Yasashikunai Mirai von Harulein (Tsuzuku x Meto) ================================================================================ Kapitel 16: [Tsuzuku] Act 16 ---------------------------- Als ich aufwachte, wusste ich erst gar nicht, wo ich war. Ich lag nackt in einem weißen Futon, in einem Raum, der mir auf den ersten Blick fremd erschien, und hörte aus einem anderen Raum nebenan Tellerklappern und leise Stimmen. Erst ein Blick auf die umfangreiche Bambi-Sammlung auf dem Regal neben dem Fernseher brachte Klarheit und ließ mich wissen, dass ich in Koichis Wohnzimmer lag. Langsam und mit zunehmend dröhnendem Kopf richtete ich mich auf, und ebenso langsam kehrte meine Erinnerung an gestern Abend zurück. An das, was in der Kneipe passiert war, und daran, dass Meto und ich danach zu Koichi nach Hause mitgekommen waren. Wir hatten anscheinend noch einen Film geschaut und ich musste irgendwann eingeschlafen sein. Und später in der Nacht dann war noch irgendwas gewesen, ich erinnerte mich an Wärme und an Zärtlichkeiten, welche die entsetzliche Leere für ein paar Augenblicke aus meinem Herzen vertrieben hatten. Ich suchte unter der Bettdecke nach meinen Shorts, fand sie und zog sie schnell an, schälte mich aus dem Futon und hob meine Jeans auf, um sie ebenfalls anzuziehen. „Meto?“, rief ich nach meinem Freund. Er kam aus der ans Wohnzimmer grenzenden Küche, wo ich Koichi mit Mikan reden hörte, und lächelte mich an. „Hast du ausgeschlafen?“ „Hab Kopfschmerzen“, antwortete ich und drückte meinen Handballen gegen meine Stirn, die sich anfühlte, als würde von innen etwas gegen den Knochen hämmern. Seltsam, denn ich konnte mich nur an zwei Bier gestern erinnern, und das reichte normalerweise nicht, damit ich solche Kopfschmerzen bekam … „Frag mal Koichi, vielleicht hat er Kopfschmerztabletten da“, sagte Meto. „Ansonsten gehen wir nachher an einer Apotheke vorbei und holen dir welche.“ Er sah mich einen Moment lang einfach nur an, dann fragte er: „Und wie geht’s dir sonst? Ist die Leere grade … weg?“ Ich fühlte kurz in mich hinein und antwortete dann: „Ich merk sie zumindest gerade nicht.“ „Und möchtest du was essen?“, fragte er dann. Ich schüttelte den Kopf, hatte wieder einmal überhaupt keinen Hunger. „Nicht mal ein kleines bisschen was?“, fragte Meto. „Nein … Ich hab das Gefühl, dass mir schlecht wird, wenn ich was esse.“ Ich zog mich fertig an, ging dann mit in die Küche und setzte mich zu Koichi und Mikan an den Tisch, auch wenn ich nicht vorhatte, etwas zu essen. Wieder kam mir das Essen, was auf dem Tisch stand, nicht wirklich wie etwas Essbares vor, ich fühlte eine Art Distanz dazu und, dass ich jetzt nichts davon würde zu mir nehmen können. Es war frustrierend, dass mein Essverhalten wieder so stagnierte, aber ich fühlte mich absolut nicht so, als könnte ich jetzt etwas daran ändern. Koichi hatte tatsächlich eine Kopfschmerztablette da, die ich mit einem Glas Wasser herunterspülte, mehr nahm ich nicht zu mir. „Willst du … echt nichts essen?“, fragte Mikan mich vorsichtig, als ich keine Anstalten machte, mir etwas zu nehmen. Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht später …“, sagte ich, mehr um meine Freunde zu beruhigen. Meto sah mich besorgt an und ich lehnte mich an seine Schulter, fühlte mich furchtbar müde und antriebslos. Er legte seinen Arm um mich, streichelte meine Seite und hauchte einen Kuss auf meinen Kopf. Mir war nach Weinen zumute, doch ich wollte nicht, dass Koichi und Mikan mich schon wieder so aufgelöst sahen, und so riss ich mich innerlich mit aller Kraft zusammen. Doch das brachte nur kurz etwas, und Minuten später spürte ich die erste Träne meine Wange hinablaufen. „Tsuzuku? Hey, was ist denn los?“, fragte Koichi sofort besorgt. Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht …“ Ich wusste es wirklich nicht. Es gab keinen bestimmten Auslöser, ich fühlte mich einfach nur furchtbar und wollte am liebsten in ein Loch im Boden verschwinden. Meto hielt mich, zog mich näher an sich und nahm dann mein Gesicht in seine Hände, um meine Tränen weg zu küssen und dann seine Lippen ganz sanft auf meine zu drücken. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als ich wieder an dieses Wort denken musste, den Grund, warum ich mich leer und einsam fühlte, nicht aß, und ständig emotional zusammenbrach. Ich hatte das Gefühl, als ob es mit mir immer schlimmer wurde, und in diesem Moment tat mir dieses Wort Borderline wieder furchtbar weh. Vielleicht sollte ich, falls ich heute überhaupt arbeiten ging, danach zu Hitomi gehen und mit ihr darüber sprechen. Denn zu einem Psychiater oder Psychologen traute ich mich immer noch nicht. Mit einer guten Freundin, die solche Dinge von sich selbst nur allzu gut kannte, über so etwas zu reden, war einfach etwas ganz anderes, als zu jemandem ‚vom Fach‘ zu gehen und vor dem mein kaputtes Seelenleben auszubreiten. Metos Nähe sorgte dafür, dass ich mich bald wieder ein klein wenig besser fühlte, zumindest so weit, dass ich mich doch dazu entschließen konnte, heute arbeiten zu gehen. Ich wollte nicht so oft dort fehlen und außerdem würde mir zu Hause eh nur die Decke auf den Kopf fallen. Zwar konnte ich immer noch nichts frühstücken, aber eine Zigarette und ein Glas Cola reichten aus, damit ich wach genug war, mich für die Arbeit fertig machen zu können. Obwohl ich mich immer noch nicht wirklich gut fühlte, beschloss ich, es mit der Arbeit heute wenigstens zu versuchen. Auch, weil ich wusste, dass Herumsitzen und Nichtstun meinen Zustand sicher nicht verbesserte. Koichi und Meto fuhren zum Café, Mikan zu ihrer Arbeitsstelle, und ich also ins Studio, hoffend, dass ich die Arbeit heute halbwegs hinbekam. Ich würde heute nur einfache Aufgaben übernehmen, nichts Kompliziertes oder Verantwortungsvolles. Als ich beim Studio ankam und mich auf meinen Platz setzte, kam Takashima auf mich zu und fragte, wie es mir ging. Er hatte gestern bemerkt, wie meine Euphorie plötzlich abgekühlt war und ich mich wieder nicht gut gefühlt hatte, und wir hatten ein wenig über das gesprochen, was bei mir gerade los war. „Geht so …“, antwortetet ich und klappte meinen Skizzenblock auf, nahm einen Bleistift und begann, irgendwas flüchtig hinzuzeichnen. „Und … es ist echt nur dein Gefühl, was nicht mitspielt?“ Ich nickte, sah ihn aber nicht an. „Nachher gehe ich vielleicht noch zu Hitomi, sie besuchen und ein bisschen reden.“ Takashima lächelte. „Das ist gut, das hilft dir bestimmt.“ Im Verlauf des Arbeitstages bemerkte ich, dass mir die Arbeit guttat. Es war einfach gut, etwas zu tun zu haben und nicht über mein Leben nachdenken zu müssen, sondern nur über das, was ich gerade tat. Ich zeichnete unheimlich viel, hatte auch einige Aufträge für Entwürfe, und die waren überwiegend eher dunkel und unheimlich, gefielen mir und es machte Spaß, die Motive auszuarbeiten und schon mal probeweise auf Tierhaut zu stechen. Das Summen der Nadel hatte eine beruhigende Wirkung auf mich, weil ich mir dabei vorstellte, wie ich selbst ein neues Tattoo bekam und mir diesen Schmerz ins Gedächtnis rief, der jeden Druck von mir nahm und mir so guttat. Mir war klar, dass das krank war, aber in diesem Moment war mir das ziemlich egal. Mittags war ich ziemlich erschöpft, weil ich mich doch sehr in die Arbeit vertieft und nur meine üblichen, kurzen Zigarettenpausen gemacht hatte. Ich fühlte mich jedoch insgesamt besser, und erwischte Kurata in einem günstigen Moment, um ihn zu fragen, ob ich den Nachmittag frei machen konnte. Er ließ mich gehen, und ich setzte meinen Plan, Hitomi zu besuchen, in die Tat um. Ich traf sie vor der Klinik, sie saß auf einer Bank und rauchte. Als sie mich bemerkte, blickte sie kurz auf. Sie wirkte müde und nachdenklich, nicht so lebhaft wie beim letzten Mal. „Hey, Tsu …“, sagte sie leise, nahm einen Zug von ihrer Zigarette und blickte dann wieder an mir vorbei. Es war heute schon ein bisschen wärmer und sie trug eine graue Strickjacke mit dreiviertel langen Ärmeln, so dass ich die Narben auf ihren Unterarmen sehen konnte. Ich setzte mich neben sie und sah sie eine Weile lang einfach nur an. Anscheinend ging es uns beiden heute nicht so wirklich gut. „Wie geht’s dir, Tsu?