My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 2: Unangenehme Begegnung -------------------------------- Ich spannte den Regenschirm auf, zog die Ärmel runter und reichte Kiyoshi meinen Arm. Vorsichtig griff er nach mir und hakte sich ein. Etwas verstohlen blickte er sich um, doch ich spürte, dass er sich nach diesem Vorfall nicht wirklich auf die Stadt konzentrieren konnte. »... Vielleicht... gehen wir in die Mall. Da ist keine Sonne«, schlug ich vor und bekam ein schüchternes Nicken als Antwort.   Die Mall war groß und trotzdem übersichtlich mit Geschäften gefüllt. Als wir durch die großen Gänge schlenderten, erinnerte ich mich an die unzähligen Treffen mit meinen Freunden. Wie wir uns im Foodcourt immer die Burger reingezogen haben und am Ende durch die Geschäfte geschlendert sind.   Mit einer gewaltigen Menge an Wehmut ging ich zum runden Brunnen, der in der Mitte vom Foodcourt stand. Kiyoshi folgte nur langsam, den Blick auf die verschiedenen Stände gerichtet. Langsam ließ ich mich auf den Rand aus Stein fallen und stellte den Regenschirm beiseite. Ein kurzer Blick sagte mir, dass es bereits 5 Uhr war. »Bist du öfter hier?«, hörte ich schließlich die ruhige Stimme neben mir fragen. Anmutig überschlug Kiyoshi seine dünnen Beine. »Ja. Mit meinen Leuten. Zumindest früher eben...« Ein kleines Seufzen entfuhr mir. »“Früher“? Hiro, es ist doch erst eine Woche vergangen, seitdem du … kein … « Da hielt er inne und sah zu einem kleinen Mädchen, was uns mit einem Eis in der Hand anstarrte. Ihr Blick war auf uns gerichtet, als sähe sie gerade zwei Engel. So fasziniert und neugierig sie zu uns blickte, so nervös und unangenehm berührt blickte ich zurück. »Ähm ...«, begann ich, rang mir ein Lächeln ab und beugte mich etwas zu der Kleinen vor. »Alles klar? Hast du dich verlaufen?« Das Mädchen, mit kurzen blonden Haaren und riesigen blauen Augen, schüttelte nur apathisch den Kopf und grinste auf einmal. »Edward!«, schrie sie auf einmal. Mit einem Mal zog ich scharf die Luft ein und setzt sich mich wieder gerade hin. »Ihr seht aus wie aus Twilight!« Das Mädchen war vielleicht 6, nicht viel älter, und kannte schon diese dämliche Vampirsaga. Kiyoshis Blick blieb unergründlich, bis er sich zu mir drehte. »Wir sehen aus wie was?« »... Gibt so ne Vampirgeschichte … und … « Da stockte ich. Ein kleines Mädchen sieht zwei Männer in einer Mall sitzen und erkennt sofort, dass es sich hierbei um zwei Vampire handelte? Kiyoshi zog die Augenbrauen zusammen und sah zu dem Mädchen. »Wie Vampire? Bist du dir sicher?«, fragte er das Mädchen mit einem gefährlichen Unterton. Da spürte ich es. Dieses Gefühl von vorhin in der Straßenbahn. Kiyoshis Hunger. Er war noch nicht gestillt und kam nun erneut zum Vorschein. »Hey, Kiyoshi, wir gehen lieber wieder -«, begann ich meinen hektischen Satz, packte ihn am Arm, als ich ihre Stimme hörte und sofort in meiner Bewegung erfror.   »Linda! Du kannst nicht einfach wegrennen!«, ertönte das nervige Frauengeräusch aus einem hinteren Teil des Foodcourts. Ich musste mich nicht einmal mehr zu ihr umdrehen, um zu wissen, wer es war: Miss Always. Natasha. »Fuck«, war alles, was ich aus meine Lippen quetschte. In Bruchteilen von Sekunden überlegte ich, wie ich der unangenehmen Situation entfliehen könnte. Doch ehe ich mich versah, erkannte sie mich und hüpfte auf mich zu. »Hiro! Was eine Überraschung!« Ja … was eine... Überraschung, dachte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Langsam stand ich auf und ging gequält auf sie zu. Kiyoshi deutete ich mit einer Handbewegung an, dass er sitzen bleiben sollte, in der Hoffnung, dass man ihn nicht bemerken würde. »Ich dachte, du bist bei deinem Dad!