Es dauerte nicht lange, da kam Jiro aus dem Bad raus. Seine Haare tropften noch etwas nass, obwohl sie relativ kurz geschnitten waren. Auch er kam oberkörperfrei raus, als wolle er Alexander die Stirn bieten. Nur konnte mein bester Freund kein Sixpack vorweisen. Geschweige denn überhaupt irgendwelche Muskeln. Zwar war er nicht ansatzweise so dürr wie Kiyoshi, doch muskulös auch nicht. Irgendwas dazwischen halt. Und als hätte er meine Gedanken gerochen, zog er sich schnell ein schwarz-grau gestreiftes Langarmshirt an, welches seinen Körper etwas mehr zur Geltung brachte. Die locker anliegende Hose mit den Bändern hingegen erschien mir sehr unpraktisch zu sein. Aber wir konnten froh sein, überhaupt irgendwelche Wechselklamotten zu haben. Schweigend zog sich Jiro seine DocMartens an und schürte sie voller Hingabe. Er liebte sie, egal, was andere sagten oder meinten. Für ihn waren 14-Loch DocMartens mit Stahlkappe die Erfüllung. Und soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich ihn noch nie in anderen Schuhen gesehen. Nur beim Baden vielleicht Flip-Flops. Oder in der Schule eben die Schuluniform. Ansonsten nur die; welche Alexander in der Nacht genervt aufgeschnürt hatte.   Und als hätte er nur darauf gewartet, dass wir gestriegelt und geölt auf dem Präsentierteller saßen, erschien er. »Flügel«, hauchte ich sofort, als ich die Vogelschläge wahrnahm. »Was? Jetzt schon?«, rief Kiyoshi entsetzt, löste sich von mir und lugte vorsichtig aus dem Fenster. Draußen war es noch immer Tag. Ein ungünstiges Hindernis. »Du meinst, das ist der Vogel von Vincent?«, hakte Alexander nach, der sich sofort seinen kurzen Parker anzog. »Nur er hat diesen großen Greifvogel ...«, murmelte ich und erhob mich ebenfalls vom Sofa. »... der uns mehrfach umkreist.« Mein Blick fuhr durch das kleine Zimmer. Wir waren gefangen. Nirgendwo konnten wir hin. Nicht einmal nach draußen. Wir hatten uns unser eigenes Grab gegraben. Die schweren Boots kamen näher und stockten meinen Atem ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)