Tokyo Bay von Ruka_S_Orion (Neustart) ================================================================================ Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Zuhause angekommen wurde Michiru stürmisch von ihrer Schwester begrüßt. Sie hatte bereits vor über einer Stunde Schluss gehabt und wartete ungeduldig auf das ihr versprochene Spiel mit ihrem Vorbild. „Taru-chan, ich habe dir doch gesagt, ihr sollt erst eure Hausaufgaben erledigen.“, ertönte die Stimme ihrer Mutter aus der Küche. „Aber ich habe zu morgen doch gar nichts auf!“, schmollte die Kleine vor sich hin. „Ich gehe aber davon aus, dass Chiru-chan noch etwas zu erledigen hat.“ Hotaru sah enttäuscht zu der Violinistin auf. „Tut mir leid, kleiner Quälgeist. Aber du hast Mama gehört.“ Also verschwand die Künstlerin in ihrem Zimmer, natürlich begleitet von dem aufgeregten Energiebündel, das sie zum schnelleren Arbeiten anhielt. Als endlich alles erledigt war, nahmen sich die Mädchen ihre Instrumente und spielten ihren Eltern im Wohnzimmer ein klassisches Stück nach dem anderen vor. Michiru verlor sich in den Melodien regelrecht und ihre Gedanken wanderten wieder zu Haruka. Mittlerweile war sie sich sicher, dass ihr Klassenlehrer sie nur mit einem Jungen verwechselt hatte. Sie dachte an die heutige Mittagspause zurück und an die unglaublich warme Umarmung. Sie bemerkte gar nicht, wie sie immer mehr in ihrer Musik und den Erinnerungen an die Blondine versank. Nach etlichen Stücken, wobei Hotaru einige Titel auslassen musste, weil ihr die Luft ausgegangen war, spielte die Violinistin schließlich ihre letzten Takte und sah verträumt aus dem Fenster. Ihr Vater spendierte seinen Töchtern einen begeisterten Applaus. Obwohl er selbst kein Instrument spielte, konnte er sich von dieser Art von Musik geradezu berauschen lassen. Seine Frau lächelte nur zu Michiru herüber. Sie sah ihr an, dass sie nicht nur wegen der Melodien so vor sich hin träumte, und beschloss, der Ursache bald nachzugehen. Am nächsten Morgen konnte nicht einmal das Geschwätz Narumis Michirus Laune trüben. Lächelnd trat sie neben Haruka, die bereits an ihrem Platz saß und ungeduldig mit dem Fuß wippte. „Guten Morgen! Du siehst heute viel besser aus, als gestern.“, begrüßte die Künstlerin ihre Sitznachbarin. „Dir auch einen guten Morgen, Michiru-san.“, grinste die Blondine zurück. In der Tat hatte sie gestern nach einer ausgedehnten Trainingseinheit ihre Hausaufgaben erledigt und anschließend nur noch ein ausgiebiges Bad genommen. Nach dem Geschichtsunterricht begannen die beiden zu plaudern. Zwar hatte Narumi versucht, ihre Freundin in Gespräche zu verwickeln, die eher nach ihrem Geschmack waren, jedoch traf sie bei ihr auf taube Ohren. So blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder an ihren eigenen Platz zurückzukehren und auf die Mathelehrerin, Frau Ogata, zu warten. Auch in der Frühstückspause gelang es ihr nicht, Michiru von Haruka zu trennen. Nach einigem Gezeter mischte sich Hiro ein. „Was ist denn, Narumi? Beeilt euch. Ich habe keinen Bock auf irgendwelche Knirpse, die vergessen haben, wo ihr Platz ist.“ Narumi sah ihre Freundin auffordernd an. „Du hast doch gehört, die ‚Gang‘ wartet auf dich.“, betonte Michiru mit einer übertriebenen Geste. „Wie jetzt? Du kommst echt nicht mit?“ Narumi zog ungläubig ihre Brauen zusammen. Die Violinistin schüttelte nur den Kopf, was Hiro ein leises Knurren entlockte. „Komm jetzt, Narumi.