“, fragte Hitomi irgendwann. Ich brauchte einen Moment, bis ich antworten konnte, diese Frage war nicht einfach zu beantworten. „Eigentlich müsste ich richtig glücklich sein“, sagte ich. „Ich hab Meto einen Heiratsantrag gemacht, er hat ‚Ja‘ gesagt und bis gestern Morgen war ich auch richtig glücklich, aber dann … Kennst du das, wenn sich alles auf einmal in Nichts auflöst und nur noch Leere übrig bleibt?“ Hitomi nickte. „Ja … Das kenn ich nur zu gut …“ „Kann man denn …“, fragte ich, „… irgendwas dagegen tun?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich. Es gibt zwar Medikamente, die das abmildern sollen, aber nicht mal da hast du ‘ne Garantie, dass sie wirken. Oder Alkohol … manchmal bringt das was, aber oft genug auch nicht und außerdem … sich zu betrinken ist auch nicht gerade klug.“ „Das hab ich gestern auch versucht …“, sagte ich. „Aber vom Alkohol ist es nur schlimmer geworden.“ „Eben. Man weiß nie, wie so was wirkt.“ Hitomi nahm einen Zug von ihrer Zigarette und fügte dann hinzu: „Ich schlucke drei Tabletten jeden Tag und trotzdem geht’s mir heute einfach nicht gut.“ „Kannst du denn … beschreiben, was in dir los ist?“, fragte ich vorsichtig. Sie schüttelte den Kopf. „Zumindest nicht so richtig.“ Sie nahm wieder einen Zug Rauch und fuhr dann mit einer seltsam ironisch klingenden Stimme fort: „Chronische Einsamkeit, innere Leere, Ritzdrang, Hass, Wut, Angst. Ach ja, und ich fühl mich ausgeliefert. Meine Gefühle jagen mich durch meine Innenwelt und ich kann nicht weg.“ Ihre Hand krampfte, ließ die Zigarette fallen, und sie trat sie mit plötzlicher Wut aus. Es war wie ein Spiegel. Ich erinnerte mich an die zerbrochene Fensterscheibe in der Schule früher und an die zersplitterten Glasflaschen im Park. An meine eigenen plötzlichen Wutanfälle, mein unbeherrschtes Temperament. „Ich kenn das“, sagte ich. „Weiß ich.“ „Hilft dir das, dass ich weiß, wie du dich fühlst?“ „Irgendwie schon …“ Hitomi schwieg eine Weile und sagte dann: „Tsuzuku, du weißt, was du für ein wahnsinniges Glück mit deinem Freund hast, oder?“ Ich sah sie an und nickte. „Ja, das weiß ich.“ „Ich würde das wahrscheinlich gar nicht hinbekommen, so fest und lange mit jemandem zusammen zu sein“, sagte sie. Ihr Blick ging in die Ferne und ihre Stimme klang jetzt traurig und nachdenklich. Ich fragte mich, wie ihr bisheriges Leben wohl ausgesehen hatte, ihre Vergangenheit: Wie war sie auf der Straße gelandet, was für Freunde hatte sie gehabt, was für eine Familie? „Warum denn nicht?“, fragte ich auf ihre Worte hin. „Ich bin nicht beziehungsfähig. Mich hat noch kein Mann länger als ein halbes Jahr lang ausgehalten.“ Hitomi klang traurig, beinahe wieder wütend und so resigniert, dass ich sie am liebsten umarmt hätte. „Ich fühle mich durchgehend einsam, aber ich kann nichts daran ändern. Es geht nun mal nicht mit mir und dem, was man so Liebe nennt.“ „Versuchst du’s denn noch?“, fragte ich leise, rückte näher zu ihr und sah sie an. Hitomi schüttelte den Kopf. „Ich hab mir das selbst verboten. Jede gescheiterte Beziehung reißt das Loch in mir größer und wenn ich noch ein bisschen leben will, sollte ich das besser lassen.“ Auf einmal klang sie ganz kühl und sachlich, so, als ob sie sich selbst von außen beobachtete. Das Wort ‚Borderline‘ hing geradezu greifbar in der Luft, und ich fühlte mich eigenartig, mein Herz kribbelte. Einen Moment später fühlte ich Hitomis schmalen Körper in meinen Armen, ihr Haar kitzelte meine Nase. Sie keuchte überrascht und erst dann wurde mir klar, dass ich es schon wieder getan hatte. Sofort löste ich mich von ihr, ging auf Abstand und entschuldigte mich. „Ist schon okay“, sagte sie. „Ich weiß ja …“ Eine unangenehme Stille entstand zwischen uns. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wusste aber, dass diese Umarmung, wären wir in Europa gewesen und beide keine Japaner, etwas völlig normales gewesen wäre. Einfach eine Umarmung unter Freunden. Doch hier, in Japan, in unserer Gesellschaft, war es nicht üblich, sich als Freunde einfach so zu umarmen. Und so machte es unser Anders-sein deutlich und weckte in meinem Kopf das Wort ‚impulsiv‘. Irgendwie bemerkte Hitomi meine Unsicherheit. Sie kam näher und legte ihre Hand auf meine. Sagte nichts, doch in ihrer Berührung lag etwas, das mir ein gutes Gefühl gab. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass ich sie ja etwas hatte fragen wollen. Sie kannte hier in der Klinik sicher mehrere Psychologen und Psychiater. „Sag mal …“, wechselte ich also das Thema, „Du kennst hier ja sicher einige Psychologen und so weiter … Ich wüsste gerne, wie man mit solchen Leuten vom Fach am besten redet. Weil … irgendwann muss ich da ja mal hin und … ich hab ziemliche Angst davor.“ „Tsu, das ist ‘ne gute Frage …“, antwortete Hitomi. „Ich hab das auch noch nicht ganz raus. Meine eine Therapeutin, bei der ich die Gruppe habe, ist ziemlich furchtbar, ich hab keine Ahnung, wie ich mit der klarkommen soll. Und die anderen beiden … na ja, die sind ganz nett, aber ich hab nicht das Gefühl, dass die mir wirklich helfen können.“ Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Wenn du meinst, dass du anders nicht klarkommst und eine Therapie brauchst, ist das eine Sache, dann helfe ich dir, jemanden zu finden. Aber wenn du gerade noch alleine zurechtkommst, wenn’s noch geht, dann schieb das mit der offiziellen Diagnose und der Therapie noch auf. Gerade, wenn du sowieso Angst davor hast.“ „Ich weiß es nicht …“, sagte ich. „Ich hab das Gefühl, dass es im Moment schlimmer wird, aber ich hab einfach Angst.“ „Es ist halt auch leider so, dass man an die falschen Leute geraten kann, wenn man eine Therapie sucht. Zum Beispiel eben meine Therapeutin in der Gruppe, die ist furchtbar streng und eingebildet und hat null Einfühlungsvermögen für mich. Vor solchen Leuten muss man aufpassen.“ „Genau davor hab ich Angst …“, gestand ich. „Ich kenne eine Ärztin in der ‚normalen‘ Klinik und die würde mich an einen Psychiater weiterleiten, aber was, wenn ich mit dem nicht klarkomme?“ „Im schlimmsten Fall kriegst du ein richtig fettes Tief …“, sagte Hitomi. „Und das musst du verhindern. Lieber hilfst du dir selbst, als dass du einen Therapeuten vor dir hast, der dir nur Vorwürfe macht.“ „Aber … muss man nicht irgendwie eine Therapie machen?“, fragte ich unsicher. „Man muss selbst wissen, ob man für eine Therapie bereit ist. Wenn du Angst davor hast, bringt es nichts.“ Hitomi sah mich ernst an und ihre Hand streichelte über meine. Ich fühlte mich bei ihr ganz sicher und gut aufgehoben, und ich wusste, wenn ich etwas sagte, verstand sie es. Und dieses Verstanden-werden tat mir gut. „Tsuzuku?“, fragte sie nach einer Weile. „Magst du mich eigentlich?“ Ich nickte. „Klar mag ich dich.“ „So klar ist das nicht“, sagte sie. „Zumindest mag ich mich selber nicht so wirklich.“ „Ich mich selbst doch auch nicht. Aber … auch, wenn man sich selbst nicht mag, gibt es irgendwie immer jemanden, der einen trotzdem gern hat …“ Ich dachte an Meto und fühlte, wie mein Herz davon warm wurde. Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, und Hitomi lächelte mit ihrem scheuen Lächeln zurück. „Du denkst wieder an Meto, oder?“, fragte sie. „Ich freu mich echt für dich, dass du ihn hast.“ Meine Gedanken blieben bei Meto hängen und ich fühlte mich, als ob die Sonne endlich wieder zwischen den grauen Wolken durchkam und mich wärmte. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und genoss diese Wärme, die mich durchströmte und die Leere ein wenig vertrieb. Und dann war es wieder da, dieses rauschhafte Glücksgefühl von gestern Morgen, als ich auf mein Blog geschrieben hatte, wie glücklich ich mit Meto war und dass wir irgendwann heiraten würden. „Ich liebe ihn wahnsinnig“, sagte ich lächelnd. „Er ist mein Leben.“ Hitomi lächelte wieder. „Ich hab dir damals schon gesagt, ein Freund hält einen von der Grenze weg.“ Ich erinnerte mich sogar noch daran, wie sie das damals im Tempel zu mir gesagt hatte. Damals hatte ich ihre Worte erst noch nicht verstanden, doch kurz darauf war ich ja dahintergekommen, was sie mit ‚Grenze‘ meinte. „Wir waren zuerst beste Freunde, Meto und ich“, sagte ich. „Vorher, bevor ich ihn kannte, wollte ich eigentlich nur noch sterben. Aber seit er bei mir ist, nicht mehr. Ich hab ihn zu meinem Sinn im Leben gemacht.“ „Das ist schön, Tsu. Halt das fest, halt ihn fest, tu alles, damit ihr zusammen bleibt.“ „Das werde ich“, sagte ich und war mir in diesem Moment sicher, dass ich es konnte. „Und er wird bei mir bleiben, das hat er mir versprochen.“ Wieder schwiegen wir eine Weile. Ich beobachtete Hitomis Gesicht von der Seite, den wechselnden Ausdruck, dem ich entnehmen konnte, dass sie über viele verschiedene Dinge nachdachte. „Sag mal …“, brach sie schließlich die Stille, „…kennst du das auch, dass du manchmal einfach so, ohne Grund, wütend auf jemanden bist?“ Ich dachte an früher, als so etwas öfter vorgekommen war, und dann an die letzten Monate, wo ich das zum Glück nicht mehr so oft gehabt hatte. „Manchmal …“, antwortete ich. „Aber bei Meto zum Glück nur sehr selten.“ „Ich hab das oft.“ Hitomi blickte an mir vorbei und fügte dann hinzu: „Tsuzuku, falls ich das bei dir mal habe, dass ich ohne Grund wütend auf dich bin, dann denk bitte daran, dass ich das nicht mit Absicht mache. Nachher tut’s mir immer leid, aber ich bin eben so … so ‘ne Borderlinerin.“ „Ist okay, ich merk’s mir.“ Ich lächelte sie an, sie lächelte zurück und sagte: „Danke, Tsu, du bist echt ein Schatz.“ Irgendwann danach ging ich wieder nach Hause. Auf dem Heimweg fiel mir wieder ein, dass Haruna, Hanako und Yami ja inzwischen mit unserem Schlafzimmer fertig sein mussten. Meto war schon da, er stand wieder in der Küche und kochte, ich roch schon im Flur den Duft von Reis und Currysoße. Ich hatte heute noch nichts gegessen, mein knurrender Magen verlangte nach Nahrung, und so ging ich in die Küche und setzte mich auf meinen Platz. Meto drehte sich zu mir um, legte den Kochlöffel weg und umarmte mich. „Geht’s dir besser?“, fragte er. Ich nickte, lehnte mich an ihn und hörte sein Herz. „Ich war eben bei Hitomi.“ „Sie hilft dir gut, oder?“ „Ja.“ Das Fleisch in der Pfanne zischte und Meto wandte sich wieder dem Kochen zu. Ich sah ihm zu und versuchte, das lautstarke Verlangen meines Magens zu unterdrücken. „Vorhin hat hier jemand vom Krankenhaus angerufen. Du hast deinen Termin bei Dr. Matsuyama vergessen“, sagte Meto nach einer Weile. Den Termin hatte ich tatsächlich komplett vergessen. Aber da ich mich sowieso im Moment nicht imstande fühlte, das Krankenhaus auch nur zu betreten, fiel mein schlechtes Gewissen, weil ich es vergessen hatte, ziemlich gering aus. „Ich wäre sowieso nicht hingegangen“, sagte ich. „Hast du immer noch diese Krankenhaus-Angst?“ „M-hm …“ In dem Moment gab mein Magen ein eindeutiges Knurren von sich. „Tsu, wie lange hast du jetzt eigentlich nichts gegessen?“, fragte Meto und sah mich besorgt an. Ich zuckte mit den Schultern. „Heute noch nichts. Und gestern auch fast nichts.“ „Aber jetzt hast du Hunger, oder?“ Ich musste nichts sagen, mein Magen sprach für sich. Ich atmete tief ein, roch den Reis und das Curry, und auf einmal hatte ich riesigen Hunger. „Gib her!“ „Das Essen ist gleich fertig, mein Schatz.“ Als das Curry fertig war, stellte Meto es vor mich auf den Tisch und ich sog den berauschenden Duft ein, bevor ich mich auf das Essen stürzte und meinen Teller bis zum Rand mit Curryreis und dem in der Soße gegarten Geflügelfleisch füllte. „Nimm nicht zu viel“, warnte Meto mich. „Sonst wird dir am Ende wieder schlecht.“ Am liebsten hätte ich das Essen geradezu heruntergeschlungen, doch ich wusste, dass ich nach fast zwei Tagen ohne eine richtige Mahlzeit erst mal langsamer essen musste. „Hast du extra für mich gekocht?“, fragte ich zwischen zwei Bissen. „Ich dachte, wenn ich dir so ein richtig schönes Essen mache, dann kannst du gar nicht anders, als zu essen und dich zu freuen.“ Meto lächelte, dieses wahnsinnig süße Strahlelächeln, und füllte sich dann selbst etwas auf den Teller. „Ich liebe dich, weißt du das?“, antwortete ich mit noch vollem Mund, schluckte und schob mir den nächsten Löffel voll Reis mit Soße rein. Ich konnte gar nicht anders, als so zu schlingen, es schmeckte einfach zu gut und ich hatte solchen Hunger! Meto griff über den Tisch nach meiner Hand und hielt sie fest. „Tsu, iss mal langsamer. Du hast genug Zeit und keiner nimmt dir was weg.“ Und dann: „Wäre doch furchtbar schade, wenn du mein mit Liebe gekochtes Essen nachher wieder ausspucken müsstest.“ Das reichte, um mich zu bremsen. Ich legte den Löffel für einen Moment ab und atmete einmal tief ein und wieder aus. Meto hatte sich solche Mühe mit dem Essen gegeben, es mit ganz viel Liebe zubereitet, es war viel zu wertvoll, um es am Ende wieder auszukotzen. Viel mehr wollte ich es genießen, und glücklich sein, dass mein Liebster mich so schön bekochte. Und so aß ich dann langsamer weiter, ließ mir die scharf-süße Soße auf der Zunge zergehen und genoss sie. Nach dem Essen setzte ich mich mit dem Buch, das ich letztens in dem Gayshop gekauft hatte, ins Wohnzimmer und begann, es von vorne an zu lesen. Meto kam dazu, setzte sich neben mich und fragte, was ich da las, also las ich ihm eine Passage daraus vor, woraufhin er mich fragte, wo ich das Buch her hatte. „Ich war letztens in so einem Laden, in der Nähe von dem Sexshop“, antwortete ich. „Weißt du, ich musste mir mal klar darüber werden, wie ich denn jetzt eigentlich orientiert bin …“ „Und was ist dabei rausgekommen?“, fragte er und sah mich dabei an. „Ich finde Frauen nicht mehr anziehend. Aber … andere Männer als dich auch nicht“, sagte ich, wobei mir noch mal deutlich wurde, dass ich wirklich so empfand. Ich streckte die Hand aus und berührte Metos Wange, flüsterte: „Nur du kannst mich noch erregen. Ich will nur noch dich.“ „Nur mich …?“, fragte er leise. Ich nickte, streichelte seine Wange. „Du bist die Liebe meines Lebens, Meto. Vergiss das bitte nie.“ Auf einmal musste ich an Hitomis Worte über plötzliche, grundlose Wut denken. Ich hoffte inständig, dass so etwas zwischen Meto und mir nicht so bald passieren würde … Später abends dann lagen wir zusammen im Bett und hingen jeder seinen eigenen Gedanken nach. Ich blickte an die schwarze Wand und fand, dass zwei schwarze und zwei rote Wände ziemlich gut aussahen. Die Mädels hatten das letzte Stück Streichen gut hinbekommen und ich fühlte mich wohl in diesem Raum, der jetzt ein bisschen mehr nach mir aussah. Auf einmal fragte Meto: „Sag mal, Tsu … Als du dich in mich verliebt hast, hast du dir da nicht schon mal die Frage gestellt, ob du jetzt auf Männer oder Frauen oder beides stehst?“ Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Diese Frage hab ich mir erst viel später gestellt. In dem Moment, als ich erkannt habe, dass ich dich liebe, waren die Gefühle so stark, und ich so kaputt, dass ich gar nicht darüber nachgedacht habe.“ Meto lächelte. „Das ist schon ziemlicher Wahnsinn, diese Liebe …“ „Ja, das ist es. Ich hab so was in meinem Leben früher nie empfunden.“ Ich blickte wieder hoch an die Decke und einen Moment herrschte wieder Stille, dann fragte ich: „Und du? Ich meine, wusstest du schon immer, dass du nur Männer magst?“ „M-hm.