My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 12: Zufälle ------------------- »Du hast gesagt, ihr seht euch alle nicht so ähnlich ... Die sehen alle gleich aus ...«, bemerkte Kiyoshi und deutete auf den Pulk meiner Freunde. Ich seufzte belustigt und schüttelte den Kopf. »Ja, doch, vielleicht vom Kleidungsstil, aber schau mal, Jiro erkennst du doch.« Der hopste bereits angetrunken um den Grill und schien die Glut wie einen Gott zu beschwören. Die schwere Nietenlederjacke klapperte dabei im Takt seiner Bewegungen. Doch ehe wir uns der Gruppe näherten, quietschte ein Mädchen auf. Als ich mich umdrehte, sah ich Natasha zwischen anderen Mädchen sitzen, erstarrt zu uns starrend. Sie tuschelte sofort mit einigen ihren Weibern, die ebenso entsetzt zu uns starrten. Super, dachte ich. Nicht nur, weil ich sie das letzte Mal mit ihrer Schwester angeknurrt hatte, sondern auch, weil sie zum ersten Mal Kiyoshi sah, der noch an meiner Hand hing. Aber so verkrampft wie er sie hielt... ließ ich ihn lieber nicht los. Sollen sie ruhig tuscheln. Bei Natashas Geschichten ging es eh immer wie bei Sodom und Gomorra zu; da würde auch niemand eine Vampirstory von Zwillingen aus ihrem Mund glauben. »Das ist doch die eine... aus der Mall«, bestätigte Kiyoshi und sah schüchtern zu ihr. »Ja, Natasha... Heute scheinen wirklich alle anwesend zu sein. Stell dich auf viele Fragen ein.« Langsam trotteten wir weiter und ehe ich mich versah, rumpelte mich eine kleine, dickliche Gestalt von hinten an. Sie umarmte mich feste und schnürte mir fast die Luft ab. »Hiro!«, schrie sie und ließ mich wieder los. Kiyoshi hatte vor Schreck meine Hand losgelassen und ging einen Schritt von mir. Als ich mich umdrehte, um die Person zu sehen, die mich wie ein Sumoringer quetschte, fielen mir sofort die roten Haare auf. »Lampe... Mensch... Schön, dich zu sehen!«, knirschte ich durch meine Zähne und setzte ein Lächeln auf. »Haha, tu nicht so, du kleine Ratte«, rief sie viel zu laut und zwickte mich in die Seite. »Wo warst du die letzten zwei Tage? Keinen Bock auf uns gehabt?« Je lauter Lampe wurde, desto höher wurde die Aufmerksamkeit auf mich. Und Kiyoshi, der noch immer ängstlich hinter mir stand. »Tja, wie das so ist ...«, murmelte ich und hob eine Augenbraue, als ich Roku und Kyo sah, die dicht beieinander standen. Kyo schien sich eher unwohl zu fühlen, während Roku immer seinen Augenkontakt suchte. Gab wohl wirklich Ärger im Paradies. Dabei ... dachte ich immer, die beiden würden ein gutes Paar abgeben. »Wer ist das?«, fragte Lampe frech und zeigte auf Kiyoshi, der wie erstarrt hinter mir stehen blieb und kein Wort raus brachte. Stattdessen versprühte er die unnahbare Aura. Wahrscheinlich war ihm Lampe noch unsympathischer als Jiro. Doch in diesem Fall hatte ich sofortiges Verständnis. Immerhin mochte ich Lampe auch nicht. Mit ihren knallroten Haaren, den Piercings im Gesicht, den Tattoos, dem etwas ungepflegten Äußeren. Jiro war auch ein Punk. Trotzdem wusch er sich. Und achtete auf sein Äußeres. Und auf seine Manieren. Lampe hingegen war nicht nur stilistisch ein Punk, sondern auch in ihrer Einstellung. »Das hier... ist Kiyoshi.