Bruderliebe von randydavies ================================================================================ Kapitel 1: ----------- ~°~1~°~   Das Wetter ließ nicht mehr an Sicht zu, vielleicht war es wirklich eine Schutzhütte, doch lag sie noch ein ganzes Stück von uns entfernt. Ich zuckte nur mit der Schulter, als Darian auf seine Antwort wartete und setzte einen Fuß vor den anderen, ging wortlos an ihm vorbei in Richtung des dunklen Schattens. Ob es eine Hütte war, konnte ich trotzdem noch nicht erkennen. Gut möglich, dass es nur ein Felsvorsprung war. Ich behielt die Vermutung vorerst für mich, nicht dass ich mich irrte und mein Bruder Grund hatte, mich noch mehr aufzuziehen. Der Weg vor mir war weiterhin gefährlich und meine Springerstiefel alles andere als zum Wandern geeignet. Der Schnee klebte an meinen Sohlen. Daher musste ich höllisch aufpassen, nicht auf den Steinen oder den dicken Wurzeln auszurutschen. Darian, dachte ich nebenbei. Seit du in mein Leben getreten bist, ist einiges anders und schrecklich kompliziert. Ich sah ihn ständig im Geiste vor mir, spulte sein Aussehen in Sekunden ab, während ich mich auf den Weg konzentrierte. Darian, mit seiner tollen, schlanken Figur, seinen unglaublich grünen Augen und seinen strohblonden Haaren, die er im Nacken kurz, aber an den Seiten und vorne lang trug. Er sah mit seinen 24 Jahren unverschämt gut aus. Ich komme eher nach meiner Mutter. Sie ist klein, zierlich und hat ein schmales Gesicht. Wenn ich auch nicht ganz so klein bin wie sie, aber immer noch klein für einen Mann. Mit meinen 1.70 m überragen mich die meisten Mädchen. Meine Haarfarbe ist im Gegensatz zu der meines Bruders schwarz. Zu allem Überfluss sind meine Augen grau, fast silbrig, sodass ich wirklich keine Schönheit bin. Ich besitze keine schönen grünen Augen wie Darian oder mein Vater. Nein, sie sind grau, wie die meiner Mutter. Aus meiner Sicht: hässlich und schwul. Ich gehöre zu der Sorte von Typ – unscheinbar eben. Ich erinnerte mich wehmütig an unser erstes Aufeinandertreffen, als ich Darian das erste Mal erblickte. Mir kam die Erinnerung vor, als wäre sie erst gestern passiert.   Meine Eltern und ich waren gerade mit dem späten Mittagessen fertig und ich dabei ein wenig für die Schule zu lernen, als es an der Tür klingelte. Das Englischbuch lag aufgeschlagen vor mir, als es ein weiteres Mal läutete und ich registrierte, dass weder meine Mutter noch mein Vater es für nötig hielten, an die Tür zu gehen. So erhob ich mich leicht missmutig und zu einem gefühlten Sklaven degradiert von meinem Platz auf. Manchmal fragte ich mich, ob das nicht pure Absicht war, mich zu schikanieren. Eltern eben! Ein Junge in meinem Alter, dreizehn, vielleicht auch etwas älter, stand mit blassem Gesicht und geröteten Augen vor mir, als ich aufmachte. Seine Augen waren das Erste, was ich an ihm registrierte. Grüne, leuchtende Augen. Sie hauten mich um, irritierten mich. Da ich ihn niemals zuvor hier in der Gegend oder auf dem Schulhof gesehen hatte, dachte ich gleich an einen frisch hinzugezogenen Nachbarn.   Ich weiß noch genau, wie ich ihn damals stumm, aber doch mit gewisser Neugierde betrachtet hatte.   