“, befahl er knapp, um dann mit seiner Gruppe den Raum zu verlassen. Verblüfft sah Haruka zu Michiru herüber. Diese lächelte nur und fragte: „Was ist? Wollen wir heute nicht mal draußen frühstücken? Die Wolken haben sich verzogen und geschneit hat es heute auch noch nicht.“ Die Blondine grinste breit und schulterte ihre Tasche. Zusammen schlenderten sie zu dem Baum, unter dem Haruka schon am Montag Ruhe gesucht hatte. „Und? Hat sich deine Schwester über das Spiel mit dir gefreut?“ „Ja, das hat sie. Es ist unglaublich, wie gut sie schon spielen kann, obwohl sie erst neun ist. Allerdings übt sie auch wie wild. Malen will sie auch. Es ist manchmal schon ein bisschen unangenehm wie sie mir nacheifert.“, lachte Michiru. Fast die gesamte Pause über erzählte sie über sich und ihren ‚kleinen Quälgeist‘, wobei die Sportlerin ihr aufmerksam zuhörte. Nach dem Biounterricht mussten sich die beiden vorerst voneinander verabschieden und Haruka machte sich auf den Weg zum Physikraum, während Michiru in Richtung des Kunstateliers verschwand. In der heutigen Doppelstunde Kunst sollten die Schüler ein Stillleben aus dem Kopf heraus malen. Die Violinistin wusste sofort, welches Motiv sie wählen würde und so war die exzentrische Frau Amano am Ende der Zeiteinheit hellauf begeistert. „Kaioh-san, ich muss ja sagen, Ihr Talent ist wirklich bemerkenswert! Was für eine Ausstrahlung! Diese dunklen Grautöne bis hin zum Schwarz… Man spürt förmlich, mit wie viel Gefühl Sie den Pinsel führten. Und diese Klarheit und diese Detailliertheit… Man könnte meinen, Sie hätten diesen wundervollen Flügel abfotografiert und gekonnt geradezu zärtlich übermalt. Und dann diese Rosen… Man kann ihren Duft fast riechen! Sie strahlen mit ihren kräftigen Rottönen eine unglaubliche Wärme aus. Wahrlich ein Meisterwerk. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich es gern dem Ausschuss vorstellen und für die neue Galerie am Tokyo Tower vorschlagen?!“ „Es wäre mir eine Ehre, mein eigenes Gemälde in einer öffentlichen Galerie sehen zu können, Amano-sensei.“, verbeugte sich Michiru schüchtern und leicht errötet. Sie stand glatt eins in Kunst (wie auch in fast jedem anderen Fach), aber so viel Lob hatte sie noch nie ernten können. „Oh, das ist nicht nur eine öffentliche Galerie, Kaioh-san! Es ist DIE Galerie. Sie glauben ja nicht, was da für Kunstexperten und -sammler auftauchen werden. Ich drücke Ihnen die Daumen, vielleicht wird Ihr Talent den richtigen Leuten auffallen.“, zwinkerte die Lehrerin ihr zu. Freudestrahlend traf die Violinistin in der Pause wieder auf Haruka und erzählte ihr gleich von den Neuigkeiten. „Wie kamst du denn auf das Motiv? Ich meine, es ist ja nicht unbedingt eins, das einem einfach so einfällt.“, wollte die Blondine wissen. Die Künstlerin sah leicht errötend auf ihren Fisch. „Ich weiß auch nicht. Es kam mir einfach in den Sinn.“, lächelte Michiru und lenkte schnell vom Thema ab, indem sie ihre Gesprächspartnerin darauf hinwies, dass sie mit einem Steak im Bauch wohl nicht gerade gut und schnell laufen könne. Diese grinste nur und stellte klar, dass Leichtathletik und Motorsport zu ihren größten Leidenschaften gehörten und dass sie so ein kleines Mittagessen nicht aus der Bahn werfen könne. Nach dem Essen beschloss Haruka ihre Mitschülerin bis zur Schwimmhalle zu begleiten. Dass sie dafür einen doch ziemlich großen Umweg machen musste, fiel ihr erst auf, als sie einige Minuten zu spät auf dem Sportplatz ankam. Reumütig sprintete sie zu Herrn Fukami, der sie überrascht ansah. „Tenoh-kun? Sie sind ja noch nicht umgezogen! Was trödeln Sie denn so lange? Ihre Mitschüler sind schon längst bei der Erwärmung.