My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 13: Flucht ------------------ Vincent schien an diesem Abend die Ruhe weg zu haben. Er genoss es regelrecht uns in der Mangel zu haben. Wahrscheinlich hatte er nur auf den Moment gewartet, in dem wir einen Fehler gemacht hätten. Ich entschuldigte mich tausendfach bei Mom. Bei Dad. Und bei Kiyoshi, weil ich mich einfach nicht bewegen konnte und somit unsere Flucht hinauszögerte. »Komm jetzt!«, schrie er mich panisch an, packte meine Arme und zerrte mich weg. Doch ich fiel nur zur Seite und wechselte die Blicke zwischen dem See und Vincent. Wenn Jiro gestorben ist ... dann wusste ich nicht mehr weiter. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Tatsache leben sollte. Dass ich Schuld war. Dass ich ihn dieser Gefahr ausgesetzt hatte! »Sterbt endlich, ihr Verräter!«, ertönte es. Ich blickte mich um, sah die Waffe auf uns gerichtet. Der Lauf zeige auf uns. Visierte uns an. Da durchzog es meinen Körper wie spitze Messerstiche. Ich sprang hoch, auf die Beine, packte Kiyoshi, zog ihn mit mir und rannte wie noch nie. Mein Bruder hatte Schwierigkeiten zu folgen, blieb aber an meiner Hand. Das Gras und das Gebüsch gaben unseren Körpern nach. Ein anderer Körper schien uns hektisch zu folgen. Immer wieder fielen Schüsse. Ich glaubte sogar, einmal getroffen worden zu sein. Doch ich spürte nichts. Einfach rein gar nichts. Meine Beine bewegten sich von alleine. Das Adrenalin in meinem Körper ließ mich flüchten. Vor Vincent. Vor dem Tod. Ein Ast blieb an meinem Bein hängen, riss meine Jeans auf, Blut folgte. Ich roch es. Dann roch ich auch das restliche Blut an mir. Ein kurzer Blick runter zeigte mir, dass ich in der Tat angeschossen wurde. Durch den linken Oberschenkel. Kiyoshi atmete nicht, rannte einfach nur. Hätte ich ihn nicht an der Hand gehabt, hätte ich nicht gewusst, ob er bei mir gewesen wäre.   Es dauerte Minuten bis wir ein hohes Maisfeld erreichten, in dem wir verschwinden konnten. Ich wollte es schon durchlaufen, einfach weiter fliehen, da zog mich Kiyoshi runter, sodass ich auf den Boden flog und hart mit dem Gesicht aufkam. Kiyoshi selbst legte sich ebenfalls nah an den Boden ran und lauschte. Wir blieben still. Regten uns nicht. Unsere Augen trafen sich. In meinen sammelten sich Tränen, Kiyoshis waren längst rot und knatschig.   Schritte. Flügelschläge. Weitere Schritte. Es war, als würde er Brummen. Ein Warnschuss folgte. Schlussendlich trat Stille ein. Die Schritte entfernten sich.   Ich atmete aus. Zittrig und dem Erbrechen nahe. Mein ganzer Körper begann zu zittern, zu schmerzen und zu frieren. Es hatte angefangen leicht zu nieseln. Wir lagen inmitten von Matsch. Doch all das hatte ich ausgeblendet. Nur das Fliehen zählte. Und wir waren entkommen. Ein weiteres Mal. Gerade so.   Doch Jiro... Jiro!   Ich schluchzte auf. Kiyoshi kam auf mich zugekrochen, heulte ebenfalls und drang sich an meinen Körper ran. Einige Würmer tummelten sich um uns, Käfer und andere seltsame Dinge. Doch all das störte nicht. Alles wurde egal. Erst, als ich Kiyoshi in meinen Armen hielt, seinen bebenden Körper an mir spürte, sah ich seine Blessuren. Schnittwunden, blaue Flecken, Kratzer und Schürfwunden. Ein Streifschuss am Arm. So etwas würde erst verheilen, wenn wir trinken würden. Doch wie? Doch wo? Es war zu gefährlich Mom anzurufen. Vincent würde nur darauf warten, dass wir das taten. Doch ein zittriger Griff in meine Hose zeigte mir, dass mein Handy komplett zerstört worden war. Da ging nichts mehr. Für eine Weile blieben wir noch erschöpft auf dem matschigen Boden liegen, bis wir uns umblickten und entschieden, zu gehen. Ein schmerzvolles Stöhnen entfuhr mir, als wir uns erhoben. »Geht's?