Tokyo Bay von Ruka_S_Orion (Neustart) ================================================================================ Kapitel 8: ----------- Kapitel 8 Michiru spürte, wie sich zwei starke Arme um ihren Oberkörper legten. Die Wellen vor ihr hatten sie so sehr in ihren Bann gezogen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sich ihr Haruka von hinten genähert hatte. „Warst du wieder in deiner eigenen Welt?“, flüsterte die Blondine und legte ihr Kinn auf der Schulter der Künstlerin ab. Lächelnd schloss Michiru die Augen und schmiegte sich an den Körper ihrer Freundin. „Meine eigene Welt ist ohne dich längst nicht so schön, wie diese hier mit dir.“ Die Streicherin ließ ihre Hände nach hinten in den Nacken der Sportlerin wandern. Die untergehende Sommersonne strahlte ihnen warm ins Gesicht und Haruka küsste sanft den Hals ihres Engels. Bestimmt aber zärtlich fasste die Pianistin die Hände der Schönheit und drehte sie zu sich um. Mit einer Hand auf deren Rücken und ihre Wange mit der anderen Hand liebevoll streichelnd sah sie Michiru tief in die Augen. Langsam beugte sie sich vor, bis ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. „Ich liebe dich, mein wunderbarer Engel.“, flüsterte die Leichtathletin und küsste sanft Michirus Lippen. Die Violinistin fühlte sich, als würde sie davon schweben. Das Meer, der Sonnenuntergang, Harukas Rosenduft, ihre Berührungen, die zärtlichen Worte… Der Augenblick sollte nie enden. Doch dann löste sich die Blondine plötzlich von der Künstlerin und sprach in einer merkwürdigen Tonlage: „Chiru-chan? Hörst du mich? Chiru-chan? Ich soll dich wecken, es ist schon fast neun.“ Mit einem unüberhörbaren Knurren zog sich Michiru ihre Decke über den Kopf. Warum musste Hotaru gerade jetzt reinplatzen? „Mi-chi-ru-chan! Du sollst jetzt aufstehen! Sonst kommst du zu spät!“, sprach die Neunjährige jetzt lauter. „Ist ja gut, du Quälgeist. Ich bin ja schon wach.“ Nach einigen tiefen Atemzügen schlug Michiru genervt ihre Decke auf. Sie setzte sich an die Bettkante und rieb sich seufzend die Stirn. „Hast du Kopfschmerzen?“, fragte ihre kleine Schwester besorgt und setzte sich neben die Ältere. „Nein, ich bin nur ein bisschen müde. Na los, geh schon mal vor. Ich ziehe mich nur schnell an und komme gleich nach.“, zwinkerte Michiru und bekam dafür einen Kuss auf die Wange, bevor Hotaru verschwand. Haruka lag noch Stunden später in ihrem Bett und schlief, bis plötzlich ihr Handy klingelte. Mit nur einem geöffneten Auge überflog sie die SMS von ihrer Klassensprecherin. Junko konnte dieses Wochenende nicht, aber Kikyo wollte jetzt unbedingt aus erster Hand erfahren, was zwischen den beiden talentierten Musikerinnen lief. Die Blondine verabredete sich knapp mit ihrer Mitschülerin zum Eis essen und wanderte gähnend in das Hotelrestaurant, um zumindest nicht auch noch das Mittagsbuffet zu verpassen. Am Nachmittag machte sie sich mit ihrem Motorrad auf den Weg zur Wohnung der Brünetten. Stürmisch wurde sie begrüßt. „Haruka-san! Schön, dass du es so schnell einrichten konntest.“ Kikyo schenkte ihr eine warme Umarmung. Dankend nahm sie dann den Helm entgegen und setzte ihn sich auf. Fast traurig sah ihr die Leichtathletin dabei zu. Eigentlich war das Michirus Helm... Sie wollte nicht, dass er von einer anderen getragen wurde. Als sie den fragenden Gesichtsausdruck ihrer Klassensprecherin erkannte, schüttelte sie kurz ihren Kopf, zwang sich zu einem Lächeln und setzte sich auf ihre Maschine. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dieses andere Mädchen so dicht hinter ihr zu spüren. Es fühlte sich fremd und irgendwie falsch an. Also war sie fast erleichtert, als sie endlich ein kleines, italienisches Café erreichten und Haruka wieder eine gewisse Distanz aufbauen konnte. Sie setzten sich an einem kleinen Tisch einander gegenüber und Kikyo studierte sogleich die Karte. Als der Kellner an die Schülerinnen heran trat, bestellten sie sich Tee und Cappuccino. Selbst in diesen simplen Situationen wie einer Getränkebestellung kam sich Haruka jetzt komisch vor. „So. Dann leg mal los.“, kommandierte Kikyo bald. „Wie soll ich denn bitte loslegen?“, fragte Haruka eingeschüchtert und beobachtete lieber ihre Finger, wie sie fast selbstständig nervös auf dem Tisch herum tippten. „Frag doch nicht so blöd. Wie läuft´s? Bist du schon bis über beide Ohren verliebt? Und was ist mit Michiru-san? Habt ihr euch schon geküsst?“ „Also jetzt mach mal halblang! Wir kennen uns doch erst seit zwei Wochen. Wir sind nicht zusammen oder so. Und wie es um Michiru steht, kann ich dir auch nicht so genau sagen…“ Haruka fühlte sich überfahren und kämpfte mit einem Rotschimmer auf ihren Wangen. „Und geküsst haben wir uns auch nicht. Jedenfalls nicht richtig.“ „Was meinst du denn mit ‚nicht richtig‘? Habt ihr oder habt ihr nicht?“, wollte Kikyo wissen. Auf Harukas Gesicht bildete sich ein Grinsen. „Naja, ich habe ihr gestern Abend einen kurzen Abschiedskuss gegeben. Aber nur einen kleinen auf die Stirn… Ich bin mir ja nicht sicher, wie sie zu der ganzen Sache steht, also wollte ich sie nicht… verschrecken oder so.“ Die Klassensprecherin bekam große Augen. „Also wart ihr gestern nach der Schule noch unterwegs?“ „Ja, wir waren in einem Café, haben miteinander erzählt, Crêpes gegessen… Und anschließend waren wir in Tokyo Bay und haben uns den Sonnenuntergang angesehen.“ Kikyo konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. „So viel Romantik hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Verträumt stützte sie ihr Kinn auf dem Handgelenk ab. „Und dann?“ „Naja, danach habe ich sie nach Hause gebracht. Ich glaube, so langsam bin ich noch nie gefahren…“, grinste die Pianistin. „Also wart ihr mit deinem Motorrad unterwegs? Na wenn das mal keine gute Chance ist, Distanz abzubauen.“, zwinkerte die Brünette und nahm dankend ihren Eisbecher entgegen, den der Kellner in diesem Moment brachte. „Ja, ich schätze, wir sind uns wirklich ein bisschen näher gekommen.“, wertete die Blondine. Gut gelaunt verputzte Kikyo fast die Hälfte ihrer italienischen Spezialität. Dann sah sie fragend auf. „Wie hat Michiru-san eigentlich auf deinen Kuss reagiert?“ Auf Harukas Wangen legte sich erneut ein Rotschimmer. „Naja, eigentlich… hab ich keine Ahnung. Sie war schon auf dem Weg zu ihrer Haustür. Und dann konnte ich nicht anders. Ich bin ihr nach, habe sie abgefangen, ihr den Kuss gegeben und bin lieber abgehauen, bevor sie etwas sagen konnte.“, erklärte die Sportlerin und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Wie, du bist abgehauen? Warum das denn? Man könnte ja meinen, du hättest Angst vor der Kleinen!