“ Meto nickte. „Irgendwo war mir das schon als Kind klar. Ich hab mich immer gut mit den Mädchen verstanden, aber für mich war immer klar, dass ich mal mit einem Jungen zusammen sein wollte. Nur … na ja, irgendwann hab ich dann eben bemerkt, dass die Gesellschaft, die Leute um mich herum, dass die damit anscheinend ein Problem hatten. Ich wusste irgendwann, dass ich es vor meinen Eltern geheim halten musste.“ „Hm …“, machte ich leise, denn mir kam gerade ein bestimmter Gedanke, den ich vorher irgendwie noch nie so gedacht hatte, und ich sprach ihn einfach aus: „Meto, sag mal, kann es sein, dass dein Sprachfehler damit zu tun hat? Dass du einfach nicht mehr richtig sprechen konntest, weil du in dir diesen Zwiespalt hattest? Und deine Verspannungen, deine Unsicherheit, für mich sieht das so aus, als ob du … na ja, du hast ja vieles versteckt und geheim gehalten, da kann es doch sein, dass dein Körper auf diese Weise darauf reagiert hat?“ Er sah mich an und ich sah etwas in seinen Augen, die Erkenntnis, dass es so war. Dass er deshalb die Probleme mit dem Sprechen und die Verspannungen hatte, weil er so lange seine Orientierung versteckt und nicht richtig ausgelebt hatte. Es passte einfach, so sehr, dass ich mich fragte, wieso ich nicht schon viel früher darauf gekommen war. Vielleicht, weil ich so sehr mit mir selbst beschäftigt war und so viel zu kämpfen hatte, dass ich Metos Ängste und seine Probleme nicht richtig wahrnehmen konnte. Und auf einmal war sie da, die Gelegenheit, das zu ändern und mal für ihn da zu sein. Ihm zu zeigen, dass ich mich auch um ihn kümmern konnte, nicht immer nur er um mich. Denn je länger ich ihn ansah, umso trauriger sah er aus, und dann waren da Tränen in seinen Augen und er biss sich auf die Lippen. Ich rückte näher zu ihm und legte meinen Arm um ihn, es fühlte sich irgendwie neu und ein wenig seltsam an, weil es sehr lange her war, dass er vor mir wegen seiner eigenen Probleme geweint hatte. Und ich spürte deutlich seinen Wunsch, unbedingt für uns beide stark zu sein und uns beide zu halten. „Du musst nicht immer nur der Starke sein …“, sagte ich leise und strich ihm durch seine hellblau gefärbten Haare. „Ich liebe dich auch, wenn du mal Schwäche zeigst.“ Meto versuchte, die Tränen wegzublinzeln. „Tsu, ich … Weißt du, dir geht’s oft so schlecht und ich weiß, dass ich die Verantwortung für dich habe, dass du mich brauchst … Ich kann doch nicht …“ „… Vor mir auch mal in Tränen ausbrechen? Doch, das kannst du.“ Er schüttelte den Kopf, doch da liefen die Tränen schon über seine Wangen und es brauchte nur ein leises „Lass es raus“ von mir, damit er richtig zu weinen anfing. Ich umarmte ihn, zog ihn nah an mich und spürte seine Tränen auf meiner Haut, sein Zittern, seine Traurigkeit und dabei immer noch seinen unbedingten Wunsch, stark zu sein. „Ach Meto …“, sagte ich und streichelte über seinen Rücken, „Du darfst doch auch mal vor mir weinen. Das ist vollkommen okay.“ Und irgendwie hatte ich auf einmal auch Tränen in den Augen. „Ich will einfach nicht, … dass es dich verunsichert, Tsu …“, brachte Meto leise und mit zitternder Stimme heraus. Er sah mich an, sah die Tränen in meinen Augen. „Siehst du, jetzt weinst du auch schon …“ „Dann weinen wir eben zusammen.“ Als ich es aussprach, klang meine Stimme schon tränenerstickt, und ich fühlte, dass es meine Liebe war, die mich weinen ließ. Ich litt mit meinem Liebsten mit und irgendwie fühlte sich das ein bisschen gut an, weil ich ausnahmsweise mal nicht um mich selbst weinte. Und so lagen wir eine Weile einfach da und weinten zusammen, ich spürte die Nähe zwischen uns. Irgendwann löste Meto sich wieder von mir und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Beugte sich über mich, küsste mich auf den Mund und sagte: „Dankeschön, Tsu …“ „Dafür nicht.“ Ich lächelte und küsste ihn zurück. „Weißt du, nur weil ich so viel weine, heißt das noch lange nicht, dass du nicht das Recht hast, auch mal zu weinen.“ „Ich … wollte nur nicht, dass du siehst, dass ich … nicht immer so stark bin … Du sollst dich auf mich verlassen können, verstehst du?“ „Aber wäre es nicht furchtbar einseitig, wenn du nur immer für mich da wärst und nicht auch andersherum? Meto, ich liebe dich, und das bedeutet auch, dass ich auch mal für dich da sein will. So funktioniert Liebe. Ich bin zwar krank, okay, aber das heißt nicht, dass ich nicht auch mal deine Schulter zum Anlehnen sein kann.“ Meto stand auf, zog sich um, und ich tat es ihm gleich, dann legten wir uns wieder hin und er deckte uns beide zu. Ich fühlte mich gut, mein Herz war voller Liebe, und als mein Liebster begann, mich zu streicheln, seufzte ich leise, schloss die Augen und kuschelte mich eng an ihn. Da war keine innere Leere und keine Einsamkeit, keine Angst, nur Metos Hände auf meinem Körper, sein Herzschlag und seine Atemzüge, ich fühlte mich geliebt und sicher. Ich nahm seine Hand und sah den Verlobungsring an seinem Finger, das Zeichen, dass er sein Leben mit mir verbringen wollte. Dass er bei mir blieb, mich nicht verließ, egal, was passieren würde. Ich hob seine Hand an meine Lippen und hauchte einen Kuss auf den Ring, spürte mein Herz schlagen und war einfach glücklich. Meto griff mit der anderen Hand nach Ruana und schob sie zwischen uns, lächelte mich an, küsste mich und sagte: „Ruana ist irgendwie unser Baby. Sie und du und ich, das ist doch schon fast wie eine kleine Familie …“ Ich lachte, weil es irgendwie stimmte und weil er so süß war, wie er das sagte. „Irgendwie schon.“ Er ließ Ruana mit dem Köpfchen wackeln und sie mir ein Küsschen geben, sprach dann mit süß verstellter Stimme: „Ruana Tsu ganz doll lieb.“ „Ich hab dich auch lieb, Ruanalein“, antwortete ich und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf. Fühlte mich irgendwie wirklich so, als sei sie unser Baby und wir zu dritt eine kleine Familie. Ich hatte mich nie großartig für Kinder und Familiengründung interessiert, doch auf einmal war da dieses Familiengefühl in mir, nur dass es sich nicht auf ein Kind, sondern auf Ruana bezog. Ich wusste, wie wichtig sie für Meto war, und die Idee von uns dreien als kleine Familie gefiel mir. Auf einmal stand Meto wieder auf und lief aus dem Zimmer, kam wenig später mit seinem Handy in der Hand zurück. Er legte sich wieder zu mir und tippte irgendwas in das Gerät ein, dann hielt er es mir hin. Auf dem Bildschirm war ein buddhistischer Tempel zu sehen, welcher sich der Überschrift der Webseite nach in Kyoto befand. Und unter dem Bild stand, am Ende einer Reihe von Stichworten: „Angebot von gleichgeschlechtlichen Hochzeitszeremonien“ „Hast du das gewusst?“, fragte Meto, seine Augen leuchteten. „In Kyoto gibt es einige Tempel, wo wir heiraten könnten.“ Diese Information war mir neu. Ich wusste zwar, dass gleichgeschlechtliche Paare im Buddhismus anerkannter waren, doch dass es in Kyoto Tempel gab, die tatsächlich Hochzeiten für Paare wie uns anboten, hatte ich nicht gewusst. Ich war davon ausgegangen, dass wir zum Heiraten nach Thailand oder sogar bis nach Europa reisen müssten. Die Aussicht auf eine solche lange Reise hatte mir schon ein wenig Angst gemacht und so war ich doch sehr froh, dass wir, wenn auch eben nur in einem Tempel, auch in Japan würden heiraten können. „Dann fahren wir im Sommer nach Kyoto und heiraten“, sagte ich, fühlte mein Herz klopfen und legte meinen Arm um Meto, zog ihn nah an mich. „Du wirst ein wundervolles, weißes Kleid tragen, ich einen schönen Anzug, und Ruana kriegt ein Kleidchen passend zu deinem. Oder möchtest du auch einen Anzug anziehen?“ Es fühlte sich gut an, solche Hochzeitspläne zu machen und mir vorzustellen, wie es sein würde, unsere Liebe fest und ganz öffentlich zu machen. Meto schüttelte den Kopf und lächelte mich dann an. „Nein, ich würde gern ein Kleid anziehen. Ich mag mich in Kleidern.