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My Dear Brother 2

The Humans
von

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Alte Freunde

»Hadde, Alter Schwede, was geht?«, begrüßte mich Jiro, hörbar erheitert am Telefon.

Es war bereits Nachmittag, die Sonne brach zwischen den Wolken nur noch vereinzelnd durch, sodass die Temperaturen langsam sanken.

»Hallo, Jiro... Wie gehr's dir? Und vor allen Dingen deiner Mom?«, fragte ich weniger enthusiastisch. Kiyoshi saß auf dem roten Sofa, blätterte in einer Zeitschrift und trank dabei ein Glas mit Tablette. Tat so, als würde ich gerade mit niemandem reden. Oder blendete zumindest die Tatsache aus, dass ich gerade telefonierte.

»Super! Meiner Mom nicht so, aber passt schon! So konnten wir früher abreisen, war eh langweilig bei der Familie, du weißt.«

»Haha, ja, weiß ich nur zu gut«, stöhnte ich etwas leidvoll ins Telefon.

»Also? Kommst du noch mit an den See? Der Rest ist auch da!«, da raschelte es und Jiro wurde auf einmal sehr leise, »sogar Lampe mit ihrer neuen Freundin... Na ja! Geschmackssache!«

Da musste ich leise lachen und stellte mir bereits Lampes Ebenbild vor, wie sie mit sich selber rummachen würde.

Doch ein Blick aus dem Fenster sagte mir eindeutig „Nein“ zum See. Trotz Sonnencreme würde es sowohl für mich als auch für Kiyoshi unerträglich in der Sonne werden. Und mir fiel bei Gott keine gute Ausrede ein, wieso ich auf einmal mit Sonnenschirm durch die Gegend rennen würde.

»Sorry, Jiro, eher nicht. Du weißt, ich hab's nicht so mit See...«

»Aber wir haben Alkohol! Und es ist witzig!«, plärrte er ins Telefon und lachte laut los, als ihn jemand ansprach. »Und mit Alkohol konnte ich dich bisher immer locken!«

Da hatte Jiro nicht ganz unrecht, aber Alkohol stand auch noch nie mit meiner Existenz auf einem Niveau. Alkohol und in der Sonne sterben – oder kein Alkohol und im Schatten leben.

»Nee, echt mal. Heute kein See. Geht ihr heute Abend nicht noch irgendwohin? Da würde ich mich anschließen.«

Während ich noch am Esstisch saß und das Ikebana meiner Mutter zerrupfte, schlug Kiyoshi die Zeitschrift zu und stand auf. Als er auf mich zukam und meinen Nacken streichelte, zog ich ihn auf meinen Schoß.

Jiro seufzte enttäuscht ins Telefon.

»Puh, joa, ich denke mal wir gehen wieder in unseren Pub. Da sage ich dir gerne Bescheid, wenn's losgeht.«

»Das wäre super.«

»Und wer ist deine mysteriöse Begleitung, die du angekündigt hast? Hast du jetzt etwa auch ne neue Freundin?« Da lachte Jiro laut los und raschelte laut am Telefon. »Sag nicht, sie ist aus dem Norden! Die Weiber da sollen komisch sein!«

 

Ich schwieg.

Ja, da sind so ungefähr alle ein bisschen komisch. Trotzdem nannte ich Kiyoshi meinen festen Freund. Doch – nein – Jiro war zwar mein bester Freund, aber selbst das war zu krass für ihn zu wissen.

Nicht nur, dass ich schwul geworden bin, sondern auch, dass es mein eigener Bruder war. Nein, nein. Selbst ein Jiro durfte davon nicht erfahren.

»Es ist Kiyoshi. Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, dass es keine neue Freundin ist«, sagte ich salopp und strich über Kiyoshis Rücken. Der warf mir nur einen gespielt verletzten Blick zu und schwang seine langen Haare hinter die Schulter, als würde er alles andere als eine Enttäuschung sein.