Drei Häuser nebenan war ein Ehepaar frisch ins Reihenhaus eingezogen, mit einem schwarzen Mischlingshund, der ständig bellte. Kinder hatte ich keine gesehen, aber vielleicht gehörte er doch zu ihnen und war die ganze Zeit krank gewesen, so blass, wie er aussah. Dennoch, umso mehr ich ihn ansah … Seltsamerweise kam er mir vertraut vor. Mein Vater hatte den Fernseher angemacht, im Hintergrund liefen laut die Nachrichten im Ersten. Meine Mutter, wie immer mit dem Haushalt beschäftigt, klapperte mit dem Geschirr. Doch schließlich kamen sie beide dazu, als ich nicht auf ihr Rufen: „Wer an der Tür wäre?“, geantwortet hatte. „Darian Henning“, hatte er sich daraufhin vorgestellt und musterte uns merkwürdig in vertrauter Dreisamkeit. „Was willst du, ich kenne dich nicht?“ Ich hatte endlich meine Stimme wiedergefunden, hörte sich aber eher an, als ob ich röchelte. Dann kam für uns alle das überraschende Geständnis. „Ich möchte zu meinem Vater, ich bin sein unehelicher Sohn“, sprach der Junge namens Darian mit fester Stimme.   Das Gesicht meines Vaters werde ich wohl nie vergessen können. Er war aus allen Wolken gefallen, hatte es abgestritten. Männer! Aber auch ich hatte nicht schlecht gestaunt.   Während wir inzwischen alle um den Küchentisch versammelt waren, weil meine Mutter kein Aufsehen erregen wollte, schon alleine der Nachbarschaft wegen, erzählte Darian uns in Kurzform seine Geschichte. Die Ähnlichkeit zwischen meinem Vater und ihm war verräterisch, darum war er mir so vertraut vorgekommen. Die gleiche Haar- und Augenfarbe, ähnliche Gesichtszüge. Ich erinnerte mich an Vaters Kindheitsfotos, die er uns ein paar Mal mit Stolz präsentiert hatte. Bereits mit dreizehn war Darian ziemlich groß und schlaksig, genauso, wie es mein Vater in diesem Alter auch gewesen war.   Es irritiere mich immer noch, und nicht weil ich von da an einen Halbbruder hatte, sondern die sonderbaren Gefühle für ihn, die sofort da waren – anfänglich hielt ich sie wirklich für brüderliche.   Es passte alles. Mir war sofort klar, dass dieser Junge hier die Wahrheit sagte und Vater uns über Jahre hinweg belogen hatte. Als mein Vater uns weiterhin weismachen wollte, es handelte sich hierbei um einen Irrtum, die Ähnlichkeit wäre nur reiner Zufall, bestanden wir alle auf einen Vaterschaftstest. Erst recht, als Darian auch noch seine Geburtsurkunde vorlegte und sich die Beweislage gegen ihn verdichtete. Er schilderte uns auch, warum er nach seinem Vater suchte, da seine Mutter kürzlich an Krebs verstorben sei und er eine Familie brauchte. Erst da hatte er von seinem Vater erfahren. Welche Ironie, als ich auf die Urkunde starrte, so hat Darian am zweiten Weihnachtsfeiertag und ich an Heiligabend Geburtstag. Zudem sind wir beide gleicher Jahrgang. Der Test fiel, wie erwartet, positiv aus. Ich hatte davor auch keine Zweifel gehabt. Darian war wahrhaftig mein Halbbruder. Nun hatten wir es schwarz auf weiß auf Papier stehen. Ich fand es cool, einen Bruder zu haben. Kurz darauf zog Darian bei uns ein, als alles geregelt war. Er bekam sogar ein eigenes Zimmer, in dem der Dachboden umgebaut wurde. Vor dieser Zeit schlief er allerdings auf einer grauen Luftmatratze in meinem Zimmer. Diese Zeit, in der er bei mir war, nutzte ich aus, um ihn auszufragen. Ich war von Neugierde getrieben. Ich wollte so viel von ihm wissen, wie es nur ging. Er redete jedoch nicht viel über sich, blieb mir gegenüber stets reserviert. Ich schob es auf den Verlust seiner Mutter und dachte mir vorerst nichts dabei, auch wenn ich etwas enttäuscht war. Abends, wenn er vor mir eingeschlafen war, betrachtete ich ihn, war fasziniert von seinen schönen, gleichmäßigen Gesichtszügen, wenn er ruhig schlief. Anfänglich glaubte ich an brüderliche Gefühle, die ich für