My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 6: Freuden der Nacht ---------------------------- Je näher wir dem Pub kamen, desto ruhiger wurde Kiyoshi. Er umschloss noch immer meinen Finger und umklammerte die Dose, als könne sie ihm Schutz vor dem Ungewissen geben. »Wo ist der Pub?«, fragte er schließlich und gesellte sich auf meine Höhe beim Gehen. »Gleich da hinten. Wir sind gleich da«, grinste ich ihn an, voller Vorfreude auf Jiro. Die Rumflasche klimperte gegen meine Reißverschlüsse und läutete wie Kirchenglocken eine wahrlich schöne Zeit ein.   Wir bogen in eine volle Gasse ein, wo viele Punks und Metaller auf dem Bürgersteig und der Straße saßen und tranken. Sie unterhielten sich lautstark, rauchten und pöbelten etwas. Kiyoshis Blick wurde trüb und verängstigt zugleich. »Keine Angst. Das sind alles liebe Menschen«, beschwichtigte ich ihn und nahm seine Hand schlussendlich komplett in meine. »Irgendwie glaube ich dir das nicht«, murmelte er vor sich hin und betrachtete die Gestalten weiterhin argwöhnisch. Auf einmal stolperte er über eine kleine Erhöhung des Pflasters und musste einen Ausfallschritt nach vorne machen, um nicht zu fallen. »Huch! Bist du schon betrunken?«, lachte ich, ihn feste am Arm haltend, sodass er wieder zum Stehen kam. Kiyoshi schüttelte sofort den Kopf, lächelte aber amüsiert über sich selber. »Nein, Vampire sind nur auch manchmal schusselig.« Kiyoshi und schusselig? Der war doch schon angetrunken, das roch ich doch ohne ihm näher gekommen zu sein. Jemand, der sonst so anmutig über den Boden glitt, stolperte nicht. »Natürlich...«, verdrehte ich die Augen und musterte Kiyoshis Auftreten. »Okay, wir werden gleich zu Jiro gehen, aber vorher eine Bitte.« »Was ist es diesmal?«, fragte er genervt und ließ meine Hand los, um sich mir gegenüber zu stellen. »Das Wort „Vampir“ wird heute nicht mehr fallen. Okay? Außer es passt in den Kontext. Aber sonst – no go.« »Schon klar, Hiro. Sonst noch was? Soll ich mir eine Papiertüte über den Kopf stülpen, damit du dich auch damit nicht beschäftigen musst?« Kiyoshis Unterton wurde wieder spitzzüngig. »Yoshi, aus. Ruhe jetzt, du bist gut gelaunt und hast Spaß«, befahl ich ihm und wedelte mich meinen Händen vor sein Gesicht, als könne ich ihn verzaubern. Kiyoshis ernster Blick blieb haften, wechselte aber schlagartig in ein leises Lachen, als ich resigniert aufgab ihn zu bezaubern. »Ich versuch's ...«   Mit großen Schritten näherte ich mich dem Pub, Kiyoshi direkt hinter mir. Die Leute um uns herum starrten uns auf einmal an, als wären wir Aliens. Natürlich, dachte ich. Die Aura. Bei Vollmond bestimmt noch einmal schlimmer.   Da erspähte ich ihn. Den schmächtigen, aber großen jungen Mann; der mit den vielen Piercings im Gesicht und den hoch geschlossenen DocMartens. »Jiro!«, begrüßte ich ihn mit erhobener Hand. Freundlich winkte ich ihm zu, als er mich erspähte. Sofort grinste er und kam mit offenen Armen auf mich zu. »Mein Held!«, lachte Jiro, sichtlich angetrunken und drückte mich feste an sich, als wir uns in der Masse erreichten. Sein Körper war so warm. Oder war meiner so kalt? Jiros Duft floss durch meine Nase, ließ mich erschaudern. Ich spürte mehr Speichel in meinem Mund fließen. Die Zähne wuchsen. Nein!   »Mensch, wie geht’s dir?«, fragte er belustigt über die Tatsache, dass ich nichts sagte und löste sich von mir. Anscheinend bekam er nichts von meinem inneren Tumult mit. »Super... Danke. Und wie geht’s dir? Schon gut getrunken?« Jiro kicherte und nickte abermals. Seine vielen Armbänder und Ketten klimperten zu seinen Bewegungen und ließen mich ruhiger werden. Jiro war nicht meine Beute. Er war mein Freund. »Mir geht’s klasse. Ey, Lampes Freundin war echt komisch. Ich glaub, das wird nicht lange halten«, führte er mich sofort in die verpassten Geschehnisse ein. »Und wusstest du? Roku hat's endlich gesagt.« »Was hat er gesagt?«, hakte ich nach, Jiros ernsten Blick nicht ganz deutend. »Dass er schwul ist.« »Oh«, bekam ich nur leise raus. Harte News. Doch ich lachte verkrampft. »Na ja... Hat es irgendwen überhaupt überrascht?« Jiros Lachen hallte wieder auf und ließ mich aufatmen. »Nee, man. Alle haben nur genickt und sich ihren Teil gedacht. Kyo hingegen blieb etwas verbissen. Kam mir jedenfalls so vor.« »Ärger im Paradies?« »Wahrscheinlich...