»Verarsch mich! Kiyoshi? Dein Bruder? Holy Shit!«, schrie er ins Telefon. Doch ehe er die anderen darüber unterrichten wollte, plapperte ich ihm ins Wort:

»Jiro, hör mal zu! Das soll erst mal noch... unter uns bleiben, hörst du? Kiyoshi ist hier zu Besuch und eigentlich will ich so wenig Aufsehen wie möglich, okay? Lass uns heute Abend für ein bis zwei Stündchen treffen... Dann erzähl ich dir, äh, alles und gut ist, okay?«

»Huh?«, raunte er ins Telefon, »Also ohne die anderen?«

»Vorerst ja. Wäre mir lieber.«

»Na gut... Dann eben nur wir Drei. Bin gespannt, ob ihr wirklich so eineiig seid.«

»Glaube mir, das sind wir. Aber Kiyoshi hat längere Haare, daran wirst du ihn erkennen.«

»Na Gott sei Dank. Dachte schon, das würde wie beim doppelten Lottchen enden.«

Jiro lachte noch ein wenig, versprach mir dann über meinen Bruder zu schweigen und beteuerte mir seine Vorfreude auf den Abend.

Schließlich legte ich auf und warf das Telefon auf das Sofa, um beide Hände um Kiyoshi zu legen.

Der sah mich neugierig an.

»Jiro?«

»Ja, genau.«

»Wie ist er so?«

»Aufbrausend«, beschrieb ich ihn mit einem Wort und lachte zaghaft. »Sehr lieb und immer verständnisvoll. Wie gesagt, du wirst ihn mögen. Und er wird auch dich mögen.« Wenn er selbst Lampe in der Clique duldete... würde er Kiyoshi gleich drei mal dulden.

»Willst du ihm sagen, dass wir zusammen sind?«

»Nein, nein. Das nicht.«

»Wieso nicht?« Kiyoshis Augenbrauen schoben sich zusammen.

»Wieso nicht, fragst du? Na, weil das vielleicht … «, ich holte tief Luft, »Inzucht ist? Wir können nicht einfach so händchenhaltend durch die Gegend laufen...und schon drei Mal nicht miteinander hausieren gehen.«

»Ich denk, Jiro ist so verständnisvoll? Kat hat es auch gut aufgenommen.«

»...« Ich seufzte laut auf. »Jiro würde es auch gut hinnehmen... Aber mir wäre es lieber... Wir warten damit noch ein bisschen. Einfach langsam mit den Pferden, okay?«

»Jiro«, und dabei betonte er seinen Namen recht deutlich, »kann ruhig wissen, dass du mir gehörst.«

Vorsichtig zog ich eine Augenbraue hoch. »Okay... Kiyoshi... lern ihn erst mal kennen, ja? Wenn wir uns alle super verstehen, sage ich ihm gerne die Wahrheit. Aber bis dahin... bist du mein braver Bruder aus dem Norden, okay?«

»Brav? Pah, ich bin alles andere als brav.« Dabei verschränkte er die Arme und sah beleidigt zur Seite. Er war so ungefähr das unberührteste Geschöpf, was ich jemals getroffen hatte. Von seiner dünnen, weißen Erscheinung, die ein unschuldiges Image noch unterstrich, mal ganz abgesehen.

»Sei einfach du selbst. Mach es von der Situation abhängig. Aber bitte: werd nicht unfair gegenüber Jiro.«

»Ich bin nie unfair gegenüber irgendjemanden.«

»Wenn das so ist, muss ich mir ja keine Gedanken machen.«

»Die sind sowieso unnötig.«

Da schwieg ich lieber. Was jetzt genau unnötig war, wollte ich nicht nachfragen. Kiyoshi war zickig, wann immer es um Jiro ging.

War er etwa eifersüchtig?

Auf Jiro?

… Ich wollte das Thema nicht ansprechen, weil er es wahrscheinlich sowieso abgestritten hätte. Er und eifersüchtig? Niemaaaaals.

 

Wir tranken noch etwas Blut aus unseren Gläsern, das Chili komplett vergessen, während wir auf der Couch saßen und etwas Fernsehen schauten.

»Habt ihr eigentlich einen Fernseher bei euch?«, fragte ich beiläufig, das leere Glas auf den Couchtisch stellend.

Kiyoshi verneinte. »Nein, Vater hält nicht so viel davon. Aber ich schaue manchmal über's Internet Fern.«

»Armes Kind«, schmunzelte ich und legte wieder einen Arm um Kiyoshi, sodass er sich an mich heran kuscheln konnte.

Während er grinsend weiter trank, fiel mein Blick auf mein leeres Glas.

Wann genau wurde das zur Normalität? Schon in Kiyoshis Schule? Seitdem ich auf der Toilette zusammengebrochen war? Oder erst zu Hause, nach Vincents Angriff?