“ Er sah so glücklich aus, und der Gedanke, dass ich der Grund dafür war, schickte mir eine warme Welle aus gutem Gefühl durch den Körper. Und so beugte ich mich über ihn und küsste ihn, so liebevoll und zärtlich, wie ich es nur vermochte. „Ich liebe dich“, flüsterte ich in sein Ohr. „Ich dich auch.“ Meto lächelte wieder, so wahnsinnig süß, dass mir ganz warm davon wurde. Wir kuschelten uns eng zusammen, Ruana zwischen uns, ich legte meinen Arm um meine beiden Liebsten und irgendwann war ich eingeschlafen. Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, war es schon hell. Meto lag neben mir, er schlief noch, hatte Ruana im Arm und sah so wahnsinnig süß aus, dass ich nicht anders konnte, als erst ihm und dann unserem ‚Baby‘ einen Kuss zu geben. Da ich aber nicht vorhatte, ihn zu wecken, stand ich auf und ging zum Schrank, um mir Unterwäsche für heute rauszusuchen. Dabei fiel mein Blick aus dem Fenster und ich sah etwas, das ich entweder gestern nicht wirklich bemerkt hatte, oder das erst heute Nacht gekommen war: Gegenüber gab es einen kleinen, traditionellen Lebensmittelladen, neben dem stand ein Kirschbaum, und eben jener Baum hatte über Nacht in zartem Rosa zu blühen angefangen. Es sah wunderschön aus und ich blieb einen Moment am Fenster stehen, schaute hinüber und freute mich. Der Anblick der Kirschblüte fühlte sich für mich immer ein bisschen so an, wie wenn man als Kind im Winter morgens aus dem Fenster schaute und den ersten Schnee erblickte. Schnee hatte für mich seit meiner Zeit auf der Straße seinen Reiz verloren, doch die Kirschblüte als Zeichen des Frühlingsanfangs fand ich immer noch schön. Ich ging zum Bett zurück und schaute auf die Datumsanzeige des Weckers. Dieses Jahr waren die Kirschblüten recht früh dran, und noch dazu war heute Sonntag, was bedeutete, dass die ganze Stadt mehr oder weniger frei hatte und den Frühlingsanfang feiern würde. Vielleicht würden Meto und ich uns dem anschließen und auch in einen der vielen Parks gehen, um die rosa Blüten anzuschauen. Zuerst einmal ging ich jedoch duschen und mich schön machen. Ich hatte Lust auf schicke, auffällige Klamotten, auf Schmuck und auf Make-up, und so pflegte ich mich erst ausgiebig und zog dann Netzhemd und Lacksachen an. Die Sonne schien schon durchs Fenster herein und ich hatte das Gefühl, dass heute der erste schön warme Tag des Jahres sein würde. Mein Make-up fiel dagegen so dunkel aus wie immer und würde einen schönen Kontrast zu den rosa Kirschblüten bilden. Als ich fertig angezogen, geschminkt und mit schön gemachten Haaren vor dem Spiegel stand und mich betrachtete, hörte ich auf einmal eine Stimme, die mich mit meinem Taufnamen ansprach. Es fühlte sich an, als würde jemand neben mir stehen, doch da war niemand. Und es war Mamas Stimme. Einen Moment lang konnte ich nicht sicher sagen, ob ich sie nur in meinem Kopf hörte oder sie nicht doch irgendwie da war, ich hörte sie ganz deutlich und fühlte eine hauchzarte Berührung ihrer Hand auf meiner Schulter. „Du siehst schön aus, Genki.“ Ein leichtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Findest du?“, fragte ich und sah mich dabei mit leicht hochgezogener Augenbraue im Spiegel an. „Ja“, sagte Mamas Stimme. „Heute geht’s dir gut, oder?“ Ich nickte, das Lächeln auf meinen Lippen wurde etwas deutlicher. „Mach dir heute einen schönen Tag, mein Junge. Und vergiss nicht, dass ich immer bei dir bin. Ich sehe dich, jeden Augenblick deines Lebens.“ Ihre Stimme klang so liebevoll und warm, fühlte sich so echt an, als sei sie wirklich da. Ich blickte neben mich, wo sie meinem Gefühl nach hätte stehen müssen, und fragte: „Hast du auch gesehen, dass Meto und ich jetzt verlobt sind?“ „Ja, das habe ich gesehen“, antwortete sie. „Ich sehe alles, was du tust.“ „… Was bist du denn jetzt?“, fragte ich. „Das kannst du dir aussuchen“, sagte sie. Ich blickte in den Spiegel und sah ihr Gesicht wie einen ganz leichten, blassen Schatten neben meinem. Sie lächelte. Ich wusste keine Antwort auf die Frage, was Mama denn jetzt war, aber es war okay. Hauptsache, sie war irgendwie bei mir. In dem Moment wurde die Badezimmertür geöffnet, Meto stand im Schlafanzug vor mir und sah mich fragend an. „Tsuzuku, mit wem redest du?“ „Mit Mama“, antwortete ich. „Ich hab ihre Stimme gehört, sie hat mit mir gesprochen.“ Meto lächelte. „Und was hat sie gesagt?“ „Dass ich heute gut aussehe. Und … dass sie immer bei mir ist.“ Ich lächelte meinen Freund an, spürte, dass meine Augen strahlten. Meto sah mich einen Moment lang nachdenklich an, dann fragte er vorsichtig: „Hast du das öfter, dass du sie so … hörst?“ „Manchmal.“ „Und siehst du sie auch?“ „Ein bisschen. Nicht so richtig, aber so, dass es sich gut anfühlt.“ „Tsu … Ich glaube, das bleibt besser ein Geheimnis zwischen uns. Ich weiß nicht … was zum Beispiel ein Psychologe dazu sagen würde, wenn du dem erzählst, dass du deine verstorbene Mama sprechen hörst …“ Er sah mich ernst an. „Ich glaube dir, dass das nicht krank ist, aber solche Leute vom Fach glauben so was gerne mal nicht so.“ „Ich will sowieso erst mal keinen Psychologen. Ich brauch so was nicht. Ich hab ja dich und Ko und Hitomi. Und diese Gespräche mit Mama, die tun mir gut.“ „Das kann ich mir vorstellen, dass dir das guttut.“ Meto lächelte wieder. „Hast du schon die Kirschblüten gesehen?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln. „Nein. Sind sie schon draußen?“ „Guck mal im Schlafzimmer aus dem Fenster.“ Meto lief aus dem Bad zurück ins Schlafzimmer, um sich die Blüten anzusehen, und sobald er weg war, stand Mama wieder schattenhaft neben mir. Ich fühlte ihre Arme um mich und hörte ganz leise ihre Stimme: „Ich hab dich lieb, Genki.“ Dann verschwand das Gefühl der Berührung, ich hörte sie nicht mehr, sie war wieder weg. Doch sie ließ mich in dem Wissen zurück, dass sie immer irgendwie bei mir war und ich jederzeit mit ihr sprechen konnte. „Woah, Tsu, das sieht ja toll aus, die Kirschblüten!“, hörte ich Meto im Schlafzimmer rufen. „Ja, ne?“, antwortete ich. „Hast du heute eigentlich auch frei?“ „Glaub schon. Ich schau mal in meinen Planer.“ Ich verließ das Bad und ging in die Küche, zündete mir meine allmorgendliche Zigarette an und machte wie immer das Fenster auf. Hier auf der anderen Seite stand ebenfalls ein Kirschbaum in voller Blüte, und als ich mit Rauchen fertig war und sich der Nikotingeruch aus meiner Nase verzogen hatte, nahm ich auch den süßen Duft der Kirschblüten wahr. Meto kam dazu, hatte seinen Kalender in der Hand und sagte: „Ich hab heute frei. Wollen wir uns zusammen die Kirschblüten anschauen?“ Ich atmete noch einmal den Blütenduft ein, schloss dann das Fenster und ging auf Meto zu, umarmte ihn und fragte: „So ein richtig romantisches Kirschblütendate?“ Meto nickte, lächelte mich an. „Wir gehen in den Park und picknicken, und dann kommt ein Windstoß und du hast die Haare voller Blütenblätter.“ „Die du mir dann alle wieder raussuchst“, erwiderte ich lachend. „Mach ich doch gerne, mein Herz.“ Er küsste mich. „Und was soll ich anziehen?“ „Was du möchtest“, antwortete ich. „Wobei … ich seh dich ja gern im Kleid.“ Meto lachte, dieses süße, liebe Meto-Lachen, und fragte dann: „Und warum?“ „Du siehst schön aus in ‘nem Kleid. Ich finde, es steht dir sehr gut.“ „Und wenn ich heute mal etwas männlicher aussehen möchte?“, fragte er. „Dann kannst du das machen. Ich finde dich auch dann schön.“ Ich küsste ihn, senkte den Kopf auf seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich find dich immer schön, egal was du anhast.“ „Na ja …“, erwiderte er leise, „… wenn ich mich heute mal männlicher kleide, sieht jeder, dass wir zwei Männer sind …“ „Das ist mir heute mal egal. Sollen die Leute sich doch sonstwas denken!