Das Schicksal der Königin von HellyKitto ================================================================================ Kapitel 2: Lernen ----------------- Kapitel 2 - Lernen »Es gibt niemanden in diesem Königreich ...« Aufrecht sitzt Elsa in der Bibliothek des Schlosses, den Blick auf die aufgeschlagenen Seiten eines Buches gerichtet und voll und ganz dem Lehrer zuhörend. »... und während der schlimmen Armutskrise ...« Gerade geht es um die Vergangenheit Arendelles, das im Vergleich zu den anderen Königreichen der Welt noch relativ jung ist. Elsa kennt die Geschichte bereits auswendig. Sie ist gerne in der Bibliothek, liest viel und eignet sich somit viel Wissen selbst an. Sie wusste zum Beispiel bereits vor der Unterrichtsstunde, dass Arendelle, so jung es auch sein mochte, mehr Krisen durchmachen musste als zum Beispiel Weselton, das auf dem Festland im Süden liegt und vier oder fünf Generationen älter als Arendelle ist. Da war die Armutskrise gewesen, von der der Lehrer gerade spricht, die zur Zeit ihres Urururgroßvaters geherrscht hatte. Der Schreckliche Holger, so wird er in den Büchern genannt, war der zweite König des Reiches gewesen, hatte aber überhaupt kein Geschick gehabt für Handel, weshalb es auch kaum Geld gab und sich die Leute nichts leisten konnten. Ihnen fehlten die Mittel für die Landwirtschaft, um sich selbst zu ernähren und die Tiere zu füttern, die ebenfalls als Nahrungsquellen dienten. Der Schreckliche Holger jedoch hatte sein Leben in Saus und Braus gelebt, ein Fest nach dem anderen gegeben und somit auch das letzte Schwein des letzten Bauern gefordert. Aus den Büchern weiß Elsa auch, dass damals mehr als die Hälfte des Volkes an Hunger gestorben war, wie ihr Lehrer gerade mit einem Ton sagt, als ob sie es genauso machen würde, sobald sie Königin ist. »Die Jugend muss mit der Vergangenheit konfrontiert werden!«, sagt er feierlich und inbrünstig. »Sie muss aus Fehlern lernen, die die Vorfahren in der Vergangenheit begangen haben!« Elsa nickt ergeben. Seit sie von diesem alten Lehrer unterrichtet wird, hat sie schnell herausgefunden, dass er am zufriedensten ist, wenn sie einfach nur nickt, nicht nachfragt, nicht hinterfragt, nicht widerspricht und auch sonst den Mund hält. Er schätzt es nicht, unterbrochen zu werden, und er hasst es, wenn seine Ansichten kritisiert werden. Und noch mehr hasst er es, berichtigt zu werden. So wie jetzt, als er über die nächste Krise spricht, in der auf einmal das ganze Meer leergefischt zu sein schien und den Leuten lebenswichtige Stoffe ausgingen. Allen voran das Jod, welches besonders für schwangere Frauen extrem wichtig sei und vor schweren, gesundheitlichen Schäden schützen sollte. »Leider sind unsere Böden nach wie vor sehr jodarm«, sagt der Lehrer mit Bedauern in der Stimme. »Und keiner der Wissenschaftler konnte bis jetzt klären, warum das so ist ...« »Verzeihung«, räuspert Elsa sich und setzt ihren Besserwisserblick auf, den der Lehrer wirklich verabscheut, aber aus Respekt nichts sagen darf.»Hoheit?« Seine Stimme gleicht einem Krächzen. Er bereut es jetzt schon, das Thema angeschnitten zu haben, denkt Elsa, nimmt aber keine Rücksicht darauf. Dinge müssen klargestellt werden, sobald sie in eine falsche Richtung gehen. Das ist einer der Grundsätze ihres Vaters. »Die Wissenschaftler wissen, warum der Boden jodarm ist. Sie haben es herausgefunden, vor einiger Zeit.« Elsa weiß das, denn sie hat damals einem Wissenschaftler fasziniert dabei zugehört, wie er unter anderem von dieser Theorie gesprochen hat. Und für Elsa erschien sie damals schon logisch. »Sie haben untersucht, weshalb der Boden an manchen Stellen mehr und an manchen Stellen weniger Jod aufweist. Der Grund liegt in einer der früheren Eiszeitalter«, erklärt Elsa sachlich. Der Lehrer verschränkt die Arme vor der Brust und sieht sie abwartend an. »Als gigantische Gletscher diese Landschaft hier formten, haben sie das Jod des Bodens mit sich fortgeschoben, bis es ins Meer geriet und dadurch die Fische zu den wichtigsten Jodlieferanten gemacht hat.« Der Lehrer schiebt seine Brille auf der Nase zurecht. »Eure Hoheit«, spricht er mit Respekt, aber dennoch wie mit einem kleinen Kind, »das klingt doch recht unwahrscheinlich. Wie genau sollte sich das Jod denn aus dem Boden schieben lassen?« Auch darauf hat Elsa eine Antwort und sie lässt sich nicht beirren. Sie weiß, dass sie Recht hat, und er weiß das auch. »Das Schmelzwasser. Es hat das Jod aus dem Boden herausgespült. Es ist genauso wie mit einem ... einem ...«, Elsa denkt angestrengt nach und sucht nach einem passenden Vergleich. Dann fällt ihr etwas ein. »... einem Salatkopf!« »... der mit absoluter Sicherheit sagen kann ...« Der Lehrer wirkt überrascht und wiederholt: »Einem Salatkopf?