Ich trank dieses Blut wie Wasser. Am Morgen schon ein Glas, vorhin, jetzt wieder eins. Der Pillenvorrat reichte noch für etwaige Wochen, ansonsten würde Chloe uns neue schicken.

Aber je mehr ich trank, desto besser ging es mir. Der Geschmack war süßlich herb. Wie ein guter Drink. Ich musste mir eingestehen: es gefiel mir, das Blut zu trinken.

Es gefiel mir schon immer.

 

Trüb sah ich zu Boden.

Im Grunde... wenn man es im Nachhinein betrachtete...

war ich schon immer komisch gewesen. Als Kind das Wundblut geleckt. Als Jugendlicher Schweineblut vom Metzger geholt und darin gebadet – weil man ja cool war. Hatte ich mich geschnitten... habe ich es aus der Wunde gezogen.

Hatte ich schlecht geträumt... habe ich mich am Mond erfreut, der mir Licht schenkte. So blieb ich oft Nächtelang wach, schlief den ganzen Tag und sah frischer aus, als wenn ich mich an den menschlichen Tageszeiten hielt. Ich mied die Sonne, wann immer es ging. Ich wollte eigentlich nur nicht braun werden, aber – eben im Nachhinein betrachtet – fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Sonnenbrand nach nicht einmal einer halben Stunde sprach Bände über meine Genetik.

 

»Was machen wir … wenn ich verwandelt bin?«, fragte ich wie aus dem Nichts, den leeren Blick immer noch auf das Glas haftend.

Kiyoshi erhob sich ein kleines Stück, sah mir in die Augen und seufzte leise. »Keine Ahnung, das wird Vater entscheiden. Wahrscheinlich... wirst du zu uns kommen.«

»Da wartet aber Vincent auf uns.«

»Ja … vielleicht bleiben wir auch hier. Ich hab keine Ahnung.«

Ich nickte vorsichtig, seufzte ebenfalls und strich über Kiyoshis Bein.

 

Vielleicht würde das heute das letzte Treffen mit Jiro sein, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht... nie wieder. Was, wenn ich gehen müsste? Ich dürfte Jiro nichts sagen. Ich dürfte niemandem etwas sagen. Wahrscheinlich müsste ich zu allem Übel noch offiziell sterben, damit ich in Ruhe gehen könnte und niemand Fragen stellte.

 

Als es unangenehm über meinen Rücken schauderte, erhob ich mich und schaltete den Fernseher aus.

»Machen wir uns fertig und gehen schon mal was Alkohol an der Tanke holen. Dann fahren wir in die Stadt.«

»Jiro hat sich doch noch gar nicht gemeldet... «, bemerkte Kiyoshi, stand aber auch vom Sofa auf und richtete seine schwarze, enganliegende Jeans. Er kam eher trottend auf mich zu, strich über meinen Arm und senkte den Blick zu Boden.

»Das passt schon. Ich zeige dir sonst so erst mal die Stadt, bis er eben Zeit hat.«

Mit einem leichten Grinsen drückte ich ihm meine Lippen auf. Erst zurückhaltend, dann forscher, erwiderte Kiyoshi meinen Kuss und presste sich an mich. Sein Atem wurde schneller, abgehackter und schien regelrecht für mich zu existieren. Nur, damit ich seine Lust spürte.

 

Huch, dachte ich, wie konnte diese erotische Stimmung denn jetzt so schnell wieder kommen? Ich wollte ihm doch nur einen normalen Kuss geben...

Als ich mich kurz aus dem Kuss lösen wollte, um Kiyoshi zu fragen, ob wir noch eine schnelle Nummer schieben wollten, sah ich in schwarze Augen.

»M-Moment mal! Wieso verwandelst du dich? Es ist Vollmond!«

Er seufzte, antwortete nicht, sah mich nur erregt an. Mit einiger Kraft drückte er mich auf das Sofa, setzte sich rittlings über mich und begann einen neuen Kuss.

»Kiyoshi!«, mahnte ich meinen Bruder, der in absoluter Ekstase stand.

Hatte ich mich geirrt? War vielleicht erst morgen Vollmond? Oder blieb die Bestie noch den Vollmond über?

Kiyoshi jedenfalls interessierte das absolut gar nicht, bewegte sich auf mir, als würde er es kaum abwarten können, mich erneut reiten zu dürfen.