“, beschwerte sich der Lehrer, drückte Haruka den Schlüssel für die Umkleidekabine in die Hand und rief ihr gleich darauf nach, sie würde dafür noch ein paar Runden extra drehen müssen. Natürlich musste Haruka feststellen, dass sie nicht den Schlüssel für die Mädchen-, sondern für die Jungenumkleide erhalten hatte. Auf der Laufbahn konnte sie merken, dass der Direktor nicht übertrieben hatte. Bei diesem Laufgefühl machten ihr die zusätzlichen Runden nach Unterrichtsschluss nun wirklich nichts aus. Herr Fukami staunte nicht schlecht, als Haruka auch nach der Doppelstunde noch Bestzeiten lief. Zufrieden rief er seinen neuen Lieblingsschüler zu sich und erklärte, dass er ihm wohl ohne Bedenken den Schlüssel für das neue Sportgelände anvertrauen konnte. Bevor die Blondine grinsend die Sportbahn verließ, drehte sie sich noch einmal zu ihrem Lehrer um. „Ach, Fukami-sensei. Es wäre beim nächsten Mal vielleicht besser, wenn ich den Schlüssel für die Mädchenumkleide bekäme. Es macht mir ja nichts aus, aber ich könnte vielleicht einige Klassenkameraden in Verlegenheit bringen.“, grinste die Sportlerin noch breiter und ließ die Lehrkraft staunend und vor Verlegenheit errötend zurück. Nachdem sie schnell geduscht hatte, sprintete sie wieder zur Schwimmhalle, wo Michiru schon wartete. „Tut mir leid, aber ich musste noch ein paar Extrarunden drehen.“ „Ich habe dir doch gesagt, du brauchst zu lange, wenn du mich noch her bringst.“, stellte die Schwimmerin überlegen klar. Gemeinsam machten sich die Schülerinnen auf den Weg zur Schule, wo sie in der Bibliothek ihre Hausaufgaben erledigen wollten. Michiru fiel das Defizit ihrer Freundin in Japanisch auf, weshalb sie gezielt ein wenig mehr auf dieses Fach einging. Doch schon nach einer viertel Stunde bekam Haruka schlechte Laune. Schmollend schlug sie ihre Bücher zu. „Ich brauche keine Nachhilfe… Ich kann sprechen, lesen, schreiben… Hatte nie Probleme damit, mich jemandem mitzuteilen. Unnützes Fach…“ Mit verschränkten Armen lehnte sich Haruka zurück und starrte auf die Tischplatte. Michiru blinzelte überrascht. Dass die selbstbewusste Blondine plötzlich so bockig sein könnte, hatte sie nicht erwartet. Der Anblick der eingeschnappten Leichtathletin brachte sie erst zum schmunzeln und schließlich zum Lachen, als Haruka fragend aufsah. Für einen kurzen Moment wollte die Rennsportlerin protestieren. Doch bei Michirus melodischem Gelächter hatten ihre Gesichtszüge gar keine andere Wahl, als wieder weich zu werden. Am nächsten Tag wurde Michiru noch vor dem Erreichen des Schulhofs von Narumi abgefangen. Die beschwerte sich wortreich über die Abweisung, die sie am Vortag von ihrer Freundin erhalten hatte. Sie erzählte ihr, Hiro wäre eingeschnappt. Michiru war das nur recht so. Sie hasste es, wie er sie als Mitglied seiner Gruppe behandelte. Mit seinem übergroßen Ego erweckte er immer den Eindruck, sie und die anderen Mädchen wären verdientermaßen seine hübschen Trophäen. Seine Auszeichnungen für sein Dasein. Dass Michiru ihn, anders als Sanae und Narumi, dafür nicht