My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 10: Unruhe ------------------ Gut, im nachhinein hätte ich als erstes mit ihm rechnen sollen, wenn schon Rose und Sam anwesend waren. Und der gefühlte Rest der High Society der Academy Red Rose.   »Ich glaube, ich bin im falschen Film«, giftete es neben uns in einer bizarren Stimme. Kiyoshi fuhr sofort herum und blickte in die eisblauen Augen von dem wohl bei uns unbeliebtesten Vampir des Jahrhunderts. »Alexander?!«, rief er deutlich zu hören und starrte perplex in die Richtung des stämmigen Mannes. Seine langen schwarzen, leicht gewellten Haare lagen ihm locker über die Schulter. Ein dunkelgraues Hemd zierte seine zugegeben gut trainierte Brust. Erst als ich realisierte, wer da vor mir stand, zischte Kiyoshi bereits los. »Wieso wundert es mich nicht, dass du Lackaffe auch hier bist?« »Na, na! Was ist denn mit unserem lieben Papa-Söhnchen los? Hast du etwa mal Alkohol getrunken? Haha!«, spottete Alexander und schob die Hände in seine Hosentasche. »Und rauchen tust du auch? Was ist Hiroshi nur für ein schlechter Einfluss! Zahlst du es ihm so heim? Dass er dich gebissen hat? Willst du ihn dafür in die Abhängigkeit treiben?« Alexanders Augen formten sich zu Schlitzen, die mich finster beobachteten. Das konnte doch wohl alles nicht wahr sein! Das nächste Mal, so schwor ich mir, würde ich meinem Bauchgefühl nachgeben und mich nie wieder zu solchen Clubs verleiten lassen. »Geht dich nichts an, lass uns in Frieden«, raunte ich ihm entgegen und mied so gut es ging seine kalten, blauen Augen. Sie stachen in der Tat recht unangenehm in unsere Richtung. Er schien nüchtern zu sein. Vollends nüchtern. »Was macht ihr überhaupt alle hier?«, stellte Kiyoshi eine wohl offensichtliche Frage, während er weiter seine Kippe rauchte. Etwas amüsiert über das eher asoziale Verhalten meines Bruders, steckte Alexander sich eine Zigarillo an. Natürlich, der feine Herr würde ja niemals normale scheiß Zigaretten rauchen. Wenn schon, dann richtig. »Ferien. Seitdem du und dein toller Noneternal Bruder in unserer Schule für Aufregung gesorgt haben, ist sie für's erste dicht gemacht worden. Zwangsferien sozusagen. Und da dachte ich... fahre ich mal wieder meine Familie besuchen.« »Du hast ernsthaft Familie hier im Süden?«, spottete ich über die scheinbar blöde Ausrede von Alexander. Doch der ließ sich nicht beirren und rauchte genüsslich an seiner Zigarre. »Ja, so etwas haben wir auch. Familie. Und zwar nicht so auseinander gerupft wie bei euch.« Kiyoshi sprang sofort einen Schritt auf Alexander zu und knurrte ihn gefährlich an. »Halt ja deinen Mund!« Doch es lief nicht ansatzweise so, wie in der Schule, wo Kiyoshi einen ruhigen Kopf hatte. Hier schien Alexander die Ruhe selbst zu sein; nicht weiter darauf achtend, wer da vor ihm fast aus Rage im Dreieck sprang. Hier war Kiyoshi nur ein Typ, der ziemlich betrunken rumpöbelte. Und irgendwo gefiel mir das. So erlebte er auch einmal Machtlosigkeit. Wie es war, nicht immer der Beste und Schönste von allem zu sein. Trotzdem war mir sofort bewusst, dass Kiyoshi so etwas nicht in die Schublade "Erfahrungen", sondern in die "Erniedrigungen, Verluste und Versagen"-Schubalde stecken würde. »Dann ist ja nett, dass du Familie hier hast und feiern gehst. Schönen Abend noch«, raunte ich schroff und zog Kiyoshi ein Stück von Alexander weg. Doch der schien noch in Stichel-Stimmung zu sein. »Wieso seid ihr denn hier, in fremdem Metier? Ist doch normalerweise bestimmt nicht... eure Preisklasse«, zischte Alexander recht gekonnt in meine Richtung. Okay, dachte ich mir, da reißt auch mein Faden. Mit aufgebäumten Schultern trat ich neben Alexander. Er war nur ein kaum bemerkbares Stückchen größer als ich und Kiyoshi, sodass der Augenkontakt nicht schwer fiel. Meine Kippe war längst erloschen, sodass ich den Stummel auf den Boden gleiten ließ. Kiyoshi schnaubte ebenfalls aus. »Oho, der Noneternal greift mal zur Tat«, kam Alexander gar nicht aus dem Spotten heraus. »Was willst du tun? Mir ins Gesicht schlagen? So wie es das Gesindel von der Straße tut?