« »Ja! Wenn Sie den zu lange unter fließendes Wasser halten, waschen Sie doch auch die ganzen Nährstoffe aus ihm heraus!« Still dankt Elsa ihrer Gerda, die ihr so unglaublich viel über Nahrungsmittel beigebracht hat. »So ist es mit dem Boden. Wenn Jahrhunderte lang Gletscherwasser darüber läuft und nach und nach den Boden formt, nimmt es die Nährstoffe, inklusive Jod, doch gleich mit und spült es ins Meer. Die Fische nehmen es durch die Nahrung auf und wir nehmen es durch die Fische auf.« Der Lehrer sieht tatsächlich sprachlos aus und Elsa nimmt sich vor, Gerda nach dem Unterricht einmal ganz doll zu danken. Dann räuspert er sich. »Nun, gut, wie dem auch sei.« Damit beendet er das Thema. »Nach der Fischkrise folgte die extreme Hitzewelle, während der der gesamte Fjord ausgetrocknet war und kein Schiff mehr den Hafen ansteuern konnte ...« Auch diese Geschichte kennt Elsa schon, sie seufzt leise und sagt nichts. Sie wendet den Blick von ihrem Lehrer ab und sieht aus dem großen Fenster nach draußen. Es scheint ein warmer Tag zu sein, die Sonne scheint, der Himmel ist blau und sie sieht Möwen ihre Kreise drehen. Eine Weile beobachtet sie eine der Möwen in ihrem grazilen Flug, während sie mit einem Ohr dem Lehrer lauscht. Er redet gerade von der schrecklichen Mückenplage, die das Königreich heimgesucht hat, nachdem der Fjord ausgetrocknet war. Sie hätten sich in dem sumpfigen Gebiet in Windeseile vermehrt und die Luft sei erfüllt gewesen von den fliegenden Viechern. Er redet so, als wäre er selber dabei gewesen. Elsa schürzt die Lippen und sieht den Lehrer wieder an. Na ja, denkt sie, so wie er aussieht, ist er auch dabei gewesen. Ein leichtes Lächeln kann sie sich nicht verkneifen und sofort wird sie vom Lehrer darauf angesprochen, der pikiert reagiert. »Amüsiere ich Eure Hoheit? Finden Eure Hoheit diese schreckliche Plage erheiternd?« Nein, aber dich, seufzt Elsa in Gedanken und schüttelt entschuldigend den Kopf. Mit einem Schnauben dreht sich der Lehrer von Elsa weg. Sie hört ihn etwas murmeln, etwas, das wie »kein Respekt« und »diese Jugend« klingt. Das mechanische Klingeln der großen Standuhr in der Ecke des Raumes verkündet das Ende dieser Unterrichtsstunde und Elsa ist so erleichtert, endlich aus diesem Raum zu kommen, dass sie keine Sekunde damit verschwendet, dem Lehrer auf Wiedersehen zu sagen, wie es sich eigentlich gehört. Stattdessen eilt sie in königlicher Manier aus dem Zimmer, über den endlos langen und leeren Gang hinüber in ihr Zimmer, öffnet schwungvoll die Tür - und ist erfreut, ihre kleine Schwester auf ihrem Bett zu sehen. Erschrocken sieht Anna hoch, ihre erdbeerblonden Haare, die zu zwei Zöpfen geflochten sind, wirbeln um ihren Kopf und in aller Eile versteckt sie ein dünnes Buch unter der Bettdecke. »Elsa!«, ruft sie aus, strahlt über das ganze Gesicht und springt vom Bett herunter. Anna ist 12 und benimmt sich auch genauso. Aufgeregt hüpf sie auf Elsa zu, nimmt sie an den Händen und bringt ihre drei Jahre ältere Schwester dazu, mit ihr zu hüpfen. Zwei, drei Runden lässt sie über sich ergehen, dann entwendet sie ihrer Schwester sanft die Hände. »Schon gut, Anna«, lächelt sie milde. Dann fragt sie neugierig: »Was hast du denn da versteckt?« Sie greift nach der Bettdecke und will sie mit einem kräftigen Ruck vom Bett ziehen, doch Anna springt mit einem Kreischen auf die Decke, bevor das Buch zum Vorschein kommt. »Nicht!«, fiept sie wie ein Tier. »Das geht dich nichts an!« Sie holt das Buch unter der Decke hervor und presst es an ihre Brust. Elsa, von Neugier gepackt, beugt sich über Anna, setzt sich auf ihre Hüften und beginnt, in ihre Seite zu piksen, was Anna laut aufkreischen lässt. In der Hoffnung, Elsa von sich herunter zu bekommen, greift sie nach ihrer Hand und hält sie fest, wodurch sie jedoch das Buch fallen lässt. Elsa sieht ihre Chance gekommen, wirft sich auf das Buch und reißt es somit an sich. »Nein!«, kreischt Anna wieder, will Elsa von dem Buch schieben, doch diese springt vom Bett und hebt es hoch über ihren Kopf, so hoch, dass die jüngere Anna keine Möglichkeit hat ranzukommen. Tränen treten ihr in die Augen und sie sieht wirklich böse aus. »Gib es mir zurück!«, faucht sie und Elsa fragt sich etwas unsicher, was denn in dem Buch stehen mag, dass Anna so außer sich ist. Unter anderen Umständen hätte sie spätestens jetzt nachgegeben und ihrer Schwester das Buch zurückgegeben, denn sie kann sie nicht weinen sehen. Doch heute ist es anders. Sie brennt vor Neugier auf den Inhalt, schlägt das Buch wahllos auf einer Seite auf und liest über ihren Kopf, damit Anna ihr das Buch nicht entreißen kann. Doch das Mädchen verkriecht sich bereits in ihrem Bett, zieht die Decke über den Kopf und gibt keinen Mucks von sich. Elsa liest. Laut. »... wie die Prinzessinnen Arendelles aussehen ...