« Damit knuffte er mich in die Seite. Auf der einen Seite war es schön, wieder mit Jiro zu reden; so locker und ungezwungen. Doch es war nicht wie vor einer Woche. Es war anders. Gezwungen. Ich hatte Angst, ihm wehzutun. Außerdem machte mich dieses Thema unruhig. Vor einer Woche hätte ich mit Jiro gelacht, mich lustig gemacht, wahrscheinlich noch mit Augenzwinkern gesagt »Na, dann warten wir mal ab, wann wir an der Reihe sind«. Und nun? Hatte ich Angst, Jiro würde es bemerken. Dass ich auch für die andere Liga spielte. Denn bei mir würde es niemand mit einem zarten Lächeln hinnehmen. Bei mir würden sie an die Decke gehen. Hiro und schwul? Der Weiberheld? Und dann auch noch... der eigene Bruder?   Da erinnerte ich mich an die auf einmal vergessene Person. »Jiro, das hier äh...« Damit drehte ich mich um und blickte in angespannte, aber neugierige Augen, die bisher nur auf Jiro gerichtet waren. »Das hier ist Kiyoshi.« Ich ging einen kleinen Schritt zur Seite, sodass Jiro freie Sicht auf ihn hatte. Kiyoshi brachte wie immer kein Wort raus, starrte Jiro einfach nur stumm an und schien wie erstarrt. Seinem Blick nach zu urteilen, konnte er mit dem Mann vor ihm recht wenig anfangen. »Woah...«, murmelte Jiro und kam einen Schritt auf Kiyoshi zu. Er wechselte den Blick zwischen mir und ihm. Immer wieder, bis das Grinsen in seinem Gesicht immer breiter wurde und er schließlich loslachte. »Holy Shit! Das war sonst immer nur auf Drogen so! Und ich schwör, ich hab heute noch nichts genommen! Hammer hart, Hiro! Du hast'n Zwilling!«, prustete er raus und klopfte Kiyoshi auf die Schulter. Eine sonst nette Geste von Jiro, aber Kiyoshi schien sich absolut nicht wohlzufühlen. Er zog seine Schulter weg und sah angewidert in eine andere Richtung. Die Stimmung generell schien abzurutschen. Doch ehe ich zu Wort kam, bekam Kiyoshi seinen Mund auf. »Hallo Jiro … freut mich dich kennen zu lernen.« Anders als Jiros Worte, klangen seine weniger erfreut. Ganz im Gegenteil; sogar etwas angewidert. Mittlerweile kannte ich die Eigenarten meines Bruders. Und das war das Lächeln, was er nur Leuten schenkte, die er nicht mochte. Doch Jiro, wie er eben war, ließ sich davon nicht beirren, schüttelte Kiyoshis Hand, ohne dass er sie ausgestreckt hatte, und schien feste zuzudrücken. »Freut mich auch! … Mensch, hast du kalte Hände...Ist dir kalt? Sollen wir reingehen?«, fragte er sofort besorgt und sah bestätigend zu mir. »Nein, geht schon. Ich hab immer kalte Hände.« Kiyoshis anmutiger Ton wurde immer härter. Fast wie zu Beginn, wo ich ihn kennenlernte. Unmut, Unbehagen, Unwohlsein. »Der hat die typische Frauenkrankheit... Kalte Hände, kalte Füße«, nahm ich Kiyoshi auf den Arm, legte eine Hand auf seine Hüfte und zog ihn an mich. Eine nette Geste, um ihm zu zeigen, dass er dem Feind nicht alleine gegenüberstand. »Haha, verstehe! Na, dann können wir ja noch eine in Ruhe rauchen und den Rum killen«, deutete Jiro auf die Flasche in meiner Hand. Ich nickte und reichte sie ihm. »Haben schon was getrunken... Aber deinen Pegel haben wir noch nicht erreicht«, scherzte ich und schraubte die Flasche auf. Jiro nahm sie dankend an, trank einen guten Schluck draus und nickte. »Lecker!« Na ja, schoss es mir sofort durch den Kopf. Aber hey, was tut man nicht alles, um betrunken zu werden? Also nahm ich die Flasche wieder entgegen, trank so viel ich konnte und reichte sie an Kiyoshi weiter, der sie nur widerwillig annahm. »Du musst nicht, wenn du nicht willst...«, flüsterte ich ihm zu, während er in die Flasche starrte. »Ich will aber ...«, murmelte er zurück und trank weiter Schlucke der braunen Flüssigkeit. Erst nach mindestens 10 Schlucken setzte er ab. Ehrfürchtig vor Kiyoshis Einsatz, nahm ich die Flasche wieder in die Hand und schraubte sie zu. In dem Moment roch ich frischen Rauch und blickte zu Jiro, der sich bereits eine Zigarette angezündet hatte. Ich zögerte, stellte die Flasche dann doch ab und zog die Zigarettenschachtel aus meiner Hose. »Oh, Hiro! Die Guten? Hat heute jemand Geburtstag?«, kicherte Jiro belustigt und deutete auf die schwarzen Glimmstängel. Belustigt nahm ich eine aus der Schachtel und schüttelte den Kopf. »Nicht doch... Ich wollte mir nur mal wieder was gönnen.