«, war das erste, was Kiyoshi durch seine schmalen Lippen bekam. Er stützte mich, hielt mich auf den Beinen, während ich mit ihm humpelnd das Feld verließ. Wir standen inmitten einer Landstraße, um uns herum war fast nichts. Wir erkannten noch die einzelnen Bäume um den See. Genau auf der anderen Seite würde die Straßenbahn fahren. Doch selbst die wäre zeitnah zu gefährlich gewesen. Wer weiß, wo er sich aufhielt. Wer weiß, wo der Vogel war, um uns zu beobachten. Vielleicht hatte er uns schon gesehen? Mein Bein blutete wie Sau. Es tat richtig weh. Keine Ahnung, wie ich es geschafft hatte mit dieser Wunde noch einen halben Marathon zu laufen, doch jetzt konnte ich nicht einmal mehr zwei Schritte nebeneinander setzen. Meine Augen waren voller Tränen, ließen mich keinen Meter weit sehen. Kratzer und Schwellungen kamen auf einmal zum Vorschein. »Wo... gehen wir hin?«, fragte ich müde und heiser. Kiyoshi zitterte selber, war triefendnass und zog die Nase hoch. Schließlich schüttelte er den Kopf und sah sich um. »Ich weiß nicht ...«, flüsterte er. Am Ende der Straße waren ein paar Häuser. Ich spielte schon mit dem Gedanken, dort einfach zu klingeln, nach Hilfe zu fragen und erst einmal in Sicherheit zu sein. Doch Kiyoshi machte sich bereits auf, wieder zum See zu gehen. »Dort wird er uns wohl am wenigstens erwarten.« Immer wieder blickte ich in den dunklen Himmel. Der Mond war von Wolken verschleiert; es nieselte immer noch. Doch man hörte keine Vögel. Nicht einen einzigen. Am See angekommen, setzten wir uns an einen Baum. Die Feierlichkeiten waren erloschen, keine Menschenseele mehr sichtbar. Da fiel mein Blick auf den See. Ich konnte nicht anders, als erneut in Tränen auszubrechen. Kiyoshi schlang sofort seine Arme um mich und drückte meinen Kopf an seine nasse Brust. Jetzt wäre es zu spät gewesen. Selbst wenn ich jetzt getaucht wäre... selbst, wenn ich jetzt nach ihm gesucht hätte, hätte ich nur seinen Leichnam gefunden. »Fuck, Kiyoshi, was ist nur passiert? Ich hätte sterben sollen! Nicht er!«, schluchzte ich verzweifelt in die nassen Klamotten meines Bruders, der verzweifelt versuchte mich mit Streicheleinheiten zu beruhigen. »Sag doch so etwas nicht, Hiro!« »Doch! Es ist meine Schuld! Ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen! Auch noch das von Jiro! Er ... er hatte noch so viel vor! Es ist nicht fair!« Ich hickste immer wieder auf, holte Luft, hustete, verschluckte mich, wimmerte weiter. »Er war so ein lieber Mensch... wieso er?!« Kiyoshi schwieg einfach nur, regte mich immer wieder dazu an, leise zu sein, ehe Vincent uns hören würde. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Trauer zu schlucken. Nichts mehr zu sagen. Die Tränen im Regen laufen zu lassen und den Blick auf dem See lassen.   Die Zeit verging wie Gummi. Kiyoshi und ich lagen zusammen im Arm und seufzten jeweils im Minutentakt. Unsere Körper schmerzten. Die Wunden bluteten. Und nirgendwo eine Gelegenheit Nahrung zu sich zu nehmen, sodass die Wunden heilen könnten. Irgendwann tastete ich müde mein Bein ab. Ich spürte es unterhalb der Wunde nicht mehr. »Meinst du ... sie müssen es abnehmen?«, murmelte ich wie auf Droge. Mein eigener Körper setzte mich wahrscheinlich in eine Art Dämmerschlaf, um die Schmerzen so gering wie möglich zu halten. »Sicher nicht ... Das ist eine Schusswunde. So wie ich das sehe auch noch ein Durchschuss. Es muss einfach nur heilen«, säuselte Kiyoshi in mein Ohr und strich über mein Bein. »Das wird schon wieder.