« »Mama und Papa hassen uns«, steht da fett als Überschrift, dem Datum zufolge, welches neben der Überschrift steht, ist das, was Anna da geschrieben hat, ein paar Wochen alt. Elsa keucht auf. »Anna!«, meint sie vorwurfsvoll zu dem Hügel unter der Decke, doch ihre Schwester rührt sich nicht. »Wie kommst du auf diesen Unsinn?« »Lies weiter«, kommt es gedämpft unter der Decke hervor und Elsa ist verwirrt. Was ist nur mit Anna los? Von der sonst so strahlend hellen, fröhlichen Natur ihrer Schwester ist heute nichts zu spüren. Elsa liest weiter. »Sie sperren uns ein, verbieten uns den Kontakt zu Gleichaltrigen, lassen uns keine Sekunde lang aus den Augen! Was läuft nur falsch mit ihnen? Wir haben doch nie etwas angestellt! Ich will doch nur einmal nach draußen, den Wind spüren, das Gras unter meinen Füßen fühlen, im Meer baden! Wieso darf ich das alles nicht?« Elsa schluckt und sieht wieder zu Anna, die mittlerweile ihren Kopf unter der Decke hervorgeschoben hat. »Anna ...«, beginnt sie, weiß aber nicht, was sie sagen soll. Anna sieht sie nicht an. Schuldgefühle sind ihr ins Gesicht geschrieben. Sie schämt sich für diese Sätze, für die Ungerechtigkeit in den Worten. »Ich habe Papa danach gefragt«, liest Elsa laut weiter und sie weiß sofort, was nun kommt. »Papa ist so wütend geworden wie noch nie. Er hat geschrien und getobt, mir verboten, jemals dieses Thema noch einmal anzusprechen. Er verheimlicht mir etwas. Uns. Elsa und mir. Ich will doch nur ein einziges Mal nach draußen!« Elsa weiß nicht, was sie sagen soll, und sieht nachdenklich zu Anna. Ihre Schwester hat Sehnsüchte, die sie, Elsa, bisher einfach ignorierte. Sie schlägt das Buch zu und legt es neben Anna auf das Bett. Dann kniet sie sich vor Annas Gesicht nieder und streichelt ihr über den Kopf. »Es tut mir leid«, sagt sie aufrichtig und meint damit den Streit um das Buch und dass sie sie zum Weinen gebracht hat. »Warum hast du mir nie etwas davon gesagt? Ich wusste nicht, dass du ... dass du ...« »... Freiheit willst?«, beendet Anna ihren Satz und klingt bissig. »Das ist ja auch wirklich schwer zu fassen!« Sie richtet sich auf und funkelt Elsa wütend an. »Warum sollte auch jemand auf diesem blöden Käfig abhauen wollen? Nicht jeder ist so verdammt genügsam wie du!« Das sitzt und Elsa kippt nach hinten auf ihren Po. Sie wendet die Augen von Anna ab, die ebenfalls in eine andere Richtung sieht. Annas Worte tun ihr weh und mit einem Kloß im Hals steht sie auf. Ohne sich umzudrehen oder auf das schwache »Elsa« zu hören, verlässt sie ihr Zimmer und sucht Zuflucht in dem einzigen Raum, in dem sie sich völlig verlieren kann: der Bibliothek. Doch heute wird sie nicht hinfort getragen, heute gibt es keinen magischen Wind, der sie mitnimmt zu den Schauplätzen der Geschichten, in denen sie sich hineinträumt. Heute bleibt sie hier, in der Bibliothek, und kann einfach nicht glauben, dass Anna ... nicht zufrieden ist mit ihrem Leben. Sie versteht nicht, warum Anna nach draußen will. Warum? Was soll denn an der Welt dort draußen so toll sein? Dort gibt es nichts, was es im Schloss nicht auch gibt. Zumindest stellt es sich Elsa so vor, denn sie weiß ja nicht, was es außerhalb der Schlossmauern so gibt. Sie will es auch gar nicht wissen, denn sie ist zufrieden mit dem, was sie hat. Und auch wenn Anna denkt, sie sei zu genügsam, dann sollte sie sich ein Beispiel an ihr nehmen und nicht solch wirres Zeug von sich geben. Elsa sitzt auf einem weichen Sessel und starrt in das Nichts, als sie hört, wie die schwere Tür der Bibliothek aufgeht. Zuerst denkt sie, es ist Anna, doch nicht sie kommt um die Ecke, sondern Gerda, die Haushälterin des Schlosses und zugleich die Person, der Elsa am meisten vertraut und der sie am meisten zu verdanken hat. »Eure Hoheit!«, sagt sie gespielt überrascht, als wäre sie wirklich überrascht sie hier zu finden. »Ihre königlichen Majestäten der König und die Königin wünschen Euch im Speisesaal zu sehen.« »Danke, Gerda«, sagt Elsa schlicht, erhebt sich und folgt der alten Dame durch den Raum nach draußen auf den leeren Gang. Sie gehen einige Schritte, bevor Gerda zögernd das Wort erhebt. »Fühlt sich Eure Hoheit nicht wohl? Bedrückt Euch etwas?« Elsa zuckt zusammen und starrt auf den Rücken der Haushälterin. Ist das denn so offensichtlich? »Ich bin nur etwas müde von dem Unterricht«, antwortet sie. Gerda sagt nichts, vielleicht glaubt sie ihr. Vor der riesigen, doppelflügeligen Tür halten die beiden inne, Gerda klopft an, öffnet die Tür und lässt Elsa den Vortritt. Diese hebt das Kinn, macht zwei Schritte nach vorne, dann verbeugt sie sich vor ihren Eltern, die an dem überdimensionalen Tisch sitzen. »Guten Abend, Vater, Mutter.« Ihre Mutter lächelt sie leicht an, ihr Vater nickt kurz. Elsa setzt sich an den Tisch, sieht einmal kurz auf Anna ihr gegenüber, doch diese schaut auf den verzierten Teller und regt sich nicht. »... einige behaupten sogar ...