anhimmelte, ignorierte er schlichtweg. Nur dass sie sich jetzt von ihm abwandte und lieber Harukas Gesellschaft suchte, konnte und wollte er nicht mehr tolerieren. Als die beiden Schülerinnen den Schulparkplatz erreichten, bog ein rotes Motorrad in die Einfahrt und sie blieben verdutzt stehen. Die meisten Schüler der Mugen waren zu jung für einen Führerschein. Zudem gehörte der heutige Januartag zwar nicht unbedingt zu den kältesten, trotzdem waren es noch ein paar Grad unter null und die Straßen waren spiegelglatt. Keine optimalen Bedingungen zum Motorradfahren. Lässig stellte Haruka ihre Yamaha ab, befreite sich von ihrem Helm und schritt grinsend auf ihre überrascht blickenden Mitschülerinnen zu. „Du hast dein eigenes Motorrad?“, fragte die Künstlerin. „Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, mein Sonnenschein.“ Die Blondine ging ohne anzuhalten weiter in Richtung Schulgebäude. „Wenn ihr nicht zu spät kommen wollt, solltet ihr da nicht so herum stehen.“, rief sie über ihre Schulter und die verunsicherten Mädchen folgten ihr nach einem weiteren kurzen Blick auf die Maschine. In den ersten beiden Stunden hatten Haruka und Michiru Musik. Hiro hielt nicht viel von Kultur, und so war der Kurs ohne ihn und seinen Anhang recht überschaubar. Bis auf Kikyo und Junko befanden sich nur wenige weitere Schüler im Raum, als Herr Nanba eintraf und die Stunde eröffnete. Skeptisch sah er Haruka ins Gesicht, als die ihm sagte, sie könne sowohl Noten lesen, als auch Klavier spielen. Also bat er sie, dem Kurs eine Kostprobe zu geben. Ohne zu zögern setzte sich die Sportlerin an den Flügel. Bei dem Anblick der sich ihr bot, begann Michirus Herz unweigerlich schneller zu schlagen. Nachdem Haruka noch einmal Blickkontakt zu der Geigerin gesucht hatte, begann sie langsam zuspielen. Sie entschied sich für eines der ersten Lieder, das sie gelernt hatte. Es war nicht sehr kompliziert, aber Haruka legte so viel Gefühl in die Melodie, berührte die Tasten fast zärtlich und versank förmlich in der Musik, sodass ihre Mitschüler und auch Herr Nanba nur verträumt die Augen schließen konnten. Nach einigen Minuten spielte Haruka die letzten Töne, aber es dauerte noch einen Moment, bis ihr Lehrer schließlich die Stille durchbrach und gestand, dass er so viel musikalisches Talent nicht erwartet hätte. Die Pianistin sah zu Michiru herüber und fragte, ob sie nicht noch Zeit hätten für ein kleines Duett. Begeistert stimmte Herr Nanba zu. Immerhin war das Schuljahr bald zu Ende und allzu viel Unterrichtsstoff hatten sie auch nicht mehr durchzunehmen. Die Streicherin errötete zwar, als sich ihre Mitschüler fragend zu ihr umdrehten, nickte aber trotzdem und schritt dann lächelnd auf Haruka zu. Auf der kleinen Bühne angekommen, packte sie ihre Violine aus und schlug vor, die Blondine solle einfach drauflos spielen. Verstehend nickend folgte die der Anweisung. Sie wählte ein komplizierteres aber auch gefühlvolleres Stück. Bereits nach den ersten Tönen legte sich Michiru ihr Instrument ans Kinn und stieg in das Spiel der Pianistin mit ein. Aus einem nur kurz geplanten Auftritt wurde bald ein längerer. Die Schülerinnen spielten zusammen, als hätten sie es schon unzählige Male getan, ein Stück nach dem anderen. Verloren in den Melodien fühlten sie sich einander so nah… So vertraut war ihnen das Zusammenspiel… Und wenn es die Violinistin einmal schaffte, ihre