« Doch nichts würde wieder so werden, wie vorher. Ich hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen. Das meines besten Freundes. Kiyoshi lehnte weiterhin schwächlich neben mir am Baum. Die Tropfen des Regens träufelten auf uns herab und hinterließen eine unangenehme kühle Nässe. Wie spät es wohl geworden war? Ob wir schon nach Mitternacht hatten? Das Wasser plätscherte leise vor sich hin. Einige Geräusche, weit entfernt, ließen auf die Nähe einer Stadt schließen. Ja, die Innenstadt. Ob wir langsam die Straßenbahn nach Hause nehmen könnten? Ich hatte kein Handy, nichts, ich konnte niemandem Bescheid geben. Und was würde Mom zu der Wunde sagen? Sie würde austicken... würde Antworten verlangen ... »Wann können wir gehen?«, fragte ich müde und nickte hier und da weg. Obwohl ich mich noch lange nicht wohl fühlte und die Angst tief in mir drin saß, wollte ich einfach schlafen. Ins Bett. Mich ausruhen. Die Wunden heilen lassen. »Ich weiß nicht ... vielleicht in ein paar Minuten.« Kiyoshis Stimme klang gedämpft, als ringe er selber mit dem Schlaf. Die Aufregung, die Anspannung – beides auf einmal weg – und herein platzte die Müdigkeit. Außerdem wollte ich von diesem See weg. Ich wollte auch nicht daran denken, was in der Zeitung stehen würde. Was sie berichten würden ... was sie über die Leiche schreiben würden. »Bitte, lass uns gehen«, bettelte ich traurig und erhob mich, so gut es ging. »Und wohin?«, fragte Kiyoshi mit einem verzweifelten Unterton. »Zu Mutter können wir nicht! Dort wartet er doch nur auf uns!« Gerade so hatte ich mich auf die Beine gestemmt, da kippte ich wieder weg, als Kiyoshi den Einwand brachte. Ja, sicher ... wir konnten nicht zurück. Jedenfalls jetzt noch nicht ... »Shit!«, war alles, was ich rausbekam. »Wir haben nichts! Nicht mal ein funktionierendes Handy!« Ich kam aus dem Fluchen gar nicht mehr raus. Mein Bruder saß nur traurig neben mir und strich sich abermals über die Streifschusswunde. »Wie viel Geld hast du mit? Ich glaube, ich habe so um die 6500 Yen ...« »Geld?«, raunte ich, wie aus den Gedanken gezogen. Vorsichtig ging ich in die Schräglage, um an mein Portemonnaie zu kommen. »Auch... so ... nein, eher nur 5400 Yen. Wieso?« »Vielleicht können wir in die Stadt fahren und uns dort ein Hotelzimmer nehmen... Oder eine Pension. Nur, damit wir nicht im Wald übernachten müssen!« Ich schluckte. Waren wir jetzt also auf der Flucht? Verdammte Scheiße! »Wir können es versuchen. Fraglich ob sie zwei verwundete Jungs nehmen ...« »Wieso sollten sie nicht?« »Na«, und damit gestikulierte ich wie wild in der Luft rum, »die werden sicherlich nicht einfach die Schultern zucken, wenn wir blutend dahin kommen! Sie werden einen Krankenwagen rufen oder derartiges!« Helle Augen sanken zu Boden. »Das wäre nicht gut«, stellte er fest und knibbelte bereits eine Kruste von seinem Bein. Es sah einfach aussichtslos aus. Wir konnten nirgendwohin, so wie wir aussahen. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, bei den Häusern zu klingeln und sie einfach in den Keller zu sperren, sodass wir für eine Nacht ruhig wohnen könnten. Ohne Aufsehen zu erregen. Doch je mehr ich mich in diesen Gedanken verhaderte, desto absurder wurden die Ideen. Umbringen könnte ich sie, im Garten vergraben, oder gleich trinken. Kiyoshi hingegen schien wie immer die Ruhe selbst zu sein; behielt die Fassung, suchte wahrscheinlich nach wirklichen Lösungen und nach keinen Halbideen.   Es knackte im Unterholz.   Sofort fuhren wir um, machten uns zum Kampf bereit. In nur einem Bruchteil einer Sekunde waren wir wieder auf 180. Die Knochen und Muskeln bereit wieder loszulegen. Vincent wartete und er war hier, um uns zu töten. Ich würde bis an meine Grenzen kämpfen! Niemals würde ich mich geschlagen geben! Doch es war nicht Vincent, der aus dem Gebüsch trat. Es war ein anderer schwarzhaariger Mann, der langsam aus einem Gebüsch kam. »Wusste ich doch, dass ihr hier noch seid«, murmelte Alexander und kam auf uns zu. Seine Klamotten waren triefnass. Stand er also schon länger im Regen? »Alexander? Was... machst du noch hier?