« Da brach er in Gelächter aus und ehe ich mich noch zurückhalten konnte, schlug ich ihm schon ins Gesicht. Es war ein harter, kurzer Schlag. Gekonnt, Seitenhieb. Kiyoshi quiekte auf und hielt sich die Hände vor den Mund, als hätte er noch nie eine Schlägerei gesehen. Alexander hingegen wankte nur ein kleines Stück zur Seite und hielt sich die Wange. Die Leute um uns herum nahmen sofort Abstand. »Was hast du gesagt? Wiederhol das noch einmal«, mahnte ich ihn brummend und stemmte meine Fäuste abermals angriffslustig nach vorne. Alexander lachte, holte aus und schubste mich mit Kraft gegen eine Mauer. Kiyoshi trat sofort zwischen uns und wehrte sich gegen Alexanders Griffe. »Finger weg von ihm, du Arschgesicht!«, kreischte er schon fast mädchenhaft vor sich hin und wusste wohl nicht ganz wohin mit seinen Händen.   Auf einmal zog jemand Alexander an der Schulter von uns weg. Es war Jiro. Und obwohl er körperlich kleiner als Alexander war, sah er ihm überlegen und dominant in die Augen. »Wer bist du und was haben deine Drecksgriffel an meinen Freunden zu suchen?« Der schwarzhaarige Vampir ließ sofort seine Hände von Kiyoshi und mir los und drehte sich zu Jiro um, als hätte er gerade ein neues Opfer gefunden. Mit abfälligem Blick musterte er Jiros Erscheinung. »Das geht dich Punk so rein gar nichts an. Wie haben die dich überhaupt hier reingelassen? So Gesindel wie dich braucht man hier nicht.« »Ich hab mich wohl verhört, Schnösel.« Jiro stellte sich aufbäumend vor Alexander. Oh nein, dachte ich. Ohhhh nein! Es war zwar genau das Szenario, was ich mir immer in meinem Kopf ausgemalt hatte, wenn Alexander uns piesacken kam, doch die Realität sah anders aus. Jiro würde keine Chance haben. Nicht gegen einen Vampir. Nicht gegen Alexander. »Was zum Geier ist das überhaupt in deinem Gesicht? Mit der Menge an Metall reagierst du doch auf jeden Starkmagneten«, lachte Alexander sofort los und rauchte genüsslich seine Zigarre, die noch immer aufglimmte, als hätte sie niemals einen kleinen Streit mitgemacht. »Lass gut sein, Jiro«, bat ich meinen Kumpel um Nachsicht, doch der blieb eisern; verschränkte sogar die Arme. »Wüsste nicht, was ich hier gut sein lassen müsste. Ich wollte heute doch noch einen Schnösel verdreschen. Der hier bietet sich ja regelrecht an!« »Nein, nein«, begann ich und stellte mich zwischen die beiden Streithähne. »Das war ein blödes Missverständnis. Wir kennen den, er ist aus Kiyoshis Schule. Also lass mal lieber stecken.« »Was?«, platzte es aus Jiro raus. »Ihr kennt die Bonze hier?! Was ist das für eine furchtbare Schule, auf der du bist, Kiyoshi?« Doch ehe mein Bruder sich verteidigen konnte, spielte Alexander wieder die erste Geige im Gespräch. »Immerhin gehen wir auf eine Schule und genießen Bildung. Ich weiß ja nicht, ob du so etwas in der Gosse kennst...« »Okay, Alexander, es reicht, ja? Niemand lebt hier auf der Straße!«, pöbelte ich meinen Feind an. Der gab mir nur einen giftigen Blick; frei nach dem Motto, ich sollte mal schön den Mund halten, sonst setzte es was. Jiro hingegen fühlte sich nur noch mehr angestachelt, als vorher. »Weißt du was? Ich kenne Bildung. Aber kennst du auch Gossensprache?