Yasashikunai Mirai von Harulein (Tsuzuku x Meto) ================================================================================ Kapitel 9: [Koichi] Act 9 ------------------------- [am selben Tag, morgens] Ich hatte Vormittagsschicht, musste arbeiten. Meto hatte ja frei und ich musste ihn mitvertreten, wie das halt so war. Aber ich mochte meine Arbeit ja. Während einer meiner Zigarettenpausen bekam ich eine SMS von Mikan. Sie schrieb, dass sie am liebsten schon morgen mit mir nach Tokyo fahren wollte, und dass sie sich darauf freute. Sie wusste, dass ich morgen den ganzen Tag frei hatte und schlug deshalb vor, unseren Shoppingtrip vorzuverlegen. Ich schrieb ihr zurück, dass mir die Idee gefiel und dass ich es kaum erwarten konnte, die ‚heiligen Hallen‘ meines tokyoter Lieblingsladens Closet Child mal wieder unsicher zu machen. Vielleicht hatten sie da ja wieder Sachen von Vivienne Westwood auf Lager? Schon beim Gedanken an neuen Schmuck, neue Schuhe oder ein hübsches Top schlug mein Herz schneller und wenn ich dann auch noch an die Ginza dachte, an die vielen teuren Läden dort, mit den wundervollen Handtaschen in den Schaufenstern … Hach, ja, ich liebte das! In dem Moment kam Satchan in den Pausenraum, sah mich mit Handy und Zigarette am Fenster stehen und bemerkte mein verträumtes Lächeln. „Na, Kocha, was strahlst du so?“, fragte sie lächelnd. „Ich fahr morgen nach Tokyo“, antwortete ich. „Shoppen, oder wie?“ Satchan grinste. Ich nickte, drückte meine Zigarette im auf dem Fensterbrett stehenden Aschenbecher aus und schloss das Fenster. Meine Kollegin kam auf mich zu, grinste wieder und fragte: „Sag mal, wieso trägst du eigentlich zur Arbeit keine Frauensachen, so wie Meto-chan?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Aber ich mag diesen Anzug irgendwie.“ „Ein Kleid würde dir aber auch stehen.“ Irgendwie, obwohl ich ja ab und zu gern mal ein Kleid trug, gab mir diese Aussage einen Stich. Es waren weniger die Worte an sich, als eher der Ton, in dem Satchan das sagte, und der Blick, mit dem sie mich ansah. Ich wich ihrem Blick aus, sah zu Boden, und dann spürte ich, was es war, das mir wehtat: Ich fühlte mich in diesem Moment nicht als Mann angesehen, sondern wieder in die Rolle des süßen Mädchens gesteckt. Friendzoned war ich bei Satchan sowieso, und ich wusste ja auch, wie ich mit meinem femininen Benehmen auf Frauen wirkte, aber auf einmal, da wünschte ich mir doch sehr, dass sie mich auch mal als Mann erkannten, der sich zwar gerne schön machte und Rosa liebte, aber eben … na ja, ein Mann war. Wenn Tsuzuku mich mit meinem Aussehen und so weiter aufzog, fühlte sich das ganz anders an. Weil er ja auch ein Kerl war und mich ja nur freundschaftlich neckte. Als heterosexueller Mann wollte ich eben absolut nichts solches von ihm und darum war es okay, wenn er mich ein bisschen auslachte und ‚Mädchen‘ nannte. Aber meine Kolleginnen und guten Freundinnen, von denen ich mir doch irgendwo immer noch mehr erhoffte, die sollten mich endlich mal irgendwie als männlich ansehen. Ohne ein Wort ging ich an Satchan vorbei, wandte mich wieder meiner Arbeit zu und registrierte nur nebenbei, dass sie nicht verstand, warum ich so reagiert hatte. „Kocha!“, rief mich eine Besucherin zu sich. „Lass mal spielen!“ Zum ersten Mal hatte ich auf einmal keine Lust, die Mädels zu bespaßen. Ich hatte generell in diesem Moment keine Lust auf weibliche Wesen. Fast war ich sogar ein bisschen genervt, wenn ich auch nicht so genau sagen konnte, ob von ihnen oder vielleicht auch von mir selbst. Doch ich konnte mich hier jetzt nicht so einfach rausziehen. Und so setzte ich mein möglichst süßestes Lächeln auf und ging zu dem Tisch, wo drei zuckersüß gekleidete Mädchen mit einem Kartenspiel auf mich warteten. Der Vormittag zog sich scheinbar endlos in die Länge und ich war unheimlich froh, als mein Kollege für heute Nachmittag auftauchte und ich mich umziehen und dann verschwinden konnte. Im Zug nach Hause schrieb ich eine Nachricht an Tsuzuku, einfach um zu wissen, ob es ihm nach seinem Zusammenbruch wieder einigermaßen gut ging. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, er schrieb zurück, dass er heute mit Meto in ihrer beider Heimatstadt gewesen und seine Mutter auf dem Friedhof besucht hatte. Ich fragte, ob er okay war, und er antwortete, ja, er fühlte sich jetzt gut. Jetzt schon, dort auf dem Friedhof aber wahrscheinlich nicht. Ich konnte mir das nur zu gut vorstellen, dass da eine Menge Tränen geflossen waren. Schließlich war Tsuzuku ein hoch emotionaler Mensch und ich hatte oft den Eindruck, dass er seine Trauer die meiste Zeit über beiseiteschob. Da war es nicht verwunderlich, dass er in so einer Situation die Fassung verlor und weinte. Den Rest der Bahnfahrt über dachte ich noch ein wenig über ihn nach, überlegte, ob es etwas gab, wo ich ihm helfen konnte. Jetzt, wo ich besser wusste, was mit ihm los war, hätte es ja eigentlich einfacher werden können, doch irgendwie war dem nicht so. Es fühlte sich sogar noch komplizierter an. Denn auch, wenn ich wirklich nicht so denken wollte, konnte ich kaum etwas dagegen tun, dass ich das wenige, was ich über Borderline wusste, mit Tsuzukus Verhalten abglich, und mich fragte, was davon auf ihn zutraf. Diese Gedanken fühlten sich ziemlich furchtbar an und ich versuchte schnell, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel an die geplante Shoppingtour mit Mikan. Ich freute mich immer noch darauf, doch gleichzeitig fragte ich mich, wie sie mich eigentlich sah. War ich für sie auch mehr ‚beste Freundin‘, als Mann, oder blickte sie als meine engste Freundin hinter mein Aussehen? Ich wusste es nicht und es war auch schon ziemlich lange her, dass wir über dieses Thema gesprochen hatten. Ich sah mich in der spiegelnden Fensterscheibe an, prüfend, mit Blick darauf, was an meinem Äußeren mich für Frauen auf sexuelle Weise attraktiv machen konnte. Und stellte dabei fest, dass ich doch recht gern so aussah, wie ich aussah. Ich liebte meine langen, rosa