« Ich musste mich nicht einmal mehr umdrehen, um Kiyoshis enttäuschten Blick wahrzunehmen. Trotzdem drehte ich mich zu ihm und bot ihm eine an. Erst als Kiyoshi zaghaft eine Zigarette nahm und sie ehrfürchtig vor seinen Mund hielt, hob ich überrascht beide Augenbrauen; steckte die Packung weg und legte wieder einen Arm um seine Taille. Ich hatte das Gefühl, dass ihm meine Gestik gefiel. Dass ich der Welt indirekt zeigte, dass wir zusammen waren. Jiro hielt uns ein Feuerzeug hin, welches ich dankend annahm und meine Zigarette entzündete. Ich hoffte innerlich Kiyoshi so gezeigt zu haben, wie man es machte, hielt ihm dann das bereits entzündete Feuer hin. Mit seinen dünnen, weißen Fingern hielt er die schwarze Zigarette an seine Lippen, hielt das Ende in die Flamme und pustete kurz Rauch aus, als sie brannte. Als ich das Feuerzeug wieder in Jiros Richtung reichte, bemerkte ich erst, wie sehr mir der Anblick gefiel. Kiyoshis weiße Figur, die blasse Haut, die langen, schmalen Finger. Und dann die schwarze Zigarette, die vor seinem Gesicht rauchte, hauchten ihn in eine noch unheimlichere, aber zugleich anziehendere Atmosphäre als sonst. Vorsichtig führte er den Glimmstängel an seinen Mund, zog leicht daran und schien sich zu konzentrieren. Als er den Rauch einsog, husten musste und sich schüchtern die Hand vor den Mund legte, grinste ich zufrieden. Der Anfängerhusten. Wenigstens das bisschen Menschlichkeit war ihm geblieben. »Rauchst wohl nicht oft«, kam es von Jiro, der seine Zigarette schon fast aufgeraucht hatte. »Ist auch besser so«, grinste er und zwinkerte mir zu. Nur ein leichtes Nicken kam von meiner Seite. Psht, Jiro. Offiziell rauche ich nicht viel. Lass ihn in dem Glauben. »Ehrlich gesagt«, bemerkte Kiyoshi, mit einem weniger harschen Ton als zuvor, »ist das meine Erste.« »Oho!« Jiro schien überrascht. »Hat dich dein böser Bruder zum Rauchen animiert?« »Auch hier ehrlich gesagt: Ja.« Kiyoshis Augenbrauen hoben sich ein Stück, sahen etwas vorwurfsvoll in meine Richtung. Ich grinste nur vor mich hin und strich über seine Taille. War ich schon angeheitert? Oder war ich einfach gut drauf? Rauchend mit meinem Bruder in der Innenstadt vor der Stammkneipe zu stehen... war in der Tat erheiternd. Hätte ich das vor ein paar Tagen noch gedacht? Nein, vor ein paar Tagen hatte ich um mein Leben gefürchtet. Und jetzt auf einmal... war alles weg. Kiyoshi pustete mir auf einmal Rauch ins Gesicht, während ich noch vor mich hin grinste. Jiro lachte nur. »Ihr beiden kennt euch also echt erst seit einer Woche? Ich wünschte, ich würde mich so gut mit meiner Familie verstehen...«, bemerkte Jiro am Rande und trank noch einmal vom Rum. Ein heißer Schreck durchfuhr meinen Körper. Schlagartig nahm ich meine Hand von Kiyoshis Taille. »Ja, also... eine Woche um genau zu sein, ja. Aber wie soll ich sagen? Es hat sofort... funktioniert.« Kiyoshi lächelte mich glücklich an, die Pupillen etwas geweitet. Erst, als er sich näher an mich stellte und mir einen Kuss auf die Wange gab, war ich mir sicher: er war betrunken. »Oh mein Gott, wie süß ist das bitte?«, lachte Jiro herzhaft auf und reichte die Rumflasche weiter. »Hiro, ich hätte niemals gedacht, dass du als alt eingesessenes Einzelkind dich so gut mit deinem Bruder verstehen würdest.« »Ich auch nicht«, musste ich zugeben. In der Tat... hätte ich das bis vor kurzem auch noch gedacht. Kiyoshi nahm noch ein paar gute Schlucke vom Rum, reichte ihn mir und drückte die Zigarette gekonnt im Aschenbecher aus, der vor dem Pub stand. Mit kräftigen Schlucken leerte ich die Flasche und stellte sie in eine dunkle Ecke. Nicht mein Problem, dachte ich. Nur Kiyoshis schob die Augenbrauen zusammen, als wäre er von dieser Art Entsorgung nicht begeistert. »Gehen wir rein?«, fragte Jiro und deutete auf die Kneipe. Mit leichtem Nicken nahm ich Kiyoshi am Arm und zog ihn mit mir in den stickigen Raum, aus dem bereits der Geruch von Alkohol herausströmte. Der Pub war klein, vielleicht bot er für rund 100 Leute Platz. Die Kellner waren allesamt tattowiert, gepierced oder zumindest schwarz gekleidet. Aus Lautsprechern kam laute Metalmusik. Dazu spielte auf zwei großen Fernsehern das dazugehörige Video. Leider war es recht befüllt, sodass Jiro, Kiyoshi und ich uns an die Bar quetschten. Meine Laune erhellte sich abermals, als ich in Kiyoshis angewidertes Gesicht sah. »Nicht so dein Etablissement, hm?