“, lachte die Klassensprecherin, woraufhin auch die Leichtathletin ein Grinsen nicht mehr unterdrücken konnte. „Ich weiß auch nicht, vielleicht wollte sie es gar nicht. Und bevor ich noch eine Ohrfeige bekomme…“ „Ach, die hätte sie dir bestimmt nicht gegeben! Ich denke, du hast dir eine Chance entgehen lassen. So wie sie dich immer anlächelt, hat ihr der Kuss bestimmt nichts ausgemacht. Ich glaube, unsere kleine Künstlerin ist total in dich verknallt. Seitdem du da bist, ist sie ganz anders. Sie zeigt selbst Hara-san die kalte Schulter. Und das will schon was heißen! Die beiden sind seit Jahren befreundet – was ich eigentlich gar nicht verstehen kann, wenn ich mal darüber nachdenke, was für ein zickiges Biest die ist – und plötzlich will Michiru-san nichts mehr mit ihr zu tun haben. Und das liegt wohl eindeutig an dir! Ach, übrigens… Danke für die kleine Show gestern. Junko-chan und ich hatten gehofft, dass Kawashima so reagieren würde. Ich wette, das war ihm richtig peinlich, dass er kurz vorher noch von dir so abgefertigt wurde.“ Lachend biss Kikyo von ihrer Eiswaffel ab. „Narumi-san hat aber auch nicht schlecht geguckt.“, fügte Haruka grinsend hinzu. „Michiru hat mir erzählt, sie hätte Interesse an mir gehabt.“, erklärte sie selbstbewusst. Die Klassensprecherin aß unbeeindruckt weiter. „Na das war mir klar. Die steht auf jeden, der gut aussieht. Wenn er dann auch noch wohlhabend ist, findet sie das noch besser. Und dass du Kawashima die Stirn bieten kannst, muss für sie wie die Sahne auf diesem Eisbecher hier gewirkt haben.“ Ein Löffel voll Erdbeereis und Sahne verschwand in Kikyos Mund. „Aber… das musst du doch gewöhnt sein, oder nicht? Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Nagoya keine Frauen gab, die sich in dich verguckt haben.“, nuschelte sie und nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino. „Also… ja, eigentlich schon… Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich da nicht eine kleine… Fangemeinde gehabt hätte…“, sprach die Rennfahrerin leise. Kikyo legte den Kopf schief. „Was denn für eine Fangemeinde?“ Haruka seufzte leise. „Ich bin in Nagoya Autorennen gefahren. Erfolgreich. Erste Nachwuchsliga. Ich war richtig gut und habe einen Sieg nach dem anderen nach Hause gebracht. Dafür gab es ganz ordentliche Preisgelder, einen gewissen Ruhm und Privilegien - wie meinen vorzeitigen Führerschein - und natürlich viele Fans.“ „Du warst Rennprofi?“, fragte Kikyo mit großen Augen. „Genau. Aber dieser ganze Medienrummel und ein paar andere Dinge waren nicht nach meinem Geschmack. Also bin ich jetzt hier in Tokio, wo man mich nicht kennt.“Die Blondine schwenkte ihr Glas und beobachtete abwesend, wie der Teesatz zurück auf den Boden ihres Glases sank. „Wieso kennt dich hier niemand? Die erste Nachwuchsliga ist doch in ganz Japan ein Thema. Du bist doch sicher auch schon mal hier gefahren, oder nicht?“ „Das schon, aber als Touma Haruka und nicht unter dem Namen Tenoh. Tenoh ist der Geburtsname meiner Mutter, den ich im Dezember angenommen habe.“, erklärte Haruka, ging nicht weiter auf den fragenden Blick ihres Gegenübers ein und bestellte sich noch ein Glas Tee bei dem vorbei laufenden Kellner. Kikyo merkte, dass die Blondine das Thema nicht weiter vertiefen wollte und schob ihren leeren Eisbecher zur Seite, um mehr Platz für ihren Cappuccino zu haben. „Hattest du eigentlich schon viele Freundinnen?“ Überrascht sah die Blondine in Kikyos Gesicht. Sie überlegte, ob sie bei der ganzen Wahrheit bleiben solle, oder ob es besser wäre zu untertreiben. „Naja… Eine richtige Beziehung hatte ich eigentlich noch nie… Also… nicht so richtig. Meine erste Freundin hatte ich mit Vierzehn oder so. Aber das war nichts Ernstes. Sie wollte gesehen werden und war neugierig und ich wollte… Sagen wir mal, ich wollte einfach mal eine Freundin.