Haare mit den schwarzen Strähnchen, die Form meiner Lippen und auch die meiner heute kaum geschminkten Augen. Es war einfach mein persönliches Schönheitsideal und ich war ziemlich glücklich, dem zu entsprechen. Da stellte sich mir die Frage, warum man denn als Mann wie einer aussehen musste, um auch als solcher wahrgenommen zu werden. Gab es nicht noch andere Attribute, denen ich entsprechen konnte, ohne mein geliebtes süßes Aussehen verändern zu müssen? Vielleicht, so dachte ich, sollte ich Mikan mal ernsthaft danach fragen, wie Frauen das sahen? Die Bahn hielt an meiner Station, ich stieg aus und steuerte kurzentschlossen auf einen der Imbissläden im Bahnhof zu, um mir ein Mittagessen zu kaufen. Ich hatte Lust auf ein richtig schickes Luxus-Bento, und so eines holte ich mir, nahm es mit nach Hause und machte es mir dort am Kokatsu gemütlich. Ich stellte den Fernseher an, fand einen Liebesfilm, den ich kannte, und sah ihn mir an, während ich zu Mittag aß. Doch irgendwie gefiel mir der Film auf einmal nicht mehr so, wie ich das von mir kannte. Ich mochte solche kitschigen Filme normalerweise sehr, bezeichnete mich selbst als romantisch veranlagten Menschen und stand dazu, dass es mir eben gefiel, zu beobachten, wie zwei Menschen in Liebe zueinander fanden. Doch heute konnte mich dieser Film nicht so mitreißen und begeistern, dass ich mit rosa Herzchen in den Augen vor dem Fernseher gesessen hätte. Ich konnte mich weder auf die Handlung, noch auf mein Essen wirklich konzentrieren, und aß das teure Bento, ohne es richtig zu genießen, während der Film eine Art Hintergrundgeräusch wurde. Langsam wurde mir dabei immer klarer, dass bei mir irgendwas nicht stimmte. Irgendetwas lief in letzter Zeit falsch und ich glaubte auch schon, die Ecken und Ränder des Grundes dafür erkennen zu können. Dieses dunkle, kalte Loch abends, dass ich unruhiger schlief als sonst und morgens vor dem Duschen wie ein Gespenst aussah, und dass es mich auf einmal so sehr störte, wenn mich Frauen nicht wirklich als Mann wahrnahmen. Doch ich traute mich irgendwie nicht so recht, da näher ran zu gehen und nachzuschauen, was in meinem Inneren durcheinander geraten war. Ich ahnte, dass ich dann würde weinen müssen, und das wollte ich nicht. Ich schaltete den Fernseher aus, stand auf, nahm die Reste des Bento mit in die Küche und stellte es dort in den Kühlschrank. Dabei fiel mein Blick auf meine in der Spüle stehende Teetasse mit Bambi drauf und ich überlegte einen Moment, ob ich mir Tee kochen sollte. Irgendwie stand meine innere Uhr schon auf Abends, obwohl es erst kurz nach Mittag war. Vielleicht sollte ich mich ein wenig hinlegen und schlafen. Ich nahm einen Beutel Kirschtee aus dem Schrank, füllte Wasser in den Wasserkocher und während ich wartete, blickte ich aus dem Küchenfenster. Davor stand ein Zierkirschbaum im Innenhof, der schon die ersten Knospen aufwies und sicher demnächst schön hellrosa blühen würde. Ich mochte Kirschbäume, allein schon wegen der Farbe ihrer Blüten. Doch in diesem Moment machte mich der Anblick der kleinen Blütenknospen irgendwie traurig und ich wandte den Blick ab. Das Wasser kochte und ich goss es über den Teebeutel, dann nahm ich die Tasse mit ins Wohnzimmer und stellte sie erst einmal auf dem Kokatsu ab, damit der Tee zog, während ich mir ein Lager auf der Couch machte. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus und kroch unter die dünne Flanelldecke, die ich auf dem Sofa liegen hatte. Es fühlte sich fast so an, als würde ich krank werden. Vielleicht hatte ich mir doch nur irgendwo eine Grippe eingefangen. Doch eine kleine, gemeine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass das keine Grippe war, sondern etwas viel tiefer sitzendes und schwerer zu heilendes. Irgendwann dann muss ich einfach eingeschlafen sein und dann auch lange geschlafen haben. Denn als ich wieder aufwachte, war es dunkel draußen. Ich beugte mich vor und griff nach der Teetasse. Sie war kalt, der Tee ebenfalls, und er schmeckte viel zu stark, wie hochkonzentrierter Kirschsaft. Ich erhob mich seufzend, ging langsam in die Küche und kippte den Tee samt Beutel in die Spüle. Dann sah ich auf die Uhr. Es war halb sechs. Ich hatte wirklich fast fünf Stunden geschlafen, einfach so, mitten am Tag. Das war zuletzt vor Jahren vorgekommen, während meiner kurzen Zeit an der Uni, als ich viel gelernt und deshalb zwischenzeitlich auch viel geschlafen hatte. Ich ging in den Flur und warf einen Blick aufs Telefon. Eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Ich hatte anscheinend so tief geschlafen, dass ich das Klingeln nicht gehört hatte. Die Nachricht war von Mikan: „Hey, Kocha, hier ist Mikan! Wie geht’s dir? Ich würde dich gern besuchen, wir könnten doch mal wieder zusammen ausgehen. Ruf mich einfach zurück. Hab dich lieb, Ko. Baiii!“ Ich griff nach dem Hörer, doch als ich ihn berührte, bemerkte ich, wie meine Hand zitterte. Und zwar nicht nur ein bisschen, sondern ziemlich stark. Ich zog sie zurück, sah sie verwirrt an. In meinen Ohren klang Mikans durch den Anrufbeantworter leicht elektrisch verzerrte Stimme, ihr ‚Hab dich lieb, Ko‘, und wie vorhin beim Anblick der Blütenknospen fühlte ich mich auf einmal unheimlich traurig. Aber warum machte es mich überhaupt traurig, wenn sie sagte, dass sie mich lieb hatte? Ich ging erst einmal ins Wohnzimmer zurück und zog mich wieder ganz an, dann ging ich wieder zum Telefon, um Mikan zurückzurufen. Doch was sollte ich ihr eigentlich sagen? Wollte ich sie treffen, oder heute Abend lieber allein bleiben? Einen kurzen Moment lang spielte ich mit der Idee, Mikan abzusagen, stattdessen Tsuzuku anzurufen und ihn zu fragen, ob er mich besuchen wollte. Doch dann dachte ich daran, dass er sich bestimmt einen schönen Abend mit Meto machen wollte, und verwarf die Idee wieder. Schließlich wählte ich doch Mikans Nummer und während es bei ihr klingelte, entschied ich, es einfach auf mich zukommen zu lassen, ob sie mich sehen wollte, und was wir taten. „Hey, Kocha!