«, fragte ich, während Jiro uns Getränke bestellte. »Ja«, gab er wie aus der Pistole geschossen zu und sah sich um, als könne ihn jederzeit jemand niederstechen. »Wir bleiben sicher nicht lange. Bisschen unterhalten, dann gehen wir, okay?« »Schon okay... Unterhalte dich ruhig... mit Jiro.« Kiyoshis Blick wurde wieder ernster, sah in Jiros Richtung, der neben normalem Bier auch gleich Tequila bestellt hatte. »Ich wusste nicht, ob du das magst, aber Tequila Gold trinken eigentlich alle«, gab Jiro zu verstehen und schob auch Kiyoshi ein kleines Glas hin. »Ich, äh«, murmelte er vor sich hin, betrachtete das Glas missmutig und nahm langsam die Orangenscheibe in die Hand. »Was ist das?« »Das ist Tequila, das hier eine Orange und darauf ist Zimt.« »Und was macht man damit?« Jiro kicherte schon neben mir, hielt die Orange bereit. »Du schleckst den Zimt ab, trinkst den Tequila und beißt in die Orange«, erklärte ich meinem ahnungslosen Bruder und zeigte ihm, wie man sich die Dinge zurechthielt. »Noch nie Tequila getrunken?«, fragte Jiro und beugte sich zu uns rüber. Kiyoshi schüttelte schnell den Kopf und nahm Orange und Glas in die Hand. Seine Hände zitterten etwas. Wie konnte das sein? Anspannung? Jiro prostete uns zu, leckte den Zimt ab, kippte sich den Alkohol hinter die Birne und biss schaudernd in die Orange. Ich tat es ihm gleich, den Blick immer auf Kiyoshi gerichtet, der es ebenso tat.   Als das zweite Bier über den Tresen ging, gewöhnte ich mich an den Erdgeschmack. Selbst Kiyoshi verzog keine Miene mehr, als er das Bier trank. »Also hau raus... Wie kam das? Dass du zu deinem Dad bist... und Kiyoshi kennen gelernt hast!«, fragte Jiro sichtlich interessiert. Doch trotzdem sein Interesse von Echtheit zeugte, schien er keine ausführliche Version hören zu wollen. »Puh...«, seufzte ich, als wüsste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Oh, ich wusste genau wo ich beginnen könnte. Bei der Angst? Oder bei der Panik? Vielleicht beim schlechten Gefühl? »Also wie es Anfing, weißt du ja. Mom kam mit der Schnapsidee und schob mich auch direkt letzte Woche ab.« Da lachte Jiro auf, winkte ab, ich solle nicht so über meine Mom reden. Kiyoshi hingegen verzog keine Miene, hing mir aber auf den Lippen, als könne er meine Version der Woche kaum erwarten zu hören. »Mein Dad ist ganz nett, vielleicht hier und da ein bisschen konservativ. Aber ne große Villa und schicke Autos sollte man nicht unterschätzen«, protzte ich und schwankte das Bier in meinem Glas hin und her. »Also ist dein Dad echt reich?«, hakte Jiro nach. »Schätze mal. Zumindest so arm wie wir ist er nicht.« »Krass. Und, Kiyoshi? Wie ist es so … mittel-reich zu sein?« Doch Kiyoshi reagierte nicht auf die Frage. Stattdessen bekam Jiro einen leicht verletzten Blick zugeworfen, als wäre die Frage nicht ansatzweise höflich gewesen zu fragen. »Äh«, mischte ich mich schnell ein und nahm Kiyoshi vorsichtig in den Arm. »Kiyoshi und ich haben uns zuerst auch nicht so verstanden... Ein bisschen rumgeprügelt haben wir uns auch schon.« Jiro lachte abermals und hob beide Augenbrauen. »Hero, dich hätte ich auch nicht so gerne als Bruder, man. Du schlägst alles, was dir nicht passt, haha!« Ich schluckte stumm, versuchte das Lächeln aufrecht zu halten. Kiyoshi hingegen schien bei der Aussage etwas aufzulockern. »Wirklich?«, fragte er leise. »Du prügelst dich also gerne?« »Na ja... Gerne kann man das nicht nennen, aber es kam... eben häufig dazu.« Verlegen kratzte ich mich im Nacken. Doch Jiro fiel nichts besseres ein, als die Glut weiter zu schüren. »Ach, jetzt untertreibst du! Weißt du noch dieser Yuma? Aus der Parallelklasse? Man, der hat die Schule gewechselt!« »Mhhm«, brummte ich nickend und erinnerte mich wage an einen kleinen Streber mit Brille und Pickeln, den ich einmal über den Schulzaun geworfen hatte, weil er mich dumm genannt hatte. Ja … keine schönen Erinnerungen. Jedenfalls keine, auf die ich stolz war. »Hiro... was hast du getan?«, fragte Kiyoshi entsetzt, während er sich an meine Brust lehnte und offensichtlich meine Berührungen genoss. »Das... äh... erklär ich dir ein ander mal, okay?«, versuchte ich dem Thema auszuweichen, deutet dabei Jiro mit einem aussagekräftigen Augenaufschlag an, dass ich es gerne dabei belassen würde. »Hero ist eben niemand, mit dem man sich gerne anlegen will. Aber wie mir scheint... versteht ihr euch beiden ja jetzt blendend!