« Mit diesen Worten flog Jiros Faust gegen Alexanders Brust. Doch wie erwartet, wankte der nicht einmal nach hinten, sondern steckte den Schlag gekonnt weg. Erneut versuchte Jiro auf ihn einzuschlagen, was Alexander mit Leichtigkeit abfing. Dann ging die Schlägerei los. Jiro dreschte weiter auf Alexander sein, der verteidigte sich; zugegeben nicht mit voller Kraft, sonst hätte Jiro bereits nach wenigen Sekunden tot auf dem Boden gelegen. Stattdessen schien der Vampir einen Heidenspaß bei der Prügelei mit meinem Kumpel gehabt zu haben. Als die Zigarre den Boden erreichte und verglimmte, kamen endlich Schränke von der Security und trennten die beiden Prügeljungs. Jiro wurde rausgeschmissen, Alexander durfte bleiben. Natürlich, dachte ich mir, ist der Punk schuld. Nicht die Bonze. »Man sieht sich«, rief uns Alexander belustig hinterher. »Und bring doch deinen Freund wieder mit. Wenn er so gern eine Abreibung hätte!«     Kiyoshi lief schlurfend neben mir her, während ich Jiro etwas stützte. Er war nicht schwer verletzt, aber einfach schwach. Und wahrscheinlich nicht minder gedemütigt über seine Niederlage. »Ich habe dir doch gesagt, lass es«, seufzte ich sofort los, als es stiller um uns wurde. Flügelschläge ertönten durch die Gassen. »Ja, ja«, murmelte Jiro und schüttelte den Kopf. »Was ein Arschloch.« »Da sagst du was«, kam es von Kiyoshi, der sich abermals eine Kippe ansteckte. Mit erhobenen Augenbrauen sah ich mahnend zu ihm herüber. Doch alles, was er mir schenkte, war ein affektierter Blick, dass ich nicht in der Position wäre, ihn zu maßregeln. »Schaffst du es noch nach Hause? Oder willst du bei uns pennen?«, fragte ich leise, während sich Jiro aufrichtete. Der negierte dankend und deutete auf die einfahrende Straßenbahn. »Geht schon, ist ja schon hier. Meine Kutsche nach Hause.« Jiro bedankte sich für den Abend, obwohl er mehr schlecht als recht endete. »Komm gut heim«, murmelte Kiyoshi, der sogar von Jiro zum Abschied gedrückt wurde. Gemeinsame Feinde schweißten eben zusammen.   Auf dem Weg nach Hause gingen wir die lange Straße entlang, nahmen uns an die Hand und starrten jeweils auf den Boden, als könne er uns noch ein Stück mehr aufheitern.  »Das war ein scheiß Abend«, murmelte ich vor mich hin. Kiyoshi nickte nur stumm, schien immer noch betrunken und absolut dicht zu sein. Kein Wort schien ihn mehr richtig zu erreichen. Und alles, wonach ich sehnte, war unser Bett. Da kamen sie wieder. Flügelschläge. So nah. Kurz vor unserem Wohnhaus blieb ich stehen. Ich hörte sie abermals und ehe ich den Kopf in den Himmel strecken wollte, hickste Kiyoshi auf. »Was ist das?«, fragte er und deutete auf eine schwarze Gestalt am Ende der Straße. Weit weg. Fast nicht erkennbar. »Ich -«, begann ich und schluckte. Über dieser Gestalt schwirrte der Vogel, der uns schon etwas länger beobachtet hatte. Beide schienen uns zu beobachten. Das Gesicht in unsere Richtung gedreht. Wie in einem Horrorfilm regte sie sich nicht. So als wäre sie nur ein Einbildung. »Lass uns gehen«, befahl ich hektisch und ging einige Schritte schneller zu unserem Wohnhaus. Die Gestalt begann sich zu bewegen. Kam auf uns zu. Je schneller wir wurden, desto schneller wurde auch sie. »Fuck!«, entfuhr mir. Das fühlte sich gar nicht gut an!   