« Damit schob ich ihn vor mich und deutete mit einer Handbewegung an, dass es sich um die vorgeschobene Person handelte. Kiyoshi selbst sah eher verängstigt in die Ruhe. Denn zu Lampe gesellte sich nun auch Jiro; andere sahen verstohlen rüber. »Scheiße, ist das dein Klon?«, platzte es aus Lampe heraus. Doch ehe ich sie wegen ihrer unfreundlichen Art ankacken konnte, korrigierte Jiro ihre Aussage. »Zwilling«, sprach er freundlich mit zwei Bier in der Hand, welche er an uns weiterreichte. »Kiyoshi ist sein Zwilling.« »Verarschst du mich?«, schrie Lampe laut auf. »Hiro hat nen Zwilling?« Und schon drehten sich alle zu uns um, starrten nicht nur mich, sondern auch Kiyoshi an. »Ich wusste es selbst nicht... bis vor einer Woche«, erklärte ich und zog Kiyoshi an mich ran, der immer noch kein Wort rausbrachte und stattdessen sein Bier trank. Jiro grinste wissend vor sich hin. »Kiyoshi ist ein bisschen schüchtern, hat aber nen guten Schlag drauf.« Kichernd näherte sich Jiro und klopfte meinem Bruder auf die Schulter. Der zeigte zum ersten Mal, seitdem wir angekommen waren, dass noch Leben in ihm steckte und lächelte zögerlich. »Oh fuck, man, jetzt haben wir noch mehr Zwillinge hier!« »Ja, aber diesmal echte«, spaßte Jiro und deutete auf Roku und Kyo, die sich nur langsam näherten. Eine zögerliche Umarmung zur Begrüßung folgte, Kiyoshi gaben sie nur die Hand. Gerade Roku schien etwas zurückhaltender als sonst. Wahrscheinlich stand ihm das Geständnis noch im Nacken. Doch wie sollte ich es beschreiben? Mein Lächeln war aufrichtiger, als das, was ich Kyo schenkte. Denn ich fühlte mit ihm. Es war nicht einfach... Ganz im Gegenteil. Zu meiner Vermutung hin, bestätigte Jiro mir sogar im späteren Verlauf des Abends, dass Roku heimlich auf Kyo stand. Und Kyo ihm bisher noch keine Antwort gegeben hatte. »Mies«, murmelte ich, Kiyoshi dabei in meinem Arm haltend. Der saß zwischen meinen Beinen und lehnte an meiner Brust, spielte ein Spiel auf meinem Handy und trank hier und da ein paar Schlucke Bier. »Ja, aber ich denke, Kyo wird nachgeben. Bisher geht er Roku nämlich nicht aus dem Weg. Ich denke, er braucht einfach seine Zeit, bis er es für sich herausgefunden hat.« »Haha, schön gesagt ...« Unsicher schwank ich mein Bier. Sollte ich es ihm sagen? ... Jetzt? Wo wir schon mal beim Thema waren? Kiyoshi schien das ja nur Recht zu kommen. Der wich nicht von meiner Seite und nahm, wann immer eine Frau mit mir redete, meine Hand und drückte sie recht deutlich. Auf einmal machte jemand Lautsprecher an sein Handy und spielte laute Musik. Die Grillplatte lief auf Hochtouren und verströmte einen angenehmen Duft. Nein, dachte ich, die Stimmung war zu gut, als sie mit einem so blöden Geständnis zu stören. Und während wir uns alle nett unterhielten, bei guter Metalmusik und Fleischgeruch, spürte man die Gäste von der Fete unruhig werden. Es missfiel ihnen eindeutig, dass hier so ein paar Punks rumlungerten und laut Musik spielten, Dreck machten und unangenehm auffielen. Es dauerte auch nicht lange, bis der erste von der Feier rüberkam. Ein junger Mann, vielleicht Ende 20, schlicht gekleidet, kam schnellen Schrittes auf unsere Gruppe zu. Kiyoshi blickte vom Handy auf und starrte den Mann an, der sich rege mit Lampe unterhielt. »Er ist einer«, gab er knapp zu verstehen. »Wirklich?« »Ja.« »Wer ist was?«, fragte Jiro, der Kiyoshis Aussage natürlich mitbekommen hatte. »Ach, nix.