« Jiros Blick musterte uns eindringlich. Vorsichtig, ganz langsam, so als würde ich aus eigenem Willen – und nicht, weil Jiro es indirekt ansprach – die Hand von Kiyoshis Hüfte nehmen, ließ ich sie zu mir zurückfallen. »Wir verstehen uns gut, ja. Auch wenn wir hier und da... leichte Meinungsverschiedenheiten haben.« Kiyoshi grinste mich sofort an und schüttelte den Kopf, trank sein Bier schneller als gedacht und stellte es lautstark auf den Tresen. »Jiro«, begann er, »wo wir bei dem Thema sind. Darf ich deine Meinung zu etwas haben?« Da wurde nicht nur Jiro hellhörig. »Na klar, schieß los«, grinste mein bester Freund und lehnte entspannt gegen den Tresen. Kiyoshi lehnte sich ebenfalls an das Stück Holz und verschränkte gespielt locker die Arme. Mit einer lässigen Handbewegung deutete er auf mich. »Glaubst du, Hiro würden Latexstrümpfe stehen?« Jiro brach in lautes Gelächter aus, haute einmal kurz auf den Tresen. »Was? Latexstrümpfe?! Niemals!« Nickend fuhr ich mit meiner Zunge über meine Zähne. Gut gespielt, Kiyoshi. Gut gespielt. »Also eigentlich«, hob ich meinen Zeigefinger und tat so, als würde ich etwas richtig stellen, »sollte die Frage eher lauten: Würden sie Kiyoshi stehen?« Doch mein Bruder schüttelte energisch den Kopf. »Bestimmt nicht, Hiro. Ich ziehe so etwas nicht an!« »Nicht mal, wenn ich dich lieb darum bitten würde?« Da verstummte Jiro schlagartig und schob die Augenbrauen zusammen. »Alter, du willst deinen Bruder in Latexfummel sehen? Was ist los mit dir? Ein paar Schläge auf den Kopf bekommen?« Dabei sah er kurz zu Kiyoshi. »Nix gegen dich.« Ich schluckte, entfernte mich noch ein kleines Stück von meinem Bruder. Etwas in meinem Kopf pochte auf einmal auf. Ob es der Alkohol oder die Angst war – es ließ mich kalten Schweiß produzieren. »Das... Kiyoshi und ich machen nur Witze... das ist so ein Insider, weißt du? Wir haben die gestern Nachmittag im Headshop gesehen... du weißt schon... in unserem Laden«, versuchte ich meine unüberlegte Bitte an Kiyoshi zu rechtfertigen. »Ach so... ey, trotzdem, Hiro... Haha, lass mal gut sein mit den Latexfummeln. Du weißt, wie sie bisher darauf reagiert haben.« Mit sie meinte Jiro wohl meine Exfreundinnen. Ja, in der Tat wollte keiner bei Lack und Leder mitmachen. Nicht mal die eine Gothicbraut. »Ich gewöhn's mir ab. Kiyoshi hilft mir dabei, indem er mir auf die Finger haut, wenn ich so was in der Hand habe.« »Hoffentlich haut er dir auch bei den Frauen mal auf die Finger! Du hast einfach kein Händchen für Weiber«, schoss Jiro über's Ziel hinaus und erntete nur ein böses Knurren von Kiyoshi. »Keine Angst. Das werde ich mit Vorliebe tun.« Jiro verstand die zweideutige Antwort von Kiyoshi natürlich nicht so ganz und lachte einfach amüsiert weiter.   Der Abend ging recht zäh von statten. Jiro machte hier und da einige Witze, trotzdem wurde es nicht wirklich warm um uns. Kiyoshi trank zwar ein Bier nach dem anderen mit, hielt sich aber mit den Shots zurück. Auch ich lehnte Jiros Angebot öfter ab, als von mir gewohnt war. Heute, dachte ich, durfte ich mich nicht gehen lassen. Kiyoshis Instinkte waren noch wach; ein Vernachlässigen könnte böse enden. Jiro merkte das natürlich irgendwann, trotzdem er schon ziemlich betrunken war und bereits eine halbe Schachtel geraucht hatte. »Jo, Hero«, begann er, als er sich noch eine Zigarette vor dem Pub anzündete, während Kiyoshi und ich nur daneben standen. Es blieb bei einer Zigarette. Ich wollte meinen Bruder nicht weiter verführen und spielte gutes Vorbild. »Morgen gehen wir alle noch einmal feiern. Da hat so ein neuer Club aufgemacht, den wollten wir mal aufmischen.« Genüsslich pustete er den Rauch in die längst stiller gewordene Gasse. Wir näherten uns knapp 1 Uhr. »Club? Ernsthaft?«, hakte ich nach und schob meine Hände in die Hosentaschen. Kühl, dachte ich. Und war gleichzeitig erleichtert, dass ich noch ein Empfinden für Temperaturen hatte. »Ja, so ein Club halt. Ganz nett, hat da hinten aufgemacht, wo vorher das Engels war.« »Engels? Das klingt aber nett«, fügte Kiyoshi hinzu und lächelte leise. Doch ich schüttelte sofort den Kopf. »Nee, nicht nett. Da haben sie sich nur geprügelt.« »Also warst du dabei?«, fragte er natürlich sofort spitzzüngig. Ich seufzte nur. »Natürlich...