Doch wie sollte ich es beschreiben? Ich wollte Sex, auf jeden Fall, aber mit Kiyoshi. Nicht mit diesem... willenlosen Tier. Auch wenn es seinen Reiz hatte, ihn mal so richtig für meine bösen Machenschaften zu benutzen, wollte ich mir das für später aufheben. Immerhin hätte ich jeden Monat ganze 15 Tage Zeit ihn als Tier ran zu nehmen.

Aber auch 15 Tage, ihn als Kiyoshi zu nehmen.

 

»Kiyoshi... Hör auf, komm schon«, bat ich meinen Bruder, der bereits anfing meine Sweatshirtjacke auszuziehen. »Wir wollen jetzt los... Ich möchte jetzt nicht.«

Doch Kiyoshi ließ nicht mit sich reden.

Und in diesem Moment bekam ich eine Ahnung vom Gefühl wie es sein musste, gegen seinen Willen verführt zu werden.

Kiyoshi antwortete nicht, ließ sich nichts sagen, griff weiter nach meinen Klamotten und zerrte gewaltsam an ihnen.

Vielleicht, dachte ich, hilft ja ein einfacher Druckabbau... Jedenfalls hatte ihn das bisher immer zurückgeholt.

Ich fackelte nicht lange, begann Kiyoshis Hose aufzuknöpfen und nahm sein bereits hartes Glied in die Hand. Natürlich ließ er alles zu, wurde auf einmal devot und schloss sinnlich die Augen, als ich meine Hand anfing zu bewegen.

»Uh...«, brummte er dunkel durch seine spitzen Zähne, öffnete kurz die schwarzen Augen und presste mir einen Kuss auf die Lippen. Sachte schob er seine Zunge in meinen Mund und benetzte meine Lippen mit seinem Speichel.

Je schneller ich mit meiner Hand wurde, desto lauter wurde sein Gebrumme. Ein richtiges Stöhnen war das nicht, es war das Growlen eines Tieres.

Anzunehmen war also, dass sein tierisches Verhalten zu Vollmond noch einmal verstärkt auftrat. Unschön natürlich, dass wir genau an diesem Abend vorhatten in die Stadt zu gehen – unter Menschen. Unter einer Menge Menschen. Doch just in dem Moment, wo ich mit meinen Gedanken ganz woanders war, spürte ich seine spitzen Krallen in meiner Schulter, seine Zähne an meinen Lippen und ein zuckendes Glied in meiner Hand.

»Ah!«, raunte er laut auf, klammerte sich an mir fest und ergoss sich großzügig in meiner Hand.

Mit noch leichten Bewegungen presste ich den letzten Rest aus ihm heraus. Leicht transparente Flüssigkeit bahnte sich den Weg über meine Hand.

Ohne es wirklich gemerkt zu haben, war mir doch ziemlich heiß geworden. Meinem Bruder einfach mal so einen runter zu holen... war in der Tat aufregend gewesen. Wie alles intime, was wir taten.

»Mh...«

Kiyoshi murmelte etwas vor sich hin, hatte noch immer die Augen geschlossen und strich mit seiner Nase über meine Haut. »Hiro«, flüsterte er meinen Namen.

Als er seine Augen öffnete, blickte ich in weiße, strahlende Augen.

Aha, dachte ich. Das ist also das Geheimnis. Das Tier kommt bei Lust und geht bei Befriedigung. Einfache Sache. Hätte ich das mal früher herausgefunden.

Mit einem sanften Lächeln begrüßte ich meinen Bruder. »Schön, dass du wieder da bist.«

Kiyoshi zuckte zusammen, sah verwirrt in meine Richtung. »Ich war doch gar nicht weg ...«

»Du warst gerade ganz weit weg... Hast du überhaupt mitbekommen, was ich gesagt habe?«

Er öffnete den Mund, wollte schon zum Wort ansetzen – schien dann aber doch noch einmal zu überlegen, was genau passiert sein könnte und schüttelte schlussendlich den Kopf. »Nein... Tut mir Leid. Heute ist das letzte Mal, versprochen! Danach werde ich mehr... Willen über meinen eigenen Körper haben... Nur noch heute.«

Wir beiden schauten aus dem Fenster und erkannten nur wage die Umrisse eines Mondes. »Also bei Vollmond noch einmal so richtig?«

Kiyoshi nickte entschuldigend und sah dabei zu Boden. »Bei Neumond das genaue Gegenteil.«

»Wirklich?«

»Ja … meistens brauche ich kurz vor Neumond sogar fast gar kein Blut. Und es geht mir trotzdem gut.«

»Interessant...«, bemerkte ich überlegend. Also war es wirklich wie in diesen Filmen, wo sie bei Vollmond ausrasten und bei Neumond Kätzchen wurden.