Augen zu öffnen, sah sie gleich zu ihrer Partnerin, deren Blick wiederum an der Künstlerin zu kleben schien. Erst am Ende der Doppelstunde, als das Paar ein weiteres Stück beendet hatte, ertönte Herr Nanbas Stimme. „So gerne ich Ihnen beiden auch zuhöre, aber der Unterricht ist für heute damit leider beendet. Aber nächste Woche müssen wir uns wieder der Theorie zuwenden. Trotzdem möchte ich noch einmal betonen, dass Sie beide ein unglaubliches Paar abgeben! Ich kann Ihnen nur ans Herz legen dieses Talent weiter auszubauen, Tenoh-kun. Und dass Sie einfach meisterhaft spielen, habe ich Ihnen ja schon mehrmals gesagt, Kaioh-san. Machen Sie etwas daraus! Im Duett hätten Sie beide sogar noch bessere Chancen in der Welt der Musik.“ Kikyo klopfte ihrer blonden Freundin beim Verlassen des Raumes noch zwinkernd auf die Schulter und wie berauscht von den sanften Klängen von Geige und Flügel verließ nun auch diese mit Michiru gemeinsam den Raum. Am Ende der Pause trennten sich die Wege der beiden und nach einer endlosscheinenden Stunde Astronomie (beziehungsweise Psychologie) trafen sie sich wieder zu einer Doppelstunde im Hauswirtschaftsraum. Die Schüler sollten sich heute ihr eigenes Mittagessen kochen und Haruka war heilfroh, dass sie offenbar eine talentierte Partnerin gefunden hatte. Routiniert gab Michiru der Blondine Anweisungen, was sie wann zutun hatte und so konnte sich das Ergebnis, trotz mangelnder Kenntnisse seitens der Sportlerin, sehen lassen. In der Mittagspause schlenderten die beiden Schülerinnen nach draußen und suchten ihren neuen Lieblingsplatz auf. Es war wohl durch seine Abgelegenheit einer der ruhigeren Plätze auf dem Schulhof und so schloss Haruka die Augen, reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und atmete tief die frische Luft ein. Bei diesem Anblick musste Michiru unweigerlich schmunzeln. „Es wird langsam wärmer.“, stellte sie fest. Nach einem erneuten tiefen Atemzug hob die Blondine ihre Lider und lächelte zu der jungen Künstlerin. Die lehnte sich nun nachdenklich zurück. „Sag mal, du bist doch noch nicht achtzehn, oder?“, fragte sie die Sportlerin, die überrascht ihre Augenbrauen hob. „Noch nicht ganz. Aber in zweieinhalb Wochen habe ich Geburtstag. Am 27.. Wieso fragst du?“ „Also fährst du schwarz? Hast du keine Angst, dass du erwischt wirst?“ Auf dem Gesicht der Rennfahrerin bildete sich ein schiefes Grinsen. „Ach so. Nein, ich fahre nicht schwarz. Ich habe schon einen Führerschein. In Nagoya bin ich Rennen gefahren. Schon seit meinem zwölften Lebensjahr. Und mit sechstzehn habe ich meinem Trainer erklärt, dass es Blödsinn wäre, würde ich zwar auf der Bahn meine Runden drehen und einen Titel nach dem anderen nach Hause bringen, aber draußen nicht mal mit dem Motorrad fahren dürfen. Also hat er seine Beziehungen spielen lassen. Ich musste zwar noch eine Prüfung ablegen, aber ich habe meine Fahrerlaubnis bekommen. Momentan darf ich zwar nur mit dem Motorrad fahren, aber sobald ich volljährig bin, darf ich auch endlich in zivil ins Auto steigen.“, erklärte die Rennfahrerin triumphierend. „Ich kann dich ja mal mit nehmen?!“, bat sie Michiru an. Die Geigerin sah sie verdutzt an. „Also eigentlich bin ich ja gar nicht für die Geschwindigkeit gemacht...“ „Keine Sorge, ich fahre auch ganz langsam.“, versuchte sie Haruka umzustimmen. „Ich kann dich ja heute nach Hause bringen, wenn du willst.