« Mit einem zarten Lächeln versuchte ich Jiros Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes zu lenken. »... Du bist ganz schön blass geworden. Ich bin voll neidisch«, bemerkte Jiro dann nur spitz und berührte ehrfürchtig meine Wange. Wie von der Tarantel gestochen, setzte sich Kiyoshi auf und funkelte Jiro an. Eine leichte Handbewegung meinerseits, die sich um Kiyoshis Brust legte und ihn wieder an mich drückte, ließ ihn stumm bleiben. Tz, tz. So eifersüchtig. Jiro hingegen schmunzelte nur, sah mich fragend an. Alles, was ich ihm geben konnte, war ein Schulterzucken. Als wäre es halt so ... Der Mann von der Feier ging raunend davon, fluchte auf dem Weg zurück und gestikulierte mit den Händen. Wenn er ein Vampir war... waren da sicherlich auch mehr. »Meinst du, da sind noch mehr?«, fragte ich Kiyoshi, der nun aufrecht neben mir saß und interessiert in die Richtung der Gruppe blickte. »Schätzungsweise ja. Kann mir nicht vorstellen, dass er der Einzige war.« »Was die wohl hier machen?« »Sieht ganz nach einem typischen "Sehen und Gesehen Werden" Fest aus. Wo man sein Geld zeigt. Oder eben das, was man davon gekauft hat.« »Das klingt ziemlich scheiße«, funkte sich Jiro wieder rein und trank sein Bier aus. »Kann mir diesen Alexander da gut vorstellen.« Ich wurde hellhörig. »Stimmt. Eigentlich... keine schlechte Idee, oder?« Mein Blick fiel zu Kiyoshi, der schon die ganze Zeit nach ihm Ausschau zu halten schien. »Wir können uns ja mal umsehen«, schlug er vor und stand auf. Ich tat es ihm gleich und sah zu Jiro. »Du bleibst wohl besser hier«, schlug ich ihm vor, doch ehe ich mich versah, stand er neben mir. »Vergiss es, den schnapp ich mir.« Mit einer lockeren Faust schlug er gegen meinen Rücken. »Der soll mir noch einmal unter die Augen kommen. Dieser scheiß Schnösel!« »Bitte keine Schlägerei«, bat ich leise und hob beide Augenbrauen. »Mit Alexander ist nicht zu spaßen.« »Mit mir auch nicht«, knurrte er und setzte sich in Bewegung Richtung Feier. Kiyoshi hob nur eine Augenbraue und folgte ihm, wenn auch eher widerwillig. Als wir die Feier erreichten, sahen uns einige Gäste schon verwirrt an. Andere zogen sogar ihre Augenbrauen hoch und rümpften die Nase. Dabei hatten wir sogar einen Reinblütler dabei. Doch Kiyoshi schien undercover unterwegs zu sein: niemand bemerkte uns wegen unserer Aura.   »Na, sieh mal einer an, wer sich hier hin verlaufen hat«, flüsterte Jiro und zeigte mit dem Finger auf Alexander, der in schwarzer Jeans und Anzugjacke mit einem Glas Wein (wahrscheinlich war es kein Wein) neben einer Traube Menschen stand und gelangweilt drein blickte. »Jiro, du kannst jetzt nicht zu ihm hingehen und ihm eine reinhauen«, mahnte ich ihn und deutete auf seine bereits geballten Fäuste. »Nenn mir einen Grund, wieso nicht.« »Weil wir hier in geschlossener Gesellschaft sind und .. er anscheinend dazugehört. Schlägst du auf ihn ein, wirst du gleich 10 weitere Fäuste im Gesicht haben.« Kiyoshi verdrehte weiterhin die Augen und stierte zu Alexander, der uns noch nicht bemerkt hatte. Alles, was Jiro tat, war die Nase rümpfen und die Arme zu verschränken. »Von mir aus ...« Erst als ich mich umdrehte, war Kiyoshi verschwunden. Schnell stolperte ich in seine Richtung, die er eingeschlagen hatte. Leise ging er hinter die Bühne und sah sich um. »Was machst du?