«, murmelte Kiyoshi und sackte sofort in sich zusammen, als er erkannte, dass es nicht Vincent war. »... spielt das eine Rolle?«, fragte er schnippig und sah zur Seite, als wäre es ihm peinlich noch immer am See zu sein. »Kommt mit. Das Auto steht dahinten.« »Auto? ... Was für ein Auto?«, hakte ich nach und hinkte mit meinem Bein ein paar Schritte hinter ihm her. »Na, mein Auto. Wir fahren zu mir. Ihr werdet nicht nach Hause können. Vorerst jedenfalls nicht. Macht schon, ehe ich es mir anders überlege.« »Was?«, war alles, was ich heiser aus meinen Lippen bekam. Alexander half uns? Wirklich? Ich dachte immer, er hasste uns ... und besonders Kiyoshi. Aber selbst den schien er mitnehmen zu wollen. Tatsächlich kam Alexander dann auf mich zu und stützte mich auf einer Seite, schnauzte dann Kiyoshi zusammen, er solle sich zusammenreißen und noch rund 100 Meter gehen. Alexander half uns ... als wäre es ihm selbst zuwider. Aber er half. Und dessen war ich so dankbar, dass ich fast in Ohnmacht gefallen wäre, endlich in Sicherheit zu sein. Ächzend und stöhnend erreichten wir einen teuren BMW. Er war zwar klein und ganz sicher kein Mittelklassewagen, trotzdem groß genug, um uns zu transportieren. Ganz zu schweigen vom Kleinwagen meiner Mutter. »Kiyoshi steigt bei mir vorne ein. Hiro, pass auf, wenn du dich hinsetzt. Heb ihn vielleicht ein kleines Stück an.« »Anheben? Wen?«, fragte ich verwirrt und konnte mich kaum auf den Beinen halten, stützte mich am Auto fest. Und als Alexander die Tür öffnete, dachte ich, ich falle erneut um. »J-Jiro ...«, flüsterte ich, hob eine Hand und legte sie zittrig auf seine nasse Stirn. Er lag bewusstlos, wie tot, auf der Rückbank und blutete an der Stirn. Wahrscheinlich vom Aufprall auf dem Stein. Wie apathisch strich ich über sein Gesicht, welches so weit weg schien. Er atmete. Flach, aber es war eine Atmung. »Er hat viel Wasser geschluckt. Aber er war vorhin kurz wach und konnte mich schon anpöbeln. Es geht ihm also gut«, erwiderte Alexander und ging auf die Fahrerseite. Kiyoshi half mir noch, mich in meiner Trance ins Auto zu setzen, platzierte Jiros Kopf auf meinen Schoß und schnallte mich an, als wäre ich ein kleines Kind. Auf einmal schien die Eifersucht vergessen und nur die Tatsache zählte, dass Jiro nicht tot war. Er lebte. Er war nicht tot. Ich war kein Mörder. Mit schnellen Schritten setzte sich Kiyoshi neben Alexander, der den Motor startete und den See mit etwas erhöhter Geschwindigkeit verließ. Während der Fahrt strich ich immer wieder über Jiros Körper. Er war kalt und nass. Seine Lippen blau und die Augen dunkel unterlaufen. Hätte Alexander nichts Gegenteiliges behauptet, hätte ich angenommen, er wäre doch gestorben. Wie ein Leiche lag er in meinen Armen. Kiyoshis Stimme nahm ich nur am Rande wahr; viel zu sehr beschäftigte mich der schwache Jiro und der Gedanke, kein Mörder gewesen zu sein. »Hast du ihn gerettet?«, fragte mein Bruder knapp ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Alexander fuhr durch ein kleines Dorf, weiter vom Stadtkern entfernt. »Kann man so sagen«, knirschte er durch seine Zähne, als sei es ihm im Nachhinein nicht Recht gewesen, genau das getan zu haben. »Bist du ihm also in den See nachgesprungen?« »Wieso fragst du? Wie hätte ich es sonst tun sollen?« Alexanders Unterton ließ auf Ablehnung schließen. »Ich weiß nicht... ich dachte, du hasst ihn.« »Nur, weil ich sein mickriges Leben gerettet habe, heißt es nicht, dass ich ihn auf einmal mag.« Kiyoshi formte seine Lippen zu einem leichten Lächeln. »Ach so. Meine nächste Frage wäre nämlich gewesen, wieso du uns rettest.« »Ich bin dazu verpflichtet, schon vergessen?« Da verstummte der Weißhaarige für einen Moment. Dachte darüber nach, dass jeder Vampir dazu verpflichtet war einen Reiblütler über sein eigenes Leben zu stellen, und schluckte letztendlich einen Kloß runter. »Niemand hätte dir nachweisen können, dass du es nicht getan hättest.