Klack! Die Tür zum Wohnhaus fiel nach uns zu. Kiyoshi und ich eilten die Treppen hoch. Wie am Nachmittag fühlten sich fünf Stockwerke wie nichts an. Trotzdem etwas außer Atem schloss ich hektisch die Tür zur Wohnung auf. Hastig betraten wir die Wohnung, die ruhig und dunkel auf uns wirkte. Doch Moms Schuhe standen an der Tür, sodass ich davon ausgehen konnte, dass sie wieder da war und schlief. Schnell zog ich mit einer einzigen Handbewegung die Vorhänge und Rollläden zu. Erst, als Kiyoshi den Schlüssel zur Tür umdrehte und erleichtert aufatmete, dass wir in Sicherheit waren, atmete ich auf. »Shit, was war das? Werden wir paranoid?«, hauchte ich atemlos in den ruhigen Raum. Kiyoshi schüttelte schnell den Kopf. »Hab's doch auch gesehen ...«, murmelte er. Doch ehe er mir weiter antworten konnte, würgte er, rannte schnell ins Bad, klappte den Klodeckel hoch und erbrach weitere Flüssigkeit. Schnell folgte ich ihm und hielt seine Haare hoch. Die Rennaktion war wohl zu viel für seinen kleinen Magen gewesen. »Zu viel Alkohol und Kippen, hm?«, bemerkte ich spitz und klopfte beruhigend auf Kiyoshis Schulter. Der röchelte genervt in die Schüssel und schien sich einen Kommentar zu verkneifen. Nach gefühlten Minuten erhob er sich endlich und wischte sich mit Klopapier den Mund ab. Erschöpft ließ ich mich neben ihm fallen und lehnte gegen die Badewanne, die noch immer angenehm nach Badelotion roch. Kiyoshi spülte traurig Papier und Kotze runter. Auch in seinem Gesicht sah ich Erschöpfung. Das sonst von Glanz und ebener Haut strahlende Gesicht war nun mit dunklen Rändern und einigen roten Flecken gezeichnet. Er sah nicht gut aus. Eher leidend. Vorsichtig ergriff ich seine Hand und drückte sie. Kiyoshi schien wirklich nicht mehr halb so anmutig wie sonst zu sein. Sowohl sein Antlitz als auch seine Art zu reden hatten sich mit dem Alkohol geändert. Locker, Salopp, nicht weiter nachdenkend. Vielleicht war es eine willkommene Abwechslung für ihn gewesen. Auf der anderen Seite wirkte er voller Reue. Gerade jetzt, nach dem Kotzen. Und wer kannte das nicht? Die Reue nach dem Trinken?   »Glaubst du ... das war Vincent?«, sprach Kiyoshi das unaussprechliche an. Leise und fast nicht hörbar formulierte er die trockenen Worte in seinem gereizten Mund. Ich schluckte, spürte den Alkohol in mir. Alles drehte sich und als sein Name fiel... um das gefühlte Doppelte. »Weiß nicht. Kann schon sein. Eine schwarze Gestalt... die uns anscheinend verfolgt...« »Hast du nicht von Vögeln erzählt? Gestern?« Kiyoshi lehnte sich schließlich an mich heran und hielt schwächlich meine Hand. »Ja ... da waren Vögel. Heute Nachmittag auch ein einzige großer. Er schien mich zu beobachten. Er war immer bei uns, kreiste über unser Anwesen.« »Vielleicht war es... sein Vogel.« »Ich hoffe nicht... wie konnte er so schnell herausfinden, wo wir uns befanden?« »Vielleicht hat jemand geredet ...« Vermutlich, dachte ich. Fluggesellschaften wohl eher nicht, aber ... Vincent traute ich zu, dass er jemanden erpresst hätte. Kat, Ichiru, Yagate. Einen von denen, wenn's hart auf hart käme. Und natürlich hätten die geplaudert, wo wir uns gefänden. Auf einmal wurde Kiyoshis Kopf schwer, rollte förmlich von meiner Schulter. Sofort stand ich auf und half meinem Bruder auf die Beine. »Was auch immer es ist, wir werden es früh genug erfahren. Im Moment können wir nichts machen. Warten wir ab, was passiert. Wenn der Vogel weiterhin über uns kreist, werden wir Vater informieren.« Kiyoshi nickte ermüdet und blickte in den Spiegel. Sofort brummte er unangenehm berührt auf und sah weg. Genau das sollte man auch nicht tun. In den Spiegel schauen, nachdem man gesoffen, gebrochen und sich geprügelt hatte. »Gehen wir schlafen.