“, gestand sie verlegen. „Mit ihr war ich ein paar Wochen zusammen. Das war dann auch schon die längste… Beziehung – oder so – die ich je hatte. Es gab schon noch ein paar andere, aber die wollten nie wirklich was Richtiges mit mir anfangen. Und wenn ich ehrlich bin, wollte ich das auch nie.“ Für einen Moment herrschte Stille und Kikyo legte die Stirn in Falten. Dann überlegte sie: „Warte mal, ich glaube, ich hab von dir schon mal was gehört… Touma Haruka aus Nagoya… Na klar! Die Frauenheldin Touma Haruka! Du hattest etlichen Frauen! Da waren doch auch Models mit bei, wenn ich mich richtig erinnere… Nun untertreib mal nicht!“ Um sicher zu gehen, dass sie nicht belauscht wurden, hatte sich Kikyo weit über den Tisch gebeugt und die Stimme gesenkt. Haruka schluckte hart und nickte dann langsam, woraufhin die Brünette ihr nachdenklich schweigend ins Gesicht sah. Nach einer gefühlten Ewigkeit begann sie zu grinsen. „Du hast so viele Frauen aufgerissen und bist bei Michiru-san so prüde? Das glaubt man ja nicht! Dann muss es dich tatsächlich erwischt haben. Aber… bitte tu mir den Gefallen und spiel nicht mit ihr. Auch wenn wir nicht wirklich viel miteinander zu tun haben, halte ich viel von ihr. Verletz sie bitte nicht. Ich glaube, sie ist ein wundervoller Mensch, der nur das Beste verdient. Ein gebrochenes Herz würde sie sicher in ein tiefes Loch stürzen lassen.“ Kikyo ruhig sah der Sportlerin durchdringend in die Augen. Lächelnd schüttelte Haruka den Kopf. „Nein, du kannst mir glauben, mit Michiru spiele ich nicht. Sie bedeutet mir wahnsinnig viel und ich könnte ihr niemals wehtun. Ich bin noch nie jemandem wie ihr begegnet. Um ehrlich zu sein, habe ich letzte Woche mit einer Amerikanerin gesprochen. Abends, an der Hotelbar. Und die wollte auch mit mir aufs Zimmer. Aber ich konnte nicht. Ich musste an Michiru denken und habe ihr den Laufpass gegeben. Das hört sich für dich vielleicht nicht so überzeugend an, aber so eine Gelegenheit habe ich mir vorher noch nie entgehen lassen!“ Haruka strahle die Klassensprecherin an. „Echt jetzt? Also dass du einer Frau, nachdem du mit ihr geflirtet hast, einen Korb gibst, ist nicht unbedingt eine romantische Liebeserklärung.“, stellte die Brünette nüchtern klar. „Wie du dich ihr gegenüber verhältst, wie du in ihrer Gegenwart strahlst, wie du über sie sprichst. Das alles sind viel eindeutigere Zeichen deiner Liebe.“, fügte sie lächelnd hinzu. „Ich glaube, aus euch kann echt ein schönes Paar werden. Vermassel es nicht!“, drohte sie und bestellte sich schnell noch einen Cappuccino bei dem Kellner, der Harukas Tee brachte. Nachdem Haruka am frühen Abend die Rechnung übernommen hatte, hakte sich Kikyo bei ihrer Klassenkameradin ein und ließ sich zum Motorrad führen. Gut gelaunt stieg sie zu der Blondine auf die Maschine. An einer Kreuzung lehnte sie sich weit vor, um der Fahrerin den Weg um eine Baustelle herum zu erklären. Nach einer rasanten Fahrt bogen sie schließlich in die Straße, in der sich Kikyos Wohnung befand. Mit einer warmen Umarmung und den Worten „Bis Montag dann! Und danke, für das Eis!“ verabschiedete sich die Klassensprecherin und die Blondine machte sich auf den Weg in ihr Hotel. Ob Kikyo Recht hatte? Vielleicht wollte Michiru tatsächlich mehr von ihr, als die Leichtathletin gedacht hätte. Spontan wechselte sie die Spur und schlug die Richtung zur Bucht von Tokio ein. Nach dem durchweg positiven Feedback für ihr Vorspiel stieg Michiru lächelnd ins Auto. Ihre Familie tat es ihr gleich und Kaioh Toshio drehte sich strahlend zu seiner Tochter um. „Wo darf es denn hingehen, mein kleiner Star?