« »Mit Jiro habe ich mir das aber eingehandelt.« Alexander knirschte erneut mit den Zähnen. »Ich lasse euch bei mir übernachten. Morgen seid ihr nicht mehr mein Problem, klar?« »Klar«, murmelte Kiyoshi und nickte, den Blick weiterhin auf der Straße. Es war, als hätte Alexander ohne nachzudenken Jiro gerettet. Trotzdem er ihn wahrscheinlich abgrundtief verabscheute, so war er kein Unmensch. Kein Arschloch, was sich einen feuchten Kehricht um das Leben anderer scherte. So war es sicherlich auch der Grund, wieso er seine zwei Erzfeinde rettete. Oder ihnen zumindest zu einer gelungenen Flucht verhalf. Bei Alexander würde uns sicherlich niemand erwarten, dachte ich und strich weiter über die schwarzen Haare von Jiro.   Als wir ankamen, war das Anwesen bereits hell erleuchtet. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir wahrscheinlich zum ersten Mal mit Alexanders Familie in Kontakt treten würden. Doch der stieg gelassen aus seinem Auto, ging nach hinten, öffnete die Tür und zog Jiro an der Hüfte aus seinem Auto. Der brummte nur kurz auf, ließ sich aber ohne jegliche Umstände über die Schulter werfen. Alexander schien stärker und kräftiger zu sein, als ich ihn immer in Erinnerung hatte. Kiyoshi kam ebenfalls nach hinten und verhalf mir auf die Beine. Sicherlich konnte er mich nicht so einfach über die Schulter werfen. Wohl eher umgekehrt. Alexander ging zum Tor, schloss es auf und deutete uns an, dass wir folgen sollten. »Wir gehen in das Separée.« Welches Separée, dachte ich und humpelte mit Kiyoshis Hilfe hinter ihm her. Wir gingen einen schmalen Gartenweg entlang, der liebevoll bepflanzt war. Aufgrund der Dunkelheit erkannte ich nicht viel, trotzdem schien er gepflegt gewesen zu sein. Etwas anderes hatte ich in Alexanders Zweitanwesen auch nicht erwartet. In der Tat näherten wir uns einem zweiten Teil des Hauses. Wie ein Apartment stand es alleinig im Garten und zeugte von wesentlich geringerer Größe als die große Villa im Vordergrund. »Das ist unser Gästehaus. Zurzeit schlafe ich hier, um meine Ruhe zu haben ... Aber für eine Nacht halte ich es auch mit euch aus.« Wieder einmal klang Alexander eher genervt, als hilfsbereit. Trotzdem unternahm er alles, dass wir in Sicherheit waren. Als er die Tür zum kleineren Apartment öffnete, strömte ein wirklich angenehmer Duft heraus. Eine Mischung zwischen Vanille und Moschus. Süßlich-herb, fast wie ein gutes Parfüm. Erst jetzt bemerkte ich, wie gepflegt Alexander nicht nur mit sich, sondern auch mit seinen Sachen umging. Das Zimmer war gemütlich eingerichtet. Mit Schafsfell auf dem Boden, einem kleinen Karmin, ein großes Bett mit einer Sitzecke. Davor ein riesiger Flatscreen Fernseher. In einer Nische versteckte sich sogar eine Mini-Küche. »Das Bad ist hier«, sagte Alexander und knippste das Licht zu einem geräumigen, modernen Bad ein. Es befand sich direkt neben dem Eingang und verlief schlauchartig neben der Kochnische. »Vielleicht wollt ihr erst einmal eure Wunden reinigen. Ich kümmere mich derweil um Ersatzkleidung und ... Nahrung.« Mit diesen Worten legte er Jiro auf das Sofa ab, platzierte ein Kissen unter seinem Kopf. In diesem Moment schlug der Verletzte kurz seine Augen auf und erkannte Alexander sofort. »Schnösel?«, fragte er sichtlich erschöpft. »Schnauze, Punk. Schlaf weiter«, befahl Alexander schon fast liebevoll; auch wenn seine Worte absolut nicht lieblich klangen. Mit einem Ruck zog er Jiro die nasse Lederjacke aus. Dann die Boots, an denen er lange schnüren musste. Ich konnte meine Augen fast nicht von Jiro abwenden, bis mich Kiyoshi ins Bad führte und mich auf dem Klodeckel platzierte. Etwas überfordert suchte er einen Waschlappen und machte ihn mit warmen Wasser feucht. »Zieh dich aus, Hiro... ich wasche deine Wunden«, sagte Kiyoshi mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Oder soll ich dir beim Ausziehen helfen?