«   Mit diesen Worten putzten wir uns die Zähne, gemeinsam vorm Spiegel. Ich ging sogar auf Toilette, solange Kiyoshi noch vorm Spiegel stand und seine Haare kämmte. Es war, als wären jegliche Hemmungen gefallen. Nach diesem Abend, so dachte ich mir, würde es keine Geheimnisse mehr geben. Krank sein, Kotzen, Waschen ... Jegliche schwächliche Position hatten wir schon durch. Jedenfalls dachte ich das.   Die Nacht war unruhig und nicht sehr erholsam. Ich versuchte auf etwaige Geräusche zu achten, die sich um uns befanden. Flügelschläge oder Schritte. Erst nach gefühlten Stunden schlief ich vor Erschöpfung ein. Und das nicht einmal lange. Jiros SMS weckte mich auf. Um 8 Uhr früh schrieb er bereits die erste SMS, gefolgt von einer Zweiten. Müde und immer noch schlaftrunken tippte ich auf das leuchtende Display. Kiyoshi schlief tief und fest in meiner Armkuhle seinen Rausch aus.   »Morgen, Hero ... Hoffe, ihr beiden seid noch gut heim gekommen. Scheiße, ich hab vielleicht schmerzende Knochen. Dieser Alexander war echt das Letzte!! Nie wieder in diesen Schuppen! Lieber chillen am See oder so ... Meld dich doch, wenn du wach bist.«   Die zweite SMS las ich mit weniger Schmunzeln.   »Shit, habt ihr das schon mitbekommen? Es kam gerade in den Nachrichten! Da gab's wohl noch voll den Aufstand... Irgend so ein Typ hat da wohl einige abgestochen oder so! Tina war im Fernsehen!«   Mit einem Mal wurde ich wacher. In dem Club? Oder wo? Wer hat wen zusammen gestochen? Diese Vampirin war dabei? Bei den Toten oder bei den Abstechenden? Ich schrieb Jiro nur kurz zurück, dass ich noch etwas schlafen und mir das später ansehen würde. Da hörte ich Geklapper aus der Küche. Es war Mom. Sicherlich würde sie gleich in die Arbeit fahren. Immerhin hatte eine neue Woche begonnen. Müde und mit geschlossenen Augen, lauschte ich den Geräuschen um mich herum. Vögel, Autos, Mom. Wasser, ein Trampeln im oberen Stockwerk. Solch sensible Ohren machten mich verrückt. Sie ließen mich kaum schlafen. Auch jetzt konnte ich kaum ein Auge zu tun. Hier und da nickte ich mal weg, kam trotzdem nicht zur Ruhe. Nach mehreren Stunden, bewegte sich Kiyoshi und wachte auf. Er brummte kurz, sah sich um und setzt sich schlussendlich auf. Mit einer sanften Handbewegung strich er mir über meine nackte Brust, was auch mich aus meinem Halbschlaf aufweckte. »Hiro«, begrüßte er mich leise. »Wie geht es dir?« Kiyoshis Blick war müde und immer noch geschafft von letzter Nacht. Trotzdem umwoben seine Lippen ein leichtes Lächeln. »Ganz okay ... und dir?« Mein Gegenüber nickte nur stumm und legte sich wieder auf meine Brust. Da spürte ich sein schlaffes Geschlecht an meinem Bein. Wir hatten also nackig beieinander geschlafen. So genau konnte ich mich da gar nicht mehr dran erinnern, dass wir uns wirklich ausgezogen hatten. Ein Seufzen entfuhr seinen Lippen. »Entschuldige wegen gestern. Das war zu viel.« »Macht doch nichts ... Jeder hat schon mal wegen Alkohol gekotzt. Oder zumindest... über den Durst getrunken.« Doch Kiyoshi ließ sich nicht umstimmen. »Nein, das war einfach gedankenlos von mir. Außerdem habe ich Alexander angepöbelt. Und dich. Und Jiro ... Eigentlich jeden.« Da musste ich grinsen. »Und du hast den Securitymann vom VIP Bereich bezirzt.« »Bitte... erinnere mich nicht daran!«, stöhnte er entsetzt auf und fasste sich an seine kalte Stirn. »War witzig. So habe ich mal eine ... andere Seite von dir kennen gelernt.« »Eine ziemlich Peinliche.« Da musste er husten. Und es klang nach keinem gesunden Husten. Ganz im Gegenteil: Es war der typische Raucherhusten. »Shit, hustest du jetzt schon wie ein alter Mann?