 

In dem Moment vibrierte mein Handy.

Kiyoshi zog schnell seine Hose hoch, wischte beschämt die Reste seines Liebesspiels von sich und meiner Hand, während ich an mein Handy ging.

»Jo, Hero. Ich wär dann bald alleine! Seid ihr schon auf dem Weg?«

Ah, der erwartete Anruf von Jiro.

»Sprungbereit! Wir sind in 20 Minuten da! Irgendeinen Wunsch beim Alkohol?«

»Mhh... Mit Rum kriegst du mich immer.«

»Wunderbar.«

 

Damit legte ich auf, sah in Kiyoshis zusammengezogene Augen, die mich mahnend ansahen. »Ihr wollt wirklich Alkohol kaufen, obwohl wir in eine Bar gehen?«

»In der Bar ist es immer so teuer... Da besaufen wir uns vorher schon, um den Pegel in der Bar zu halten.«

Ein leises Lachen entfuhr meinen Lippen, als Kiyoshi angewidert von meinem Satz seine Schuhe anzog.

»Komm schon, wird lustig!«, ermutigte ich ihn und klopfte ihm auf die Schulter, als ich meine Jacke nahm. »Du musst es uns ja nicht unbedingt gleich tun. Auch wenn ich es sehr interessant fände, dich betrunken zu erleben.«

»Ja, ja«, seufzte er und zog sich einen schwarzen Blazer an, dessen Ärmel er hochkrempelte. »Denk aber dran: Dein Blut zirkuliert nicht mehr wie früher. Du brauchst weniger Alkohol, um betrunken zu werden und... bist auch länger betrunken, weil es länger dauert, den Alkohol abzubauen.«

»Umso besser. Weniger Geld ausgeben.«

»Ich mein's ernst, Hiro. Du kannst auch an einer Alkoholvergiftung sterben.«

»Ernsthaft? Aber man ist doch schon tot.«

»Dein Gehirn ist nicht tot. Aber das wird es, wenn du zu viel Alkohol durch deine Blut-Hirn-Schranke ballerst.«

Mit einem lauten Handschlag auf Kiyoshis Rücken drückte ich ihn aus der Tür. »Ich hab's verstanden, Kiyoshi. Ich passe auf. Du passt auf. Wir alle passen auf.«

»Ich … «, doch weiter kam er nicht. Schnell schloss ich die Haustür ab, richtete meine schwarze Lederjacke und führte Kiyoshi zum Aufzug, wo wir gemeinsam warteten.

 

Da kam sie wieder, die gute Laune. Ich würde gleich endlich wieder mit meinem besten Freund saufen gehen, während mein lieber Bruder dabei wäre.

Und wahrscheinlich nur die Augenbrauen zucken würde. So wie immer.

»Magst du Rum?«, fragte ich meinen Bruder, der stumm auf den Aufzug blickte und immer noch nicht sehr begeistert von meinem Plan des Alkoholtrinkens schien.

»Geht so«, erwiderte er monoton und stieg in die sich öffnenden Türen. Vorsichtig folgte ich und schlang einen Arm um seine Taille, nachdem die Tür sich schloss.

Wahrscheinlich hatte er noch nie Rum getrunken.

»Ich weiß, dass du eher nicht so viel Spaß daran hast, besinnungslos trinken zu gehen... Aber wenigstens heute? Für mich?« Mit diesem Satz lächelte ich mein süßestes Lächeln, was ich in petto hatte. Bei Mom funktionierte das immer.