ihn empfand, wenn mein Herz schnell zu klopfen anfing, wenn wir zusammen Fußball spielten oder schwimmen gingen. Ich freute mich über unsere Zweisamkeit, wenn wir ganz alleine waren. Da schlug mein Herz dann noch einen Tick schneller – ich hatte nur Augen für ihn. In dieser Zeit weckte Darian noch ganz andere Gefühle - verborgene. Er rührte was in mir auf, was ich anfänglich nicht wahrhaben wollte und es erst verstand, als mir bewusst wurde, was anders war. Ich hatte mich in meinen Bruder verliebt. Es passierte immer öfter, wenn er schon tief schlief, dass ich ihn streichelte, ohne ihn zu berühren, damit er nicht wach wurde. Ich zeichnete über seinem Körper seine Konturen nach, stellte mir vor, wie es wäre, seine Haut zu berühren und wünschte mir, der Umbau vom Dachboden würde noch ewig dauern. Aber leider war das nicht der Fall. Als der Dachboden fertig umgebaut war und ich mein Zimmer wieder für mich alleine hatte, war die Situation für mich irritierend. Die Leere, ihn nicht mehr in meinem Zimmer zu haben, war eigenartig. Die Enttäuschung darüber noch viel größer, als ich spürte, wie sehr er mir fehlte. Mein Vater adoptierte, als der Papierkrieg zu Ende war, schließlich Darian, um ihm das Gefühl zu vermitteln, eine Familie zu haben. So wurde aus Darian Henning – Darian Müller. Er trug fortan den gleichen Familiennamen wie ich. Ich sollte mich glücklich schätzen, doch kam alles anders. Ich hatte das Gefühl, dass Darian sich mehr und mehr von mir zurückzog. Mein Bruder und mein Vater verstanden sich immer besser. Ich wurde ab diesem Zeitpunkt eifersüchtig, weil sie viel miteinander unternahmen. Anfangs ging ich bei ihren Angelausflügen noch mit oder wenn sie sich zusammen ein Fußballspiel anschauten. Doch bald spürte ich, dass ich das fünfte Rad am Wagen war. Vielleicht war es auch meine Schuld, durch mein komisches Verhalten den beiden gegenüber; ich wusste es nicht. Jedenfalls kam ich mir deplatziert vor, gerade weil mein Bruder nur Augen für unseren Vater hatte. Meine Mutter kam mit der neuen familiären Situation nicht zurecht. So sehr sie sich bemühte, sah sie in Darian die Untreue ihres Mannes und verfiel in eine schwere Depression und fing zu trinken an. Sie ertrug die Situation nicht mehr, stritt sich oft mit unserem Vater. Wir bekamen die Eskapaden der beiden immer mehr zu spüren und schließlich kam, wie es kommen musste, die Scheidung. Meine Mutter wollte, dass ich bei ihr blieb, weil sie meinem Halbbruder an allem die Schuld gab. Die Situation war grotesk, hatte Darian wirklich unsere Familie entzweit? Ich war mir nicht sicher, ob er tatsächlich der alleinige Grund war. Die Ehe meiner Eltern hatte zuvor schon nicht zum Besten gestanden. Vielleicht wäre sie irgendwann auch ohne ihn in die Brüche gegangen.   Ich denke, mein Bruder war nur einer von vielen Gründen, die den Dominoeffekt herbeigeführt hatten.   Ich lehnte kategorisch ab, mit meiner Mutter wegzuziehen, weil ich nicht von Darian getrennt sein wollte. Ein unsichtbares Band, das leider nur von mir ausging, zwang mich hier zu bleiben. Mein Bruder war wie ein Magnet für mich. Ich war so stark von ihm angezogen, obwohl zu dem Zeitpunkt unser Verhältnis nicht besonders war. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich wäre gleich mit meiner Mutter mitgegangen. Sie hingegen gab nicht auf, mich zu holen, war mit meiner Entscheidung nicht einverstanden. Der übliche Sorgerechtsstreit begann. Darian war das alles sehr unangenehm. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, sah ich sein trauriges Gesicht. In der Zeit hätte ich ihn so gerne in den Arm genommen. Einmal vertraute er mir an, dass er sich die Schuld an der Trennung gab. Ich versicherte ihm das Gegenteil und war glücklich, dass er mir das anvertraut hatte, obwohl es kein freudiges Geständnis war. „Du bist nicht Schuld, niemals, hörst du!“ Da nahm er mich spontan in den Arm, drückte mich kurz für die Worte. Von da an wusste ich, ich war verloren. Die erste richtige Berührung und ich war wie vom Blitz getroffen. Es war sogar so schlimm, dass ich mich zwei Tage lang weigerte, zu duschen, nur um ihn immer noch an mir riechen zu können. Eigentlich hätte ich auf Wolke sieben schweben müssen, aber das heimische Zuhause wurde immer unerträglicher, für jeden von uns. Der Streit meiner Eltern um mich eskalierte und ich wurde vom Richter gefragt, was ich denn wollte. Und ich sagte deutlich, was ich wollte. Ich wollte bei meinem Vater bleiben, was meine Mutter komplett aus der Fassung brachte und den Boden unter den Füßen wegzog. Zudem hatte man dem Richter mitgeteilt, dass sie an Depressionen und Alkoholproblemen litt. Einmal war sie zu der Verhandlung in einem äußerst desolaten Zustand erschienen. Ab da war klar, sie würde mich nicht bekommen. Sie musste erst einmal ihr eigenes Leben in den Griff kriegen. Man entschied sich gegen sie. Mein Vater bekam letztendlich das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Meine Mutter musste eine Entziehungskur machen, wenn sie die Besuchsrechte an mir nicht auch noch verlieren wollte. Mir hatte sie leidgetan, auch wenn sie mich manchmal mit ihren konservativen Ansichten in vielerlei Situationen in den Wahnsinn getrieben hatte, war sie doch meine Mutter. Ich legte schließlich bei meinem Vater ein gutes Wort für sie ein. Er gab nach, räumte ihr ein großzügiges Besuchsrecht ein. Damit war meine Mutter einverstanden. Und so ordnete meine Mutter ihr Leben neu, bekam rechtzeitig die Kurve und fing von vorne an. Lebte sogar nach kurzer Zeit in einer lockeren Beziehung mit einem etwas älteren Mann, den sie in der Kur kennengelernt hatte. Das war selbst für mich erstaunlich, bestätigte aber meinen Verdacht, den ich schon immer vermutet hatte: Die Ehe meiner Eltern hatte schon lange auf der Kippe gestanden. Ich durfte meine Mutter zum Schluss so oft besuchen, wie ich wollte, blieb in den Ferien zum Teil ganz bei ihr. Als ich älter wurde, fragte sie mich immer nach einer Freundin. Mütter! Wenn sie nur wüsste. Ich redete mich immer heraus. Als ich schon fast aus der Pubertät draußen und mir wirklich klar war, dass mich die Frauenwelt nicht reizen konnte, blieb Darian meine geheime Wichsvorlage. Mein Bruder war nach wie vor mein feuchter Traum. Ich litt und wusste, ich würde nach und nach eingehen, wenn ich nicht endlich von ihm loskommen würde. Er merkte und spürte meine Sehnsüchte nicht. Obwohl ich lieber seine Nähe suchte, distanzierte ich mich immer mehr von ihm, zog mich in ein Schneckenhaus zurück. Meine Familie hatte keinen blassen Schimmer, wie es um mich tatsächlich bestellt war. Sie ahnten nichts über die verbotene Liebe zu meinem Bruder und auch nicht, dass ich so oder so auf Männer gestanden hätte, wenn ich meinem Bruder nie begegnet wäre. Sie hielten mein Verhalten, mein in sich kehren, eher für eine Einsiedlerphase, die ich durchmachte, weil ich eben nie ausging. Da täuschten sie sich aber gewaltig. Es war