« Kaum dass sie sitzt bringen Gerda und Kai, der Butler, das Abendessen herein. Auf zwei kleinen Wägen werden Platten in das Zimmer gefahren, auf den Tisch verteilt und jedem Mitglied der königlichen Familie etwas auf vorgewärmte Teller gelegt. Während Anna mit verzogenem Gesicht das undefinierbare, grüne Gemüse mustert und versucht, es mit der Gabel zu töten, was von ihrer Mutter bald unterbrochen wird, wendet sich Elsas Vater, König Agnarr, an sie. »Wie war der Unterricht heute?« »Er war gut.« »Was hast du gelernt?« Dass Wissenschaftler immer das Falsche wissen, denkt sie, sagt aber: »Wir haben uns die Krisen Arendelles in der Vergangenheit angeschaut.« Ihr Vater nickt zufrieden. »Es ist wichtig, darüber informiert zu sein.« Damit ist das Gespräch beendet und es herrscht Schweigen, so wie jeden Abend. Elsa sieht erneut zu Anna, die ihren Blick auf seltsame Art und Weise erwidert. Ein bisschen beleidigt, enttäuscht, vielleicht sogar etwas schuldbewusst. Elsa reckt das Kinn und ist bemüht Autorität auszustrahlen. Gut so, denkt sie sich. Sie soll wissen, dass sie einen Fehler begangen hat. Anna wendet ihre Augen ab, starrt auf ihren Teller, dann sieht Elsa, wie sie tief Luft holt, den Kopf wieder hebt und ihren Vater mit festem Blick ansieht. Sie wird doch nicht ... »Vater? Ich habe eine Bitte.« Sie wird. »Anna!«, sagt Elsa mit warnendem Unterton, doch sie wird nicht beachtet. »Schon gut, Elsa«, sagt ihr Vater beruhigend, der denkt, sie würde sich darüber aufregen, dass Anna etwas sagt, da das von ihrer Mutter nicht gewünscht wird, doch er hat ja keine Ahnung, was gleich geschehen wird. Und Elsa weiß, was nun kommt. »Worum bittest du mich, mein Kind?« Elsa versucht Anna von ihrem Vorhaben abzubringen, indem sie sie mit ihren Blicken taxiert, doch Anna ist fest entschlossen. »Bitte lass Elsa und mich morgen Abend das Schloss verlassen!« Die Gabel, die ihre Mutter in der Hand gehalten hat, fällt mit einem lauten Klirren auf den Teller. Ihr Vater hält mitten in seiner Bewegung inne, die Gabel zum Mund zu führen. Elsa hört, wie Gerda nach Luft schnappt und sie sieht aus den Augenwinkeln, wie sich Kai vom Tisch abwendet. Während die Königin etwas blass um die Nase geworden ist, ist der König komplett rot angelaufen vor Wut. Er knallt die Gabel auf den Teller zurück und Elsa befürchtet, dass der Teller nun einen Riss hat und Gerda ihn entsorgen muss, doch in Anbetracht der Umstände ist das eine eher kleine Sorge. Sie überlegt krampfhaft, wie sie die Situation entschärfen kann, da poltert ihr Vater los. »Anna! Ich habe dir verboten, dieses Thema jemals wieder anzuschneiden! Hatte ich mich etwa nicht klar genug ausgedrückt? Niemand aus dieser Familie wird dieses Schloss verlassen, bis die Zeit gekommen ist! Ich wünsche, nicht noch einmal darauf angesprochen zu werden!« »... es würde sie gar nicht geben ...« »Aber warum?«, protestiert Anna und sie klingt verzweifelt. Elsa erkennt, dass ihre Schwester schon sehr lange diesen Wunsch in sich tragen muss, um derart verbissen und penetrant reagieren zu können. Elsa hat davon nie etwas mitbekommen. Nie hat Anna auch nur Andeutungen gemacht, dass sie sich nach der Außenwelt sehnte. Automatisch fragt sie sich, ob sie ihre Schwester überhaupt kennt. Das Mädchen ihr gegenüber ist ihr mit einem Mal so fremd und unvertraut, dass sie etwas nach hinten rutscht. Sie kennt diese Seite an ihr nicht. Und es macht ihr Angst. Angst, dass Anna etwas in Bewegung setzen könnte, was ihre heile Welt zum Einsturz brächte. »Du kannst uns nicht hier einsperren! Wir haben ein Recht darauf frei zu sein!« »Anna, genug jetzt!« Die Königin erhebt die Stimme und sieht ihre Tochter streng an. »Wir werden über dieses Thema nicht reden, nicht hier beim Abendessen!« »Aber ... Ich will es doch nur verstehen!« Anna treten Tränen in die Augen. Elsa sitzt einfach nur da und sieht zu. Sie kann nichts sagen. Ihre Stimme versagt ihr jeden Dienst. »Genug!« Die Königin schreit nicht, doch das muss sie nicht. Anna zuckt zurück, als hätte man sie geohrfeigt. Sie schlingt sich ihre dünnen Arme um den Oberkörper und schluckt tapfer die Tränen runter. Dann sieht sie Elsa mit einem gequälten Ausdruck an, der ihr durch Mark und Bein geht. Unausgesprochene Schuldzuweisungen liegen darin und Elsa erkennt, dass sie ihrer Schwester nicht beigestanden hat, wie sie es sich erhofft hatte. Stattdessen hat sie nur da gesessen und nichts getan. Elsa fühlt sich schuldig, auch wenn sie gar keinen Grund dazu haben sollte. »Ihr könnt uns nicht einsperren«, sagt sie mit schwacher Stimme, wirf sich ihre erdbeerblonden Zöpfe über die Schulter, steht auf und geht aus dem Speisesaal. Niemand hält Anna zurück. Auch nicht Elsa. Nach dem Abendessen, das so furchtbar verlaufen ist, wie sie es sich nur in