“, begrüßte sie mich und ich sah sie im Geiste vor mir, ihre braunen Augen und blond gebleichten Haare mit dem Hauch von Violett darin. „Mikan …“, antwortete ich. „Tut mir leid, ich hab geschlafen und das Telefon nicht gehört.“ „Geschlafen? Mitten am Tag?“ „Ja. Ich bin einfach eingepennt.“ „War die Arbeit heute so anstrengend?“, fragte sie. Ich antwortete einen Moment nicht, überlegte kurz, was ich sagen sollte. „Ich glaube, ich brüte eine Grippe oder so was aus“, sagte ich schließlich. „Oh, okay. Dann ist ein Trip in den Visual-Club vielleicht keine so gute Idee, oder?“ Mikan klang ein bisschen enttäuscht, schien sich auf eine aufgestylte Partynacht mit mir gefreut zu haben. „Ja, wahrscheinlich. Tut mir leid“, antwortete ich. Auf einmal kicherte sie leise, sagte dann: „Du, ich weiß, was wir machen. Ich komm zu dir und pflege dich gesund, bevor du noch richtig krank wirst.“ Ich musste lachen, einfach wegen dem Ton, in dem sie das sagte. Sie klang wie ein kleines Mädchen. „Komm halt her und steck dich an“, erwiderte ich. „Bin schon unterwegs! Bis gleich!“ Und schon hatte sie aufgelegt. Ich blieb noch einen Moment mit dem Hörer in der Hand stehen. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Herz klopfte wie verrückt. Und wieder fragte ich mich, was denn bitte mit mir los war. Doch an eine mögliche Antwort traute ich mich nicht heran. Während ich auf Mikan wartete, räumte ich im Wohnzimmer ein bisschen auf und kochte eine Kanne Grünen Tee für uns. Dieses Mal stellte ich die Teeuhr, und während die lief, suchte ich ein paar Filme aus, von denen ich wusste, dass Mikan sie ebenso mochte wie ich. Zuerst war ‚Bambi‘ auch dabei, doch dann entschied ich mich zum ersten Mal aus emotionalen Gründen gegen meinen Lieblingsfilm und stellte ihn ins Regal zurück. Ich hatte Angst vor den traurigen Stellen, wollte nicht weinen. Und als ich dann den Teebeutel aus der Kanne nahm, fiel mein Blick wieder auf den Kirschbaum im Innenhof. Ich wusste immer noch nicht, was mich daran so melancholisch stimmte, doch dass es so war, daran gab es keinen Zweifel. Ich musste mir zumindest eingestehen, dass es mir zurzeit nicht besonders gut ging und dass sich der fröhliche, starke Koichi, als den ich mich kannte, gerade hinter dunklen, grauen Wolken versteckte. Ich biss mir auf die Unterlippe, wodurch mein Piercing gegen meine unteren Schneidezähne drückte. Es stach ein bisschen, doch das war nicht der Grund, warum mir auf einmal Tränen in die Augen sprangen. Ich stellte die Teekanne auf den Küchentisch, setzte mich auf einen der Stühle und zog die Knie hoch, schloss meine Arme darum und versuche, die Tränen niederzukämpfen. Doch es waren so viele, so schwer, und die Traurigkeit mit einem Mal so groß und dunkel, dass es mir nicht gelang. Und so legte ich den Kopf auf die Knie und weinte, nicht laut oder heftig, sondern ganz leise, ließ die Tränen fließen, weil ich sie nicht mehr aufhalten konnte. Ich wusste nicht mal, warum genau ich so traurig war, nur, dass ich es eben war, und dass ich Angst davor hatte. Als die Türklingel schrillte, schreckte ich auf. So schnell ich konnte, sprang ich auf, fuhr mir mehrmals mit dem Handrücken über die Augen und schniefte. Sofort schämte ich mich irgendwie, dass ich mich so hatte gehen lassen. Das war doch gar nicht meine Art! Ich lief ins Bad, sah, dass meine Augen rot geweint waren, und wusste, dass ich das kaum vor Mikan würde verbergen können. Ich puderte trotzdem ein wenig die Region unter meinen Augen, wagte mich dann zur Tür und öffnete. „Hey, Kocha!“ Mikan klang fröhlich wie immer und strahlte mich an. Doch sowie sie sah, dass es mir nicht gut ging, wurde sie ernst. „Du siehst wirklich müde aus, wie geht’s dir?“ „Geht …“, antwortete ich und ließ meine beste Freundin in die Wohnung. Mikan blieb im Flur neben mir stehen, blickte mich einen Moment einfach nur an, dann fragte sie ganz direkt: „Hast du geweint?“ Ich konnte sie nicht anlügen. „Ja. Ein bisschen.“ „Weil du dich krank fühlst, oder weil du traurig bist?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich fühl mich irgendwie einfach nicht gut.“ Mikan zog ihre Schuhe und Jacke aus, nahm ihre Mütze ab und hängte ihre Tasche an meine Flurgarderobe. Dann ging sie mir voran ins Wohnzimmer. „Ist ja total dunkel hier“, bemerkte sie und machte erst einmal Licht, dann setzte sie sich aufs Sofa und sah sich meine ausgesuchten, auf dem Tisch liegenden DVDs an. „Na, dann schauen wir uns mal ‘nen süßen Film an, danach geht’s dir bestimmt schon besser.“ Ich sagte nichts dazu, sondern setzte mich einfach neben sie und ließ sie einen Film aussuchen. „Hast du was zum Knabbern da?“, fragte Mikan. Ich nickte, stand auf und holte eine Tüte Chips aus der Küche, legte diese dann geöffnet auf den Tisch und nahm mir eine Decke, um es mir neben meiner besten Freundin auf dem Sofa gemütlich zu machen. Wir sahen uns einen koreanischen Liebesfilm an, den ich eigentlich ziemlich gern mochte und schon einige Male gesehen hatte. Und im Gegensatz zu dem Fernsehfilm, den ich heute Mittag gesehen hatte, konnte ich mich auf diesen auch einigermaßen konzentrieren. Die Geschichte war süß und romantisch, genauso wie ich es mochte, ich futterte Chips, kuschelte mich an Mikans Seite und fühlte mich wieder halbwegs gut. Ab und zu sah sie mich an und lächelte. Alles schien wieder so weit okay, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als es im Film sexuell zur Sache ging. Irgendwie vertrug ich das in diesem Moment nicht. Sonst sah ich immer ganz normal hin, fühlte mich davon angenehm leicht erregt und mochte solche Szenen, aber heute konnte ich mir das irgendwie nicht anschauen. Ich blickte zu Mikan, die interessiert zusah, und starrte dann selbst knapp am Fernseher vorbei zum Fenster. Und während das Liebespaar im Film lustvoll seufzend und küssend unter einer raschelnden Bettdecke verschwand, und meine beste Freundin, die mich von Anfang an gefriendzoned hatte, dabei zusah, kam mir der Gedanke, warum ich, ausgerechnet ich, eigentlich hetero