Kiyoshi hingegen lehnte sich gegen mich und sah zu mir auf; strich dabei sanft, ja, fast verführend über meine Brust. »Ich versuche es. Aber versprich mir, dass wir … aufeinander aufpassen, okay?«

»Na klar«, flüsterte ich, »auf dich pass ich sowieso auf. Heute ist Vollmond.«

»Ja ...«

Kiyoshis Blick senkte sich ein Stück. Er schien auf einmal nachdenklich zu werden, behielt die Nähe zu mir allerdings bei. Wahrscheinlich setzte ich ihn unbewusst einer viel zu großen Gefahr aus. Ein etwas unwohles Gefühl schlich auch in mir herum. Ich wollte nicht, dass Kiyoshi seine Sinne verlieren und dem Tier schlussendlich komplett nachgeben würde. Gar nicht auszumalen, was eventuell noch andere Menschen für schaden nehmen könnten.

Als sich die Aufzugtür öffnete und wir heraustraten, bekam ich eine SMS von Jiro, dass er vor unserem Pub warten würde und die anderen bereits weitergezogen wären.

Ausgezeichnet.

 

Wir schlenderten die Straße entlang und betrachteten die Autos auf der Hauptstraße vorbeifahren. Die Straßenbahn mieden wir weiterhin.

Irgendwie verging mir schon die Lust, sie zu nutzen, als ich sie an unserer Haltestelle stehen sah. Die Menschen, die sich dort hineinquetschten, laut miteinander sprachen und alle möglichen Düfte an sich trugen, ließen in mir ungute Gefühle aufsteigen.

Außerdem, so legte ich mir die Ausrede zurecht, würden wir eher an einem Kiosk vorbeikommen, um Alkohol zu kaufen.

Doch je weiter wir gingen...

... desto größer wurde das Gefühl verfolgt zu werden. Als ich mich umsah, sah ich nur junge Menschen; lachend und trinkend.

 

Das Gefühl wurde stärker, je mehr wir uns der Stadt näherten. Kiyoshi sah betrübt auf den Boden und sagte nichts, also schob ich das dumpfe Gefühl eigener Irritation zu.

 

»Hier gehen wir kurz rein«, schlug ich Kiyoshi vor und zog ihn in einen recht modernen und großen Laden nahe der Innenstadt. Er war schlauchförmig von der Straße weg ausgerichtet und verkaufte Snacks, Alkohol, Zigaretten und sogar einige Plüschtiere und Souvenirs. Eher wie eine Tankstelle – nur ohne Tankstelle.

Kiyoshis Blick ging anmutig durch den Raum. Mit langsamen Schritten folgte er meinen und berührte hier und da eine Flasche oder Dose.

Nicht weiter auf ihn achtend ging ich an den Glasschrank im hinteren Bereich des Kiosks und deutete auf eine braune Flasche. »Hallo? Könnte ich hiervon etwas haben?«

Ein alter, ausländisch aussehender Mann setzte sich in Bewegung und kam auf mich zu. Mit einem kleinen Akzent fragte er mich, welche Flasche ich genau haben wollte und schloss nach meiner Identifikation den Glasschrank auf, um mir das bräunliche Gesöff zu reichen.

»Danke«, murmelte ich und ging Richtung Kasse. Kiyoshi stand noch immer vor einigen Dosen und bewunderte die bunten Etiketten. Lächelnd ging ich auf ihn zu.

»Möchtest du noch etwas haben? Vielleicht etwas zum Spülen?«, fragte ich wie eine besorgte Mutter und strich über seinen Rücken.

Doch Kiyoshi nahm sich eine Dose Energy Drink und drehte sie in seinen Händen. »Der Alkohol wird eh nach Erde schmecken...«

»Wirklich? Selbst Alkohol?«, fragte ich erstaunt und betrachtete die Glasflasche.

Als ich sein Nicken vernahm, verstummte ich schlagartig. Selbst Alkohol würde nach Erde schmecken? Es blieb einem auch wirklich nichts erspart...

»Was ist das hier?«, fragte Kiyoshi schließlich und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn und die Dose.

»Energy Drink. Da ist Koffein und Taurin drin. Man wird wacher und... vielleicht etwas aufgedreht.«

Mein Bruder zog die Augenbrauen zusammen und stellte die Dose wieder weg. »Lieber nicht.«

»Nimm sie ruhig mit, Jiro trinkt das auch. Wenn's dir nicht schmeckt... wovon ich mal ausgehe... geben wir sie Jiro.« Mit diesen Worten griff ich nach einer großen Dose Energy Drink und ging mit beiden Waren zur Kasse. Kiyoshi folgte mir nur stumm und stellte sich halb hinter mich; das unwohle Gefühl fast schon ausstrahlend, so stark ging es von ihm aus.