Alpträumen vorstellen konnte, schleicht Elsa durch das stille Königsschloss. Sie ist auf dem Weg zu dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Auch wenn sie weiß, dass sie normalerweise kein Recht hat, diesen Raum zu betreten, so ist es hier heute regelrecht egal. Sie muss einfach mit ihm reden! Sie braucht Antworten auf Fragen, die in ihr Löcher in den Bauch brennen. Jahrelang hat sie geschwiegen, sich nichts gefragt, sondern alles als gegeben hingenommen. Doch nun ist es an der Zeit, dass sie erfährt, was hier vor sich geht. Es muss einen Grund haben, dass ihr Vater nicht will, dass sie das Schloss verlassen. Und den möchte Elsa wissen ... verstehen. Wie Anna. Für Anna. Wegen Anna. Ihre Schritte sind auf dem weinroten Teppich nicht zu hören. Links und rechts von ihr stehen Ritterrüstungen, jede mit einer anderen Waffe in der Hand. Das Licht, das von den kleinen Kronleuchtern über ihrem Kopf scheint, lässt die Sehschlitze der Helme nur noch dunkler und unheimlicher aussehen. Schon als Kind hat Elsa die Rüstungen nicht gemocht, jetzt, mit 15, hat sie zwar keine Angst mehr vor ihnen, dennoch will sie nur ungern nachts auf den Gängen unterwegs sein. Sie beschleunigt ihre Schritte, geht an unzähligen verschlossenen Türen vorbei und an großen Fenstern, verborgen von schweren, weinroten Samtvorhängen. In den Weiten der Gänge hört sie, wie sich eine Tür schließt, und als sie um eine Ecke geht, kommt ihr Kai, der Butler entgegen. Er schreckt fast unmerkbar auf, als er Elsa bemerkt, verneigt sich aber sofort höflich. »Eure Hoheit! Kann ich Euch behilflich sein?« »Ich möchte zu meinem Vater. Ist er in seinem Arbeitszimmer?« »Seine Königliche Majestät verweilt heute Abend in einem seiner Privaträume und wünscht, nicht gestört zu werden.« Elsa überlegt, in welchem der privaten Räume sich ihr Vater aufhalten mag und kommt zu dem Ergebnis, dass sein Zigarrenraum die höchste Wahrscheinlichkeit aufweist. Der König besitzt eine außerordentlich große Sammlung an Zigarren und Whiskey. Elsa weiß, dass beides nicht hier hergestellt wird, und fragt sich, woher die Dinge wohl kommen, als Kai ihre Gedanken unterbricht. »... und sie behaupten sogar ...« »Darf ich Eure Hoheit zu Ihrem Zimmer geleiten?« Elsa hat noch nicht vor, in ihr Zimmer zurückzukehren, und so sagt sie: »Nein, danke«, dreht sich um und geht in die Richtung davon, aus der sie kam. Nach einigen Schritten dreht sie sich unauffällig um und stellt verärgert fest, dass Kai ihr mit etwas Abstand folgt. Sie sieht wieder nach vorne. Ungefähr weiß sie, wo sich das Zigarrenzimmer ihres Vaters befindet. Im Westflügel befinden sich mehrere Räume, von denen sie weiß, dass ihr Vater dort für seine Hobbys und Leidenschaften Platz geschaffen hat. Jetzt befindet sie sich im Ostflügel, in dem auch der Speisesaal und Annas und ihr Zimmer liegen. Sie wird umkehren müssen, doch zuvor muss sie erst einmal Kai abschütteln. Die Hilfe folgt auf dem Fuß. Gerda kommt ihnen mit einem großen Stapel Handtücher entgegen, der so hoch ist, dass Gerdas Kopf nicht mehr zu sehen ist. Der Stapel wankt beachtlich und Elsa schlüpft schnell an Gerda vorbei, bevor sie von Handtüchern erschlagen werden kann. Den unterbrochenen Sichtkontakt zwischen ihr und Kai nutzend, versteckt sie sich hinter einer der Rüstungen, hält die Luft an, zieht den Bauch ein und presst die Augen zu. Sie hört, wie Gerda mit einem dumpfen Geräusch gegen Kai stößt, dann lachen beide und Kai bietet Gerda seine Hilfe an, was sie dankbar annimmt. Die beiden entfernen sich und bald hört man nur noch das abwechselnde Lachen der beiden. Elsa ist erleichtert, dass sich Kai so leicht ablenken ließ, auch wenn sie sich sicher ist, dass er sie mit Absicht hat gehen lassen. Sie kommt aus ihrem Versteck hervor und eilt den Gang wieder zurück, erneut vorbei an Rüstungen und verhangenen Fenstern und verschlossenen Türen, bis sie im Westflügel den Weg in die untere Etage einschlägt und es schon von der Treppe aus riecht: Ihr Vater raucht Zigarre. Kurz bleibt sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen, ordnet ihre Haare und streicht das blaue Kleid glatt. Tief holt sie Luft, dann geht sie vor die Tür, unter der Zigarrenqualm hervor kriecht, und klopft an. Unendlich lange zehn Sekunden passiert nichts, und Elsa klopft noch einmal, dieses Mal energischer, und dann noch ein drittes Mal, als sie wieder keine Erwiderung vernimmt. Dann endlich tut sich etwas, ein tiefes, mürrisches »Was?« kommt von der anderen Seite der Tür und Elsa zuckt zurück. Ihr Vater klingt wirklich schlecht gelaunt! »Ich wollte nicht gestört werden, Kai!« Elsa schluckt und legt eine Hand auf das Holz der Tür, als könne sie so ihren Vater beruhigen. »Vater«, sagt sie, »ich bin es. Elsa.