«, war alles, was mir noch zu dem Thema einfiel. Ein Augenrollen folgte. »Seid ihr dabei?«, lud uns Jiro ein und rauchte auf. Ich wägte ab, Kiyoshi hingegen nickte eifrig. »Wieso nicht?« »Äh... willst du hin?« Vorsichtig presste ich meine Lippen aufeinander und sah vergewissernd zu meinem noch lächelnden Bruder. Der blieb bei seiner Entscheidung. »Ja, klar. Ein Club klingt zumindest ein bisschen spannender als dieser Pub.« »Haha, bist wohl nicht so der Metal Fan?«, lachte Jiro und richtete seine Nieten-Lederjacke und begann Richtung Straßenbahn zu gehen. »Nicht so, ja. Dann noch lieber komischen Elektro.« Ich verdrehte abermals die Augen. Kiyoshi hörte doch Jazz oder so ein Rotz. Soll mal nicht so abgehoben tun. »Dann wirst du dich da wohler fühlen!« Jiro blieb dann an der Haltestelle stehen und schaute nach, wann seine Bahn kommen würde. Grinsend kam er wieder auf uns zu. »In 5 Minuten kommt meine Fahrt nach Hause. Dann sehen wir uns morgen? Ich schreib dir, Hero. Und die anderen werden sich bestimmt wieder vorher verpissen, denke ich.« »Gut. Nichts gegen die anderen, aber...« Doch Jiro nickte sofort, als ich den Einwand bringen wollte.  Kiyoshi sollte mein kleines Geheimnis bleiben. Zumindest vorerst. Schlimm genug, so jedenfalls aus der Sicht meiner Mutter, dass Jiro eingeweiht war. »Kommt gut nach Hause ihr zwei. War cool, dich kennen gelernt zu haben, Kiyoshi. Bist'n netter Kerl!«, lobte er meinen stillen Bruder, drückte ihn kurz zum Abschied an sich. Kiyoshi hingegen fiel nur hilflos in seine Arme, tätschelte ratlos Jiros Schulter und torkelte wieder in meine Richtung, als Jiro ihn losließ. »Ja... dito...« Schnell verabschiedete ich mich von meinem Kumpel mit einem Handschlag und klopfte ihm männlich auf die Schulter. »Bis morgen. Komm gut Heim!«   Mit diesen Worten gingen wir die lange Straße aus der Stadt zurück. Es dauerte auch nicht lange, bis Kiyoshi wieder meine Hand nahm und sie feste drückte. Das sah ich als Einladung ihn über den Abend zu fragen. »Und? Hattest du wenigstens ein bisschen Spaß?« Kiyoshi nickte zögerlich. »Doch, ja. Ein bisschen Kopfschmerzen.« »Ich auch. Bestimmt vom Alkohol.« »Dabei haben wir doch... gar nicht so viel getrunken, oder?« »Das war, denke ich, der Fehler«, scherzte ich und starrte dabei grinsend auf den Boden. »Eins sag ich dir: den morgigen Abend werde ich nüchtern nicht überleben.« »Wieso? Wegen dem Club?« »Ja... das geht gar nicht. Mit so was kannst du mich jagen. Mich wundert, dass Jiro da hin will. Normalerweise ist der auch kein Freund von so Lokalitäten. Aber wahrscheinlich will der sich nur mit ein paar Schnöseln prügeln.« Kiyoshis Augen weiteten sich. »Jiro ist also auch so ein Schläger wie du?« »Wir sind doch keine Schläger...« Doch konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Streng genommen... waren wir Schläger. Doch, ja. Schnell wechselte ich das Thema: »Magst du Jiro denn? Ist okay, oder?« »Hm«, brachte er erst zögerlich raus. Kiyoshi schien zu überlegen. »Er wirkt wirklich sehr locker und... ich glaube, was du mit aufbrausend meintest.« »Ja... er fährt schnell aus der Haut und ist sehr direkt. Aber ich mag das. Auf Dauer weiß man nämlich woran man bei ihm ist. Bei ihm kann man eigentlich in kein Fettnäpfchen treten.« »Aber ehrlich gesagt«, doch Kiyoshi brachte den Satz nicht zu ende. Er spitzte die Lippen, als wäre das, was er sagen wollte, besser in seinem Mund aufgehoben und nicht in meinen Ohren. »Sag's ruhig.« »Hm«, brummte er abermals und wartete, bis wir in unseren Häuserkomplex gingen und ich die Tür hinter uns zum Flur schloss. Vor dem Aufzug kam er dann wieder zu Wort. »Er ist ein bisschen... wie sagt man? Asozial?« »Wie bitte?«, hakte ich nach und schob sofort die Augenbrauen zusammen, als hätte er nicht nur Jiro, sondern auch mich beleidigt. Doch als Kiyoshi sofort die Hände hob, um sich zu entschuldigen, winkte ich ab. »Okay, verstehe schon... Ja, er ist nicht wie ihr. Aber das bin ich auch nicht, wie du weißt.« »So meinte ich das auch nicht... Ich komme einfach nie unter Leute, da...ist mir sein Verhalten eben neu.« Da schwieg ich. Natürlich kannte Kiyoshi wenig Leute und die, die er kannte, waren hochgestochene Pisser.   Als ich meine eigenen Gedanken in meinem Kopf widerhallen ließ, seufzte ich leise. »Vielleicht sind wir ein bisschen assi, ja. Mom und ich... Jiro... die anderen. Aber hey, passt schon. So fühlt sich Leben an.