keine Phase und ich blieb standhaft Jungfrau, auch wenn ich schon mehrmals die Gelegenheit dazu gehabt hätte, dies zu ändern. Die Illusion, mich für den Richtigen aufzusparen, hielt mich ein klein wenig aufrecht. Vielleicht klammerte ich mich auch an den Gedanken, mich für Darian aufsparen zu wollen. In dieser Sehnsucht verlor ich mich immer mehr. Solange dieser Zustand anhielt, in der ich nur ihn in meinen Gedanken hatte, konnte ich keinen anderen lieben. Der Spätzünder in mir manifestierte sich und blieb für die Außenwelt hartnäckig bestehen. Während ich zuhause las, dazu meine Musik hörte, baute mein Bruder immer weiter einen größeren Freundeskreis auf, betätigte sich in vielen Vereinen, war beliebt, besonders bei den Mädchen. Was mich aber am meisten schmerzte, war, dass er eine Freundin nach der anderen mit zu uns nach Hause brachte. Er ließ nichts anbrennen, was mich schließlich dazu veranlasste, mir das Ganze nicht mehr anzutun. Ich wurde mürrisch, ließ meine schlechte Laune an jedem aus – vor allem in der Schule. Also brach ich nach der 11. Klasse die Schule ab. Ich wollte ihn weder hier noch sonst wo sehen, und zog schweren Herzen zu meiner Mutter. Mein Vater, aber seltsamerweise auch Darian, bei dem ich dachte, er wäre froh, mich los zu sein, verstanden nicht, warum ich das getan hatte. Ich schlug eine Richtung ein, die weder ihm noch meinem Vater schmeckte und schon gar nicht meiner Mutter, weniger noch ihrem Lebensgefährten Helmut, der mich naserümpfend erduldete. Doch war ausschließlich Darian der Grund dafür, warum ich so war, und mich nun auch äußerlich veränderte. Von da an wurde das Verhältnis zu meinem Bruder noch kälter, wenn ich ab und an zu Besuch war und in meinem alten Zimmer übernachtete. Denn komplett schaffte ich es nicht, den Kontakt abzubrechen. Mein Bruder war fast immer arrogant zu mir, wenn ich zu Besuch kam. Er bezeichnete mich immer öfter als einen Versager, weil ich eine Lehre nach der anderen begann, aber sie alle nach kurzer Zeit abbrach, während er mit Bravour sein Abitur bestand. Zudem suchte ich verzweifelt eine kleine Wohngemeinschaft, weil der Partner meiner Mutter mich nicht mehr bei sich haben wollte und sie sich gegen ihn nicht durchsetzen konnte. Ich war zum Scheitern verurteilt, weil ich mich niemals allein über Wasser halten konnte. Sollte ich zu Darian und meinem Vater zurückkehren?   Die Erinnerung, sie war so nah – es schmerzte. Dabei hatte ich nicht gemerkt, dass ich stehen geblieben war. Erst als Darian vor mir knurrte: „Jetzt komm schon, Jaden, warum bleibst du immer stehen?“, hatte er mich endgültig aus meinen Gedanken, meinen Fantasien und Sehnsüchten herausgeholt. Ich seufzte, als mein Blick auf den viel zu prall gepackten Rucksack meines Bruders fiel, der doppelt so groß war wie meiner und ich nicht lang raten musste, um zu wissen, dass er auch wesentlich schwerer war. Ich fand meinen schon schwer genug, doch kein Vergleich zu seinem. „Siehst du sie jetzt? Kannst du sie sehen?