« Als die Tür geöffnet wird, zieht Elsa ihre Hand zurück und sie sieht ihren Vater mit ernstem Blick an. Der Geruch der Zigarre schwebt ihr dick und schwer entgegen und sie gibt sich Mühe nicht das Gesicht zu verziehen. Ihr Vater sieht auf sie herab mit einer Mischung aus Ärger und Erschöpfung. Bevor er sie wegschicken kann, spricht sie schnell weiter. »Ich weiß, dass ich hier nichts verloren habe. Ich will mit dir reden.« Er gibt wortlos nach und macht Platz, dass Elsa eintreten kann. Bewundernd mustert sie die hohen Regale an der einen Seite des Raumes, die vollgestopft sind mit Flaschen, in denen golden schimmernde Flüssigkeiten lagern. Auf der anderen Seite stehen einige Vitrinen, in denen sich verschieden große Holzkisten befinden. In der Mitte stehen alte Ledersessel, deren Bezüge schon brüchig geworden sind, auf einem runden, braun-grau gemusterten Teppich. Auch hier ist das Fenster, das sich hinten über dem Schreibtisch befindet, mit einem Vorhang verschlossen. »Setz dich«, sagt Agnarr und Elsa setzt sich auf einen der alten Ledersessel. Sie sinkt tief ein. Ihr Vater legt die Zigarre ab, die er bis eben in der Hand gehalten hat, trinkt ein Schluck Whiskey und bleibt mit dem Rücken zu seiner Tochter stehen. Es bleibt lange still und Elsa weiß nicht, ob sie das Wort erheben soll oder lieber schweigen und warten, bis ihr Vater spricht. Sie entscheidet sich für Letzteres. Der König hat das Recht ein Gespräch zu eröffnen. Was er irgendwann auch tut. Er klingt müde und sehr, sehr traurig. »Es geht um das, was Anna gesagt hat, nicht wahr?« Elsa nickt, und als ihr einfällt, dass ihr Vater das nicht sehen kann, fügt sie ein »Ja« hinzu. Agnarr seufzt, dreht sich um und setzt sich in den Sessel, der Elsa gegenüber steht. Noch immer sieht er sie nicht an. Elsa fragt sich, was ihrem Vater auf dem Herzen liegt, dass er es nicht einmal fertig bringt sie anzusehen. Anscheinend muss er sich sehr überwinden. Ein bisschen hat sie Angst vor dem, was er sagen wird. Wenn er denn überhaupt etwas sagen wird, denn er schweigt und schweigt und schweigt. »Weißt du, Elsa ...«, beginnt er dann endlich und Elsa zuckt etwas zusammen, als er ihren Namen sagt. »Es gibt einen Grund, warum ... Ich will euch nicht aus Boshaftigkeit hier ... Da draußen ...« Dreimal setzt er an, doch keinen Satz bringt er zu Ende. Elsa wartet nervös ab und knetet ihre Hände. Schließlich seufzt ihr Vater. »Ich will euch doch nur beschützen«, sagt er mit schwacher Stimme und sieht sie endlich an. Es ist der Blick eines besorgten Familienvaters, der um das Leben seiner Liebsten bangt. Elsa nickt zum Zeichen, dass sie versteht, und fragt dann vorsichtig: »Wovor?« »... dass die komplette Königsfamilie ...« Der König verschließt sich wieder, zieht sich zurück und wendet den Blick ab. Elsa seufzt. Er würde ihr den Grund nicht nennen, dessen ist sie sich sicher. Vermutlich denkt er, er habe schon mehr als genug gesagt. »Geh jetzt schlafen. Morgen geht es früh mit dem Unterricht weiter.« Elsa denkt gar nicht daran ihrem Vater zu widersprechen, also erhebt sie sich wortlos, geht zur Tür, murmelt noch ein »Gute Nacht« und steht wieder auf dem Gang, auf dem die Rüstungen Spalier stehen. Langsam geht sie zurück in den Ostflügel, tief in Gedanken versunken. Ihr Vater will sie beschützen, doch wovor? Vor der Außenwelt, ja, aber wovor genau? Was ist dort draußen, das ihren Vater dazu bringt, seine Familie hinter verschlossenen Türen zu halten? Ein wildes Tier? Naturgewalten? Krisen? Lehrer, die sich nicht belehren lassen wollen? Elsa kann es sich nicht erklären. Sie wünscht sich nur, ihr Vater hätte ihr mehr erzählt. Die Antwort, er wolle sie nur beschützen, würde Anna nicht reichen. Und ihr reicht sie auch nicht. Sie will Gewissheit. Sie will wissen, was dort draußen ist. Elsa kommt an der Küche vorbei. Sie hört Geräusche durch die Tür, und so tritt sie ein, in der Hoffnung, Gerda vorzufinden. Sie steht an dem großen Spülbecken und ist gerade beim Abwaschen, als sie die Prinzessin hereinkommen hört. Mit einem Lächeln dreht sie sich zu ihr um. »Hoheit! Warum seid Ihr so spät noch auf?« »Gerda? Würdest du so freundlich sein und noch eine Kleinigkeit zum Essen bereiten?« Gerda lacht auf und lässt den Teller in das Spülbecken sinken, den sie gerade abwaschen wollte. »Du meine Güte, wir sind heute aber hungrig«, meint sie amüsiert und Elsa ist froh, dass Gerda die Höflichkeit etwas fallen lässt. Sie mag es, mit Gerda auf eine normale Art zu reden, ohne dieses höfliche Gerede und »Eure Hoheit« hier und »Womit kann ich Eurer Hoheit zu Diensten sein« da. Gerda behandelt sie wie ein normales, junges Mädchen. Natürlich nur, wenn sie beide alleine sind, was meistens in der Küche der Fall ist. Elsa lacht nun ebenfalls. »Für Anna. Sie muss am Verhungern sein.« Gerda nickt. »Sie ist ohne Abendessen auf ihr Zimmer gegangen. Vorher wollte ich nach ihr sehen, doch sie ließ mich nicht eintreten.