«, grinste sie mir entgegen und zwirbelte ihre Haare. »War ich auch. Bin heute wiedergekommen.« Manchmal wünschte ich mir, ich wäre nicht so höflich zu Gott und die Welt, dann müsste ich mich auch nicht mit ihr unterhalten, huschte es mir durch den Kopf, das gequälte Grinsen noch im Gesicht. Meine Mutter jedenfalls wäre jetzt platt wie lieb ich zu Natasha war. »Ach so!«, kicherte sie nervig, »Sorry, wenn Linda dich genervt hat. Sie lief einfach weg, keine Ahnung, was mit ihr los ist!« Ich schüttelte den Kopf und sah noch einmal zum immer noch starrenden Kind. »Schon okay. Ich dachte nur, sie hätte sich verlaufen. Ist sie deine Schwester?« Natasha nickte und zwickte Linda in den Arm. »Ja, meine kleine, nervige Schwester. Mama wollte heute unbedingt mal alleine sein und hat mich mit Linda losgeschickt und -« Bla, bla, bla. Ich seufzte leise, hob eine Augenbraue und presste die Lippen aufeinander. Da war wieder dieses Geplapper, was wahrscheinlich erst in einer Stunde aufhören würde. Als ich mich kurz umdrehte, war Kiyoshi weg. Auf der einen Seite durchfloss mich ein heißer Schreck, ihn verloren zu haben, auf der anderen Seite auch die Erleichterung, dass ich auf diese Weise wenigstens nicht in Erklärungsnot mit Natasha kam, wer er denn sei. Doch Natashas Gebrabbel nahm kein Ende. Ich stemmte genervt die Hände in die Hüfte und unterbrach sie mitten im Satz. »Wie auch immer, schön dich getroffen zu haben. Ich muss jetzt weiter.« Damit wollte ich gehen, Natashas enttäuschten Blick nicht weiter beachtend – da hörte ich Linda aufquietschen. »Guck mal, der blutet!«, schrie sie und hüpfte auf und ab; zerrte dabei wie verrückt an Natashas Kleidung. Wie erstarrt schloss ich die Augen. Der Biss von Kiyoshi war wohl noch nicht ganz abgeheilt. Oder zumindest noch mit einzelnen Bluttropfen behaftet. »Guck doch, er wurde gebissen! Er ist ein Vampir, guck doch!« Natasha lachte nur und kugelte sich fast auf dem Boden. »Jetzt übertreibst du aber, Linda! Du und dein Twilight! Das wird mir doch etwas zu viel, haha. Hiro und ein Vampir! Er hat doch keinerlei Ähnlichkeit mit denen aus Twilight!« Wie das klang! Als wäre ich nicht „gut genug“ für einen Vampir! Als wäre ich zu dumm oder zu hässlich! Wenn die wüsste, die blöde Kuh! Mein Vater ist ein Reinblütler, mein Bruder auch! Und... sowieso eine Unverschämtheit so etwas überhaupt zu sagen!   Vorsichtig drehte ich mich noch einmal zu den beiden um und lächelte gekonnt kühl; bemüht um ein ruhiges Auftreten. »Schönen Tag euch beiden noch.«   Beide verstummten. Sagten nichts mehr.   Mit einer fließenden Handbewegung wischte ich mir ein bisschen blutige Kruste vom Nacken und ging meiner Wege. Beruhigen, dachte ich. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Weiber und ihre Vorstellung vom perfekten Vampir... Langsam trottete ich den Weg zu einigen Geschäften entlang. Ich spürte die Blicke der beiden bohren. Wie erstarrt rührten sie sich nicht vom Fleck. Die Reflexion eines Schaufensters sagte es mir.   Erst als Kiyoshi auf einmal wieder neben mir auftauchte, atmete ich auf. »Bisschen übertrieben, findest du nicht?«, fragte er sofort und hob eine Augenbraue, als er sich an meinem Arm festhielt. »Ich weiß nicht, was du meinst.« Mein Blick ging stur nach vorne. »Du hast die beiden sehr deutlich angeknurrt. Hoffentlich schreiben sie das ihren menschlichen Sinnen zu, dass sie dich verwandelt gesehen haben.« »...