« »Geht schon«, murmelte ich, als ich anfing mich aus meiner Jacke zu quetschen. Alles an mir war zerstört, dreckig oder einfach nur nass. Nur in Unterhose bekleidet saß ich auf dem Klodeckel und betrachtete Kiyoshi, der mich liebevoll abwusch. Konzentriert ging er über meine zerschlissene Haut. »Wenn ich .. nicht so schwach wäre ... und nicht so etwas furchtbares passiert wäre ... würde ich glaube ich gerne mit dir schlafen«, seufzte ich belustigt und sah Kiyoshi weiterhin mit dem Waschlappen hantieren. Das ließ ihn lächeln. »Schon okay ... ich meinte es vorhin nicht als Vorwurf... Wir haben genug Sex.« »Okay ...«, murmelte ich erneut, bekam kaum noch ein anständiges Wort raus. Kiyoshi zog sich unterdessen ebenfalls aus und wusch seine Wunden mit ab. Ich half ihm beim Rücken und an Stellen, an die er nicht rankam. »Deine wunderschöne Haut«, bemängelte ich die vielen Kratzer und Wunden an seiner Porzellanhaut. »Das geht weg. Wirst sehen ... da bleibt nichts von übrig.« Ich nahm das einfach mal so hin, nicht weiter fragend, woher er das so gut wusste. Vorsichtig beugte ich mich vor, den Halt an Kiyoshis Schultern suchend, um nicht vom Klo zu kippen, und küsste seinen Nacken. Eine leichte Gänsehaut ging von dieser Stelle aus, sodass ich seine Haut erneut küsste. Und dann wieder. Immer wieder. Es fühlte sich gut an und es beruhigte mich. Es ließ mich für einen Moment vergessen, dass ich den weißen Marmorboden mit Blut befleckte, da mein Bein noch immer blutete. »Was macht ihr da?«, fragte Alexander perplex und sah uns Liebkosungen austauschen. Kiyoshi reagierte schneller als ich und entzog sich meinem Griff. »Nichts ... nur geschaut, wo unsere Wunden sind«, erklärte er hektisch und half mir wieder auf die Beine. »Entschuldige den Dreck, den wir hier machen. Morgen putzen wir.« »Quatsch. Das macht die Putzfrau. Legt die dreckigen Sachen einfach in die Badewanne. Ich hab hier einige Sachen für euch, die könnt ihr anziehen. Für dich, Kiyoshi, sind sie wohl ein wenig groß.« »Das macht absolut nichts ...« Mit einem sanften Lächeln schien auch mein Bruder froh über Alexanders Hilfe zu sein. Sowieso schien es zwischen uns keinerlei Streit mehr zu geben. Wie war das noch einmal mit den gemeinsamen Feinden? Als wir in den Wohnbereich zurückkehrten, lag Jiro noch immer halb ausgezogen auf dem Sofa und schien zu schlafen. Um ihn herum befanden sich einige Handtücher, eins davon um seine Stirn gewickelt. »Geht es ihm besser?« Meine Stimme klang wie nicht von dieser Welt, so verzerrt und heiser wie sie war. Hin und wieder musste ich husten. War ich etwa erkältet? Oder war das einfach noch von der Anspannung? Hatte ich ein paar Käfer geschluckt? »Er fällt immer wieder in seinen Schlaf zurück. Ich bin kein Arzt, also ... schätze ich mal ist er einfach unterkühlt und schwach. Die Wunde an seinem Kopf ist jedenfalls nicht tief und muss nicht genäht werden.« Ein erleichtertes Seufzen entfuhr mir. Kiyoshi setzte mich auf dem zweiten, kleineren Sofa neben Jiro ab und reichte mir einige Klamotten, die Alexander uns bereitgestellt hatte. Ein warmer Pullover und eine Jogginghose für jeweils jeden. Wahrscheinlich alles unglaublich teures Zeug. Jedenfalls saß es wie angegossen und fühlte sich absolut weich und flauschig an. Erst jetzt bemerkte ich, dass Alexander selbst noch in seinen nassen Klamotten steckte und sogar noch die dreckigen Schuhe trug. Doch ehe ich etwas sagen konnte, nahm er Jiro wieder in die Arme, packte ihn auf die Schulter und trug ihn ins Bad. »Kommst du klar? Soll ich dir helfen?