« Ihr Blick wird ernst. »Ihr scheint es wirklich wichtig zu sein, das Schloss verlassen zu dürfen.« Elsa bemerkt die Spur von Angst in Gerdas Stimme und sie fragt sich, ob Gerda wohl weiß, wovor sie ihr Vater beschützen will. Sie beschließt, sie darauf anzusprechen. »Gerda ... Gibt es außerhalb des Schlosses jemanden, der ... uns schaden will?« Der Gedanke ist ihr eben gekommen. Die Möglichkeit, ihr Vater würde sie vor potenziellen Angreifern schützen wollen, erscheint ihr logischer als alles, was sie sich sonst ausgedacht hat. Sie sieht, wie Gerda blass wird und den Kochlöffel sinken lässt, mit dem sie im Suppentopf gerührt hat. Das nehme ich als ein Ja. »Warum fragt Ihr so etwas?« Gerda klingt hektisch und gestresst und mit fahrigen Bewegungen zupft sie Kräuter von der Fensterbank. »Wie kommt Ihr auf die Idee?« »Ich habe mit meinem Vater geredet«, sagt Elsa ehrlich. »Er meinte, er wolle uns vor jemandem beschützen.« Gerda krallt sich an dem Kochlöffel fest, um nach Halt zu suchen. »Vor wem? Wer könnte uns denn gefährlich werden, wenn wir das Schloss verlassen? Gerda, bitte, ich muss es wissen! Wie sonst soll ich Anna davon abhalten, sich nicht einfach nachts davonzuschleichen? Bitte, Gerda! Du bist doch die einzige, der ich vertrauen kann!« Elsa ist aufgestanden und steht nun neben Gerda, sieht sie mit festem Blick an und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Gerda scheint hin- und hergerissen zu sein. »Ich darf nicht darüber reden«, presst sie leise hervor, als befürchte sie, jemand könne sie belauschen. »Er hat es mir verboten!« »Wer hat es dir verboten?« »Der König!« »... seit Jahren nicht mehr existiert ...« »Mein Vater!«, sagt Elsa und es erscheint ihr logisch. Natürlich würde er nicht wollen, dass Elsa etwas von ihrer Haushälterin erfährt, was er ihr auf jeden Fall vorenthalten wollte. »Aber kannst du mir nicht irgendetwas sagen? Gerda?« Sie sieht die Frau flehend an, die Frau, die sie groß gezogen hat, und sie gibt schließlich nach. »Also schön«, meint sie, »aber Ihr dürft niemandem davon erzählen!« Elsa nickt. »Es gab jemanden, der vor elf Jahren versucht hat, Euch umzubringen.« Elsa schnappt nach Luft und geht einen Schritt zurück. »Was?«, ruft sie und greift sich an die Brust. Das hätte sie nicht erwartet. Dass es jemanden geben könnte, der vielleicht versuchen würde, ihnen etwas anzutun, damit hat Elsa gerechnet. Aber dass es tatsächlich schon jemand versucht hat ... Das schockt sie. »Wer? Warum?« »Wir wissen nicht, wer es war. Er ... verschwand, bevor man ihn verhören konnte.« Gerda sieht weg und Elsa merkt, dass es nicht die ganze Wahrheit ist, doch sie sagt nichts und hofft, dass Gerda weiter redet. »Wir wissen auch nicht, warum er es versucht hat - Fakt ist, es hätte beinahe geklappt.« Elsa schluckt. »Heißt das ...uns würde es um ein Haar nicht mehr geben?« Die Haushälterin nickt bestürzt. »Deshalb will Euer Vater nicht, dass ihr ... Er befürchtet, so etwas könnte noch einmal passieren.« Mit einem kurzen Blick auf Elsa fährt sie fort: »Es geht ihm nicht unbedingt darum, Euch einzusperren - er will die Leute aussperren, damit keiner mehr versuchen kann Euch etwas anzutun.« »Bedeutet das ...es ist hier im Schloss passiert?« Gerda antwortet nicht, denn die Tür geht auf und Kai tritt ein. Mit unveränderter Miene wünscht er Elsa einen guten Abend. Er macht keine Anstalten wieder zu gehen, weshalb sich Elsa die Schüssel nimmt, die Gerda ihr hinhält, dankend ablehnt, als Kai anbietet, die Suppe zu Anna zu bringen - woher weiß er, dass die Suppe für Anna ist? - und auf den Gang verschwindet. Sie denkt über das nach, was ihr Gerda erzählt hat, und für sie macht alles Sinn. Damals muss jemand ins Schloss gekommen sein, der der Familie etwas antun wollte, sie umbringen wollte, was er aber zum Glück nicht geschafft hat, sonst würde Elsa keine Schüssel voll Suppe zu Anna bringen. Keiner weiß, wer das gewesen war oder warum er das versucht hat, aber ihr Vater hat solche Angst vor einer Wiederholung, dass er die Tore verschlossen hält und niemandem Einlass gewährt. Und daraus folgt, dass auch niemand das Schloss verlassen darf. So furchtbar das auch ist, es wird Anna auf jeden Fall von ihrer wahnsinnigen Idee abringen, das Schloss zu verlassen. Da ist sie sich sicher. Ihr gelingt es, die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen, ohne die Suppe fallen zu lassen, und als sie den Raum betritt, sieht sie Anna am Fenster sitzen und nach draußen starren. Sie sieht nicht auf. »Anna«, macht sich Elsa bemerkbar, doch sie reagiert noch immer nicht. Ob sie eingeschlafen ist? »Ich habe dir etwas Suppe mitgebracht. Du bist bestimmt hungrig ...« Das weckt Annas Lebensgeister, ihr Kopf schnellt herum und mit großen Augen sieht sie Elsa an. Ihre Stimme klingt rau, als sie spricht, so als hätte sie es tagelang nicht mehr getan. Oder zu viel. »... dass sie vor Jahren ausgelöscht wurde ...