war. Ich dachte an Tsuzuku, der anscheinend bisexuell war, und der nach früheren Abenteuern mit Mädchen jetzt seine Liebe fürs Leben in einem anderen Mann gefunden hatte, und an Meto, der nur auf Kerle stand und zwischenzeitlich gleich zwei Interessenten gehabt hatte. Irgendwie erschien es mir auf einmal fast so, als seien Männer leichter zu bekommen, und ich als Hetero-Mann ziemlich alleine, zumindest als einer, der nun mal gern süß und mädchenhaft aussah. Mein Aussehen hatte doch absolut nichts mit meiner Sexualität zu tun, es war einfach nur mein Schönheitsideal, mehr nicht. Warum war das so schwer zu sehen?! Ich konnte doch auch nichts daran ändern, dass ich mich sexuell nun mal nur zu Frauen hingezogen fühlte! Ich richtete mich auf, tat, als müsste ich mich ein wenig strecken, doch eigentlich wollte ich nur ein wenig Abstand zu Mikan bekommen. Sie sah mich fragend an und ich tat wiederum so, als müsste ich mich nur bequemer hinsetzen. Der Film war inzwischen über die erotische Szene hinweg und lief normal weiter, doch jetzt konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich achtete nur noch darauf, dass der Abstand zwischen Mikans und meinem Körper nicht zu klein, aber auch nicht zu groß wurde, schwankte dazwischen, mich an sie kuscheln zu wollen, weil ich mich nach Nähe sehnte, und ihr nicht zu nahe zu kommen, weil sie ja nur meine beste Freundin war. Und irgendwann, als der Film fast vorbei war, wurde mir klar, was ich da tat: Ich hatte Mikan lieb, sehr lieb, ich stand auf sie, und der Abstand zwischen uns war nur da, weil ich nicht wusste, ob von ihrer Seite nicht doch mehr als nur Freundschaft möglich war. Und mir kamen schon wieder fast die Tränen, als ich daran dachte, dass sie mich nur als besten Freund sah, und als halbes Mädchen noch dazu. Jeden weiteren Gedanken verbot ich mir. Ich durfte jetzt nicht zulassen, dass meine Gefühle und Hormone mit mir durchgingen und ich am Ende noch etwas tat, was unserer Freundschaft schadete. Zum Beispiel, sie zu umarmen und zu küssen. ‚Nein!‘, dachte ich energisch. ‚Koichi, willst du wohl aufhören damit?!‘ Mikan sah mich wieder fragend an. „Ko, alles okay?“ „Ja, alles gut“, beeilte ich mich zu sagen und dachte dabei nur daran, sie in meine Arme zu nehmen. Ich starrte geistesabwesend auf das Bild auf ihrem pastelllila T-Shirt, eine kleine schwarze Katze, und bemerkte zwei Sekunden zu spät, dass ich eigentlich das anstarrte, was sich unter dem Shirt befand, die sanften, weichen Rundungen ihrer Brüste. Ich blinzelte, blickte an ihr vorbei, und wusste auf ihren leicht verwirrten Blick nichts zu antworten. Überhaupt hatte ich absolut keine Ahnung, wie ich ihr beibringen sollte, dass ich mehr von ihr wollte und eben nicht die männliche ‚beste Freundin‘ war, für die sie mich hielt. Ich stand auf und stellte den Fernseher und den DVD-Player aus. Und als ich mich wieder zu Mikan umdrehte, da sah sie, obwohl sich eigentlich gar nichts verändert hatte, auf einmal so schön aus, mit ihren knapp über schulterlangen, blond-lila Haaren, ihren leuchtenden, braunen Augen und ihrem süßen Fairy Kei-Outfit, so wahnsinnig schön. Sie lächelte. „Koichi, was starrst du mich so an?“ Ich konnte nicht anders, als halbwegs ehrlich zu sein. „Du siehst heute so hübsch aus.“ „Danke. Du auch.“ „Ich bin nicht mal geschminkt“, erwiderte ich trocken und hatte endlich das Gefühl, dass alles wieder halbwegs normal war, dass ich mich wieder gut und sicher fühlte, zumindest für den Moment. Mit einem Unterschied: Ich wusste jetzt zumindest bei einer Sache, was los war. Auch, wenn ich noch keine Ahnung hatte, was daraus werden würde. „So, ich glaube, die Grippe haben wir abgewehrt. Du siehst jedenfalls wieder okay aus“, sagte Mikan schließlich und stand auf. „Wollen wir noch was machen, oder soll ich wieder gehen?“ Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass sie und ich morgen zusammen nach Tokyo wollten. „Geh mal lieber“, sagte ich. „Wir sehen uns ja morgen.“ Mikan lächelte. „Stimmt. Soll ich dich dann abholen?“ „M-hm.“ Ich nickte. Sie ging in den Flur, zog sich Schuhe, Jacke und Mütze wieder an und nahm ihre Tasche. „Also dann, bis morgen, Koichi.“ Und ehe ich etwas sagen oder tun konnte, hatte sie sich vorgebeugt und mir einen Kuss auf die Wange gedrückt. „Hab dich lieb.“ „… Ich dich auch …“, erwiderte ich, mehr automatisch, meine Wange fühlte sich heiß und kalt zugleich an. Sie lächelte mir noch einmal zu, dann schloss sie die Tür hinter sich und ich hörte ihre Schritte im Treppenhaus. Ich blieb noch ein paar Augenblicke im Flur stehen. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich war schon wieder den Tränen nahe. Am liebsten hätte ich jetzt Tsuzuku angerufen und ihm alles erzählt, aber dafür war es jetzt eindeutig zu spät. Sicher lag er jetzt mit Meto im Bett, vielleicht schliefen sie sogar miteinander, oder sie waren beide längst im Land der Träume, bestimmt glücklich umarmt. Ich hatte nicht allzu viele männliche Freunde, und der einzige von ihnen, der mir nahe genug stand, dass ich mit ihm über so etwas hätte sprechen können, war nun mal Tsuzuku. Er hatte mir letztens ja sogar von sich aus angeboten, dass ich, wenn ich mal jemanden zum Reden brauchte, auch zu ihm kommen konnte. Ich dachte an ihn und Meto, daran, wie glücklich die beiden trotz aller Schwierigkeiten miteinander waren und wie süß ich sie als Paar fand. Und auf einmal spürte ich einen fiesen kleinen Stachel im Herzen, einen neidischen Stachel, weil die zwei einander hatten und ich allein war. ‚Morgen …‘, dachte ich, ‚Morgen bin ich den ganzen Tag mit Mikan zusammen. Da hab ich bestimmt eine Gelegenheit, sie unauffällig zu fragen, wie sie mich eigentlich sieht.