«, fragte ich aufgebracht, als Kiyoshi auch noch anfing, Taschen zu durchwühlen. »Ich suche etwas, womit ich Alexanders Aufmerksamkeit erregen könnte... Ohne die anderen.« »Willst du ihn also weglocken?« »Ja, klar. Wir können uns hier doch nicht ruhig unterhalten. Außerdem sollte Jiro... ebenfalls nicht dabei sein.« »Hast ja Recht.« Nicht nur wegen der Vampirgeschichte. Sondern auch wegen Schlägereigefahr. Doch ehe ich mich versah, hörte ich laute Stimmen. Jiro stand direkt neben Alexander, der ihn wohl aufgrund seiner wesentlich auffälligen Statue wahrgenommen hatte und auf ihn zuging. Spöttisch sahen sie sich an, grinsten hämisch, stichelten wahrscheinlich schon. »Lass gut sein, Kiyoshi«, seufzte ich meinem Bruder entgegen, der seinen Kopf aus den Taschen der Leute nahm. »Wir haben seine Aufmerksamkeit bereits.« »Der Typ macht uns echt nur Ärger«, raunte er auf und verschwand mit mir aus dem Bühnenzelt. Alexander schien ruhig sein Glas auszutrinken, während Jiro kurz vorm Platzen stand. »Ich weißt nicht, wieso du mir nachläufst«, gab Alexander von sich und stellte affektiert sein Glas weg. »Wie bitte? Ich laufe dir nach? Auf welcher Droge bist du? Schwachsinn oder Verwirrtheit?«, konterte Jiro und steckte seine Hände in die Hosentasche. Mit lautem Geklimper seiner Nieten kam er ein Stück auf Alexander zu. Es dauerte auch nicht lange, bis sie sich wieder fast Brust an Brust standen und kurz vor einem Hahnenkampf waren. »Okay, hallo, Schluss jetzt«, ging ich dazwischen und zog sowohl Jiro als auch Alexander etwas zur Seite. Sofort bekam ich einen pikierten Handschlag von Alexander. »Fass mich nicht an, du Mischling!« »Mischling?! Ich hör wohl nicht Recht!«, entfuhr es dann auch mir, wurde jedoch von einer kalten Hand zurückgehalten. Kiyoshi schien wie immer der ruhige Pol zu sein. Zumindest schauspielerte es ausgezeichnet. »Alexander, wir müssen mit dir reden.« »Ich aber nicht mit euch«, gab er schnippig zu verstehen und richtete seinen Blazer. Ein böser Blick in Richtung Jiro ließ uns wieder aus dem Geschehen drängen. »Es geht um gestern«, ließ Kiyoshi nicht locker und stellte sich in sein Sichtfeld. Genervt, aber doch zugleich wissend, um was es ging, sah Alexander in die Augen meines Bruders. Für einen Moment schien er zu überlegen, die Ernsthaftigkeit der Situation ausmachend. »Na schön. Aber ohne den!« Mit einem leichten Kinnnicken deutete er zu Jiro, der wie immer Hummeln im Hintern hatte, sich endlich mit Alexander zu prügeln. »Ja, sicher ...« Damit setzte sich Kiyoshi in Gang, trottete über die flache Wiese in Richtung eines abgelegenen Baumes, wo sich keine Gäste befanden. Jiro hingegen sah entsetzt zu mir. »Ernsthaft? Ihr wollt alleine mit dem Reden? Was ist los mit dir, Hiro?« »Mit mir ist nichts ... es geht sich um gestern. Wir glauben, Alexander hat gesehen, was passiert ist.« »Okay? Und? Erstens: Was interessiert euch das, ihr seid nicht die Mordkommission? Und zweitens: Wieso darf ich dann nicht dabei sein?« Jiros Einwände waren in der Tat handfest. Trotzdem blieb ich standhaft und vertröstete ihn auf ein klärendes Gespräch, sobald wir mehr von Alexander erfahren hätten. Sicherlich würde ich ihm nicht alles erzählen, aber eine abgedroschene Version dürfte ihm reichen. Als ich zu Kiyoshi und Alexander trottete und bereits eine hagere Stimmung spürte, schob ich meine Hände in die Hosentaschen. »Also, was ist los?