« Angeknurrt? Ich war einfach pikiert darüber, dass Always mir nicht zutraute ein hübscher Vampir zu sein. Ohne etwas zu sagen, wollte ich sie vom Gegenteil überzeugen. Dass ich genauso anmutig wie … Kiyoshi sein konnte. Doch im Nachhinein verstand ich, was Kiyoshi mir mit seinem rügenden Blick sagen wollte. »Ja, sorry … war zu viel.« »Je weniger Aufmerksamkeit wir produzieren, desto besser.« »Ja, ja.« »Denk an Vincent. Er sucht nach uns. Vampirische Aktivitäten wird er genauso schnell auf dem Schirm haben wie alle anderen.« Kiyoshis Blick wechselte zwischen den Menschen und mir. Er hatte ja Recht. Mein Stolz war eben größer als mein Verstand gewesen. »Kommt nicht noch einmal vor, okay?«, gab ich etwas schnippig zu verstehen, dass ich die Kritik verstanden hatte. »Okay.« Kiyoshi ging noch eine Weile stumm neben mir her, bis er das Gespräch wieder aufnahm. »Wer war das eigentlich? Du schienst sie zu kennen«, fragte er. Ob aus Neugierde … oder aus anderen Gründen konnte ich nicht aus seiner Tonlage schließen. »Natasha heißt sie. Sie geht in meine Klasse. Ein bisschen nervig.« »Wieso unterhältst du dich dann mit ihr, wenn du sie nicht magst?« Ich seufzte leise. »Weißt du, Kiyoshi... Man kann den Leuten nicht immer den Arsch zeigen... Manchmal muss man auch lächeln, obwohl man nicht will.« »...« Sein Schritt wurde schlagartig langsamer. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wo er blieb, blickte ich in zwei verständnislose Augen. »Wieso wirst du immer gleich so vulgär? Wieso solltest du ihr dein Gesäß zeigen? Und was hat das mit Lächeln zu tun?« Schließlich blieben wir beide stehen. Für einen Moment überlegte ich, ob er Witze machte oder das eine ernstgemeinte Frage war. Doch je länger ich in seine verwirrten Augen sah, schüttelte ich vorsichtig den Kopf. Alles, was ich für seine Frage übrig hatte, war ein müdes Lächeln. »Schon okay, Kiyoshi. Das ist nicht so wichtig...« Manchmal glaubte ich, dass er wirklich ein paar Jahre wegen Krankheit verloren hatte und deswegen sozial inkompatibel war. »Lass uns weiter gehen, Natasha wird uns in Ruhe lassen.« Als ich mich wieder in Gang setzte, folgte Kiyoshi nur missmutig. Man konnte nicht abstreiten, dass er nicht gut gelaunt war. Aber man konnte es ihm nicht übel nehmen. Weit von zu Hause weg in einer Umgebung, die man nicht mag mit seinem komischen Bruder. Konnte ich doch allzu gut ein Lied von singen.   Lustlos trotteten wir weiter durch die Mall, bis ich Kiyoshi in einen meiner Läden zog. Schwarze Klamotten, wohin das Auge blickte. Nieten, Schnallen, Leder und Latex. Kiyoshi verdrehte nur die Augen und schlurfte durch die Gänge; fasste hier und da mal einen Schuh oder ein Oberteil an. »Ich weiß immer noch nicht, was du hier dran so toll findest.« »Ich steh halt drauf«, sagte ich schulternzuckend und sah mir ein paar Ledermäntel an. Ehrfürchtig strich ich über die Ärmel. Nicht so mein Ding, aber cool waren sie. Doch je länger ich diese langen Mäntel betrachtete, desto unwohler wurde mir. Vincent...   Auf einmal lachte Kiyoshi leise auf, während er neben der Kasse einen Korb mit Kleinigkeiten betrachtete. Eine kleine schwarze Verpackung zog seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. Neugierig kam ich auf ihn zu. »Was ist das?« »Irgendwas aus Latex. Ich glaube Strümpfe … die man über das Knie zieht.« Sofort zuckte ich erneut mit den Schultern, während Kiyoshi sie in die Hand nahm und weiterhin grinsend betrachtete. »Und was ist daran so witzig?« »... Dieser Laden hat nur Männerklamotten...?