‘ Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen, merkte jetzt erst, wie müde ich schon wieder war, und ging noch schnell ins Bad, um mich bettfertig zu machen, und dann in meinem Schlafzimmer zu verschwinden. Ich zog mich bis auf die Shorts aus und legte mich einfach so ins Bett, hatte irgendwie keine Lust, noch meinen Schlafanzug anzuziehen. Liegend schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper, streichelte mich selbst und spürte dabei deutlich, was tagsüber durch süße Kleidung und Make-up verdeckt wurde: Dass ich ein Mann war und das gerne, dass ich meinen Körper mochte, wie er war, und endlich wollte, dass Menschen wie Mikan das auch irgendwie sahen. Gerade Mikan. Nur hatte ich keine Ahnung, wie ich ihr das erklären sollte, ohne unserer Freundschaft zu schaden, von der ich insgeheim hoffte, dass mehr daraus werden konnte. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, es mir noch ein bisschen gemütlicher zu machen, mir irgendwas Erregendes vorzustellen und mir dann darauf einen runterzuholen. Das hatte ich schon eine Weile nicht mehr gemacht und eigentlich verspürte ich jetzt Lust darauf. Doch da ich befürchtete, dabei dann doch an Mikan denken zu müssen, ließ ich es lieber, rollte mich unter der Decke zusammen und schlief auch gottseidank bald ein. „Piep-piep … piep-piep … piep-“ Ich streckte die Hand unter der Decke raus und versetzte meinem Wecker einen mehr oder weniger gezielten Schlag auf den Knopf an der Oberseite. Das Piepen verstummte und ich zog die Decke, die mich bis über den Kopf zudeckte, weg, atmete kühle Zimmerluft. Anscheinend hatte ich gestern vergessen, die Heizung im Schlafzimmer aufzudrehen, denn es war kälter als sonst. Und so traute ich mich nur langsam unter der Decke hervor, fühlte mich ein bisschen wie ein kleines Tier nach dem Winterschlaf und es dauerte ein wenig, bis ich es wagte, sie beiseite zu ziehen und meinen bis auf die Shorts unbekleideten Körper der kühlen Luft auszusetzen. Fröstelnd rieb ich mir die Arme und beeilte mich, ins Bad zu kommen. Dort angekommen, stellte ich das Wasser heiß, streifte mir die Shorts vom Leib und verschwand erst einmal in der Dusche, genoss die Wärme und wusch mich ausgiebig, vertrieb gleichzeitig die Müdigkeit und sorgte selbst dafür, dass ich mich gut fühlte. Dabei kehrte langsam die Erinnerung an gestern zurück, daran, wie traurig ich gewesen war, daran, wie Mikan mich besucht hatte, und was sich zumindest von meiner Seite her zwischen uns verändert hatte. Noch kam ich ganz gut damit klar und vielleicht würde ich heute sogar mit ihr darüber reden können. Doch ich ahnte, dass das nicht ganz einfach werden würde. Als ich aus der Dusche kam und gerade dabei war, mich abzutrocknen, schrillte das Telefon. Ich wickelte mich schnell in mein Handtuch und huschte auf den Flur raus, sah Mikans Nummer auf der Anzeige und hob ab. „Hey, Kocha, bist du schon auf?“ Sie klang fröhlich und vorfreudig. „Ich komm gerade aus der Dusche.“ „Ich ruf nur an, weil ich dachte, ich hole uns noch Frühstück.“ „Meinetwegen.“ „Okay, bis gleich!“ So schnell ich konnte, war ich wieder im Bad, trocknete mich ab und versuchte, meine langen Haare so schnell wie möglich ebenfalls trocken zu bekommen. Und als ich kurz darauf im Schlafzimmer vor meinem Kleiderschrank stand und überlegte, was ich anziehen sollte, entschied ich mich für recht schlichte Sachen, bei denen das Wichtigste war, dass ich sie in den Umkleidekabinen der tokyoter Läden leicht an – und ausziehen konnte. Mein Makeup fiel ähnlich einfach aus, aus demselben Grund. Und als ich mit allem fertig war, vor dem Flurspiegel stand und mich für gutaussehend befand, klingelte es auch schon an der Tür. „Hey, Ko!“, begrüßte Mikan mich fröhlich, als ich öffnete, strahlte mich an und hielt eine Tüte hoch, auf der der Name der französischen Bäckerei am Bahnhof stand. „Wie geht’s dir?“ „Besser als gestern auf jeden Fall“, antwortete ich. „Das ist doch schon mal schön.“ Sie lächelte, ich ließ sie rein und sie zog Jacke und Schuhe aus. Wir frühstückten zusammen, unterhielten uns aber nicht allzu viel, da wir beide noch ein wenig müde waren und, statt zu reden, lieber aus dem Fenster schauten, wo die rote Morgensonne hinter den Häusern rauskam. „Du siehst gut aus heute, Koichi“, sagte Mikan irgendwann und sah mich an. Ich lächelte, nahm einen Schluck Tee und antwortete dann: „Danke. Du auch.“ Sie sah heute wirklich hübsch aus. Ihr Outfit war ähnlich shoppingtauglich wie meines, aber insgesamt doch etwas auffälliger und niedlicher. Sie trug ein rüschenbesetztes rosa T-Shirt mit Lolita-Print, einen kurzen, getupften Faltenrock, bunte Kniestrümpfe und rosa Schuhe mit leichtem Absatz, hatte ihre Haare zu zwei offenen Zöpfen gebunden und rosa-blauen Lidschatten aufgelegt. Als ich merkte, dass ich sie anstarrte, blickte ich schnell wieder aus dem Fenster. „Findest du mich hübsch, Ko?“, fragte sie, hatte es anscheinend bemerkt und beugte sich lächelnd ein wenig vor. „Du … bist immer hübsch …“, antwortete ich ein wenig verlegen und nahm den letzten Bissen von meinem Brötchen. Nach dem Frühstück packte ich meine Handtasche (die Westwood-Tasche mit dem Bambi drauf), zog meine Jacke an und suchte noch kurz nach passenden Schuhen, entschied mich der Bequemlichkeit halber für rosa Chucks, die schön zu meiner pastellblauen Hose passten. „Na dann, auf nach Tokyo!“, rief Mikan durchs Treppenhaus, während ich noch meine Jacke anzog. Dann machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Wir fuhren erst mit der Stadtbahn zum Hauptbahnhof und nahmen von dort den Shinkansen in Richtung Tokyo. Es war schon relativ voll und als wir einen Platz gefunden hatten, wo wir nebeneinander sitzen konnten, holte ich mein Handy raus und machte mir erst mal Musik an. Eigentlich war das ja etwas unhöflich, Musik zu hören, während ich mit meiner besten Freundin unterwegs war und mich auch hätte mit ihr unterhalten können, aber ich wusste gerade nicht mehr so recht, worüber wir hätten reden sollen. Die Dinge, die ich mit ihr besprechen sollte, passten besser in ein Café oder dergleichen, nicht in den Zug, wo es vielleicht jemanden gestört hätte. Mikan tat es mir gleich und so saßen wir eine ganze Weile nur nebeneinander, jeder in seine Musik vertieft und mit sich selbst beschäftigt. Irgendwann tippte sie mich an, ich zog mir den Ohrhörer aus dem Ohr und sah sie fragend an. „Ko, sag mal, geht’s dir wirklich besser? Ich denke gerade so darüber nach, ob wir nicht vielleicht doch besser erst nächste Woche gefahren wären, wenn du dich wieder ganz gut fühlst …“ „Nein, nein, das ist schon gut so“, antwortete ich schnell. „Ich weiß ja selber nicht genau, was mit mir los ist, da ist so ein Ausflug ‘ne gute Idee. Es lenkt mich ab.