“ „Was denn, heute? Nein! Doch nicht bei dem Wetter! Ich habe zwar keinen Führerschein, aber ich merke auch so, wie glatt es wird, wenn es beginnt zu tauen. Nein, tut mir leid, aber heute wird das nichts.“ „Na schön, dann eben nächste Woche.“, zwinkerte die Blondine. Fast schon wehmütig machten sich die beiden auf den Weg zur letzten Unterrichtsstunde der Woche. Zwar saßen sie in Mathe wieder an Einzeltischen und konnten auch nicht zusammen arbeiten, trotzdem war die Tatsache, den jeweils anderen nur eine Armlänge neben sich zu haben, irgendwie beruhigend. Und so mussten sie sich wohl oder übel nach der Stunde voneinander ins Wochenende verabschieden. Zuhause angekommen schlich sich Michiru am Zimmer ihrer kleinen Schwester vorbei in ihr eigenes. Dem Blick ihrer Eltern entging das jedoch nicht. Nachdem sie stundenlang verschwunden war, ohne sich zu zeigen, machte sich ihr Vater langsam Sorgen und wandte sich an seine Frau. „Sag mal, findest du das nicht auch merkwürdig? Es ist schon fast Neun und Chiru-chan kam weder zum Abendbrot, noch hat sie sich bei Taru-chan bemerkbar gemacht. Ob sie Probleme in der Schule hat? Vielleicht wurde sie ja geärgert oder hat eine schlechte Note bekommen! Hoffentlich liegt es nicht an diesem Kawashima. Sie kann sagen, was sie will, aber dieser Junge ist mir unsympathisch. Der hat doch nur Blödsinn im Kopf und macht nichts als Ärger. Vielleicht hat er meine kleine Chiru-chan verletzt! Wenn er das getan hat, dann kann er was erleben!“ Der schwarzhaarige Mann mit der weißen Strähne redete sich selbst in Rage. Seine Frau tätschelte ihm dabei nur sanft den Handrücken. „Keine Sorge, Liebling. Ich glaube nicht, dass es so etwas ist. Aber wenn du möchtest, sehe ich mal nach. Vielleicht will sie ja mit jemandem reden.“, beruhigte sie Kaioh Toshio und stand auf, um kurz darauf vorsichtig an Michirus Zimmertür zu klopfen. Nachdem sie keine Antwort erhielt, drückte sie leise die Klinke und fand die Künstlerin schlafend mit dem Kopf auf den verschränkten Armen am Schreibtisch sitzend. Langsam schloss sie die Tür wieder. Sie holte aus der Küche einen kleinen Teller voll Abendbrot, den sie dann leise in das Zimmer der Schülerin brachte. Vorsichtig zog sie eine Zeichnung unter der schlafenden jungen Frau hervor. Sie zeigte die verschwommene Silhouette eines Pianisten, der an einem schwarzen Flügel saß, auf dem ein Strauß Rosen stand. Neben ihm auf der Sitzbank lag eine Violine. Ganz deuten konnte sie es nicht, aber Setsuna war sich sicher, dass Michiru keinen Ärger in der Schule hatte. Am nächsten Morgen schleppte sich Michiru an den Frühstückstisch. Erst spät in der Nacht war sie wieder wach geworden, hatte sich lächelnd noch etwas von dem ihr gebrachten Abendbrot genommen und sich dann ins Bett gelegt. „Guten Morgen.“, wünschte sie nun in die Runde. „Und Dankeschön.“, lächelte sie Setsuna zu. „Chiru-chan, was war denn gestern los? Ich dachte, du wolltest dir noch meine neuen Bilder angucken, aber du bist einfach nicht gekommen.“, schmollte Hotaru vor sich hin. „Tut mir leid, Taru-chan, aber ich war einfach wahnsinnig müde. Das holen wir heute nach.“, entschuldigte sich ihre große Schwester. „Ich fürchte, das wird noch bis heute Nachmittag warten müssen.“, mischte sich ihr Vater ein. „Taru-chan und ich müssen noch etwas erledigen. Und außerdem hast du doch noch Klarinettenunterricht, meine Kleine.