«, antwortete er mir in einer Frage und kicherte, als würde er das erste Mal etwas Schmutziges sagen. Ich sah in Kiyoshis Augen und hob eine Augenbraue. Seinen Humor konnte ich ausnahmsweise mal nicht teilen. »... Und?« »Wie und? So was tragen doch keine Männer!«, lachte er noch immer amüsiert, doch wesentlich unsicherer als zuvor. Als ich weiterhin keine Mimik verzog, versiegte sein Lächeln. »Würdest du etwa so was tragen?«, fragte Kiyoshi schließlich und hielt mir die schwarze Packung hin. »Ich nicht … Aber ...« Vorsichtig nahm ich die Packung in die Hand und betrachtete das Bild der Frau, die die langen Latexstrümpfe leicht bekleidet trug. »... dir würden sie sicher gut stehen ...mit deinen dünnen Beinen.« Kiyoshis Augen weiteten sich um das doppelte. Es dauerte einen Moment, bis er aus seiner Starre brach und eingeschnappt Luft holte. Mit einem Mal riss er mir die Strümpfe aus der Hand und pfefferte sie wieder in den Korb, wo er sie herhatte. »Du hast ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!«, brüllte er fast schon zu laut durch den Laden und verließ diesen schlagartig. Der Typ hinter der Kasse grinste nur vor sich hin, ich zuckte mit den Schultern und folgte Kiyoshi recht amüsiert aus dem Laden. »Komm schon, war'n Witz«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. Erst, als ich ihn eingeholt hatte und einen Arm um seine Taille legte, blieb er stehen. »In jedem Witz steckt ein Funken Wahrheit«, bemerkte er spitz, was bei mir nur ein Augendrehen auslöste. »Und wenn schon! Nimm's als Kompliment, dass ich der Meinung bin, dass es dir stehen würde!« »Du hast echt einen komischen Geschmack! Ich bin doch keine Hure!« »Oh bitte, Kiyoshi... Natürlich bist du keine Hure; du bist ein Mann. Wenn, dann bist du ein Call Boy«, benannte ich die Dinge beim Namen und zwinkerte ihm belustigt zu. Doch alles, was mir dieser Witz erntete, war ein Seitenhieb in den Magen. »Call Boy? Und woher weißt du das so genau, hm? Hast du schon mal einen angerufen?« Da lachte ich los. »Wie kommst du denn jetzt darauf? Immerhin weißt du, was ein Call Boy ist... « Kiyoshi zog sich von mir weg und verschränkte die Arme. »Natürlich weiß ich, was ein Call Boy ist. Hältst du mich für dumm?« »Nein, Kiyoshi«, seufzte ich und winkte ab. »Ist gut, ich mein's doch nicht böse...« Kiyoshi war eben nur hin und wieder ein wenig weltfremd. Ich hätte ihm zugetraut, dass er noch nie etwas von einem Call Boy gehört hätte. »Dann sag so etwas nicht ...«, murmelte er schließlich, als würde er sich versöhnen wollen. Dankend nahm ich diese Geste an und streichelte seinen Rücken. »Ich behalte es das nächste mal für mich. Dachte nur, ich sage dir, was ich sexy an dir fänd.« Mit zusammengekniffenen Augen ließ sich Kiyoshi weiterziehen. Ich musste nicht raten, um zu sehen, dass er die Idee mit den Strümpfen gar nicht gut fand. Aber für jemand, der sich wahrscheinlich auch noch nie einen Porno angesehen hatte … wusste er zumindest schon einmal, zu welchen Anlässen man solche Kleidungsstücke tragen würde.   Je weiter wir die Mall entlang gingen, desto mehr nahm die Stimmung ab. Mit jedem Schritt, den wir tätigten, wuchs der Hunger und das Unbehagen, weiterhin unter Menschen zu sein. Irgendwann spürte ich Kiyoshis Hand an meinem Ärmel. »Gehen wir heim? Mutter wird sicherlich schon auf uns warten.« Ich nickte und trottete mit ihm zur Straße. Ein erleichterndes Gefühl machte sich breit, sobald wir die viel besuchte Mall verließen. »Laufen wir? Es ist nicht so weit.