“ „Also war’s keine Grippe oder so, was du gestern dachtest, dass du’s kriegst?“ Ich schüttelte den Kopf. Sollte ich Mikan zumindest davon erzählen, dass ich mich so furchtbar traurig und verkannt gefühlt hatte? Oder hob ich das besser für einen geeigneteren Zeitpunkt auf? „Ich war einfach … irgendwie traurig, weiß auch nicht, warum“, sagte ich schließlich leise und stellte die Musik aus, die durch den anderen Hörer immer noch in meinen Kopf schallte. „Aber jetzt geht’s wieder?“ „Ja. Ich freu mich drauf, dass wir nachher in Harajuku sind und uns einen schönen Tag machen.“ Mikan lächelte, beugte sich vor und umarmte mich, einfach so. Augenblicklich fing mein Herz an zu klopfen wie verrückt und ich musste mich richtig zusammenreißen, um sie nicht viel zu eindeutig zurück zu umarmen. Den Rest der Fahrt über redeten wir über Klamotten, über die Läden, in die wir wollten, und all so was, schnitten beide das Thema ‚Koichi geht’s nicht so gut‘ nicht mehr an. Wir fuhren bis zum nächsten großen Bahnhof in Tokyo und nahmen von dort die Yamanote-Linie nach Shinjuku. Schon in der Bahn waren ein paar Leute unserer Szene zu sehen, Visual-Cosplayer und Leute in modischen Eigenkreationen. Obwohl es ja in unserer Heimatstadt ebenfalls eine Visu-Szene gab, die in Tokyo war noch mal etwas ganz anderes. Hier erschien mir alles noch auffälliger, noch kreativer und bunter, auch irgendwie originaler. Ich freute mich schon auf die Harajuku-Brücke, darauf, von dort ein paar Ideen mitzunehmen für meine eigenen Looks. Als wir in Harajuku ausstiegen, war ich Koichi im Wunderland, fühlte dieses vorfreudige Shopping-Kribbeln und war mit einem Mal richtig gut drauf. Für eine Weile waren alle traurigen Gedanken beiseite gewischt und ich genoss das schöne Wetter, bewunderte die tollen Outfits um mich herum und folgte Mikan, die zielsicher auf die Takeshitadori zusteuerte. Was dann folgte, war ein Shoppingstrip der Extraklasse. Extravagante Schuhe, bunte T-Shirts, Hosen, süße Kleider, fluffige Röcke und jede Menge Schmuck, ich probierte eine Unzahl Kram an, auch vieles, was ich dann gar nicht kaufte. Aber genau das machte mir Spaß: Verrückte Sachen anprobieren, kombinieren, interessante Stilbrüche austesten, und dann nur die schönsten Teile wirklich kaufen. Und nachdem wir die Takeshita gründlich abgeklappert hatten und mit vollen Einkaufstaschen auf dem Weg zu Closet Child waren, fühlte ich mich, als hätte ich irgendwas genommen, war aufgedreht und kribbelig. Gut, dass mein Job im Café so ausnehmend gut bezahlt wurde. Closet Child war immer noch mal etwas Besonderes. Weil es eben ein Second-Hand-Laden war und sie dort viele Sachen hatten, die es woanders längst nicht mehr gab. Alles war schön nach Brands sortiert und für einen Markenliebhaber wie mich absolut perfekt. Oft schon hatte ich dort wundervolle Sachen gefunden, nach denen ich zuvor jahrelang gesucht hatte. Als wir den Laden erreichten und betraten, strebte ich zielsicher auf die Ecke mit den Westwood-Sachen zu und erblickte dort schon von weitem eine rote, herzförmige Handtasche, die mein Herz augenblicklich höher schlagen ließ. Allein schon das goldene Westwood-Planetenlabel, welches groß und gut sichtbar mitten auf dem roten Leder leuchtete, begeisterte mich, und ich nahm die Tasche aus dem Regal, schaute nach dem Preis. Dabei entdeckte ich auf der Rückseite einen kleinen Kratzer, aber der störte mich nicht. Kleine Schäden bei einem Second-Hand-Teil sprachen ja nur davon, dass es zuvor jemandem gehört hatte, der es oft benutzt hatte. Und der Preis war auch gut danach. Mikan kam mir lächelnd hinterher. „Na, Kocha, hast du ein neues Schätzchen gefunden?“ Ich nickte begeistert. „Ist die nicht wunderschön?“ „So eine hast du doch schon, oder?“ „Ja, aber nur in Schwarz. Die hier ist rot. Rot wie die Liebe.“ „Koichis Liebe zu Designerhandtaschen, haha“, lachte Mikan. „Lass mich, ich mag so was halt!“, konterte ich gespielt beleidigt und hängte mir die Tasche übers Handgelenk, da ich soeben in der nächsten Abteilung ein wahnsinnig niedliches Oberteil entdeckt hatte und mir das ebenfalls ansehen wollte. Es war unverkennbar Frauenkleidung, aber ich sah es und wollte es haben. „Sag mal, Ko, hast du eigentlich noch genug Geld oder überziehst du deine Karte schon wieder?“ „Ich glaube, für das beides hier reicht‘s noch. Und wir können danach auch noch ein Crêpe essen gehen“, antwortete ich. „Na dann, die beiden Sachen noch. Aber mehr dann auch nicht“, sagte Mikan mit leichter Strenge und deutete auf die beiden großen Tüten, in denen sich unsere modischen Errungenschaften aus der Takeshita befanden. Ich schnappte mir das Oberteil und ging es anprobieren, stellte meine zum Glück leicht an- und ausziehbaren Schuhe ordentlich vor der Umkleide ab und schloss den Vorhang hinter mir. Die rote Handtasche hängte ich an einen der Kleiderhaken, zog dann das Top an und betrachtete mich im Spiegel. Zwar hatte ich heute schon sehr viel anprobiert, aber das hier war mein Lieblingsladen und ich hatte einen Moment Ruhe. Das Top war wirklich schön und es stand mir richtig gut. Rosa Rüschen, Blümchenmuster, bauchfrei, ein richtiges Mädchenteil, das wunderbar zu meinen Haaren passte und mein Bauchnabelpiercing betonte. Einen Moment lang schaute ich mich nur an, von vorn und von der Seite, und dabei kam mir wieder in den Kopf, was ich Mikan hatte fragen wollen. Es war kein Wunder, dass sie mich als halbes Mädchen ansah, wenn ich mir rote Handtaschen und rosa Rüschentops kaufte und meine rosa Haare so wie heute in zwei schmalen Zöpfen trug. Irgendwie musste ich meine beste Freundin auf das Thema ansprechen, aber ich wusste einfach nicht, wie. „Und?