“ Seine Stimme klang ungeduldig. Ich zwang mich, nicht mehr auf seinen Rucksack der Marke „Deuter“ zu starren. Als wir noch näher kamen, sah ich den Umriss nun viel deutlicher. Ich wischte mir den Schnee aus den Augen. „Ja, ich sehe sie“, gab ich zu verstehen. Ich erkannte eine schlichte Schutzhütte, hoch oben in den Bergen, die wirklich nur Schutz bieten sollte. Genau richtig bei solch einem überraschenden Wetterumschwung. Und für Schönwetter-Wanderer, wie wir es waren. Die jeden Ratschlag in den Wind geschlagen hatten und nun froh waren, Unterschlupf zu finden. Ich hatte schon die Bergwacht vor mir gesehen, mit ihren grimmigen Gesichtern, die uns retteten, wenn wir diese Hütte jetzt nicht angesteuert hätten. So betete ich insgeheim, dass die Hütte offen war und uns tatsächlich Schutz bieten würde. Darian schnellte nach vorne, sah sich die Holzhütte genauer an, die auf mich verlassen wirkte. Die Läden waren zugeklappt. Ich bildete es mir nicht nur ein; sie machte wirklich einen verlassenen Eindruck. Auch sah man keine Stromkabel oder einen Strommast, die darauf hinwiesen, ob sie bewohnbar war und mit Strom versorgt wurde. Das konnte heiter werden. Ich seufzte. Darian drückte als Erster von uns die alte, stark abgenutzte und zum Teil verrostete Klinke herunter, die übergroß an dieser Hüttentür angebracht war. Wir hielten beide vor Spannung den Atem an. Hoffentlich war sie nicht abgeschlossen, denn der Schneefall nahm immer mehr an Stärke zu und ich war nun richtig durchgefroren, klapperte bereits mit den Zähnen. Ächzend und stöhnend, als ob sie 1000 Jahre auf dem Buckel hatte, öffnete sich die Tür. „Glück gehabt“, meinte Darian erleichtert und ich nickte nur frierend und betraten die Hütte. Drinnen stellten wir ernüchternd fest, dass sie lange nicht mehr benutzt worden war. Als Darian sämtliche Fensterläden geöffnet hatte und man einen ersten Eindruck bekam, bemerkte ich trocken, dass die Hütte von außen einen wesentlich besseren Eindruck hinterlassen hatte als hier drinnen. Das spärliche Licht, das von draußen durch die stark verschmutzen Fensterscheiben hereingedrungen war, reichte nicht genügend aus, darum packte Darian seine kleine Lampe aus und schaltete sie an. Die Lampe erhellte den Raum sofort. Wir sahen den Verfall, die vielen Spinnenweben und was weiß ich, was noch an Krabbeltieren hier hauste. Ich muss auch nicht erwähnen, dass ich Ungeziefer nicht ausstehen kann. An manchen Stellen war das Glas an den Fenstern gesprungen.  Auch das noch! Dennoch wunderte es mich überhaupt, dass das Glas noch eher intakt war als der Rest. Vor allem, dass es gegen den Sturm standhielt. Doch für wie lange? Zudem war es hier schmutzig und ich ekelte mich, als ich den zusätzlich vermoderten Geruch bemerkte, der durch die Kälte und Nässe noch an Intensität zugenommen hatte. „Hier will ich nicht übernachten“, beklagte ich mich umgehend. Was ich von meinem Bruder jedoch erntete, war ein giftiger Seitenblick. „Wem verdanken wir das Ganze denn, hä?“ Darian stand nur da und wartete auf meine Antwort, da er gestern noch 1000 Argumente gegen unsere Wanderung ausgesprochen hatte. „Ich dachte, es wäre schön, wenn wir beide etwas zusammen unternehmen würden.“ Was für eine blöde Ausrede? Ich seufzte. „Unternehmen? Wir wohnen doch zusammen“, konterte er böse. Wir wohnten wirklich zusammen in einer Art WG mit seiner frisch eingezogenen Klette Stefanie. Susan, meine kumpelhafte Freundin, wusste als Einzige, was ich für meinen Bruder empfand und warum ich immer so defensiv reagierte, wenn er mich wieder auf dem Kieker hatte. Die beiden Frauen hatten sich auch diesen perfiden Plan ausgedacht. Zu einem Stefanie, weil sie meinte, den Samariter spielen zu müssen, und Susan, damit ich mir über die Gefühle für Darian endlich Klarheit verschaffen konnte. Schließlich wurde ich überredet und ich hatte zugestimmt. Bis jedoch Stefanie Darian um den Finger gewickelt hatte, war es eine schwerere