«, spaßte ich und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »Zu viel geraucht ...«, gab er kleinlaut zu verstehen, dass auch er den Ursprung des Problems erkannt hatte. »Heute keine Kippen mehr.« »Sind eh alle ...«, seufzte ich und zeigte auf die leere Schachtel, die noch auf meinem Schreibtisch lag. Kiyoshi starrte sie wie seinen Todfeind an, zu dem er ein Stockholmsyndrom aufgebaut hatte. Schließlich sah er mich wieder ernster an. »Hast du schon mit Jiro gesprochen? Wie geht's ihm?« Ich nickte und kramte mein Handy raus. »Ihm scheint es soweit gut zu gehen. Knochenschmerzen hat er. Wohl hier und da doch ein paar Schläge zu viel einkassiert.« Kiyoshi schüttelte nur den Kopf. »Wenn Jiro es nicht so darauf angelegt hätte, könnten wir Alexander wenigstens wegen Körperverletzung anzeigen!« Ein leichtes Schmunzeln durchfuhr meine Lippen. »Lass mal. Ich glaube, Jiro hatte auch seinen Spaß am Prügeln, auch wenn er verloren hat. Eine richtige Prügelei, wo er am Ende verletzt auf dem Boden läge ... da würde ich an eine Anzeige denken.« »Du musst es wissen«, raunte mich Kiyoshi fast böswillig an. »Prügelheini.« »Hey«, mahnte ich ihn. »Das war früher. Lange her!« »Ja, ja.« Ich wollte schon die Begebenheit aus dem Club ansprechen, die mir Jiro voller Entsetzen geschildert hatte, da hörte ich noch immer Klappern aus dem Wohnzimmer. Ein heißer Schreck durchfuhr mich. Einbrecher? Kiyoshi setzt sich ebenfalls auf und starrte zur Tür. Schließlich flüsterte er mir erstarrt zu. »Ist noch wer hier? Geht Mutter nicht arbeiten?« »Doch ... eigentlich schon... «, säuselte ich zurück, erhob mich langsam aus dem Bett, zog mir schnell eine Unterhose an und bewaffnete mich mit einer leeren Wasserflasche aus Glas. Kiyoshi zog sich ebenfalls eine Unterhose an und tapste hinter mich. Als das Geräusch näher an unsere Tür kam, erfasste ich den Griff. Für einen Moment hielt ich den Atem an, hörte Schritte im Wohnzimmer. Da war tatsächlich jemand! Nach der gestrigen Geschichte mit dem schwarzen Mann, zog sich sofort alles in mir zusammen. Scheiße, was, wenn er das war? Er hatte uns in dieses Wohnhaus laufen sehen! Er wüsste sicherlich schnell, welche Wohnung uns gehörte. Kiyoshi blieb mit gefestigtem Blick am Fenster stehen und nickte mir zu. Mit einer leichten Handbewegung legte er eine Hand auf mein Bettpfosten. Als würde er den im Notfall abreißen und zur Verteidigung einsetzen. Ein Nicken meinerseits sollte ihm andeuten, dass ich nun die Tür öffnen würde. Ich fühlte mich wie in einem Computerspiel. Einer dieser Shooter.   Mit einem Ruck öffnete ich die Tür, hob die Glasflasche und stürmte ins Wohnzimmer. Ehe ich die Person erkennen konnte, setzte ich die Flasche zum Schlag an. Doch so schnell, wie ich die Person als Person erkannte, so schnell ließ ich meine Arme erstarren. »Mom?!«, rief ich. Meine Bewegungen liefen für ihr menschliches Auge viel zu schnell ab, sodass sie erst erschrak, als sie mich mit erhobener Glasflasche hinter sich stehen sah. »Hiro!«, schrie sie wie am Spieß. »Was machst du da? Willst du mich erschlagen?« In diesem Moment hörte ich Kiyoshis schon aus meinem Zimmer eilen; ohne Bettpfosten. »Mutter? Du bist noch hier?«, fragte er, wesentlich weniger im Schockzustand, als ich es war. Erst nach Sekunden ließ ich die Glasflasche sinken. »Ja, aber das ist doch kein Grund auf mich los zu gehen!