“, fragte er und bekam von ihr die Antwort, mit der er fest gerechnet hatte. Nach einer längeren Fahrt kamen sie an einem kleinen Restaurant außerhalb der Stadt an. Michiru stieg aus und lauschte zufrieden seufzend den Wellen des nur wenige Meter entfernten Meeres. Tief atmete sie die frische, salzige Meeresluft ein und schloss die Augen. Hotaru nahm glücklich die Hand ihrer großen Schwester und zog sie energisch in Richtung des Lokals. Da sich ihr Vater sicher gewesen war, welchen Wunsch seine Tochter äußern würde, hatte er bereits im Vorhinein einen Tisch am Fenster reserviert, damit seine kleine Künstlerin den Wellen zusehen konnte. „Du hast heute wirklich noch schöner gespielt als sonst.“, lobte sie Setsuna. „Das stimmt! Ich hatte das Gefühl, du wärst gar nicht wirklich anwesend gewesen. Wo warst du eigentlich mit deinen Gedanken, dass deine Melodien so… davon schwebten?“, wollte Toshio wissen. Verunsichert sah Michiru zu ihrer Stiefmutter. „Wo ich war? Naja, also ich…“ „Du hast bestimmt an Haruka gedacht, stimmt´s?“, grinste Hotaru frech, woraufhin sie einen tadelnden Blick ihrer Mutter bekam. Toshio sah verdutzt abwechselnd zwischen seinen Kindern hin und her sah. >Na super, du Quälgeist. Ab, ins kalte Wasser.<, dachte sich Michiru und sah ebenfalls zu der Kleineren. „Haruka? Wer ist denn das? Der Name sagt mir nichts… Woher kennst du ihn denn?“, fragte Toshio neugierig. „Sie. Haruka-san ist ein Mädchen, Papa. Aber Mama sagt, das macht nichts.“, erklärte Hotaru, die Blicke der beiden Frauen ignorierend. Michiru fischte unter dem Tisch nach der Hand ihrer Schwester, um sie kräftig zu umklammern. Die Dunkelhaarige erkannte das Signal sofort und sah beschämt auf die Tischdecke. Offenbar hatte sie zu viel gesagt. „Chiru-chan, würdest du mich bitte aufklären?“, lächelte das Familienoberhaupt liebevoll sein mittleres Kind an. „Also… Haruka-san ist neu in meiner Klasse. Du weißt schon, wir haben uns ein paarmal zum Lernen getroffen. Und gestern waren wir noch eine Weile unterwegs.“, erklärte sie und sah dabei lieber in die ruhigen Augen Setsunas, die ihr aufmunternd zulächelte. „Ah, also eine Freundin von dir? Na wunderbar! Hoffentlich ist sie nicht so verzogen wie Hara-san, diese kleine Zicke.“ „Liebling!“, herrschte seine Frau ihn an. „Was denn? Stimmt doch, oder Taru-chan?“ „Stimmt.“, grinste die Jüngste, als sie von ihrer Schwester losgelassen wurde. Nach dem Essen entschloss sich die Familie zu einem Spaziergang am Strand, wobei Toshio mit seiner jüngsten Tochter voraustobte und ihnen Setsuna Seite an Seite mit Michiru nachschlenderte. „Das war doch schon mal ein guter Anfang.“, lächelte sie ihrer Stieftochter zu, die schon wieder voll und ganz in das Rauschen der Wellen vertieft war. Kurz schüttelte Michiru ihren Kopf und sah zu der Älteren auf. „Naja, wenn du meinst. Ich dachte schon, Taru-chan plaudert gleich alles aus.“ „Ja, sie ist eindeutig etwas stürmischer als der Rest der Familie.“, lachte die Dunkelhaarige. „Aber irgendwann wird dein Vater mitbekommen, was dir Haruka bedeutet. Und da kann es nicht schaden, wenn er jetzt schon ein wenig darauf vorbereitet wird.