Geburt gewesen. Doch stimmte er letzten Endes und schwereren Herzens zu, als ihm seine Argumente ausgegangen waren. Also war es nicht ganz meine Schuld. Wenn allerdings Stefanie von meinen wahren Gefühlen gewusst hätte, wäre sie bestimmt nicht dafür gewesen, sondern eher das Gegenteil wäre eingetreten. Fatale Lage, auf beide Seiten. Jetzt standen mein Bruder und ich hier, mitten im Nirgendwo, in einer staubigen, ruinenartigen und kalten Hütte, in der durch die gesprungenen Scheiben der kalte Wind herein blies. Ein Glück, dass es nicht noch hereinschneite, weil vielleicht ein Teil des Daches gefehlt hätte. Wenigstens das war uns erspart geblieben. Aber eines blieb mir nicht erspart. Mit einem immer wütender werdenden Bruder, der mich mit seinen Blicken nicht nur erdolchte, nein, er wollte gerade jetzt in diesem Moment garantiert meinen Tod, war die Situation für mich keinesfalls angenehm. Ich las es in seinen Augen. „Ich finde die ganze Situation saublöd“, brummte er nach einer Weile, weil ich die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Ich zog meine durchnässte Mütze vom Kopf und stopfte sie, völlig innerlich aufgelöst, in meine Jackentasche. Dabei hinterließ ich auf dem Boden eine kleine Pfütze. Die Emotion brach über mich herein. „Es ist nicht nur meine Schuld“, gab ich endlich gekränkt von mir. Mir kamen ungewollt die Tränen. Und das hatte nicht nur mit dem Wetter zu tun. Ich heulte, wenn auch stumm, wollte vor lauter Scham den Kopf wegdrehen, aber Darian hatte es schon gesehen. „Bruder“, meinte er schließlich und ich verzog missbilligend mein Gesicht. Ich mochte es nicht, wenn er mich nur mit „Bruder“ betitelte. „So war das nicht gemeint.“ Darian trat an mich heran und legte seine Hand auf meine feuchte Schulter. In der anderen hielt er weiterhin die Lampe und schaute sich um, wo er sie platzieren konnte. „Jetzt wäre es nicht schlecht, wenn unsere beiden Frauen hier wären.“ Frauen? Hier? Kurz war ich zusammengezuckt. Ich sah zu ihm. Unsere Blicke trafen sich, vertieften sich aber nicht. Mir wurde meine Ausweglosigkeit immer bewusster. Er konnte nicht wissen, dass Susan nicht wirklich meine richtige Freundin war. Sie war nur mein Alibi. Warum erzählte ich es ihm nicht einfach? Doch wie würde er reagieren? Wäre er von mir abgestoßen? Angewidert? Würde er mich rauswerfen? Darian liebte mich nicht so, wie ich mir das wünschte. Ich war nur sein verdammter Bruder, mehr sah er in mir nicht. Halbbruder, korrigierte ich mich gedanklich. Machte das die Situation besser? Nein! Ich schüttelte trotzig seine Hand ab. „Jaden.“ Auf einmal wusste er meinen Namen wieder? Ich war gekränkt. „Aus dir muss man erst einmal schlau werden?“, murmelte er kopfschüttelnd und entfernte sich von mir, um weiter die Hütte zu untersuchen. Meine Tränen waren versiegt, mein Entschluss stand fest. Lieber fiel ich dem Schneefall zum Opfer, als weiter meiner unstillbaren Sehnsucht nachzugehen und setzte es in die Tat um. Ich musste hier raus. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Darian sein Handy hervorgeholt hatte, und versuchte, eine Verbindung herzustellen. So merkte er nicht, wie ich mich leise aus der Hütte heraus schlich und davon lief.   Ich lief ungeachtet weiter, während meine Nase wieder tropfte und der Schnee mich munter frieren ließ. Ohne einen Plan zu haben, wohin ich lief, irrte ich in irgendeine Richtung.     (c) Randy D. Avies 2015 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)