« Als wäre sie den Tränen nahe, dass ihr eigenen Sohn nun völlig am Durchdrehen war, ging sie einige Schritte von uns weg. Kiyoshi blieb auf meiner Höhe stehen und krallte sich an meinem Arm fest. »Nein, nein«, fing ich sofort an. »Wir dachten ... du wärst ein Einbrecher oder so ... Normalerweise wärst du doch jetzt auf der Arbeit, oder nicht?« Ein paranoiodes Gefühl machte sich breit. Die schwarze Gestalt lag uns einfach noch zu tief in den Knochen. Aber auch so hätte ich nie geahnt, dass Mom doch zu Hause geblieben wäre. Auch früher wäre ich mit Glasflasche bewaffnet aus der Tür gerannt in dem Glauben, es könnte ein Einbrecher sein. »Ich habe mir frei genommen ... «, murmelte sie. »Um noch einmal genau nachzudenken. In Ruhe.« Da verstummte ich. Kiyoshi ebenfalls. Wir sahen beide zu Boden; nur der magere Kontakt an meinem Arm und Kiyoshis Händen ließ mich entspannt bleiben. Mom hingegen sah das gar nicht gerne. Unsere Zweisamkeit. Unsere Berührungen. Und dass wir halbnackt vor ihr standen. »Ich hätte einfach keinen Kopf für... die Probleme anderer«, erklärte sie sich weiter und setzte sich schlussendlich in Bewegung, um in die Küche zu gehen. »Außerdem haben wir die Steaks gestern nicht gegessen. Die mache ich jetzt, dann gibt es die zum Mittag.« »Jetzt schon?«, fragte ich, immer noch etwas gerädert. Doch ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir, dass es bereits 13 Uhr war. »Oh, okay ...«, murmelte ich, als hätte mir jemand geantwortet. Kiyoshis zubbelte kurz an meinem Arm, sah mich eindringlich an. Angst machte sich in seinen Augen breit. Doch ich schüttelte den Kopf. Nein, Mom würde ihn nicht zurückschicken. Niemals. Sie dachte drüber nach, das war ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich würde sie noch Vater darüber unterrichten. Wenn sie das nicht schon getan hätte. Und da der auch noch nicht wutentbrannt angerufen hatte und Kiyoshi zurückverlangte ... schien es bisher ganz gut zu laufen. Vorsichtig näherte ich mich der Küche, stellte die leere Flasche neben den Kühlschrank ab, nahm mir eine Neue und spähte kurz zu Mom, wie sie das Fleisch würzte. »Danke für's Essenmachen«, bedankte ich mich fast reumütig. Das handelte mir nur einen verwirrten Blick ein und wahrscheinlich die sofortige Erkenntnis, dass ich nun jede Möglichkeit nutzen würde, mich einzuschleimen, nur, um sie zu beschwichtigen. »Du sollst mir ja nicht verhungern. Die Brötchen hast du nämlich immer noch nicht gegessen.« »Ja, ich weiß ... wir haben lange geschlafen und -« »Hiro, bitte ... Iss was. Du machst mir Sorgen.« Verstummt nickte ich. Ich mache mir selber Sorgen, dachte ich und machte einen schnellen Abgang aus der Küche. Kiyoshi wartete noch an meiner Zimmertür und hatte seinen nackten Oberkörper mit seinen Armen umschlungen. Leise huschten wir wieder ins Zimmer. »Peinlich«, murmelte mein Bruder und zog sich ein T-Shirt an. »Ach, wieso? Selbst Schuld, wenn sie uns nicht darüber unterrichtet ...« Klar, wahrscheinlich wollte sie uns ausschlafen lassen, aber sonst kam sie auch wegen jeder Kacke in mein Zimmer! Konzentriert schüttete ich Wasser in unsere zwei Gläser und warf zwei Tabletten hinterher. Eins reichte ich Kiyoshi, der es dankend annahm und gleich verschlang, als wäre es die Oase in der Wüste. Ich trank es ebenfalls gierig aus und seufzte zufrieden, als das Blut wie ein Segen durch meine Kehle floss. Nach dem ganzen Erdgeschmack von gestern eine willkommene Abwechslung. Ohne weiter zu zögern setzte ich mich neben Kiyoshi, drückte ihm einen Kuss auf und zog mein Handy vom Nachttischschränkchen. »Ich ruf jetzt mal Jiro an.« »Okay?