“ „Aber Papa!“ „Ach was, du Quälgeist. Dann sehe ich mir deine Bilder eben später an. Versprochen! Und jetzt hör auf zu bocken, sonst bekommst du noch Hörner.“, grinste Michiru und brachte die Kleine damit zum Schmunzeln. „Gar nicht wahr.“ Nach dem Frühstück brachen das jüngste und das älteste Familienmitglied auf und ließen die beiden Frauen in der Wohnung zurück. Nachdem sie gemeinsam die Küche aufgeräumt und abgewaschen hatten, wollte Michiru sich wieder in ihr Zimmer verabschieden, wurde aber von Setsuna aufgehalten. „Willst du weiter zeichnen?“, fragte sie die Jüngere. Verdutzt sah diese auf und nickte. „Weißt du schon, welches Motiv du nehmen wirst?“, fragte sie weiter. Jetzt wirkte die Künstlerin fast verwirrt. „Michiru, möchtest du vielleicht reden? Auch wenn sie dabei ganz andere Gedanken hatte, hatte Hotaru recht. Du bist gestern wirklich schnell verschwunden. Dein Vater fürchtete sofort, du hättest Ärger in der Schule. Aber ich glaube ja, dass das Gegenteil der Fall ist…“, erklärte die Ältere. Die Violinistin senkte nachdenklich ihren Blick. >Das Gegenteil…< Jetzt sah sie verblüfft wieder auf, woraufhin sich ein Lächeln auf den Lippen Setsunas bildete. Sie hatte in der Zwischenzeit Tee aufgebrüht und zusammen mit zwei Tassen auf ein kleines Tablett gestellt. Dann nickte sie langsam in Richtung Wohnzimmer und setzte sich kurz darauf zu Michiru aufs Sofa. Nun nahm sie ihre Tasse, lehnte sich zurück und drehte sich dabei zu der Streicherin, die mit einem leichten Rotschimmer auf den Wangen ihre eigene Tasse anstarrte. „Liebling, wenn du nicht darüber reden willst, dann ist das auch kein Problem. Aber wenn doch, dann höre ich dir gerne zu. Und ich sage auch nichts deinem Vater, wenn du es nicht möchtest.“ Doch die Jüngere begann daraufhin zu lächeln. „Das ist es nicht.“, Endlich sah sie wieder auf. „Ich weiß nur nicht richtig, wo ich anfangen soll.“ Zaghaft nahm sie einen Schluck von ihrem Tee und lehnte sich dann ebenfalls zurück. „Es gibt da seit Montag schon einen neuen Schüler in unserer Klasse, Haruka.“ „Haruka-?“, unterbrach Setsuna, doch Michiru sprach unbeirrt weiter. „Schon als Haruka in unsere Klasse gekommen ist, haben sich unsere Blicke getroffen und mir ist gleich ganz anders geworden. Irgendwie ganz warm… Kawashima-kun kann Haruka natürlich überhaupt nicht leiden, und die beiden hatten gleich in der ersten Pause eine kleine Auseinandersetzung. Aber Haruka ist ganz cool geblieben, hat ihm die Meinung gesagt und ist einfach gegangen. Du hättest mal sehen sollen, wie der geguckt hat! Sowas ist dem bestimmt noch nicht passiert. Und das, obwohl Takato-kun, Tosei-kun und Han-kun mal wieder direkt hinter ihm standen. Und am nächsten Tag gleich noch mal! Am Mittwoch dann kam Kawashima-kun zu mir und meinte, ich solle mich auf Haruka nicht einlassen, aber Herr Nanba hat in der Mittagspause gesagt, ich solle Haruka bei den Hausaufgaben helfen. Also waren wir dann auch zusammen beim Mittagessen und gestern und am Donnerstag waren wir auch fast den ganzen Tag über zusammen. Und dass wir vorgestern zusammen gelernt haben, hab ich euch ja erzählt. Und gestern Morgen hatten wir dann Musik und Herr Nanba wollte, dass Haruka ihm etwas am Flügel vorspielt. Letztendlich haben wir die ganze Doppelstunde über im Duett gespielt.