“ Die Künstlerin wandte sich wieder dem Meer zu. >Was mir Haruka bedeutet? Ich bin mir ja selbst nicht sicher, was es ist… Auf der Brücke beim Sonnenuntergang… Das war alles so atemberaubend! Sie war so zuvorkommend und charmant… Dass sie mir von ihren Eltern erzählt hat, macht mich richtig stolz! Aber nachdem sie diese Sarah gesehen hatte… Warum war sie plötzlich so anders…? Hat sie mir etwas verschwiegen? Was, wenn ich mich in ihr irre? Was, wenn da noch mehr zwischen ihr und dieser Ausländerin lief? Was, wenn ich mich an sie verliere und sie es gar nicht so ernst mit mir meint?< Betrübt blieb Michiru stehen und starrte in die Ferne. „Michiru? Was ist mit dir?“, fragte Setsuna besorgt. „Stimmt etwas nicht?“ Die Violinistin sah sich um und als sie sich sicher war, dass die anderen Familienmitglieder außer Hörweite waren, drehte sie sich zu ihrer Stiefmutter. „Was ist, wenn mir Haruka mehr bedeutet, als ich ihr? Was, wenn ich mich da in etwas rein steigere und sie gar nichts von mir will?“ Zweifelnd sah sie in die granatroten Augen. Liebevoll lächelte die Ältere in das Gesicht ihres Schützlings. „Dieses Risiko wirst du eingehen müssen. Sich einem Menschen voll und ganz anzuvertrauen ist natürlich ein Wagnis, aber wenn dich Haruka genauso liebt, wie du sie, lohnt es sich auf alle Fälle. Was habt ihr gestern eigentlich gemacht?“ Die Violinistin seufzte, bevor sie begann, ihr verträumt von der Fahrt zum Café bis hin zum Sonnenuntergang und dem überraschenden Abschiedskuss zu erzählen. Nachdenklich ging sie dann auf die Begegnung mit Sarah ein. „Nachdem sie mit ihr gesprochen hatte, war sie ganz anders. Irgendwie zurückhaltend und kühl. Erst nachdem wir ein ganzes Stück gefahren waren, wurde sie wieder… normal. Meinst du, da lief noch mehr zwischen den beiden?“, fragte sie vorsichtig. „Das kann ich dir leider nicht sagen. Allerdings denke ich, dass du ihr sehr wichtig bist. Egal, was zwischen den beiden steht, sie hat das Café mit dir verlassen und Sarah damit wohl deutlich gezeigt, dass sie sich nur für dich interessiert.“ Nachdem sich die beiden einen Moment lang schweigend angesehen hatten, schloss Setsuna ihre Stieftochter in ihre Arme und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Ich kann dir nicht versprechen, dass sie sich auch an dich verloren hat. Natürlich kann es schmerzhaft sein, wenn man sich in den falschen Menschen verliebt. Aber ich rate dir, es zu riskieren. Riskiere verletzt zu werden, und wenn du und Haruka für einander bestimmt seid, wird sie es dir danken.“ Erst als Toshio und Hotaru zurück kamen, lösten sich die beiden voneinander und wanderten zurück zum Auto. Mittlerweile war es schon später Nachmittag und alle Vier waren vom Januarwind durchgefroren. Michiru sah die ganze Fahrt über verträumt aus dem Fenster. An einer Kreuzung klarte ihr Blick plötzlich auf. Dieses Motorrad kam ihr auffallend bekannt vor. Ein breites Lächeln bildete sich in ihrem Gesicht, als sie ihre Pianistin erkannte. >Aber Moment mal… Wer ist das denn?<, die Frau hinter Haruka war ihr erst gar nicht aufgefallen. Unter ihrem Helm, der doch eigentlich der jungen Künstlerin gehören sollte, floss langes, braunes Haar hervor. Für Sarah war es zu dunkel und zu lang. Hatte die Rennfahrerin noch eine weitere weibliche Bekanntschaft, von der die Violinistin nichts wusste? Jetzt beugte sich die Unbekannte auch noch weiter vor und kam der Blondine so noch näher. Gebannt beobachtete Michiru die beiden, bis Toshio seine Familie über die Kreuzung gefahren hatte und sie das Paar nicht mehr sehen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wer war das? Was wollte sie