«, begann Alexander, als ich mich neben ihn stellte und dabei Kiyoshi fixierte. Der fackelte auch nicht lange mit seiner Frage. »Wer hat die Leute umgebracht?« »Keine Ahnung.« Damit zuckte er mit den Schultern, als wäre nichts vorgefallen. »Ich war draußen, hab euch gehen sehen. Als ich wieder rein kam, war eine miese Stimmung, also bin ich wieder raus, hab mich mit ein paar Leuten unterhalten. Irgendwann... so zwischen 20 und 30 Minuten hörte man Schüsse. Die Menschen strömten raus, einige von uns ebenfalls. Ich konnte niemanden sehen, aber es wird gemunkelt... Dass es ein Hunter war.« »Also doch ...«, murmelte ich und sah zu Boden. Wenn es ein Hunter war... dann mit Sicherheit ein sehr aggressiver. Der uns auch auflauerte. Vielleicht waren es sogar zwei oder drei auf einmal, die hier ihr Unwesen trieben. »"Also doch"? Es wird nur gemunkelt. Keiner hat handfeste Beweise. Denn nur die Polizei hat danach das Schlachtfeld gesehen. Jegliche Informationen bleiben geheim.« »Schreit doch ziemlich nach einem Hunter, findest du nicht?«, fragte ich den schwarzhaarigen Mann, der mit seinen eisblauen Augen in meine Richtung starrte. »Wie gesagt: Keine Ahnung. Ich kann euch da nicht weiterhelfen. Jeder hier schiebt jetzt Panik, dass es ein Hunter war. Die Leute dort irgendwie bestrafen wollte. Doch meines Wissens nach haben die nichts falsch gemacht. Flirten geht nicht gegen die Regeln.« »Haben sie vielleicht jemanden umgebracht?«, wollte Kiyoshi wissen und kam einen Schritt auf uns zu. Dicht an mich gedrängt fixierte er Alexanders Gesicht. »Nicht, dass ich wüsste. Ich weiß sowieso nicht, was schon wieder los ist. Ich dachte erst, es sei wegen euch gewesen. Aber wieso dann gleich 12 Leute sterben mussten... Wenn man doch eigentlich nach euch sucht? Das verstehe ich nicht.« »Wir werden auch von einer schwarzen Gestalt verfolgt«, gab ich preis. Kiyoshi knuffte mich erst in die Seite, als solle ich das erst ein mal geheim halten, doch Alexander ging so neutral und ruhig an die Sache, dass er in mir Vertrauen weckte. Ihm könnten wir es erzählen. Vielleicht wüsste er dahingehend etwas. Oder könnte uns sogar helfen. »Das wundert mich nicht«, summte er mit einem süffisanten Grinsen. »Vincent ist nicht dumm. Er wird hier und da seine Informationen bekommen haben, wohin ihr seid. Dass ihr allerdings auch noch einfach zur Mutter fahrt... das war nachlässig. Ihr hättet euch wenigstens für ein paar Monate in die Berge flüchten sollen. Oder in eine andere Großstadt. Eben dort, wo man euch eher nicht erwartet hätte.« Kiyoshi knirschte etwas mit den Zähnen. »Es ist eben nicht so einfach mit dem mal eben verschwinden.« »Wieso? Dein Dad hat genug Geld.« »Darum geht es auch nicht«, funkte ich wieder dazwischen und sah Alexander eindringlich an. »Ich habe hier noch ein Privatleben. Und eine Mutter. Und alle wissen nichts davon.« »Ach?« Sofort grinste Alexander schelmisch auf. »Der Punk weiß nichts davon? Interessant. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, wieso er mich so ungeniert anpöbelt.« »Hey, lass ihn einfach in Ruhe, okay?