“, fragte sie von draußen. „Wie sieht’s aus, das Teil?“ Ich öffnete den Vorhang und trat aus der Kabine. „Wow! Das ist ja süß, das Top!“ Mikan war richtig begeistert, fangirlte mich fast schon. Und ich dachte, dass es wirklich nicht einfach werden würde, ihr zu sagen, wie ich mich dabei fühlte. Einerseits mochte ich es ja, wenn sie sich so über meine feminine Art und mein süßes Aussehen freute. Aber auf der anderen Seite fühlte ich mich eben nicht richtig wahrgenommen. Und das stimmte mich, nachdem ich die letzten zwei, drei Stunden wirklich gut drauf gewesen war, wieder ein wenig nachdenklich. Ich ging das Top und die Tasche bezahlen, und dann ging es den Weg zurück, ganz bis zur Harajuku-Brücke, um uns im dahinter gelegenen Yoyogi-Park etwas zu Essen an einer der Imbissbuden zu holen. Und als wir dann an einem der Tische im Park saßen und jeder unser Crêpe aßen, da suchte ich nach dem richtigen Moment, um Mikan auf das Thema ‚Wie siehst du mich eigentlich‘ anzusprechen. „Mikan …?“, begann ich schließlich, „Sag mal …“ Weiter wusste ich nicht. „Hm?“ Sie sah mich fragend an. „Koichi?“ Jetzt hatte ich es angefangen, wusste aber nicht, wie ich die ganze Sache ausdrücken sollte. Immerhin war damit auch mein verändertes Interesse an ihr verbunden und ich wollte ihr keinesfalls jetzt schon mit meinen Gefühlen ankommen, die ich ja nicht mal für mich selbst so ganz sortiert hatte. „… Sag mal … ähm … also …“, begann ich wieder, und dann kam es wie von selbst raus: „Sag mal, siehst du mich eigentlich als vollwertiges männliches Wesen an?“ Mikan sah mich mit großen Augen an. „Huh? Was ist denn das für ‘ne Frage?“ „Na ja … ich denke da in letzter Zeit irgendwie viel drüber nach und …“ Wieder wusste ich nicht weiter, blickte auf meine Hände. „Hast du ‘ne Identitätskrise oder so?“ ‚Nein, weißt du, ich frag so was aus Spaß …‘, dachte ich ironisch, sagte aber: „So was in der Art.“ Mikan lachte verlegen, sah mich einen Moment an und erwiderte dann: „Ich … weiß nicht. Du bist halt einfach Koichi und … ich mache mir ehrlich gesagt gar nicht so viele Gedanken um dein Geschlecht.“ Ich hatte zwar vorhergesehen, dass solche Worte mir einen Stich versetzen würden, auch wenn sie nicht annähernd verletzend gemeint waren, doch es überraschte mich selbst, wie weh es tat. Anscheinend hatte ich da neuerdings einen wunden Punkt. Seltsam, denn früher hatte mir das noch nicht so viel ausgemacht. Und offenbar war mir anzusehen, dass ich verletzt war, denn Mikan sah mich wieder mit großen Augen an und fragte mit Vorsicht in der Stimme: „Ist das … irgendwie ein Problem für dich?“ Und als ich nicht antwortete, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, fragte sie weiter: „Möchtest du, dass ich dich … mehr als Mann ansehe?“ Ich nickte und spürte dabei die in mir aufsteigenden Tränen. Schnell blinzelte ich, um meine blauen Kontaktlinsen an ihrem Platz zu halten, dass sie mir nicht wegschwammen. Und natürlich blieb das nicht unbemerkt. „Oh mann, das macht dich traurig, oder?“ Mikan streckte die Hand aus und ergriff über den Tisch hinweg meine. „Okay, ich werde versuchen, dich nicht mehr so … wie ein Mädchen zu behandeln. Du bist einer meiner allerbesten Freunde, und ich will ja, dass du dich bei mir wohl fühlst.“ „Danke.“ Ich versuchte ein leichtes Lächeln, das mir jedoch kaum gelang. Und dachte daran, dass ich sie wirklich richtig lieb hatte. Wir machten uns dann bald wieder auf den Heimweg, hatten beide kein Geld mehr und auch keine Lust, noch länger hier herumzulaufen. Meine Füße taten auch ein bisschen weh und ich war ziemlich müde, weshalb ich, als wir dann im Shinkansen nach Hause saßen, fast einschlief. Mein Kopf sank an Mikans Schulter und ich schreckte auf, kniff mich leicht in den Arm, um wach zu bleiben. Sie begleitete mich noch bis zu meiner Bahnstation, nahm dann selbst den Zug zu sich nach Hause, während ich ebenfalls in Richtung meiner Wohnung fuhr. Dort angekommen, schminkte ich mich ab, zog bequeme Sachen an und setzte mich aufs Sofa, um ein bisschen fernzusehen. Aber im Fernsehen lief nichts Gescheites, weshalb ich den wieder ausschaltete, mir mein Handy nahm und überlegte, jemanden anzuschreiben. Es war noch recht früh, erst vier Uhr nachmittags, und schließlich schrieb ich eine SMS an Tsuzuku: „Hey, wie geht’s dir? Ich war heute in Tokyo, hab mir Mikan groß eingekauft. Wie war dein Tag?“ Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten und ich schaltete inzwischen mein Laptop ein, um meine sozialen Netzwerke zu checken. Es gab einige Neuigkeiten, aber nichts allzu Wichtiges, und dann klingelte auch schon mein Handy. Ich hob ab und hörte gleich Tsu’s Stimme: „Hey, Koichi. Du, ich weiß gar nicht so wirklich, ob es mir gut geht. Ich fühl mich seltsam, hab heute versucht, was zu zeichnen, aber ich habe es nicht hinbekommen. Und du warst in Tokyo? Hast du schöne Sachen bekommen?“ „Ja, ich hab ‘nen richtig großen Shoppingtrip gemacht, mit vielen süßen Sachen. Und …“ Ich stockte, wusste einen Moment nicht, ob ich Tsuzuku von dem Gespräch mit Mikan erzählen sollte oder nicht. Zwar hatte er mir ja letztens angeboten, dass ich mit ihm drüber reden konnte, wenn was war, aber wenn er wieder mehr mit sich selbst zu kämpfen hatte, wollte ich ihn auch nicht mit meinem Problem belasten. „Und was?“, fragte er in dem Moment. „Ist alles gut bei dir, Koichi?“ Er bemerkte anscheinend auch ohne dass ich etwas sagte, dass bei mir gerade nicht alles so gut war. „Na ja …“, begann ich schließlich, „Ich hab mit Mikan über was gesprochen … Weil … sie sieht mich als so eine Art ‚beste Freundin‘ und das … fühlt sich für mich nicht mehr gut an. Lach nicht, Tsu, aber … ich hab’s satt, bei Frauen immer nur in der Friendzone zu sein, und dass sie mich … halt so als halbe Frau ansehen.“ Ich hatte so halb erwartet, dass Tsuzuku darüber lachen würde oder so, aber er blieb ganz ruhig und ernst. „Das ist verständlich, Ko“, sagte er. „Du bist hetero, also willst du Frauen nicht nur als beste Freundinnen haben.