« Da Kiyoshi die ganze Aufzugfahrt nichts mehr darauf antwortete, hatte ich vermutlich einen wunden Punkt erreicht. Kiyoshi wollte leben. Wie ein Mensch und in keiner abgeschotteten Welt voller Geld und Wohlsein. Er wollte mal das Leben spüren. Das sah ich ihm einfach an. Doch je mehr er über mein Leben zu erfahren schien, desto größer wurde die Abneigung gegen ein menschliches Leben. Sicher, nicht jedes Leben war gleich und das von Mom und mir war mit Sicherheit einer der wenigen Leben, die man unbedingt als Vorzeigefamilie nehmen würde – trotzdem fühlte ich mich wohl. Trotzdem war es vor allen Dingen auch Kiyoshis Familie. Er gehörte mit dazu.   Als wir leise die Wohnung betraten, fand ich einen kleinen Zettel am Esstisch. Meine Mom hatte mir eine kleine Notiz geschrieben:   Hallo Schatz, im Kühlschrank ist noch etwas Chili von gestern, iss das doch bitte auf, dann ist es weg. Kiyoshi habe ich stilles Mineralwasser gekauft, das steht neben dem Kühlschrank. Schlaf gut und bis morgen! Kussi   Vorsichtig reichte ich den Zettel an Kiyoshi weiter, der sich gerade den Blazer auszog. Schnell las er ihn durch und deutete mit dem Kinn mein Zimmer an. Ich nickte, schlich mich an der Couch vorbei, lauschte noch einmal, ob Mom auch wirklich schlafen würde und öffnete bei Gewissheit die Tür. Mein Zimmer war dunkel und wurde nur durch das Mondlicht erhellt. Ich beließ das Licht einfach aus und warf meine Lederjacke über den Schreibtischstuhl. Schnell zog ich die Schublade auf und nahm das silberne Pillendöschen an mich, in dem die Blutpillen lagerten. Kiyoshi hingegen stand schon in der Küche und hatte aus dem Kühlschrank die große Schüssel mit dem Chili herausgezogen. Als ich dazustieß grinste er. »Ganz schön viel. Und das sollst du alleine leer machen?«, fragte er sichtlich amüsiert. Ich nickte und sah überrascht in die Schüssel. »Glaube mir... vor einer Woche hätte ich dir die auch geleert.« »Ernsthaft? Davon … ernährt sich doch noch eine dreiköpfige Familie!« »Wenn du dabei alle drei Personen spielst, gebe ich dir Recht«, scherzte ich, kniff ihm in den Hintern und holte zwei Schüsseln aus dem Schrank. Kiyoshi kicherte sofort auf und zog an meinem Shirt. Vorsichtig spitzte er die Lippen. »Aber psht«, deutete ich ein leises Verhalten an und drückte ihm wie gewünscht meine Lippen auf. Sie schmeckten anders als sonst. Verruchter. Vielleicht vom Alkohol und der einen Kippe. Dem Tequila. Der Orange, dem Zimt. Dem Kräuterschnaps und dem Bier. Es gefiel mir, das musste ich gestehen. Als Kiyoshis zarte Hand auf meine Brust wanderte, die Schüssel Chili losließ und die andere folgte, wurde mir warm. Bemüht leise zu sein, zog ich ihn an mich. Der Kuss wurde intensiver, leidenschaftlicher. Und erst, als ich mit beiden Händen seinen Hintern begrapschte, löste er sich von mir und kicherte. »Besser nicht hier, oder?«, vergewisserte er sich und bekam das zweideutige Grinsen im Gesicht. »Doch, hier in der Küche. Ich steh drauf, wenn Mom uns dabei zusehen kann«, scherzte ich, bemüht, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. »Hier, nimm dir, so viel wie du magst und geh in mein Zimmer. Wir essen lieber da.« Kiyoshi nickte und schaufelte sich mit einem Löffel eine kleine Portion Pampe in seine Schüssel. Erst, als mein tadelnder Blick auf dem Löffel haften blieb, schaufelte er etwas nach. Zufrieden über die immer noch mickrige, aber für Kiyoshi reichliche Portion, füllte auch ich meine Schüssel, sodass nur noch eine kleine Menge in der großen Schüssel übrig blieb. Leise huschten wir von der Küche in mein Zimmer und schlossen die Tür. Als ich das Licht einschalten wollte, hörte ich Kiyoshi flüstern. »Lass. Ich mach das hier an.« Damit holte er eine große, schwarze Kerze aus meinem Schrank, stellte sie akkurat auf einen runden Untersetzer, der nur für diese Kerze gemacht zu sein schien, und zündete sie an. Ein warmes Licht erhellte den Raum und schien mehr als ausreichend für eine Mahlzeit zu sein. Grinsend setzte ich mir auf mein Bett und platzierte die Schüssel auf meinem Schoß. »Du und deine Okkulten Sachen.« »Kerzenlicht ist einfach angenehmer im Auge, findest du nicht?« »Schon, aber wieso muss sie schwarz sein? Und... ist das Patschuli?