«, schaltete ich mich ein, bevor er wieder zurück zu Jiro gehen wollte, der Abseits von der Fete an einem anderen Baum stand. »Er weiß nicht, wie stark du als Vampir bist. Es wäre unfair ihm gegenüber.« »Meine Güte, Hiroshi, ich würde ihn schon nicht umbringen. Und ich werde mich hüten ihm näher zu kommen, als notwendig.« Mit einem schelmischen Grinsen drehte er uns den Rücken zu und schlenderte zu Jiro. Offensichtlich ging es ihm nur um eine Abreibung, die auch aus Jiros Sicht mehr als Willkommen war. Kiyoshi drehte sich zu mir und deutete noch kurz zu Alexander. »Wenn er auch nicht weiß, wer es war... können wir nur vermuten.« »Ja«, brummte ich und sah in den sich verdunkelnden Himmel. Nur die Lichter der Feier und die Glut des Grills erhellten die Umgebung am See. Er glitzerte ruhig. Die Stimmung um uns herum schien sich zu entspannen. Die Leute wurden betrunken, einige davon torkelten schon. Unsere Gruppe war hauptsächlich am Essen, sodass eine gefräßige Stille eintrat. Erst als die ersten Schläge flogen, schien die ruhige Atmosphäre zerstört. Jiro torkelte ein kleines Stück nach hinten, stichelte trotzdem weiter. »Für eine Bonze, die wahrscheinlich ihre Hände noch nie in Spülwasser hatte, hast du einen passablen Schlag!« »Pah«, raunte Alexander und holte erneut aus, verfehlte seinen Gegner jedoch. »Pass auf, was du sagst, sonst reiß ich dir jedes Piercing einzeln aus deinem Gesicht!« »Schnauze!«, schrie er und packte Alexander am Kragen. Kiyoshi und ich stellten uns recht amüsiert nebenan und betrachteten das Schauspiel. »Was meinst du... wie weit sie gehen?« »Wahrscheinlich bis Jiro am Boden liegt und Alexander Blut ins Gesicht spuckt«, seufzte ich und schüttelte den Kopf. »Davor müssen wir eingreifen.« »Auf jeden Fall!« Kiyoshi wurde nervös. »Alexander darf nicht mit Jiros Blut in Verbindung kommen!« »Wird schon nicht passieren ...«, raunte ich und beobachtete die beiden genau. Wie sie sich auf dem Boden wälzten. Bis der Horizont sich verschwärzte.   Im Hintergrund vernahm ich eine dunkle Gestalt.   Sie kam näher.   Mir verschlug es die Sprache. Alexander und Jiro prügelten sich weiter, bis Jiro am Boden landete und von Alexanders Fäusten überrumpelt wurde. Erst dann bekam ich die nötige Luft, Kiyoshi anzusprechen, ihn auf die dunkle Gestalt am Ende des Sees aufmerksam zu machen. »Kiyoshi... da«, hauchte ich fast zu leise und deutete auf den Horizont. »Ist das- Ist das etwa?«, stotterte mein Bruder und fixierte ebenfalls die Szenerie hinter Alexander und Jiro. Die Feier um uns herum wurde auf einmal laut, die Gäste sangen und tanzten, ließen sich gänzlich aus. Niemand vernahm, was wir sahen. »Wir müssen gehen ... fliehen!« Sofort packte ich Kiyoshis Hand, zog ihn mit mir. In dem Moment wurden die beiden Prügelheinis aufmerksam, sahen uns wegrennen und rafften sich auf. »Wohin gehen die? Hey!«, rief Jiro uns hinterher. »Hiro? Wohin?« Doch ich konnte nicht antworten. Ehrlich gesagt empfand ich pure Panik, wusste nicht wohin ich gehen sollte. Kiyoshi rannte hinter mir her, den See entlang. Alexander und Jiro blieben wie versteinert auf der Stelle stehen, bis sie uns doch folgten. Jiro, weil ich wegrannte, Alexander, weil er uns folgen wollte.   