« Ohne auf eine Antwort zu warten, spannte ich den Schirm auf und ließ Kiyoshi sich bei mir einhaken. Es stand einfach nicht zur Debatte, ob wir laufen oder fahren würden. Die Fahrt in die Stadt endete schon im Fiasko. Dann würde sich die Fahrt zurück als ebenfalls problematisch darstellen, so viel war klar.   Schweigend liefen wir nebeneinanderher. Die Stimmung erreichte ihren Tiefpunkt, als wir ein anderes Pärchen händchenhaltend vor uns herlaufen sahen. Sie küssten sich hin und wieder, scherzten und hatten ein Eis in der Hand. Ich spürte, dass Kiyoshi dieses Paar ebenfalls anstarrte. Nicht, weil er Hunger hatte, sondern, weil er sie beneidete. Ich tat es ihm gleich. Je länger ich auf die beiden starrte, desto großer wuchs in mir der Hass auf diese Welt. Wieso durfte ich nicht mit ihm solche Dinge tun? Ihn küssen, wann ich wollte? Mit ihm hausieren gehen, wann mir danach war? Der ganzen Welt zeigen, dass er mir gehörte?   Irgendwann sah ich einfach zur Seite.   Mein Herz wurde auf einmal so schwer, dass ich das Gefühl hatte, keinen Schritt mehr tätigen zu können. Als ich mit Vater und Kiyoshi damals in die Stadt gefahren bin, war die Stimmung noch gut. Ich war noch ein Mensch. Kiyoshi ein Stoffel. Und Vater wie immer heuchlerisch gut gelaunt. Und das war nicht mal eine Woche her. Auf einmal sehnte ich mich nach dieser Zeit. Auf einmal wollte ich wieder zurückgehen.   Bisher hatte ich nur Ärger. Mit Kiyoshi, mit Mom und mit Natasha. Und auf den baldigen Abend freute ich mich ebenso wenig: Das Gespräch. .. Auf einmal wirkte die Villa im Wald nicht mehr so abstoßend. Ganz im Gegenteil: Ich verband mit ihr Gefühle, die so stark waren, dass ich sie vermisste.   Nach fast einer halben Stunde Schweigen erreichten wir unseren Wohnkomplex. Müde schloss ich die Tür auf, um Kiyoshi Einlass zu gebieten. Als wir vor dem Aufzug standen und gemeinsam auf die silberne Tür starrten, ergriff ich das Wort. »Am Besten... ich hole uns unbemerkt zwei Gläser mit Wasser und … wir trinken erst einmal was. Dann wird Mom sicherlich schon zum Essen rufen und uns darauf ansprechen.« Kiyoshi sah zu mir. »Worauf?« »Auf uns.« »Oh, achso … ja.« Er sank seinen Blick und stieg in den sich öffnenden Aufzug. Fast schon lässig lehnte er an der Aufzugwand. Als sich die Türen schlossen, drehte ich mich erschöpft zu Kiyoshi. Er sah mir ebenso müde in die Augen, rang sich aber ein Lächeln ab. »Wird schon, hm?«, versuchte er die Stimmung zu verbessern. »Ich weiß noch nicht, was ich ihr sagen soll ...« Mit einem Murmeln sah ich wieder zu Boden. »Das weiß ich auch nicht. Ich würde es vom Gespräch abhängig machen.« »Ob wir uns Outen oder nicht?« Kiyoshi schüttelte den Kopf. »Das wissen die beiden doch schon. Eher … ob wir versprechen damit aufzuhören oder uns quer stellen.« »Querstellen«, wiederholte ich leise und seufzte. Egal, wie das Gespräch ablaufen würde, Mom würde kein Querstellen dulden. Und Vater schon drei Mal nicht. Es würde auf ein Versprechen hinauslaufen, sich zu trennen. Natürlich für die Eltern. Für das Wohl der Familie. Für unser Wohl.   … Als würden die das nicht raffen, dass ich trotzdem noch mit Kiyoshi mein Techtelmechtel abhalten würde.   Als wir die Wohnung betraten, herrschte unangenehme Stille. Die Luft war mit einer feinen Essensnote geschwängert, die aus der Küche kam. Vorsichtig ging ich auf die geschlossene Tür zu und schob sie aus. »Mom? Wir sind wieder da.« Sie stand mit Kochlöffel in der Hand am Herd und drehte sich relativ gelassen zu mir um. »Und? Hat es Kiyoshi gefallen?« Etwas erleichtert über ihre weniger gereizte Antwort, öffnete ich die Tür komplett und trat in die Küche. »Ja, doch, ich denke schon. Wir haben uns erst mal nur die Mall angeschaut.