«, fragte Kiyoshi höflich und sah dabei verstohlen zu mir, da ich keinerlei Hilfe mehr benötigte; angezogen und gewaschen war. »Nein, danke«, kam es schroff aus dem Badezimmer. Alexanders Stimmung erreichte den Nullpunkt, jedenfalls machte es diesen Anschein. Während ich Schrubben und Wasser plätschern aus dem Bad hörte, sah ich mich um. Kleinigkeiten hingen an der Wand. Doch so gemütlich wie das Zimmer eingerichtet war, so war es auch ... austauschbar. In diesem Anwesen schien Alexanders Familie wirklich nur ein paar Mal im Jahr zu wohnen, sonst wäre dieses Zimmer persönlicher. Keine Bücher, keine CDs. Nicht einmal Schmuck lag irgendwo rum. Keine DVDs oder andere etwaige Dinge, die man sich so aufstellen würde. Selbst das Bild, was über dem Bett hing, sah wie von einem Architekten ausgesucht aus. Entweder hatte Alexander den Geschmack eines Puristen oder ... lebte eben einfach nicht oft hier. Kiyoshi zog sich ebenfalls an und wie erwartet waren die Kleidungsstücke viel zu groß. Obwohl er meine Körpergröße vorwies, so war er doch beträchtlich schmaler gebaut. Der Pullover schlackerte, die Jogginghose wurde nur von seinen zwei Hüftknochen getragen. Ansonsten rutschte sie ebenfalls. Doch mein Bruder schien sich nicht darum zu kümmern. Stattdessen kuschelte er sich neben mich auf das Sofa. »Was sollen wir eigentlich mit deinem Bein machen?«, fragte er sofort angeheizt, als er einige Blutflecken noch am Boden sah. »Ich ... wir sollten einfach mal etwas trinken... dann würde das schon gehen, oder?«, fragte ich unsicher und schob die Jogginghose ein Stück runter, sodass man meinen linken Oberschenkel sehen konnte. Es blutete nicht mehr so stark, trotzdem war die Wunde groß und rot. Man konnte rohes Fleisch erkennen. »Alexander?«, rief Kiyoshi sofort den Namen unseres Gastgebers. »Hast du Tabletten hier?« »Nein«, kam es sofort zurück. »Im Kühlschrank sind Packungen. Nehmt die.« Packungen? Ich wusste nicht genau, was ich mir darunter vorstellen konnte, doch Kiyoshi hob nur eine Augenbraue, stand auf und ging an die kleine Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm seufzend zwei solcher Pakete in die Hand. Als er wiederkam und mir eine Packung reichte, erschrak ich etwas. »Das sind doch ... Bluttransfusionen... wie man sie im Krankenhaus bekommt!« »Ja ... will nicht wissen, woher Alexander die hat, aber ... ist im Moment das Beste, was man uns geben kann.« Mit diesen Worten kappte er den kleinen Schlauch und begann zu saugen. Die rote Flüssigkeit bahnte sich ihren Weg durch den Schlauch wie durch einen Strohhalm und endete in Kiyoshis Mund. Ich tat es ihm gleich, wenn auch ziemlich ungeschickt, und saugte so gut es ging, sodass ich den Lebenssaft in meinem Mund spürte. Es tat gut, endlich etwas zu trinken; so gut, dass ich für einen Moment die Augen schloss, während ich einen halben Liter Blut austrank, als wäre es nur ein kleiner Schluck gewesen. Durstig betrachtete ich die leere Plastikhülle in meiner Hand. Sofort spürte ich eine entspannende Welle meinen Körper durchstreifen. Mir war, als wären bereits einige kleine Wunden komplett verheilt. Selbst die große Schusswunde schien kleiner zu werden. Was ein Wunderzeug. Auch Kiyoshi trank hastig aus, nahm die leeren Blutpackungen und legte sie feinsäuberlich auf die Theke der Küche. In dem Moment kam auch Alexander mit Jiro wieder aus dem Bad. Halbwegs trocken, gewaschen und in frischen Klamotten. Auf einmal wirkte Jiro ganz anders ... in so braven Pullis und Jogginghosen. Und nach der Reinigung schien wieder mehr Leben in sein Gesicht gekommen zu sein. Er brummte sogar erneut auf, als Alexander ihn in sein Bett legte. In sein Bett? »Ich schiebe euch das Sofa aus. Dann könnt ihr darauf schlafen. Leider habe ich nur dünne Decken hier... aber ihr beiden ... geht ja eh auf Tuchfühlung und wärmt euch, so wie ich das vorhin verstanden habe.