Dann ging alles ganz schnell Ein Windschlag durchstreifte mein Gesicht, ich hörte Kiyoshi aufkreischen, Wasser bewegte sich, Jiro schrie, Alexander packte mich am Arm, hielt mich vom Fall ab. Ein Vogel flog an mir vorbei, hinter uns und landete auf einem Arm. Der Arm war in schwarzem Leder verhüllt, welches länglich in einem Mantel endete. Lange schwarze Haare lagen sachte auf den Schultern des Mannes, der den Greifvogel wieder von sich fliegen ließ. »Vincent«, flüsterte ich, halb auf dem Boden kniend. Alexander hielt meinen Arm fest, als wäre er selber erstarrt. Jiro blieb vor uns stehen, sah dann Kiyoshi im See schwimmen. »Fuck, ist alles okay?«, rief er ihm zu, doch Kiyoshi schwamm so schnell er konnte ans Ufer, ohne zu antworten. »Wer ist das?«, rief Jiro uns zu, half Kiyoshi aus dem Wasser. Ich blieb in meiner Starre, sah nur zum großgewachsenen Mann, der mit seinen schweren Boots auf uns zusteuerte. »Ein Feind«, murmelte Alexander, ebenfalls erstarrt und atmete flach. Mit einem Ruck zog er mich wieder auf die Beine. »Ich will damit nichts zu tun haben, das ist mir zu heiß! Verschwindet endlich! Wenn ihr flieht, könnt ihr Glück haben, dass er euch wenigstens heute nicht erwischt!« »Was? Der Mann ist hinter euch her? Hiro, was ist los?«, schrie mein bester Freund nun völlig hilflos. Doch ehe ich antworten konnte, sprang Kiyoshi die letzten Meter aus dem Wasser, packte mich am Arm und zog mich weg. Alexander lief in eine andere Richtung, Jiro blieb stehen und wunderte sich, was passierte. Als ich mich umdrehte, sah ich Vincent direkt vor Jiro stehen. »Nein!«, rief ich und machte abrupt Halt. »Nein! Das darf er nicht!« »Lass ihn, er wird ihm nichts tun!«, schrie Kiyoshi verzweifelt, packte mich an der Brust und zerrte mich von den beiden weg. Vincents Hand fuhr aus, packte Jiro am Kragen und zog ihn hoch. Es sah aus, als würde er ihn eindringlich beobachten. Jiro zitterte am ganzen Körper, half sich selber, indem er sich an Vincents groben Handschuhen festhielt. »L-Lass mich los!«, wimmerte mein Freund und strampelte wie verrückt mit den Beinen. »Lass los!« Doch Vincent blieb eisern. Einzig und allein seine Augen bohrten weiter und suchten in Jiros Anzeichen der Menschlichkeit. Ich wehrte mich weiterhin gegen Kiyoshis Griff. Die Angst um Jiros Leben wuchs in mir, machte mich blind und versetzte mich in Rage. Vincent war dafür bekannt, dass er sich seine eigenen Regeln schrieb. Wieso sollte er dann nicht auch vor Menschen Halt machen, die mit den gesuchten Verbrechern befreundet waren? »Wir müssen fliehen!«, zischte mir Kiyoshi zu. »Dem wird nichts passieren, komm jetzt!« Damit zerrte er mich zu einer Reihe von Bäumen und Büschen, die uns eventuell hätten Schutz bieten können. Doch in dem Moment pfefferte Vincent Jiros Körper wie ein Sack Reis in die Ecke, gegen einen Stein, der sich am See befand, sodass er bewusstlos ins Wasser fiel. Durch das zweite Plätschern wurden nun die anderen Gäste aufmerksam. Sie sahen Vincent, fingen an zu schreien und liefen weg. Panik brach aus. »Fuck nein!«, rief ich völlig panisch, riss mich von Kiyoshi los und rannte zu Vincent und dem See, wo der bewusstlose Jiro kurz vorm Ertrinken stand. »Nein! Hiro!« Kiyoshis Stimme hallte noch nach, verstummte plötzlich in einem Piepsen in meinen Ohren. Etwas hartes knallte gegen meinen Kopf und ließ mich zu Boden fallen. Vincent hatte mich am Kopf getroffen, machte einen Ausfallschritt und schlug weiter auf mich ein. Die Fäuste trafen mich schmerzhaft in den Rippen, an den Schultern und im Gesicht. »Du mieser Noneternal! Hast wohl geglaubt, du könntest dich einfach so mit deinem Bruder aus dem Staub machen, huh?