“ Ich fühlte mich in diesem Moment ganz stark und sicher, wollte, dass es mir egal war, was fremde Menschen von mir dachten. Es ging niemanden was an, ob die Liebe meines Lebens nun männlich oder weiblich war, und irgendwie wollte ich es auch zeigen, dass ich jemanden hatte und liebte, und nicht allein war. Ich folgte Meto ins Schlafzimmer, wo er sich eine schwarze, weiß bedruckte Hose und ein kunstvoll zerrissenes, buntes T-Shirt aus dem Schrank nahm und mir beides vorzeigte. „Wenn ich dazu ein auffälliges Make-up mache und viel Schmuck nehme, passt es auch zu deinem Outfit heute“, sagte er und deutete auf meine ja heute ziemlich lackstofflastigen, schwarzen Sachen. Ich setzte mich aufs Bett und wartete, bis er sich angezogen hatte und zum Schminken und Zurechtmachen im Bad verschwand. Während Meto sich dann schön machte, saß ich im Wohnzimmer und las noch ein wenig in dem Roman, den ich letztens gekauft hatte. Es war wirklich eine schöne Geschichte und es gab immer wieder diese schön geschriebenen Aktszenen darin, die in einer Weise ausgeschrieben waren, die man durchaus als ästhetisch bezeichnen konnte. Es war nicht zu erkennen, ob die Person, die dieses Buch geschrieben hatte, männlich oder weiblich war, der Autorenname war ziemlich geschlechtsneutral und es gab immer wieder Stellen in der Geschichte, wo ich nicht sicher war, ob die Ausdrucksweise die einer Frau oder eines Mannes war. Ich fand das ziemlich faszinierend, zumal ich ja selbst in Meto und Koichi zwei Männer kannte, die sich gern weiblicher Ausdrucksweisen bedienten. Und wenn ich daran dachte, wie oft ich selbst Worte wie ‚süß‘ oder dergleichen verwendete, und dass ich mich auch gern mal schminkte … Wieder kam ich beim Lesen an eine Aktszene und wieder war der Ich-Erzähler, mit dem ich mich doch ziemlich identifizierte, der ‚Bottom‘. In dieser Geschichte gab es wie ganz selbstverständlich Positionswechsel, beide Partner waren komplett gleichauf, doch da das bei Meto und mir noch nicht ganz so war, fühlte ich wieder diese Neugierde darauf, wie es wohl sein würde, wenn wir irgendwann demnächst mal tauschten. Ob es mir wohl gefallen würde, wenn er in mich eindrang? Es würde definitiv eine ganz neue Erfahrung sein, doch ich spürte keine Angst. Das Gefühl hatte ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Gefühl, was ich damals gehabt hatte, bevor ich mein erstes Tattoo bekommen hatte. Neugierde auf eine neue Erfahrung, ein bisschen Nervenkitzel und eine etwas eigenartige Empfindung, die ich schon mein Leben lang kannte, jedoch nicht wirklich beschreiben konnte. Ich hörte Metos Schritte auf dem Flur und klappte das Buch zu. Er kam zu mir, stellte sich vor mich hin und fragte: „Na, wie seh ich aus?“ „Schön siehst du aus“, antwortete ich und lächelte. Er sah wirklich toll aus, hatte sich in seiner Kunst, sich selbst in eine Art Puppe zu verwandeln, wieder einmal selbst übertroffen. Zwar sah er von der jungenhafteren Kleidung und seinen kurzen Haaren her weniger puppenhaft als im Kleid aus, doch die riesigen Kontaktlinsen, die falschen Wimpern und der strahlend rote Lippenstift machten das wieder wett. Ich liebte es, wenn er diesen bestimmten Lippenstift trug, der betonte die auffällige, volle Form seiner Lippen so schön und war außerdem kussecht. Und so legte ich das Buch weg, stand auf und küsste diese vollen, weichen, roten Lippen, und flüsterte: „Du bist wunderschön, mein Liebster.“ Als wir dann die Treppen hinunter gingen, kam uns, weil es ja auch nicht mal ein, zwei Stunden lang nur schön sein konnte, natürlich Frau Yamaguchi entgegen. Sie hob missbilligend eine Augenbraue, als sie uns sah, und als sie eigentlich schon an uns vorbei war, blieb sie noch mal stehen. „Ich soll Ihnen von Frau Hirasawa ausrichten, sie möchten bitte in Zukunft von lärmenden Aktivitäten in den Abendstunden absehen“, sagte sie mit hörbar spitzer Stimme. „Hirasawa?“, fragte ich, der Name sagte mir nichts. „Die Dame in der Wohnung unter Ihrer“, erklärte Frau Yamaguchi mit noch etwas spitzerer Stimme und blitzte mich bissig an. „Sie beklagt sich wiederholt darüber, dass Sie beide abends oft laut seien und fragt auch, was Sie zu dieser Zeit bitte tun.“ Das Gefühl von Stärke, was ich vorhin gespürt hatte, dieser Gedanke, dass es mir egal sein konnte, was Leute von mir dachten, war immer noch da, und mit diesem Gefühl antwortete ich: „Das geht Sie und jeden anderen hier überhaupt nichts an, was mein Freund und ich in unserer Wohnung machen.“ Ein kurzes, überlegenes Lächeln huschte über meine Lippen und ich fügte noch hinzu: „Sagen Sie Frau Hirasawa das. Und wenn sie sich dran stört, dass wir ab und zu die Musik aufdrehen, soll sie selber kommen und sich beschweren.“ „Oh, es geht nicht um die Musik, Aoba“, zischte Frau Yamaguchi. „Es geht darum, dass Sie beide mit ihrer Liebelei hier das Hausklima verschmutzen.“ „Ich glaube nicht, dass man das hören kann“, erwiderte ich. „Frau Hirasawa will Schreie gehört haben.“ „Wie gesagt, wenn sie ein Problem hat, soll sie selber vorbeikommen.“ Ich fühlte mich stark, überlegen und zudem im Recht. Und ich war mir ziemlich sicher, dass unsere Wohnung so gut gedämmt war, dass man Meto und mich nachts nicht hören konnte. „Sagen Sie, Aoba, eins noch: Was war das eigentlich neulich mit dem Notarztwagen hier nachts um eins?“, fragte Frau Yamaguchi noch ein wenig bissiger. „Die waren doch in Ihrer Wohnung, oder?“ Mit einem Schlag war meine Selbstsicherheit weg, zerbrochen und verflogen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte nicht, dass diese Frau von meinem Schmerzanfall erfuhr. Und Meto, der den ganzen Streit ohne ein Wort mit angehört hatte, bemerkte das und sagte, wesentlich leiser als ich eben: „Tsu hatte … hohes Fieber, deshalb hab ich … sicherheitshalber den Notarzt gerufen.“ „Soso …“, sagte Frau Yamaguchi nur, sah uns noch einmal abschätzig an und verschwand dann die Treppen rauf. Na toll. Jetzt war meine gute Laune wieder mal so ziemlich weg. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn ich mal länger als zwei Stunden gut drauf war … Wieso mussten wir auch gerade heute dieser alten Schachtel wieder begegnen?! Ich spürte, wie mich diese Begegnung frustrierte, wie meine Gedanken zu kreisen begannen und sich meine Gefühle schon in Richtung Abgrund bewegten. „Fuck!“ Meto sah mich an, bemerkte, dass meine Stimmung am Absacken war und griff einfach meine Hand, als wir aus dem Haus gingen. Er sagte nichts, zog mich einfach mit sich in Richtung des nächsten größeren Parks, wo die Kirschbäume blühten. Es waren mehr Leute unterwegs als sonst um diese Zeit, und der größte Park unseres Stadtviertels war voller Menschen, die Picknickdecken ausgebreitet hatten und offenbar heute draußen frühstückten. Ich ließ meinen Blick über die Leute schweifen und entdeckte tatsächlich eine Gruppe junger Leute, die ähnlich gekleidet waren wie Meto und ich. Dann waren wir wenigstens nicht die einzigen, die durch unsere Kleidung auffielen. „Komm, wir gehen da rüber“, sagte Meto und deutete auf ebenjene Gruppe. Ich fühlte mich immer noch unsicher, ging aber trotzdem mit ihm mit, ohne etwas zu sagen. Er versuchte schließlich, mich abzulenken und dafür zu sorgen, dass es mir gut ging, was sollte ich da anderes tun, als mitzumachen? Mein Freund hatte heute anscheinend seinen sozialen Tag und setzte sich einfach auf eine Bank in direkter Nähe der Gruppe von Visuals, von denen einige zu uns hersahen. Es waren hauptsächlich junge Mädchen, aber auch zwei junge Männer dabei. Ich setzte mich ebenfalls hin und versuchte, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Irgendwann stand eins der Mädchen auf und kam auf uns zu. Sie trug als einzige ein aufgebauschtes Lolitakleid ähnlich dem, was Meto auch besaß, aber heute ja nicht trug. „Hey, seid ihr neu in der Gegend?“, fragte sie und lächelte. „Ich hab euch noch nie hier gesehen.“ Ich sah zu Meto, der anscheinend doch wieder kein Wort herausbekam, und antwortete an seiner Stelle: „Wir sind Anfang März hergezogen.