“ Er schwieg einen Moment, dann fragte er: „Willst du mehr von Mikan?“ Ich nickte, erst dann fiel mir ein, dass er es ja nicht sehen konnte. „Ja“, sagte ich leise. „Irgendwie schon. Ein bisschen zumindest.“ „Wie viel? Ich meine, willst du nur mit ihr schlafen, oder richtig mit ihr zusammen sein?“ „Ich weiß nicht. Ich will sie als Freundin nicht verlieren.“ Langsam kam Klarheit in meine Gedanken und Gefühle zurück. Es tat gut, darüber zu reden, und ich war sehr froh, einen besten Freund wie Tsuzuku zu haben, mit dem ich solche Gespräche führen konnte. Und ich spürte, dass mich in meiner momentanen Lage das Reden mit einem anderen Mann irgendwie mehr entspannte, als wenn ich mit einer Frau über mein Innenleben gesprochen hätte. „Sag mal, Tsu … Wie war das eigentlich bei dir früher?“, wollte ich dann wissen. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete: „Du weißt ja, dass ich damals … ziemlich unbedacht war. Ich hab mir nicht wirklich viele Gedanken gemacht, und bin auch mit den Mädchen, mit denen ich zu tun hatte, nicht so gut umgegangen.“ Er lachte selbstironisch. „Es gibt da vieles, von dem ich heute denke, dass ich es gern anders gemacht hätte. Und ich hoffe, dass ich bei meinen damaligen Freundinnen keinen allzu großen Schaden hinterlassen habe.“ „Belastet dich das heute?“, fragte ich. „Ein bisschen. Es tut mir halt leid. Und … ich will niemanden mehr so behandeln wie die Mädchen damals. Deshalb gebe ich mir bei Meto alle Mühe, die ich aufbringen kann, lieb zu ihm zu sein. Weil … ich ihn mehr liebe als irgendjemanden zuvor.“ „Das merkt man, dass du ihn so liebst.“ Tsuzuku lachte leise. „Ich liebe ihn mehr als mich selbst.“ Und dann: „Na ja, wobei das auch nicht schwer ist … so wenig, wie ich mich selbst leiden kann.“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Was sagte man dem besten Freund, wenn er sagte, dass er sich selbst nicht mochte? „… Magst du … dich selbst wirklich gar nicht?“, fragte ich leise. „Na ja, manchmal mag ich mich schon. Aber … das ist immer nur kurz und oberflächlich. Wenn ich mich schön mache oder so, fühlt sich das gut an, aber im Grunde … hab ich einen Hass auf mich.“ „Wegen …?“, fragte ich, nur andeutend, nach seiner Mama. „Ja … Ich … ich kann mir das nicht verzeihen. Es … geht einfach nicht.“ Schon wieder ging ein Gespräch zwischen uns in eine gefährliche Richtung. Wir redeten erst ganz normal und dann waren da doch wieder diese Themen, die hochkamen, und bei denen ich mir Sorgen um Tsuzuku machte. Seine Stimme klang schon wieder so unglücklich und traurig, und ich fragte mich, ob Meto bei ihm war oder zumindest in der Nähe. „Tsu, ist Meto da irgendwo bei dir?“ „Er ist unter der Dusche. Wir waren heute im Schwimmbad.“ „Ihr geht da gerne hin, oder?“, fragte ich, einfach um das Thema zu wechseln. „Ja. Es gibt da so eine versteckte Ecke, wo es ganz schön ist, und wo ihn und mich nicht gleich jeder sehen kann. Und … wir machen das halt schon lange, dass wir zusammen baden gehen. Meto hat, seit ich ihn kenne, für solche Sachen gesorgt, als ich … noch auf der Straße war.“ Ich lachte leise. Die beiden waren wirklich süß zusammen. Diese süße Fürsorglichkeit und Zuneigung von Metos Seite und Tsuzukus besitzergreifende, intensive Liebe zu ihm, das war wirklich was Besonderes. Ich dachte an MiA, der versucht hatte, nah bei den beiden, deren Beziehung er wie alle anderen für enge Freundschaft gehalten hatte, einen Platz zu finden, weil er sich in Meto verliebt hatte. So, wie ich das verstanden hatte, hatte Meto zuerst nicht mal selbst gewusst, dass das zwischen Tsu und ihm mehr Liebe als Freundschaft war. Und sicher hatte er sich von MiA eine Art Entlastung gewünscht, weil ihm die Sorge um Tsuzuku, dem es damals ja noch schlechter gegangen war, über den Kopf gewachsen war. Ich hatte mich ja auch einmal mit MiA unterhalten und er war ja sehr nett gewesen, sodass ich gedacht hatte, wir könnten uns vielleicht ein bisschen anfreunden. Und auch jetzt dachte ich wieder daran, dass wir uns bestimmt gut verstanden hätten, aber meine Loyalität zu Tsuzuku hielt mich davon ab, Kontakt zu MiA aufzunehmen. „Koichi?“, riss mich Tsus Stimme aus meinen Gedanken. „Bist du noch da?“ „Ja, ja, bin ich. Ich … hab nur eben über was nachgedacht.“ „Über was denn?“ „Ach, nichts weiter, nur dass Meto und du echt süß zusammen seid …“ „Du und Mikan gebt sicher auch ein tolles Paar ab“, erwiderte er. „Aber nicht so süß und besonders wie ihr beide. Ich mag Mikan sehr gern, aber diese starke Liebe zwischen Meto und dir, das ist einfach so was Besonderes.“ „Hm, da könntest du Recht haben. Ich … frage mich manchmal selbst, ob ich nicht wahnsinnig geworden bin … und wie ich so jemand Süßes wie Meto eigentlich verdient habe.“ „Geliebte Menschen verdient man sich nicht. Liebe ist ein Geschenk“, antwortete ich. „Du musst sie nur annehmen.“ „Das ist gut, Ko, da werde ich drüber nachdenken“, sagte Tsuzuku, „Du, Meto kommt gerade wieder. Ich werde ihn jetzt in den Arm nehmen und küssen und ihm sagen, dass ich ihn liebe, und du machst demnächst dasselbe mit Mikan, okay?“ „Mal sehen, wann ‚demnächst‘ ist …“, antwortete ich. „Aber ja, werde ich machen.“ Es knackte in der Leitung, Tsu hatte aufgelegt. Aber dieses Mal hatte ich keine Sorge um ihn. Zwar war das Gespräch an für ihn schmerzhafte Themen gekommen, doch zum Schluss hatte er sich so entspannt angehört, dass ich mir keine Sorgen machte. Den Rest des Tages verbrachte ich auf der Couch vor dem Fernseher und sah mir Filme aus meiner Sammlung an. Unter anderem Bambi. Zwar musste ich an den traurigen Stellen ein bisschen schniefen, doch diese große, schwere Traurigkeit von gestern Abend stellte sich nicht wieder ein. Und als ich dann so richtig müde war, machte ich mich bettfertig und ging schlafen. Die Tüten mit meinen neuen Errungenschaften stellte ich vor meinen Kleiderschrank, die Sachen würde ich morgen Nachmittag nach der Arbeit einsortieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)