von ihrer Freundin? War es nur eine Bekannte, oder hatte Michiru doch recht, was ihre Befürchtungen betraf? In ihrer Wohnung angekommen, verabschiedete sich die Streicherin wortkarg und flüchtete in ihr Zimmer. Fast den gesamten Sonntag über blieb sie darin allein. Sie wollte mit Hotaru weder malen noch musizieren und so gab ihre Schwester bald auf und beschäftigte sich etwas betrübt mit ihrem Vater. Setsuna setzte sich am Nachmittag zu ihrem Schützling und nach einer gefühlten Ewigkeit, in der beide Frauen nur schweigend dasaßen, erzählte ihr Michiru von ihrer Beobachtung. Ihre Stieftochter umarmend gab die Dunkelhaarige der Jüngeren den Rat, Haruka direkt darauf anzusprechen, bevor sie sich unnötig in etwas hineinsteigere. Gut gelaunt machte sich Haruka am Montagmorgen auf den Weg zur Schule. Nachdem sie den halben gestrigen Tag auf der Laufbahn verbracht und sich anschließend ehrgeizig dem Schulstoff gewidmet hatte, in der Hoffnung, sie könnte die Zeit für Hausaufgaben mit Michiru verkürzen und sich mit ihr eher anderweitig beschäftigen, hatte sie das Wochenende mit einem heißen Bad und einem Glas Wein ausklingen lassen. Vor dem Eingang des Schulgebäudes begegnete sie Kikyo und Junko, die sie breit angrinsten. „Guten Morgen, Haruka-san“, strahlte die Klassensprecherin. „Guten Morgen.“, erwiderte die Sportlerin. „Kikyo-chan hat mir alles erzählt, du Romantikerin. Was hast du für heute mit ihr geplant? Einen Strandspaziergang? Ein Picknick im Stadtpark? Erzähl schon!“, drängte Junko. Haruka kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Eigentlich hatte ich noch gar nichts weiter geplant. Das kommt dann ganz spontan.“ Immer noch in Gedanken versunken lief Michiru über den Schulhof. Fast wäre sie gegen einen jüngeren aber größeren Schüler gelaufen. Also hob sie den Blick und erkannte die Rennfahrerin vor der Treppe zum Eingang des Hauptgebäudes. Abrupt blieb sie stehen. Abwechselnd sah sie zwischen ihr und den beiden anderen Mädchen hin und her. Dieses leicht wellige, braune, lange Haar… Wie konnte sie das übersehen haben? Immer, wenn Haruka nicht bei ihr selbst war, gab sie sich mit der Klassensprecherin ab. Und offensichtlich war sie für die Blondine mehr als nur eine Klassenkameradin. Ganz sicher war sie es, die sie am Wochenende mit auf dem Motorrad gesehen hatte. War die Künstlerin für Haruka nur eine Art Zeitvertreib gewesen? Hatte sie mehr Interesse an Kikyo, als an ihr? Ihre Gedanken kreisten immer weiter und solange sie sich noch ihre Tränen unterdrücken konnte, stürmte Michiru los, über den Schulhof und an ihren wartenden Mitschülerinnen vorbei. Sie vernahm ein verdutztes „Guten Morgen!“ der Pianistin, lief aber weiter zur Mädchentoilette, wo sie sich bis kurz vor Unterrichtsbeginn einschloss. Verwirrt sah Haruka zu ihren beiden Freundinnen. „Was sollte das denn?“, brachte eine genauso irritierte Junko hervor. „Hast du irgendetwas angestellt?“, fragte Kikyo skeptisch. „Nicht, dass ich wüsste.“, überlegte Haruka und starrte in den Schulkorridor. Zögerlich setzte sie sich in Bewegung. Erst wenige Augenblicke, bevor Herr Hisakawa die Stunde eröffnete, tauchte Michiru wieder auf. Wortlos setzte sie sich an ihren Platz und starrte nach vorn. „Ist etwas passiert? Was ist denn mit dir?