“ „Und woher kommt ihr?“ Ich nannte den Namen unserer Heimatstadt. „Setzt euch doch mit zu uns“, bot das Mädchen an. „Wir haben auch was zu knabbern da.“ Das musste man mir nicht zweimal sagen. Ich hatte schließlich heute noch nichts gefrühstückt. Froh darüber, dass ich überhaupt richtigen Hunger hatte, stand ich auf und setzte mich auf eine der Picknickdecken auf dem Boden unter den Kirschbäumen. Meto setzte sich neben mich. “Greift zu“, sagte das Mädchen und hielt uns eine Schale mit Crackern hin, aus der ich mir gleich eine Handvoll nahm. „Und habt ihr euch hier schon gut eingelebt?“, fragte eine der anderen. „Ja, ein bisschen schon.“ Ich nickte, lächelte, überspielte meine Unsicherheit, so gut ich eben konnte. Meto nahm sich ebenfalls welche von den Süßigkeiten und sah so aus, als wollte er etwas sagen und konnte aber irgendwie nicht. „Ihr wohnt also zusammen?“, fragte das Mädchen im Lolitakleid. Es war wirklich alles andere als einfach, normal und locker Leute kennen zu lernen und mit ihnen zu sprechen, wenn ich nicht wusste, wie sie darauf reagieren würden, dass Meto und ich ein Paar waren. Es gab sowohl in seinem, als auch in meinem und unserem gemeinsamen Leben so viele Dinge, die nicht gerade gesellschaftstauglich waren. Meine frühere Obdachlosigkeit und meine mentalen Probleme, Metos Homosexualität und sein Sprachfehler, und nicht zuletzt unsere Beziehung als solche. Über diese Dinge konnte man nicht einfach so sprechen. Und so wusste ich nicht, was ich auf die Frage danach, ob wir zusammen wohnten, antworten sollte. Ich wollte nicht lügen. „Ja. Wir … leben zusammen“, hörte ich da die leise Stimme meines Freundes neben mir. Seine Wangen und Ohren schimmerten verräterisch rot. Und obwohl ihn diese Röte unsicher wirken ließ, erkannte ich seine Stärke in diesem Moment. Einer der beiden jungen Männer, die ein Stückchen hinter den Mädchen saßen, aber doch eindeutig zur Gruppe dazugehörten, sah erst Meto, dann mich verwundert an. „Wie, ihr lebt zusammen?“, fragte er. „Wie ein Paar, oder was?!“ Meto sah mich an, in seinen Augen stand die Frage, ob wir nun ganz mit der Wahrheit rausrücken sollten, oder besser nicht. Ich wusste es auch nicht. So, wie der Typ da gefragt hatte, klang es nicht gerade so, als sei es kein Problem. Ich dachte an meinen Kollegen Takashima, der mein Outing einfach so hingenommen hatte, und dann an Frau Yamaguchi, die ihre Abneigung offen zur Schau trug. Ich verlangte ja nicht mal, dass alle so begeistert reagierten wie zum Beispiel die Mädchen in dem Café, wo Meto arbeitete, doch insgeheim wünschte ich mir doch, dass es den Leuten wenigstens egal war, ob ich mit einer Frau oder eben mit einem Mann zusammen war. Die Ablehnung tat mir weh und ich beschloss den Versuch einer Lüge. „Es ist … ein bisschen kompliziert“, sagte ich. „Ich mag nicht gern allein leben, deshalb sind wir zusammen gezogen.“ „Na, solange ihr nicht schwul seid oder so …“, sagte der Typ und klang genauso abfällig, wie ich befürchtet hatte. Ich sah Meto an, der den anderen jungen Mann wie versteinert anstarrte. Er sah verletzt und wütend aus, und ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Ich hätte einfach die Wahrheit sagen sollen und dann hätten wir gehen sollen, woanders hin oder nach Hause. Gerade heute, nachdem ich gestern Abend doch erst wirklich verstanden hatte, wo Metos Schwäche lag und warum er mit fremden Menschen nicht richtig sprechen konnte. Und als ich schon beschlossen hatte, zu gehen, und aufstehen wollte, da platzte Meto neben mir geradezu, er sprang auf und sein Blick traf kurz meinen, er sah furchtbar enttäuscht aus. „Bin ich aber!“, sagte er laut und blitzte den anderen Typen wütend an. „Ich bin schwul, und Tsu und ich sind zusammen! Er traut sich nur nicht, das öffentlich zuzugeben!“ Er sah mich an, schrecklich enttäuscht, wütend und mit Tränen in den Augen, und fragte leise: „Warum stehst du nicht zu mir?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber ich wusste, dass ich in meiner Angst davor, dass mich die Leute hassten, dem liebsten Menschen in meinem Leben gerade furchtbar wehgetan hatte. Und weil ich ihm andererseits versprochen hatte, ihn zu heiraten und unsere Liebe öffentlich zu machen, war er jetzt so enttäuscht von mir. „Meto …“, begann ich, ebenso leise wie er, „Es tut mir leid, ich …“ „Überleg mal, was du eigentlich willst“, sagte er, klang jetzt eindeutig wütend. „Willst du den Leuten gefallen oder mich glücklich machen?“ Er drehte sich um und lief einfach weg, in irgendeine Richtung. „Meto, warte!“, rief ich, wollte ihm nach, doch meine Beine bewegten sich nicht, fühlten sich wie festgewachsen an. In meinem Kopf drehte sich alles, Sätze, einzelne Worte, Bilder, alles wirbelte durcheinander. …. ‚Du willst allen gefallen‘ … ‚Borderline‘ … ‚beziehungsunfähig‘ … ‚Zerreißprobe‘ … ‚Jetzt verlässt er dich, weil er dich nicht erträgt‘ … ‚Geh dich ritzen‘ … ‚Er verlässt dich … verlässt dich … verlässt dich‘ Ich stand einfach nur da, blickte, ohne wirklich zu sehen, in die Richtung, wo Meto zwischen den Menschen und Kirschbäumen verschwunden war, und fühlte mich unendlich einsam und leer. Dass die Tränen über mein Gesicht strömten, bemerkte ich erst, als das Mädchen im Lolitakleid mich darauf ansprach und fragte, was das denn eben gewesen war. Ich blickte an ihr vorbei zu dem Typen, der das alles ausgelöst hatte. Der schien nicht recht zu wissen, was er davon halten sollte, sah aber doch betroffen aus, als er meinen Blick bemerkte und sah, dass ich weinte. Und erst, als ich mich fragte, wo Meto denn jetzt hingelaufen war, fühlte ich mich selbst wieder, spürte, dass mein Herz furchtbar wehtat, fühlte, dass ich am ganzen Körper zitterte. ‚Er verlässt dich‘, flüsterte der schwarze Strudel in meinem Kopf. ‚Genau wie alle anderen auch …‘ Mein schmerzendes Herz fühlte sich an, als würde es ein paar Schläge aussetzen, und es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich sah die Kirschblüten, dachte auf einmal an Vergänglichkeit und Tod, in dem Moment gaben meine Beine unter mir nach, mir wurde schwarz vor Augen und ich sackte weg. … Ein leises, gleichförmiges Piepen ließ mich irgendwann wieder die Augen öffnen. Ich war in einem weißen Raum, der anscheinend große Fenster hatte, denn es war hell. Zuerst sah ich alles nur verschwommen, dann etwas klarer, ich blickte zur Seite und sah, woher das Piepen kam: Ich lag in einem Bett und daneben stand so eine Maschine, die verschiedene Linien anzeigte, und immer, wenn die oberste Linie ausschlug, war dieses Piepen zu hören. Mein Verstand arbeitete noch langsam und ich brauchte einen Moment, bis ich erkannte, dass es sich um ein Gerät zur Überwachung von Herztätigkeit handelte. Meiner eigenen Herztätigkeit. Ich spürte, dass ich andere Sachen anhatte, sah meine Lackjacke, die Weste und meine Hose auf einem Stuhl neben dem Bett liegen und meine Schuhe darunter stehen. Stattdessen fühlte ich ein weißes, weites Nachthemd an meinem Körper. War ich etwa im Krankenhaus?! Panik ergriff mich, ich wollte mich aufsetzen, doch mir war so schwindlig, dass ich sofort wieder ins Kissen zurücksank. Und so musste ich liegen bleiben, und spüren, wie die Angst sich in mir ausbreitete, während mein Verstand versuchte, sich daran zu erinnern, was passiert war, wie ich hier her gekommen war. Ich wusste es nicht mehr. Ich hob den Kopf und sah, dass ich nicht allein im Zimmer war. An der gegenüberliegenden Wand standen noch zwei Betten, in dem einen lag eine Frau von etwa Vierzig, in dem anderen eine alte Dame. Die jüngere Frau hatte eine Zeitschrift vor sich liegen und die ältere ein Buch in der Hand. Die Angst stieg in mir hoch, erreichte mein Herz und ließ es schmerzen, woraufhin das Piepen der Maschine neben mir schneller und lauter wurde. Ich hob den Arm und sah, dass ich eine Infusionsnadel mit einem dünnen Schlauch an der Hand hatte, was sich für mich so anfühlte, als sei ich festgebunden. Der Schlauch führte zu einem hängenden Beutel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit darin und ich erinnerte mich kurz daran, dass ich in den letzten Tagen nur einmal wirklich gegessen hatte. Ich dachte an das Curry gestern und dabei fiel mir Meto wieder ein. Wo war er? Warum lag ich allein in einem Krankenhausbett und er war nicht da, um meine Hand zu halten? Was war überhaupt passiert? Ich wusste, irgendetwas war gewesen, doch ich hatte keine Ahnung, was genau. Die Ungewissheit verstärkte meine Angst. Angst vor dem Krankenhaus, davor, hier bleiben zu müssen, und Angst, dass Meto vielleicht etwas passiert war und er deshalb nicht bei mir sein konnte. Die Tür des Zimmers wurde geöffnet und jemand kam herein, ich erkannte Frau Dr. Matsuyama. Froh darüber, wenigstens ein vertrautes Gesicht vor mir zu haben, sah ich sie an, und sie kam auf mich zu. „Aoba-san, Sie sind wieder wach? Wie geht es Ihnen?