Ein etwas rundlicher Mann nahm beide Waren von der Theke und kassierte sie ab. Da fiel mein Blick ins Zigarettenregal. »Und eine Schachtel Djarum Black bitte«, forderte ich den Mann auf mir eine schwarze Schachtel Zigaretten zu geben. Der Kassierer tat wortlos, was von ihm verlangt war und hielt stumm die Hand für mein Geld offen. Mit einem Blick erhaschte ich den Betrag von der Kasse und bezahlte recht passend, sodass ich Portemonnaie und Kippen in meine Hosentaschen steckte, Kiyoshi die Dose reichte und selber die Glasflasche nahm.

Seufzend ging ich aus dem Laden und wartete kurz, bis Kiyoshi folgte.

Dann sah ich den entsetzten Blick.

»Du rauchst also immer noch? Ich dachte, das war alles früher?«, fragte er sichtlich aufgebracht über die Tatsache, dass ich mir gerade Kippen gekauft hatte.

Doch ich winkte lässig ab. »Hin und wieder vielleicht mal eine beim Feiern. Jiro raucht stärker. Der mag die schwarzen gerne, deswegen dachte ich, bring ich ihm welche mit.«

»Lüg doch nicht! Du rauchst die doch selber!«, fauchte mich Kiyoshi an, als wäre er die Sittenpolizei persönlich.

»Ganz ruhig«, hob ich beide Hände, eine mit dem Rum in der Hand, und versuchte die Situation zu beruhigen. »Ich hab doch zugegeben, dass ich manchmal eine mitrauche. Hast du mich die Woche rauchen sehen? Es ist also keine Sucht... es ist Genuss.«

»So fängt das aber an!«

»Und wenn schon? Willst du mir sagen, dass ich auch an Lungenkrebs sterben könnte?«

»...«

Da schwieg er und drehte die Dose nachdenklich in seinen Händen. Ein Blick auf den Boden zeigte mir deutlich, dass ich wohl genau den Punkt getroffen hatte, um den es sonst gehen würde. Rauchen war schlecht, selbstverständlich, aber für jemanden, der keine Zellteilung mehr hatte... wurde Rauchen auf einmal eine leichte Sache.

»Mir ist's egal, ob die Lunge schwarz vom Teer ist. Ich guck sie mir ja nicht an.«

»... man stinkt aber...«, murmelte Kiyoshi, als würde dieses Argument seinen Standpunkt noch retten können.

»Du wirst es überleben. Ich kau danach auch einen Kaugummi, versprochen.«

Kiyoshis Blick blieb auf der Straße. Mit einem Mal drehte er seinen Kopf, schwenkte seine Haare hinter die Schulter und rümpfte die Nase.

»Hast ja Recht«, pfiff Kiyoshi aufgebracht und setzte einen schnellen Schritt an, sodass er mich beim Gehen überholte, »Ich darf dich ja eh nicht küssen. Also rauch so viel zu willst; ich werd's eh nicht schmecken oder riechen.«

Mit einem leichten Seufzen folgte ich seinem schnellen Schritt und griff mir hilflos in den Nacken. »Bitte, sei fair... Ich habe dir doch erklärt, wieso das nicht geht... Kannst du das denn nicht nachvollziehen?«

»Nein!«, zischte er mir divenhaft zu.

Divenhaft? Ja.

So schoss es mir durch den Kopf.

Kiyoshi konnte eine wirkliche Diva werden.

Nein, er war eine Diva.

Alles musste nach seinem Kopf gehen. Tat es das nicht, wurde er zickig. Gefiel ihm etwas nicht, wurde er zickig.

Wie ein verlorener Freund lief ich der wütenden Freundin hinterher und versuchte ihn zu beschwichtigen.

»Kiyoshi, chill, bitte. Wenn du weiterhin so schlechte Laune hast... dann lassen wir das heute lieber.«

»Ist schon okay, lass uns saufen gehen! Wird schon witzig sein! Und hey, wieso sollte ich dann nicht auch eine Rauchen? Spiel den schlechten Einfluss, Hiro! Vielleicht werde ich ja dann so wie du: immer gut gelaunt!«

Kiyoshi wurde immer gereizter, mit jedem Wort, was er mir an den Kopf warf. Schlussendlich blieb er stehen, riss mir die Rumflasche aus der Hand, öffnete sie schlagartig und trank einige große Schlucke aus ihr.