« »Aber die Innenstadt ist doch viel schöner, als die dumme Mall, Hiro. Hättest du ihn doch lieber bei dem schönen Wet-« Da machte es wohl in ihrem Kopf „Klick“ und sie verstand, wieso wir in die Mall gegangen sind. Ein leises Seufzen entfuhr ihren Lippen, während sie im Topf rührte, als wäre ihr jetzt erst wieder eingefallen, was Kiyoshi eigentlich ist. »Was gibt es denn Leckeres?«, fragte ich, sichtlich enttäuscht, dass ich es sowieso nicht essen werden kann. »Chili. Das magst du doch so gerne.« In der Tat mochte ich das gerne, doch würde es unberührt auf meinem Teller bleiben müssen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken einfach eine kleine Tablette in meinen Teller zu werfen, sodass das Chili seine ganz besondere Note finden würde, doch als ich mich an die blutrote Farbe, die auch mit den Tabletten kommt, erinnerte, verwarf ich den Gedanken, da mir keine Ausrede einfiel, wieso mein Chili auf einmal blutrot wäre. Vorsichtig streichelte ich Moms Rücken und nickte ihr zu. »Sieht echt super aus, danke.« Sie zuckte zusammen. Ob es wegen meinem „Danke“, welches so selten fiel, oder wegen der elektrisierenden Berührung war, wusste ich nicht. Doch in dem Moment, wo ich die Küche verlassen wollte, zischte sie mir einen kurzen Laut zu. Ich drehte mich um und sah an einem Andeuten mit dem Kinn, dass ich die Tür schließen sollte. Etwas verwundert tat ich, wonach verlangt war und bekam schlagartig Herzrasen. Sie wollte mich doch nicht jetzt schon zur Rede stellen, oder? Das würde sie nicht tun! Das wäre gemein, vollkommen unvorbereitet! »Wenn wir heute Abend essen... Was soll ich Kiyoshi hinstellen?«, flüsterte sie mir zu. Puh ... Erleichtert über die Frage, entließ sich eine gewaltige Menge Luft aus meiner Lunge und lächelte zaghaft. »Ein Glas Wasser reicht schon. Er ist da genügsam.« »Okay.« Mom nickte und rührte weiter in ihrem Chili. Das war's? Keine doofe Frage wegen vorhin?   »Hiro … vorhin, da«, begann sie. Ahja. Doch noch was. »Ja?«, fragte ich sichtlich nervöser und räusperte mich kurz. »Tut mir Leid, dass ich so ruppig war. Ich wollte dich nicht so anschnauzen. Aber … es ist nicht leicht... das Kind, welches ich seit 18 Jahren nicht mehr gesehen habe, nun auf einmal hier in meiner Wohnung zu hüten.« Sie sah verstohlen zu mir rüber. »Er ist schon komisch, findest du nicht?« Meine Augenbrauen schoben sich wie automatisch zusammen. »Mom, er ist dein Sohn. Und klar, er ist anders, aber nicht komisch.« Hätte sie mich das vor einer Woche gefragt, hätte ich ihr unumwunden zugestimmt. »Natürlich und ich weiß, dass... er sich sehr bemüht, aber diese Aura... Wenn er dabei ist... Ich fühle mich einfach noch nicht wohl.« Ich nickte verständnisvoll und lächelte, während ich mich an den Küchentresen lehnte. »Kann ich verstehen, Mom. So ging's mir am Anfang auch. Weißt du, wie komisch es war gleich 3 Vampire im Haus zu haben? Haha ...«, lachte ich und trommelte auf der Küchenplatte. »Du hättest mich ruhig mal vorwarnen können.« »Wie hätte ich das tun sollen?«, schnauzte sie mich unvorbereitet an. »Ich hatte mit deinem Vater ausgemacht, dass ihr euch nur kennen lernt und du wieder gehst! Die ganze Wahrheitssache solltest du doch nie erfahren!« Mit einem starren Blick auf die Küchenplatte fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen. »Du wolltest mich also den Rest meines Lebens im Glauben lassen, dass ich ein ganz normaler Junge mit ganz normalen Eltern und einem ganz normalen Bruder bin? Oh – warte – ein ganze normales Einzelkind bin?« Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es nicht ihre Sache, das zu entscheiden. »Es wäre doch das Beste gewesen. Es hätte sich nichts geändert, du wärst ganz normal hier zur Schule gegangen und irgendwann arbeiten.« Als keine Antwort von meiner Seite kam, drehte sie sich zu mir um und legte den Kochlöffel weg. »Ich will nur das Beste für dich. Und als Menschen... sind wir zwei eben weit weg von alle dem besser aufgehoben, als … bei deinem Vater.« Ich schluckte kurz, seufzte leise und klopfte ein letztes Mal auf die Platte. »Hast du gewusst, dass Vater ein Vampir ist, als du ihn geheiratet hast?« Mom antwortete nicht. Ganz im Gegenteil – sie verzog den Mund, als wolle sie diese Frage nicht beantworten. Erst als ich zögerlich lächelte und den Blick wieder abwendete, merkte ich, dass es das erste Mal seit Jahren eine Frage war, die sie in Verlegenheit brachte. Noch nie hatte ich ein solches Gespräch mit ihr geführt. Über Familie, über Vater und Kiyoshi. Über Vampire. So absurd es in dem Moment erschien, so neugierig war ich auch auf ihre Antwort. »Nein«, antwortete sie schließlich, als hätte sie dieses Wort viel Überwindung gekostet. »Bis zu eurer Geburt wusste ich es nicht. Fudo hatte schon immer ein Talent... sein Geheimnis ein Geheimnis bleiben zu lassen.« Meine Augen weiteten sich. »Du wusstest es nicht? Du hast also all die Jahre mit einem Vampir zusammengelebt, mit ihm geschlafen und dir Kinder andrehen lassen? Und erst, als wir geboren wurden, wusstest du, dass er ein Vampir war?«, platzte es aus mir raus. Meine Mutter zuckte sofort zusammen und bekam ihre natürliche affektierte Art zurück. »Hiro, bitte! Sag doch so etwas vulgäres nicht!«, mahnte sie mich und ergriff wieder den Kochlöffel, als könne sie sich mit ihm verteidigen. »Wieso nicht? Mom, ich bin alt genug, um zu wissen, wie man Babys macht.« Sie schüttelte nur den Kopf und fasste sich an die Stirn. Für sie war es wohl auch keine einfache Sache nach all den Jahren offen über ihre Beziehung zu meinem Vater zu sprechen. »Ja, so war das halt. Aber man soll ja nicht immer so viel in der Vergangenheit kramen. Ich decke uns den Tisch, dann können wir essen«, verkündete sie wie ausgewechselt und stapelte schon Teller. Hinnehmend, dass das Gespräch beendet war, nahm ich zwei Gläser aus dem Schrank und ging mit einer Wasserflasche zurück ins Wohnzimmer, wo ich Kiyoshi auf meinem Bett sitzen sah. Leise betrat ich meine Abstellkammer und schloss hinter mir die Tür. »Und? War sie sauer wegen vorhin?«, fragte mein Bruder sofort und kam auf die Beine. Ich schüttelte den Kopf. »Nee, sie hat sich sogar für ihr Verhalten entschuldigt. Sie hat das Thema auch nicht angeschnitten. Na ja... trotzdem wird sie uns heute Abend zur Rede stellen.« Während ich die Gläser mit Wasser füllte, war ich mir auf einmal doch nicht mehr so sicher, ob sie uns gesehen hatte oder nicht. Entweder sie hatte uns gesehen und machte sich nichts draus … oder hat eben nichts gesehen und war deswegen relativ gelassen. »Sie ist nur ein bisschen verstört, weil wir hier einen sexy Vampir behausen.« Mit dem Satz zwinkerte ich Kiyoshi zu und reichte ihm das Wasserglas, in dessen ich sofort eine Pille aus dem danebenliegenden Döschen reinwarf. »Zwei sexy Vampire«, verbesserte er mich und nahm das Glas grinsend an. Ich erwiderte noch sein Lächeln, küsste ihn kurz auf die Lippen und nahm mein Glas in die Hand. Mit schnellen Schlucken trank ich mein synthetisches Blut und spürte es wie einen Segen meine Kehle hinunterlaufen. Am Anfang hatte ich mich noch gegen diese Plörre gewehrt, nun durstete ich wortwörtlich danach. Es löschte meinen Durst. Es ließ mich wieder klar denken. Und die Stimmung hob es ebenso spürbar an.   