« Alexander rümpfte die Nase und begann an dem Sofa zu ziehen, auf welchem Jiro vorher noch gelegen hatte. »Das«, begann Kiyoshi, verstummte aber sofort. Eine leichte Röte trieb sich auf seine Wangen. »Danke, Alexander. Das ist mehr, als wir erwartet haben ... « »Denke ich mir«, kam nur knapp über seine Lippen, während er auf das ausgezogene Sofa Kissen und zwei dünne Decken warf, die vorher brav zusammen gefaltet waren. »Sag mal ...«, murmelte ich müde. »Kann ich kurz telefonieren? Oder eine SMS schreiben? ... Damit unsere Mom nicht ausrastet?« Ohne überhaupt eine Antwort zu bekommen, zog Alexander sein Handy aus der Hosentasche und warf es mir zu. Ich kam direkt zum Ziffernblatt, sodass ich auch die Uhrzeit lesen konnte. Mitternacht. Nein, dachte ich, da schreibe ich lieber eine SMS. Also formulierte ich lieb und brav, dass wir bei einem Freund übernachten würden und mein Handy ins Wasser gefallen sei, sie deswegen mich nur über diese Nummer erreichen könnte, die genau diesem Freund gehörte. In der Hoffnung, sie würde mir diese kleine Lüge abkaufen, reichte ich es Alexander zurück. Der seufzte und streifte sich seine nassen Klamotten ab. »Ich geh noch schnell ins Bad ... «, murmelte er und verschwand für einen Moment. Auch er schien erschöpft; von Vincent, Jiro und uns. Kiyoshi kroch langsam und vorsichtig auf das Schlafsofa und half mir mit meinem Bein. Schnell zog ich die Jogginghose wieder hoch. Die Wunde schloss sich tatsächlich. Zumindest soweit, dass ich keine Angst haben musste, alles voll zu bluten. Und mein Bein schien ich auch behalten zu dürfen. So langsam kam wieder Gefühl in die Zehen. Mit einem leichten Seufzen ließ ich mich in die Kissen fallen und streckte eine Hand nach meinem Bruder aus. Der lehnte sich kurz über mich und küsste meine Lippen. Das erhaschte mir ein Lächeln. »Meinst du, Alexander hat's gerafft?«, flüsterte ich ihm kaum hörbar zu. »Glaube schon«, murmelte Kiyoshi zurück und streichelte meine Wangen. »Immerhin hat er auch unser Gespräch über Sex mitbekommen. Die Tür war offen.« Ein leises Kichern entfuhr uns beiden. Mir schwebte zwar kurz im Kopf herum, dass Alexander besser dicht hält, aber was hätte er schon davon, uns zu verpfeifen? Vor allen Dingen an wen? An wen, der es sich nicht eh schon dachte? Es dauert auch nicht lange, da kam er aus dem Bad zurück. Er selber trug nur ein T-Shirt und seine Unterwäsche. Nun konnte ich wirklich annehmen, dass er trainierte. Solche Muskeln bekam man nicht vom Nichtstun. Jiro lag wie tot in seinem Bett, dicht an der Wand liegend und schlief bereits. Oder immer noch. Alexander tat sich keinen Abriss und legte sich einfach dazu. »Schlafen wir aus... oder?«, fragte er rhetorisch und knippste das Licht aus. »Und wehe, ich höre unangebrachte Geräusche! Ihr fliegt hochkant raus!« Sein böses Zischen ließ mich zusammenzucken. Okay, er wusste es. Das war nun klar. »Wir benehmen uns«, kam von meinem Liebhaber, der sich an mich kuschelte, bedacht, sich nicht auf meine Wunden zu legen. »Danke, Alexander.« »Ja, danke dir. Auch danke... im Namen von Jiro.« Mehr als ein genervtes Seufzen bekamen wir nicht. Die Decke aus dem Bett raschelte kurz, verstummte dann. Stille trat ein. Ich horchte noch einmal auf, kurz bevor ich wegnickte. Der Schwäche meines Körpers nachgab.   Die Angst blieb. Wir waren gerade so mit Schrammen davon gekommen. Und nun saßen nicht nur Kiyoshi und ich im Boot. Nein, da saßen noch ein weiterer Vampir und ein Mensch mit drin, die so absolut nichts damit zu tun hatten. Aber Vincent schrieb seine eigenen Regeln. Und das wurde mir nach dieser Nacht erst so richtig bewusst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)