An seinem Blick konnte man sehen, dass es brannte. An meinem wie überrascht ich war.

»H-Hey... hast du nicht gerade noch gesagt „langsam“?«

Doch ehe ich ihm die Flasche vom Mund ziehen konnte, setzte er ab und hustete vom starken Alkohol. Angewidert reichte er mir die Flasche und deutete mit seinem Kinn an, dass ich ihm das ruhig nachmachen könnte.

Mit leichtem Schulterzucken setzte ich die Flasche ebenso an den Mund und trank drei Schlucke. Mehr war nicht drin, denn um ehrlich zu sein: es schmeckte widerlich.

»Das... schmeckt ja wirklich nach Erde...«, gab ich enttäuscht von mir und sah in die Flasche. Sonst schmeckte es nach süßlichem Alkohol, etwas scharf, aber an sich süß. Kiyoshi hingegen zuckte nur mit den Schultern. »Ist vielleicht ein Grund«, und dabei zog er gereizt die Augenbraue hoch, »wieso ich nie so viel Alkohol getrunken habe!«

»Pf!«, prustete ich los. »Das wird mich definitiv nicht aufhalten!«

Da packte mich der Mut und ich trank erneut zwei Schlucke. Noch merkte ich nichts vom Alkohol, aber klar, dachte ich. So war das auch schon zu Menschenzeiten.

Vorsichtig schloss ich die Flasche, aus der bereits gut ein Viertel fehlte, und stellte sie an den Straßenrand. Einige Menschen beeilten sich bereits in die Innenstadt, viele grölten und einige Jugendliche schienen extrem betrunken zu sein.

Kiyoshi sah sich unwohl um. Erst, als ich ihm eine Zigarette hinhielt, hielt er inne und sah in meine Augen.

Seine Hand bewegte sich, nahm jedoch keine Zigarette aus der Schachtel. Ich schmunzelte genervt.

»Doch anders überlegt? Sind deine fünf Minuten vorbei?«, fragte ich etwas gereizt von Kiyoshis Anfall.

Als er die Augenbrauen zusammen schob und weiterhin zögerte einen Glimmstängel zu nehmen, packte ich die Schachtel wieder weg. »Später vielleicht«, fügte ich hinzu und nahm die Rumflasche vom Bürgersteig, um den Gang in die Stadt fortzusetzen.

Kiyoshi nickte stumm und folgte. Und als würde er sich entschuldigen wollen, griff er nach meinem kleinen Finger und umschloss ihn mit seinen restlichen. Wie ein reumütiges Kind lief er neben mir her und behielt den Blick gen Boden.

Ich ließ es einfach zu. Die Menschen um uns herum wurden immer betrunkener, die Nacht immer dunkler. Niemand würde auf unsere Hände achten.

Und wenn doch: Who cares.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Keine Angst, sie gehen nicht lange feiern haha :D

Beziehungsweise ist das alles nur Vorgeplänkel für den wirklich... grausamen... absolut niederträchtigen... Vorfall... :D :D Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  ellenorberlin
2015-09-29T21:20:52+00:00 29.09.2015 23:20
grausamer Vorfall??? oh gott ich will weiter lesen ;O;
ahhhh immer dieses Warten~ omnomnomnom....
Von:  KarliHempel
2015-09-28T21:02:58+00:00 28.09.2015 23:02
Sooooooo toll! Hiro lernt mit Kiyoshis Macken umzugehen. Das ist Liebe. Ach die beiden gefallen mir immer besser
Von:  Annemi91
2015-09-28T20:01:18+00:00 28.09.2015 22:01
Ich liebe Kiyoshis Art. :D Die "Diva" passt wirklich zu ihm. ;) Ist auch wirklich interessant, das Hiro das so durchgehen lässt. Ob's bei den beiden nochmal richtig krachen wird? :D
War auf jeden Fall wieder ein schönes Kapitel. Aber nun bin ich langsam wirklich sehr gespannt darauf, wie Kiyoshi und Jiro aufeinander reagieren. ;)

"Grausamen... absolut niederträchtigen...Vorfall"??? O_o Taucht Vincent auf oder verliert Yoshi die Kontrolle? Ich bin gespannt. :)
Von:  Veri
2015-09-28T19:28:07+00:00 28.09.2015 21:28
Ich bin sooooo gespannt ! :3


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