«, fragte Kiyoshi etwas verwirrt, dass ich das mit einem Kuss ankündigte. Es tutete schon, weswegen ich nur meine Schultern hoch zog. Wer weiß, was er mir jetzt wegen der Clubgeschichte erzählen würde. »Hero«, begrüßte mich Jiro in einer wie immer gut gelaunten Tonlage. »Alles fit?« »Den Umständen entsprechend«, lachte ich und streichelte dabei über Kiyoshis Rücken. »Und bei dir?« »Ich lebe, das ist die Hauptsache«, spaßte er. »Hast du schon Nachrichten geguckt?« »Nee noch nicht. Wir sind gerade erst aufgestanden.« »End krass«, dabei wurde seine Stimme dunkel und kam ein Stückchen näher ans Telefon. »Kurz nachdem wir gegangen sind scheint da jemand Amok gelaufen zu sein. Klar, bei so Eröffnungen und so ... Jedenfalls sind dabei echt ein paar umgekommen.« »Wirklich? Das ist ... krass ...«, murmelte ich und hielt das Telefon nah an Kiyoshis Ohr, sodass er mithören konnte. »Ja und weißt du was? Im Fernsehen haben sie dann die Gesichter der Toten gezeigt. Und da war Tina dabei! Ist das nicht gruselig? Man, scheiße, ich hatte noch ihre Zunge im Hals und dann ist die tot!« Ich schluckte. In der Tat war das heftig. Aber mal davon abgesehen: Tina war ein Vampir. Vampire bringt man nicht einfach so um. Die waren zähes Rohfleisch. »Weiß man, wer da Amok gelaufen ist?« »Nee, anscheinend einer der Gäste selbst, so heißt es. Jemand von denen hatte eine Knarre mit und hat wie wild um sich geschossen.« Kiyoshis löste sich auf einmal von mir und schüttelte den Kopf. Wieso er das tat wusste ich nicht ganz, doch ich fragte einfach weiter. »Also starben die alle an Schusswunden?« »Schätze ja, so genau haben die das nicht gesagt.« »Mh«, brummte ich. Natürlich würden die keine genaue Obduktion im Fernsehen bringen. »Jedenfalls krass ... eigentlich wollte ich mich heute Abend mit den anderen noch einmal in der Stadt treffen. Jetzt trau ich mich ehrlich gesagt nicht mehr.« Jiro gluckste kurz, als wäre das nicht nur das einzige, wieso er die Innenstadt erst einmal mied. »Und keinen Bock auf diesen Alexander. Was ein Arschgesicht. Wieso kennt ihr so komische Leute?« »Wie du vielleicht gemerkt hast, verstehen wir uns auch nicht so gut mit ihm.« »Ja... das habe ich gemerkt.«   Wir unterhielten uns noch ein wenig über den gestrigen Abend, dass er an sich ja doch ganz nett war und wir gut betrunken waren. Dass Kiyoshi der wohl einzige war, dem die Brühe wieder vorne raus kam, verschwieg ich. Schließlich legten wir auf. »Wir müssen Alexander finden«, prustete Kiyoshi sofort raus, ehe ich das Handy weglegen konnte. »Was? Wieso?« »Er war noch da. Jiro meinte, es geschah kurz nachdem wir gegangen waren. Und soweit ich das verstanden habe, war Alexander nicht bei den Toten dabei. Das heißt, er kann uns vielleicht sagen, was passiert ist.« Ich seufzte. »Ja, ich würde auch gerne wissen, was passiert ist, aber meinst du nicht, dass das ... eher... egal ist?« »Hiro!«, rief er aufgebracht; seine Augen weiteten sich um das doppelte. »Da sind Vampire gestorben! Vampire sterben nicht einfach bei Schusswunden. Selbst wenn du ihnen in den Kopf schießt ... dauert es, bis sie verbluten. In der Regel schaffen es die meisten zu entkommen und sich selber zu heilen, indem sie Blut trinken. Bei so vielen potentiellen Opfern? Das war ein professioneller Mord.« Bei seinen letzten Worten schauderte es mir doch über den Rücken. Dann klickte es. »Du meinst ... die schwarze Gestalt von gestern?« »Vielleicht ...«, murmelte er mysteriös vor sich hin. »Deswegen müssen wir Alexander finden. Er wird uns sagen können, was geschehen ist.« »Okay«, seufzte ich. »Suchen wir Alexander.«   Auch wenn mir das so gar nicht passte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)