“, fragte sie. „Was … ist passiert?“, fragte ich, meine Stimme klang kraftlos. „Erinnern Sie sich nicht?“ Ich schüttelte den Kopf. Das letzte, was ich noch wusste, war, dass ich mit Meto zusammen aus unserer Wohnung gegangen war und dass er die Tür abgeschlossen hatte. Danach war nichts mehr. „Sie sind beim Kirschblütenfest im Park zusammengebrochen. Die Leute, die dort waren, haben den Krankenwagen gerufen“, sagte Dr. Matsuyama. „Wo ist mein Freund?“ Allein beim Gedanken an ihn tat mein Herz weh und das piepende Gerät neben mir schlug etwas schneller aus. „Wir haben ihn nicht gefunden.“ „Er war nicht bei mir?“ „Nein. Die Leute, die da waren, haben ausgesagt, dass es Streit gab und er deshalb davongelaufen ist.“ Dr. Matsuyama ging auf die Maschine neben mir zu und stellte irgendetwas neu ein, dann fragte sie: „Können Sie sich wirklich nicht erinnern?“ „Nein … Ich weiß nur noch, dass wir rausgegangen sind und auf dem Weg in den Park waren …“ „Haben Sie öfter solche Erinnerungslücken?“ Ich fühlte in meine Erinnerungen, fragte mich, wie viele Lücken es da wohl gab. So jetzt fiel mir nur die eine Lücke nach Mamas Tod ein, die vier oder fünf Monate, an die mir jede Erinnerung fehlte. Das einzige, was ich davon noch hatte, waren blasse Narben von Schnitten auf meinen Beinen und meinem Bauch. Ich ahnte, woher die kamen. „Eigentlich nur eine. Als meine Mutter gestorben ist, die Zeit kurz danach, davon weiß ich gar nichts mehr“, antwortete ich. „Aoba, sie haben keinerlei Verletzungen, die einen Gedächtnisverlust erklären würden. Ich habe mit einem Psychiater der hiesigen psychiatrischen Klinik gesprochen und der würde sich gern später mit Ihnen unterhalten. Ist Ihnen das recht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht einfach nach Hause?“ „Leider noch nicht. Wir müssen Sie noch ein wenig hier behalten. Mit Ihrem Herzen scheint doch irgendetwas nicht in Ordnung zu sein und wir müssen herausfinden, was da los ist.“ „Holen Sie meinen Freund her, dann geht’s mir schon wieder gut“, entgegnete ich. „Haben Sie seine Handynummer bereit?“ „Ist in meinem Handy eingespeichert.“ Dr. Matsuyama gab mir meine Tasche und ich zog mein Handy heraus, suchte Metos Nummer raus und sie schrieb sie sich auf. „Aber Sie bleiben trotzdem besser ein, zwei Tage hier. Nur für den Fall, dass ihre Herzprobleme doch eine organische Ursache haben.“ Sie ging hinaus und ich nahm an, dass sie zu einem Telefon lief, um Meto anzurufen. Währenddessen versuchte ich weiter, mich zu erinnern, doch je mehr ich mich dabei anstrengte, umso mehr sperrte sich mein Kopf, die Erinnerung freizugeben. Meto und ich hatten gestritten? Warum? In dem Teil des Tages, an den ich mich erinnern konnte, waren wir beide doch gut drauf gewesen. Hatte ich irgendetwas getan, etwas Schlimmes oder Falsches, irgendwas gesagt, was ihn wütend gemacht hatte? Ich hatte absolut keine Ahnung. Als Dr. Matsuyama zurückkam, sagte sie: „Ihr Freund ist bei seinen Eltern. Ich habe ihm gesagt, dass Sie hier sind. Er kommt, so schnell es geht.“ „Danke.“ Die Ärztin ging wieder und ich blieb, immer noch ratlos, zurück. Es war lange her, dass ich eine solche Erinnerungslücke zu verarbeiten gehabt hatte, und ich verspürte das Bedürfnis, mit Hitomi darüber zu sprechen und sie zu fragen, ob sie das auch kannte. Ich hatte das Gefühl, dass diese Amnesie ziemlich direkt mit meinen anderen Problemen zusammenhing. Meine beiden Zimmergenossinnen beachteten mich nicht weiter, und so war ich mit meinen Gedanken allein, drehte mich zum Fenster und schaute hinaus in den Garten des Krankenhauses. Ich war wohl so ungefähr im dritten oder vierten Stockwerk und so konnte ich in die Bäume sehen, von denen einige blühende Kirschbäume waren. Ich dachte daran, was ich letztes Jahr um diese Zeit getan hatte: Ich hatte auf der Straße gelebt, mit den anderen im Park die Kirschblüte gefeiert und damit das Ende des für einen Obdachlosen einfach nur furchtbar strapaziösen Winters. Meto war damals noch nur mein bester Freund gewesen. Es war kaum zu glauben, dass wir noch nicht mal ein Jahr als Paar zusammen waren, nur erst ein paar Monate. Mir kam es schon so lange vor. Dabei waren wir erst seit letztem Herbst ein Paar, und jetzt war Frühlingsanfang. Ich schaute aus dem Fenster, zu den Kirschblüten, dachte daran, dass es jetzt Frühling wurde, dass ich fünfundzwanzig war und wie schön der Tag heute begonnen hatte. Sofort fühlte ich eine heiße, wilde Sehnsucht nach Meto, seiner Stimme und seinem Körper. Ich wollte in seinen Armen liegen, ihn lieben und von ihm geliebt werden. Und sogleich sprangen mir Tränen in die Augen, weil ich nicht wusste, wann und wie er wieder bei mir sein würde. Hoffentlich war er nicht allzu wütend auf mich. Ich wusste ja immer noch nicht, was genau eigentlich passiert war. Wieder betrat jemand das Zimmer, doch es war nicht Dr. Matsuyama, sondern ein etwa fünfzig Jahre alter Mann in Zivilkleidung, der ein kleines Namensschildchen am Pullover trug. Er trug eine Brille und sah mich über deren Rand aufmerksam an. „Aoba Genki-san?“, sprach er mich an. Ich nickte nur. War das der Psychiater, von dem Dr. Matsuyama gesprochen hatte? Ich hatte doch deutlich gemacht, dass ich nicht mit einem Psychiater reden wollte. „Ich weiß, Sie möchten nicht mit mir sprechen, Aoba-san, aber ich wollte mich zumindest einmal bei Ihnen vorstellen. Mein Name ist Niimura, ich bin Psychiater an der Psychiatrischen Klinik in dieser Stadt“, stellte er sich vor. Er hatte Recht, ich wollte nicht mit ihm sprechen. Ich drehte mich weg, zog die Bettdecke hoch bis über meinen Kopf und sagte nur: „Gehen Sie weg …“ Die neue Lücke in meiner Erinnerung, das Krankenhaus, die Tatsache, dass Meto nicht bei mir war, und jetzt auch noch der Psychiater, all das sorgte dafür, dass mein Herz wieder zu schmerzen begann und die Maschine neben mir schneller und lauter piepte. „Verschwinden Sie!“, fuhr ich den Arzt an, „Lassen Sie mich in Ruhe!“ „In Ordnung, ich bin schon weg. Aber, wenn sie es sich anders überlegen, Frau Dr. Matsuyama hat meine Nummer.“ Dr. Niimura drehte sich um und ging wieder hinaus. Meine eben noch aufgekeimte gute Stimmung war weg und ich kroch ganz unter die Decke, wollte nur noch weinen. Ich sehnte mich nach Meto, nach seiner Hand auf meinem schmerzenden Herzen, seiner lieben, leisen Stimme und seinem süßen Lachen. Allein beim Gedanken an ihn weinte ich stärker und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. Was die beiden Frauen in den anderen Krankenbetten jetzt von mir dachten, war mir gerade ziemlich egal. Sollten sie mich doch für weinerlich und übertrieben emotional halten, sogar für unmännlich, oder sonst was von mir denken. Ich wollte sowieso nur weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)