« Kiyoshi nickte eifrig und setzte sich neben mich aufs Bett, die Schüssel ebenfalls nah bei sich. »Riecht gut, oder?« »Du machst mir hier keine Räucherküche aus meinem Zimmer, ist das klar? Ich will noch in Ruhe schlafen können!« »Ja, Chef. Keine Räucherküche.« Kiyoshi verdrehte nur die Augen, als würde ich der Kulturbanause schlechthin sein. »Ich dachte, du magst es...« »Ich mag es auch, Yoshi. Aber bitte... nicht übertreiben. So was macht mir Kopfschmerzen.« »Nenn mich nicht so...«, murmelte er, während er die Pillendose aus meiner Hosentasche zog. »Ich mag das nicht. Nenn mich lieber... weiß nicht. Anders einfach.« Erwartungsvoll schob ich ihm meine Schüssel entgegen, in die er sofort eine Pille fallen ließ; gefolgt von seiner eigenen. Das Chili verfärbte sich nach einigem Rühren dunkelrot. »Ich weiß, dass du Yoshi nicht magst. Deswegen sag ich es doch«, neckte ihn ihn und küsste seine Lippen. Doch wie erwartet verzog Kiyoshi keine Miene. Stattdessen blieb der verurteilende Blick auf mir haften. »Soll ich dich also lieber Schatz nennen?«, hakte ich nach. Kiyoshi verstummte, rührte in seinem Chili und zuckte kurz mit den Schultern, als wüsste er selber nicht, ob ihm das gefallen würde. »Weiß nicht. Vielleicht?« Doch ich schüttelte den Kopf. »Yoshi. Eindeutig.« Klar, Kiyoshi knuffte mich sofort in die Seite und sah schnippig zur Seite. Trotzdem konnte er ein leichtes Mundwinkelzucken nicht abstreiten.   Nach einigem Rühren nahm ich den ersten Bissen vom dunkelroten Chili. Als es meine Zunge berührte und sich im Mundraum verteilte, musste ich erstaunt zu Kiyoshi hinüberblicken. »Ziemlich gut«, gestand ich. »Zwar hat das geschmacklich so überhaupt nichts mit Chili zu tun, trotzdem … ein interessanter Geschmack.« Damit schluckte ich den Bissen runter. Als auch kein Erdgeschmack folgte, sondern lediglich ein kühles, erfrischendes Gefühl, wie ich es vom normalen Trinken her kannte, akzeptierte ich die Tatsache, dass ich von nun an Speisen mit der Tablette zu mir nehmen konnte. »Doch, ist gut.« Auch Kiyoshi begann zu essen und nickte langsam. »Es schmeckt wirklich nur... nach der Bluttablette.« »Mhm, aber das war ja abzusehen. Besser als Erde.« »Ja, besser als Erde.«   Kichernd saßen wir noch die restlichen Minuten auf meinem Bett und mümmelten das Chili von Mom. Das war schön. Jemand war bei mir. Tag und Nacht. Und es war mein Bruder. Früher hatte ich mir immer einen Bruder gewünscht. Einen größeren zwar, aber ein gleichaltriger war genauso super. Denn Kiyoshi und ich verstanden uns super. Trotz der Strapazen. Trotzdem wir heimlich um 2 Uhr nachts essen mussten, weil wir sonst nicht konnten.   Als wir fertig waren und Kiyoshi mit der Hand auf dem Bauch stöhnend im Bett lag, brachte ich das Geschirr weg. Leise räumte ich es in die Spülmaschine ein. Wahrscheinlich würde ich ihr morgen berichten, dass Kiyoshi nun mitessen könnte, solange er sich vorher eine Pille schmeißen dürfte. Unterdessen überlegte ich auch, was ich zum Essen vorschlagen könnte, dass ich es ihm gleichtun könnte, ohne dass es Mom merken würde. Doch während ich so überlegte, blieb ich am Sofa stehen und stockte. Es war abgezogen.   Ein kurzer Blick zum Zimmer meiner Mutter ließ mich in meiner Starre verharren. Hatte sie es abgezogen? Vergessen wieder aufzuziehen?   Oder... bewusst nicht aufgezogen?   Auf einmal klapperten die Rollläden des großen Fensters, welches zum Balkon führte. Lautes Gekrächze von großen Vögeln ertönte. Flügelschlagen war deutlich zu hören. Als ich verstört in die Küche ging, um aus dem Fenster, welches nicht zugezogen war, zu sehen, vernahm  ich eine Schar schwarzer Vögel. Weit weg am Himmel flogen sie über die Schwärze der Nacht und hinterließen bei mir Gänsehaut. Der Mond schien hell auf meine Haut. Vorsichtig hob ich meine Hand und drehte sie im Licht, als wäre sie kostbar. Meine Haut schimmerte, wie Porzellan. Nur vereinzelte Haare, wie fein gesponnenes Garn, lagen auf meinen Armen. Blau-grüne Adern stachen heraus und ließen mich ... ... tot wirken. Das Flügelschlagen wurde wieder lauter und erhaschte meine Aufmerksamkeit. Die Vögel verließen mein Sichtfeld; stattdessen heulten Streifenwagen unter unserer Wohnung auf. Da schauderte es über meinen Rücken.   Ich konnte es hören. So weit weg.   Da war etwas in der Stadt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)