“, fragte ihre blonde Sitznachbarin vorsichtig nach, wurde jedoch kühl ignoriert. Sofort, als es zum Beginn der Frühstückspause klingelte, schob die Geigerin ihre Unterlagen in ihre Tasche und eilte davon. Enttäuscht sah Haruka wieder zu Kikyo und Junko, die nur fragend zurück blickten und mit den Schultern zuckten. Michiru konnte nicht mehr klar denken. Wie hatte sie nur so blind sein können? Mit Kikyo hatte sich der Rennprofi schon am ersten Tag abgegeben. Immer wieder hatte sie die beiden miteinander gesehen, wie sie so aufgeschlossen und offen miteinander umgingen. >Und dann diese Blicke, die sie sich immer wieder zuwarfen…< Mittlerweile war die Violinistin bei den Kunsträumen angekommen. An den Wänden hingen Kunstwerke, einige davon von ihr selbst. Abwesend sah sie sich um, setzte sich dann auf die Treppe, umschlang ihren Körper mit ihren Armen und lehnte sich gegen die Wand des Treppenhauses. „Das ist doch total bescheuert!“, verfluchte sich Michiru selbst. >Was interessiert es dich überhaupt?! Du bist weder mit ihr zusammen, noch hat sie irgendwas in die Richtung angedeutet. Du kennst sie doch überhaupt nicht! Wir sind nur Freunde. Was geht es mich an, mit wem sie sich trifft?!< Und doch ließ der Schmerz nicht nach. Die Umarmung, der Sonnenuntergang… Michiru war sich sicher, auch Haruka hätte ihre Nähe bewusst gesucht. Tat sie das vielleicht bei jeder Frau? Vielleicht hatte ihr Michirus verhaltene Zuneigung einfach nicht gereicht… Vielleicht hatte sie mehr gewollt, es nicht bekommen und holte sich jetzt von anderen Mädchen, was sie brauchte? Michiru begann zu zittern und weitere heiße Tränen fanden ihren Weg. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie nahe Kikyo ihrer Haruka noch gekommen war. Unruhig suchte Haruka den Schulhof nach ihrem Engel ab. Am Pausenende kehrte sie niedergeschlagen zum Unterrichtsraum zurück und wartete, bis die Künstlerin endlich eintraf. Wieder wurden ihre Fragen ignoriert und während des Lehrerwechsels zwischen Geographie und Geschichte zog Michiru ihr Handy hervor und tat so, als würde sie eine ellenlange SMS tippen. Auch in der Mittagspause verschwand Michiru ohne ein weiteres Wort eilig aus dem Raum. „Das verstehe ich nicht.“, murmelte die Blondine, als sie merkte, dass Junko und Kikyo neben ihr aufgetaucht waren. Seufzend legte die Klassensprecherin ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter. „Hast du heute früh ihre Augen gesehen? Sie sah aus, als hätte sie geweint…“, stellte sie fest. Haruka nickte leise. „Na los, vielleicht ist sie ja in der Cafeteria.“, schlug Junko vor. Doch auch dort war die talentierte Musikerin nicht zu finden. In ihren Gedanken versunken stocherte Haruka in ihrem Mittagsessen herum. Was hatte sie denn falsch gemacht? Den restlichen Tag über lief es für die Sportlerin nicht besser. Soweit es ihr möglich war, ging ihr Michiru aus dem Weg. Gesprochen hatte die Künstlerin mit ihr nicht ein Wort und so verschwand sie auch nach der Chemiestunde schweigend. Aufgebracht flog Haruka förmlich über den Highway. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie von der Schönheit plötzlich so abgewiesen wurde. Am Freitag lief noch alles so gut. Bis auf den Zwischenfall mit Sarah, aber deswegen konnte sie doch nicht sauer sein, oder etwa doch? Spätestens bei dem Sonnenuntergang am Meer war doch alles wieder vergessen, >Oder etwa nicht?< Oder war es der Abschiedskuss? War Haruka ihrem Engel zu nahe getreten? Wollte sie eigentlich nichts von ihr, und wies sie deshalb jetzt so zurück? Ruhelos gab die Rennfahrerin noch mehr Gas und brauste dem passenderweise eisigen Nachtwind entgegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)