«, raunte Vincent gefährlich, während ich nicht ein einziges Wort vernahm. Kiyoshi nahm Anlauf, packte all seinen Mut zusammen und stürzte sich auf Vincents Körper. Schüsse fielen. Der Hunter hatte seine Schusswaffen gezogen und streifte Kiyoshi am Arm. Doch mein Bruder kämpfte weiter, verbittert kratzte und biss er Vincents Haut, nur um ihn von mir wegzulocken. Es dauerte einen Moment bis ich wieder Laute vernahm und keine Sternchen mein Sichtfeld vereinnahmten. »Nein!«, murmelte ich, sah zum See und entdeckte niemanden mehr. Nicht einmal Wasser bewegte sich. Ein Gefühl zwischen Panik und Übelkeit lief mir zwischen die Knochen. Erst als Kiyoshi aufschrie, lenkte er meine Aufmerksamkeit auf ihn. Ich wusste nicht, was ich tun sollte! Kiyoshi zur Hilfe eilen? Jiro am Grund des Sees suchen? Vincent angreifen? Mein Bruder fiel unsachte zu Boden, hielt sich den Arm und robbte weinerlich von seinem Feind weg. »Du Missgeburt, ich werde dich zurück zur Hölle schicken, woher zu kamst!«, schrie Vincent und lud erneut seine Waffe. »So wie die anderen niederen Blutsauger. Wieso hält sich niemand von euch an die Regeln?« Kiyoshi robbte weiter, rappelte sich wieder auf und konnte einem Schuss gerade so noch ausweichen. Schnell sprang er in einen Baum, hüpfte gekonnt von Ast zu Ast und landete schließlich hinter mir. »Hiro! Bist du verletzt?«, rief er mir zu, rutschte die letzten Meter über den Rasen und half mir auf. »Es geht, was ist mit dir?«, stotterte ich und musterte meinen Bruder, der nicht nur dreckig, sondern auch blutig war. »Schon okay ... « Ein kurzer Moment ließ uns vergessen, wo wir uns noch einmal befanden. Seine Augen strahlten Hitze aus, Panik, Unsicherheit. Angst. Es war, als könnten wir uns schon irgendwie helfen, nur wie? »Runter!«, rief ich, drückte Kiyoshi ins Gras und schmeckte dabei selber etwas Grünzeug. Vincent schoss erneut und traf den Baum hinter uns. Als ich mich kurz zum Einschuss umdrehte, sah ich eine hellblaue Flüssigkeit herauslaufen. »Was zum-?«, fragte ich in die Aufregung. Es blieb nicht viel Zeit, so kniff ich die Kugel aus dem Holz und setzte mich mit Kiyoshi in Bewegung. Ich steuerte auf den See zu, untersuchte ihn. »Wo wollt ihr hin, Blutsauger? Ihr könnt mir nicht ewig entfliehen!«, schrie die düstere Stimme uns nach. Jiro, Jiro! Wo war er nur? Am Grund des Sees? Ein schneller Blick zu unserer Gruppe sagte mir, dass auch sie fluchtartig verschwunden waren. Nur noch Grill und einzelne Bierflaschen standen noch dort und deuteten auf einen feucht-fröhlichen Abend hin. Tränen stiegen in mir auf. Jiro! War tot? Einfach so? Vincent hatte ihn umgebracht! Kiyoshi neben mir redete auf mich ein, sein Mund bewegte sich; doch ich verstand nichts. Meine Ohren piepsten, ließen mich nichts Hören. Die Brust schien mir zu zerschlagen, so sehr hämmerte mein Herz gegen die Rippen. Alles tat weh, doch Schmerzen empfand ich keine. Nur ein dumpfes Gefühl von Machtlosigkeit.   Nur der Gedanke, dass ich lieber auf Kiyoshi hätte hören sollen. Mit dem schlechten Gefühl ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)