« »Suppe?« Sie steht auf und nimmt Elsa die Schüssel ab. Schnuppernd lässt sie sich wieder auf die Fensterbank fallen und löffelt zufrieden die Brühe. Elsa beobachtet sie lange und stumm und sie stellt sich vor, wie jemand Anna als Baby töten wollte. Damals war sie kaum älter als ein Jahr und Elsa fast vier. Natürlich können sie sich daran nicht mehr erinnern. Sie kann sich nicht länger zurückhalten, sie muss Anna von dieser Idee, das Schloss zu verlassen, abbringen. »Anna ... Ich habe mit Vater geredet.« Anna sieht sie an und Hoffnung leuchtet auf. Elsa schüttelt den Kopf. »Nein, niemand wird das Schloss verlassen.« Anna verdreht die Augen und sieht wieder nach draußen. »Ich weiß jetzt, warum wir das Schloss nicht verlassen dürfen!« Fast erwartet sie, dass Anna nun neugierig nachfragt und den Grund wissen will, doch sie sieht einfach nach draußen, den Blick in die Ferne gerichtet, als wäre sie gar nicht hier. Und als hätte sie gar nicht gehört, was Elsa gesagt hat, meint sie: »Weißt du, wie schön es dort draußen ist?« Sie spricht leise und sehnsüchtig, so wie jemand, der von einem wunderschönen Traum erzählt, in den er sich zurückwünscht. »Weißt du, wie die Luft dort draußen riecht? Wie die Gebirgsbäche flüstern und dir Geschichten erzählen? Weißt du, wie die Bäume klingen, wenn der Wind durch ihre Äste streift? Weißt du ...« Sie spricht nicht weiter, schließt die Augen und dreht den Kopf vom Fenster weg. »Nein«, sagt Elsa verwirrt, da sie nicht weiß, worauf Anna hinaus will. »Woher soll ich das wissen?« Sie beschließt, auf das eigentliche und wichtige Thema zurückzukommen. »Trotzdem, Anna, ich weiß, warum die Tore verschlossen sind! Willst du es gar nicht wissen?« Anna ist immer die neugierigere von den beiden Geschwistern, es wundert Elsa deshalb, dass sie nicht darauf anspringen will. »Ich weiß es«, flüstert Anna. »Du weißt es? Woher? Von wem?« Ob Gerda wohl ebenfalls mit Anna darüber geredet hat? Von ihrem Vater kann sie es auf keinen Fall wissen, denn der erzählt nichts. »Hat Gerda es dir erzählt?« Wieder scheint Anna nicht zu hören, was sie sagt, und es legt sich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ich habe die Luft gerochen, dem Bach zugehört, den Bäumen gelauscht ... Ich weiß, wie es dort draußen aussieht.« Elsa schlägt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien. Sie springt auf und verspürt einen eisigen Stich im Herzen. »Anna!«, fährt sie ihre Schwester dann doch an und es scheint zum ersten Mal so, als würde Anna endlich Notiz von ihr nehmen. Sie zuckt zusammen und sieht sie erschrocken an, als würde sie erst jetzt bemerken, dass Elsa mit ihr auf der Fensterbank gesessen hat. »Das ist ... Ich meine ... Du scherzt doch! Du kannst nicht draußen gewesen sein!« Anna steht ebenfalls auf und verschränkt trotzig die Arme. »Reg dich nicht auf! Es war nur einmal!« »Nicht aufregen?«, wiederholt Elsa und packt Anna an den Schultern. »Anna! Bist du völlig verrückt geworden? Wieso hast du das getan?« Anna wendet den Blick ab und lässt die trotzige Haltung etwas fallen. »Wieso rastest du denn so aus?«, fragt sie beleidigt. »Ist doch nichts passiert! Du hast nicht einmal bemerkt, dass ich mich rausgeschlichen habe! Alles halb so wild!« »Halb so wild«, sagt Elsa kopfschüttelnd. »Dort draußen laufen wer weiß wie viele Verrückte herum, die uns umbringen wollen, und du spazierst einfach fröhlich nach draußen! Du hast den Verstand verloren!« »U-Umbringen?« Anna zieht den Kopf ein. »Wie kommst du darauf?« Elsa holt Luft und versucht sich zu beruhigen. Dann nimmt sie die Hände von Annas Schultern und lässt sich auf die Fensterbank fallen. Es ist Vollmond und er taucht die Landschaft in ein unheimliches, silbernes Licht. »Ich weiß, warum Vater nicht möchte, dass wir das Schloss verlassen.« Sie klopft auf den Platz neben sich und Anna lässt sich zögernd nieder. »Es war jemand im Schloss, der uns ...etwas antun wollte. Anscheinend hat er es nicht geschafft, aber es soll ziemlich knapp gewesen sein. Sie wissen weder, wer er war, noch warum er es versucht hat. Vater will uns beschützen, deshalb sperrt er alle aus - und uns damit ein.« »Ich ... Das ... wusste ich nicht ...« Elsa schüttelt den Kopf. »Niemand wusste das. Gerda hat es mir erzählt, Vater schweigt dazu.« Sie hebt Annas Kinn mit ihrem Zeigefinger, um ihr genau in die Augen zu sehen. »Versprich mir, dass du nie, nie wieder das Schloss verlässt! Versprich es mir!« Anna schiebt die Hand von ihrem Kinn fort, beendet den Blickkontakt und sagt leise: »Ich verspreche es dir.« Elsa weiß nicht, ob sie ihr glauben kann. Sie hofft es sehr. »... das kann unmöglich stimmen ... oder?« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)