“ Michiru sah die ganze Zeit über auf ihre Teetasse. Als sie zum Ende kam, träumte sie verlegen vor sich hin und vergaß fast vollkommen, dass sie das alles hier jemanden erzählte und nicht nur für sich dachte. Setsuna lächelte die Jüngere, währenddessen sie erzählte, leise an und hörte aufmerksam zu. „Für mich hört es sich so an, als wäre Haruka eine ganz besondere Person, richtig?“, fragte sie, als die junge Schülerin einige Zeit lang schweigend vor sich hin geträumt hatte. Daraufhin wurde die Röte auf deren Wangen kräftiger. „Das kann schon sein…“, gab sie leise von sich. Setsuna stellte ihre Tasse ab und nahm die Hand der Violinistin. „Kann es sein, dass du gerade dabei bist, dich zu verlieben?“, fragte sie grinsend. Michiru sah erschrocken in das Gesicht der Älteren. „Was?!“ „Ich glaube sogar, du bist nicht nur dabei. Ich vermute, du bist schon bis über beide Ohren verknallt.“ Jetzt wurde die Gesichtsfarbe der Künstlerin noch deutlicher. „Das braucht dir nicht unangenehm sein. Im Gegenteil! Ich habe mich schon gefragt, wann es endlich soweit ist. Immerhin bist du fast achtzehn. Und als du uns so verträumt etwas vorgespielt hast, habe ich mich wirklich für dich gefreut. Und dieser Haruka scheint mir ein vernünftiger junger Mann zu sein. Wie könnte es auch anders sein, bei deinem Dickkopf?“ Jetzt sah Michiru schüchtern auf ihre Hand, die immer noch von ihrer Gesprächspartnerin gehalten wurde. „Also eigentlich… Weißt du… Wie soll ich sagen? Setsuna…“, stammelte sie, „Wenn ich ehrlich bin… ist Haruka gar kein Junge…“ Nervös spielten ihre Finger mit denen der Dunkelhaarigen. Diese dachte kurz nach. „Aber das wird doch wohl kein Problem für dich sein, oder etwa doch? Du weißt hoffentlich, dass dein Vater und ich immer hinter dir stehen und dir nur alles Glück der Welt wünschen. Und wenn dazu gehört, dass du eine Frau liebst und keinen Mann, dann ist das für uns auch in Ordnung.“ Auf Michirus Lippen bildete sich ein Lächeln. Langsam sah sie wieder auf. „Danke, Setsuna. Ich weiß ja, dass ich mich dafür vor allem in eurer Gegenwart nicht zu schämen brauche, aber irgendwie ist es schon ein bisschen seltsam… Ich habe mir darüber noch nie wirklich Gedanken gemacht und immer angenommen, mir wären die Jungs in meinem Alter einfach zu unreif. Und wenn ich darüber nachdenke, hatte ich auch nie irgendwie Interesse an den Mädchen… Eigentlich hatte ich an niemandem Interesse…“ Nachdenklich sah die Künstlerin auf die beiden Teetassen. „Naja, manche Menschen haben das Glück und finden den einzig richtigen Partner. Und dann haben sie das Gefühl, sie bräuchten nur ihn und wollen bis ans Lebensende mit ihm zusammen sein. Da stellt sich gar nicht erst die Frage nach der Herkunft oder eben dem Geschlecht. So etwas passiert unglaublich selten, Michiru. Und solltest du zu den wenigen Glücklichen zählen, dann solltest du die Gelegenheit nutzen und dein Glück zu schätzen wissen.“, versuchte Setsuna zu erklären. „Mein Papa hatte dieses Glück gleich zweimal.“ Michiru hob langsam den Blick und sah traurig lächelnd in das Gesicht ihrer Stiefmutter. Die zog ihren Schützling in ihre Arme, streichelte ihm sanft über eine Wange, küsste seinen türkisfarbenen Scheitel und flüsterte: „Auch sie wäre stolz auf dich, mein Kind. Und auch sie würde voll und ganz hinter dir stehen.“ Michiru schmiegte sich an Setsunas Oberkörper und versuchte gar nicht erst, ihre stillen Tränen zu unterdrücken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)