Als Kiyoshi sein Glas geleert hatte und es wieder auf den Tisch stellte, ließ er sich auf mein Bett fallen und streckte alle Viere von sich. Mit offenen Armen sah er zu mir hoch. »Wenigstens Kuscheln«, bettelte er schon fast und sah mich eindringlich an. Wer könnte bei dem Blick schon nein sagen? Vorsichtig ließ ich mich zu ihm aufs Bett sinken, legte mich neben ihn und schlang feste die Arme um seinen dürren Körper. Während ich liebevoll über seine Arme strich, musterte ich die herausstehenden Knochen. »Hast du wieder abgenommen?«, fragte ich vorsichtig. Kiyoshi zog nur die Schultern hoch. »Keine Ahnung.« »Du siehst nur so dünn aus... Dünner als sonst. Kannst du überhaupt zunehmen?« »Ja, schon. Aber nur, wenn ich menschliches Essen mit Blut zu mir nehme. Also Dinge, wo Fett und Kohlenhydrate enthalten sind.« »Dann solltest du das mal tun ...«, forderte ich ihn auf und strich über die Knochen an seinem Rücken. »Mal schauen.« Vorsichtig verdrehte ich meine Augen und strich über seine Wange. »Vielleicht schaffen wir es, eine Tablette in das Chili zu schmeißen, ohne dass Mom es merkt. Dann gönnen wir uns nachher eine Schüssel, wenn sie im Bett ist.« »Es gibt Chili?«, fragte Kiyoshi nach und lächelte leicht. »Das sah immer ziemlich eklig aus. Aber es riecht lecker. So nach Gewürzen.« »Es ist auch wirklich lecker! Meine Mom macht das beste Chili überhaupt!«, lachte ich und spielte mit Kiyoshis Fingern. »Ich hol uns dann einfach zwei Teller, wenn sie im Bett ist und wir versuchen es mal.« Kiyoshi nickte und legte seinen Kopf auf meine Brust. »Ich versuch's. Vielleicht schmeckt es ja sogar gut.« »Davon bin ich überzeugt.«   Ich spürte regelrecht, wie ich mich entspannte, die Anspannung vom Tag verflog und ich Kiyoshis Nähe genoss. Das Kuscheln auf einer 90cm Matratze stellte sich in meinen letzten Beziehungen als außerordentlich schwierig heraus. Mit Kiyoshi schien noch die Hälfte der Matratze frei zu sein. Sachte strich ich über seine Arme. Die weiße Haut strahlte wieder wie frisch poliert. Nur einzelne weiße Härchen deuteten auf einen Organismus hin. Als Kiyoshis Atem auf meiner Haut aufhöre und ich ihm ins ruhende Gesicht sah, verspürte ich immer mehr den Drang, ebenfalls zu schlafen. Nicht mehr Atmen. Wie das wohl war? Einfach aufhören zu können? Keinen Herzschlag mehr zu haben? Tot zu sein? Je länger ich auf sein schlafendes Gesicht starrte, desto müder wurde ich. Doch kurz bevor ich auch meine Augen schloss, dachte ich an Mom, wie sie den Tisch deckte. Außerdem würde sie Kiyoshis Anwesenheit in meinem Bett in keinster Weise tolerieren. Sei es wegen der Inzucht- oder der Vampirgeschichte.   Etwas genervt, nicht schlafen zu können, erhob ich mich wieder und sah in Kiyoshis Augen, die sofort aufschlugen, als er Bewegungen vernahm. »Packen wir mal so langsam die Koffer aus, hm?«, schlug ich vor, doch erntete nur einen trotzigen Blick. »Nein, ich will noch ein bisschen deine Nähe«, quengelte er und streckte abermals seine Hände nach mir aus. Ein leises Lachen entfuhr meinen Lippen, als er an meinem Hemd zupfte und mich zu sich auf das Bett zog. »Na schön...«   Mit geschlossenen Augen kuschelte ich mich an Kiyoshi ran und genoss sein langsames Fingerspiel an meinen Haaren. Je länger wir dort lagen, desto mehr stieg in mir ein Gefühl der Angst. Oder Unruhe. Wie aus dem Nichts.     Dass das nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen wäre. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)