Erinnerst du dich? von ahaa ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Ich setzte mich ins Esszimmer, vor mir ein großer Teller Churros und aß sie mit Heißhunger auf. Ich war verärgert, wirklich wütend. Stundenlang war ich durch Madrid geirrt und hatte versucht, Romanos Spur zu folgen, aber ohne Erfolg. Also war ich nach Hause zurückgekehrt und hatte die Churros aufgetaut, die ich schon vor einiger Zeit gekauft hatte. Ich briet sie an und verschlang sie in dem Versuch, mich zu beruhigen. Ein bisschen heiße Schokolade dazu wäre schön gewesen, aber ich hatte keine Lust, noch mehr zu kochen. Zum hundersten Mal nahm ich mein Handy zur Hand und sah nach ob es Anrufe in Abwesenheit gab, aber wie immer, nichts. Romano war schon seit Stunden da draußen und hat mich nicht mal angerufen, um die Sache zu klären. Er hatte einfach die Tür zugeknallt und war gegangen, nicht ohne mich und alles, was mit mir zu tun hatte, zu verfluchen oder mich ausreden zu lassen. So machte er es jedes Mal, wenn wir uns stritten. Aber ich kannte Romano, ich kannte ihn sogar viel zu gut. Ich wusste, dass er jeden Moment zur Tür reinkommen würde, immer noch wütend aber ruhiger. Er würde sich aufs Sofa setzen und wir würden in Ruhe miteinander reden. Wir würden alles regeln und alles wäre wieder gut. Ich sah auf die Uhr, es war 18 Uhr. Romano war schon seit acht Stunden außer Haus. Ich war unheimlich besorgt, noch nie war er so lange wütend auf mich gewesen, ich fürchtete schon, ihm wäre etwas Schlimmes passiert. Ich hatte ihn ungefähr eintausend Mal angerufen, aber er ging nicht ran. Er hatte sein Handy bestimmt auf stumm geschaltet, so wie er es immer machte, wenn er von Niemandem wissen wollte (vor allem nicht von mir), aber trotzdem konnte ich das Gefühl, das sich in meinem Inneren festgesetzt hatte, nicht vergessen. Es war eine schlimme Vorahnung. Ich hatte alle Lokale überprüft, die Lovi öfters aufsuchte, auch Modegeschäfte, Parks und sogar die Bibliothek, aber Romano war nirgends. Also war das Einzige, was ich tun konnte, mich beruhigen und warten. Ich räumte meine Mahlzeit weg und wusch das Geschirr, dann drehte ich noch ein paar Runden durchs Haus und setzte mich aufs Sofa. Ich wartete und wartete … Zum zehnten Mal ungefähr fragte ich mich ob ich nicht doch die Polizei rufen sollte, auch wenn ich wusste, dass das eine schlechte Idee war. Denn wenn Romano wiederkommt (und er wird wiederkommen), dann würde er mir ins Gesicht schleudern, dass er kein Kind mehr war und wunderbar auf sich selbst aufpassen konnte, was zu einem weiteren, noch schlimmeren, Streit führen würde. Um die Zeit totzuschlagen, begab ich mich zum Bücherregal um irgendetwas Interessantes zum Lesen zu finden (Wen will ich hier auf den Arm nehmen? Ich suchte einen Comic.), aber mein Blick blieb an dem Fotoalbum haften. Es war von einer rötlichen Farbe und man sah ihm die Jahre an. Mir entfloh ein Lächeln, es wäre schön, sich an alte Zeiten zu erinnern. Wer hätte mir damals sagen können, dass ich dieses Album in den folgenden Tagen mehr als nur einmal öffnen würde … mit Tränen in den Augen? Ich setzte mich so nah wie möglich ans Fenster um von letzten noch verbliebenen Sonnenstrahlen zu profitieren und schlug die erste Seite auf … als mich ein Geräusch aufschrecken ließ. „Te envio poemas de mi puño y letra, te envio canciones de cuatro cuarenta, te envio ...“ Aber ich ließ Carlos Baute und Marta Sánchez das Lied „Colgado en tus manos“ nicht weitersingen, sondern sprang sofort auf und lächelte als ich sah, dass Romano der Anrufer war. -„Lovi? Geht’s dir gut?“ -„Herr Carriedo?“, antwortete eine Frauenstimme, was mich überraschte. -„Wer … Wer sind Sie?“ -„Ich bin Doktor Cristina Hernández, vom Krankenhaus Infanta Sofia.“ -„Ist etwas passiert? Geht es Lovi gut?“ Ich hatte Herzklopfen und fing an zu zittern. Es ist etwas Schlimmes passiert, ich wusste es, ich wusste es einfach. Ich hätte besser nach ihm suchen sollen, ihn früher anrufen, verhindern, dass er überhaupt wegging. Die Ärztin seufzte am anderen Ende der Leitung. -„Ich bedaure, es Ihnen sagen zu müssen, aber Lovino hatte einen Unfall ...“ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Dunkelheit. Sie umhüllte mich, sie zog mich zu sich, bis ich sowohl den Sinn für die Wirklichkeit und die Orientation als auch die Kontrolle über meine Bewegungen verlor. Genau so wie mein Sehvermögen, mein Gehör, meinen Geruchssinn … ich nahm nichts wahr. Nichts außer einem unendlichen Fall, der mich immer tiefer zog und erdrückte. Und dann, eine Stimme. -„Lovi … Lovi ...“ Es war so schön, diese Stimme zu hören. Ich wollte näher ran, wollte wissen wo sie herkam, ich wollte mich einfach nur an etwas klammern um hier rauszukommen. -„Bitte, wach auf, Lovi …“ „Wer bist du? Was willst du?“, hätte ich gefragt, wenn ich sprechen könnte. Aber ich konnte nichts Anderes tun, als in dieser Leere zu treiben auf der verzweifelten Suche nach dem Ursprung dieser Stimme. Nach und nach näherte ich mich meinem Ziel. Alles wurde greifbarer, stabiler und sehr viel schmerzhafter. Mein Kopf schien regelrecht zu explodieren und ein Teil meines Gesichtes war vollständig gequetscht, genauso wie meine Arme, mein Oberkörper, mein Bein … einfach alles. So viel Schmerz auf einmal zu spüren war wie Folter, aber ich musste alles Mögliche tun, um dieser Dunkelheit zu entkommen, die mich langsam verrückt machte. Ich kam vorwärts, die Kopfschmerzen brachten mich um, und doch machte ich weiter, die Schmerzen so unerträglich, dass ich Lust hatte, zu schreien. Ich kam voran, immer weiter und weiter und weiter … -„Lovi, Lovi, Lovi … LOVI!“, schrie ein Mann an meiner Seite auf. Ich spürte eine Hand, die meine fest drückte. Sie war eiskalt. -„Das verstehe ich nicht, er war doch klinisch tot … “, sagte eine Frau. Als Nächstes merkte ich, wie Finger sich meiner Halsschlagader näherten und zudrücken. Durch sie konnte ich meinen eigenen Herzschlag spüren. -„Lovi? Lovi, hörst du mich?“, fragte die erste Stimme. Ich versuchte, ein Auge zu öffnen, aber das grelle Licht blendete mich. Ich stöhnte vor Schmerzen und probierte, mir die Augen mit den Händen zuzuhalten, bemerkte aber, dass meine Arme unbeweglich waren und schmerzten. -„Er ist aufgewacht!“, rief der Mann, der die ganze Zeit meine Hand gehalten hatte. Ich hatte mir nicht die ganze Mühe mit dem Aufwachen gemacht um dann hier wieder mit geschlossenen Augen dazuliegen und wie ein Idiot zu warten, also riss ich mich zusammen und zählte: trè, due, uno … Schlagartig öffnete ich die Augen, obwohl das Licht sie mir regelrecht verbrannte. Noch bevor ich erkennen konnte, wo ich mich überhaupt befand, nahm ich auch schon wahr, wie mich starke Arme umschlangen und erdrückten. -„Was glaubst du was du da eigentlich machst?“, fragte ich und schob ihn weg. Meine Stimme war sehr rau, mein Mund trocken. Der Kerl schaute mich überrascht an. Während mein Blick immer klarer wurde, sah ich, dass er hochgewachsen war, angenehme Gesichtszüge, schwarze Haare und golden schimmernde Augen von einem sehr dunklen Grün hatte. Wäre da nicht sein tränenüberströmtes Gesicht und die rotgeweinten Augen, hätte man ihn durchaus für attraktiv halten können. Er lachte und wischte sich die Tränen mit seinen Hemdsärmeln weg. -„Tut mir Leid, ich weiß zwar, dass du nicht gerne in der Öffentlichkeit umarmt wirst, aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen.“ Er lächelte glücklich und zu meinem Erstaunen fühlte ich wie mein Magen sich zusammenzog. -„Wo … Wo bin ich?“, fragte ich in dem Versuch, mich zu beruhigen. -„Du bist im Krankenhaus Infanta Sofía“, erklärte mir eine Frau, die an der anderen Seite des Bettes stand, in dem ich lag. Sie war ein wenig kleiner als der Mann, hatte hüftlange schwarze Haare und blaue Augen, die mich ungläubig anstarrten. Ihre Hände waren in den Taschen ihres knielangen weißen Kittels verborgen. „Ein Auto hat dich auf der Gran Vía, der Hauptstraße, überfahren und man brachte dich hierher. Du hast viel Glück gehabt.“ Ich versuchte, mich aufzurichten, sah aber sofort, dass das keine gute Idee war. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen und ich hatte den schrecklichen Drang, mich zu übergeben. Augenblicke später erfasste ich die Situation, in der ich steckte. Ich lag in einem weißen Bett, mit bandagierten Armen und einem hochgehobenen rechten Bein. Einige Verbände zerquetschten mein Gehirn und machten es mir unmöglich klar zu denken. -„Lovi! Nicht bewegen ...“ Der Mann versuchte, mich sanft an der Schulter festzuhalten, aber ich wich ihm aus. Meine Schulter schmerzte schrecklich, doch ich wollte nicht zulassen, dass mich dieser Perversling berührte. -„Fass mich nicht an!“, schrie ich mit aller Kraft und versuchte, die Situation zu verstehen. Das blaue Auto, das von links kam und der Schock, daran konnte ich mich genau erinnern, aber was war vorher? Was machte ich in der Gran Vía? Und nicht nur das, was war die Gran Vía überhaupt? Und wer waren all diese Leute? Warum machten sie sich solche Sorgen um mich? Und ich? Wer, zum Teufel, war ich? -„Ich bin verwirrt ...“, gab ich schließlich zu. -„Das ist normal nach so einem Unfall wie diesem ...“, fing die Ärztin an, aber ich unterbrach sie. -„Wirst du endlich aufhören, meine Hand zu halten?“, fragte ich den Kerl, der mich keine Sekunde lang losgelassen hatte. „Wer, zur Hölle, bist du?“ Er schien so erstaunt, dass er sogar von meiner Hand abließ und vom Stuhl aufstand. -„Lovi? Ich bin's, Antonio!“ -„Antonio?“ -„Ja, Antonio. Antonio Fernández Carriedo.“ -„Wer?“, fragte ich verwirrt. Kannte ich etwa Jemanden mit diesem Namen? Antonio (wenn er denn wirklich so hieß) öffnete und schloss den Mund ein paar Mal. Er war überrascht und …. erschrocken? -„Lovi, mach keine Scherze.“ Ich blickte ihn gleichmütig an. -„Lovi? Ich bin's, Antonio! Du weißt schon, Spanien, dein Boss, der, der die ganze Zeit auf dich Acht gegeben hat.“ Boss Spanien? Was war das denn für ein Blödsinn? -„Romano! Romano! Erkennst du mich denn nicht? Erinnerst du dich nicht an mich? Und an Feliciano, an Ludwig, an Francis? Weißt du noch, wie sehr du Francis hasst? Und an Arthur, Alfred, Gilbert?“ -„Ich glaube, er hat Amnesie“, sagte die Ärztin und richtete ein sehr helles Licht auf meine Augen. Ich blinzelte unruhig, ich konnte meinen Blick nicht von Antonio abwenden, der immer verzweifelter wurde. Die bereits getrockneten Tränen begannen wieder zu fließen, er zitterte wie Espenlaub. -„Sie gehen jetzt besser, Sie regen den Patienten zu sehr auf.“ -„NEIN!“ Antonio nahm meine Hand und begann sie zu küssen. Warum fühlte ich mich so, als würde mein Herz bei seinem Anblick auseinanderbrechen? -„Erinnerst du dich wie wir uns kennengelernt haben? An die Tomaten? An die Abende unter dem Olivenbaum? Erinnerst du dich wenigstens an ...“ -„Sicherheitsdienst ...“ Wie aus dem Nichts erschienen zwei gefährlich aussehende Polizisten und zerrten Antonio aus dem Zimmer. Ich schaute die Ärztin an, die gerade einige seltsame Papiere mit willkürlich steigenden und fallenden Linien betrachtete. -„Frau Doktor? Wer ist er?“ -„Das weiß ich nicht, auf der Kontaktliste deines Handys stand er an erster Stelle“, erklärte sie mit ruhiger Stimme. -„Verstehe ...“, sagte ich. Ich fühlte mich seltsam niedergeschlagen. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Es war schon spät, über drei Uhr morgens. Seit Antonio mein Zimmer verlassen hatte sind schon Stunden vergangen, aber ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. An seine grünen Augen, an die Verzweiflung, die von seinen Worten Besitz genommen hatte, an seine Hand auf meiner, an die Wärme seiner Umarmung … Ich schüttelte den Kopf, ich war so verwirrt. Obwohl ich mich weder daran erinnern konnte wer ich war noch wo ich wohnte oder wer meine Eltern waren, konnte an nichts Anderes mehr denken als an sein trauriges Lächeln. Argh! Warum war alles so schwer zu verstehen? Ich wusste nichts über mein Leben und mir wollte keiner erklären, was eigentlich los war, ich bekam nicht einmal Hilfe beim Erinnern! Ich sah mir noch einmal die Gegenstände an, die mir Doktor Hernández gegeben hatte um mir das Erinnern zu erleichtern, aber nichts davon gab mir auch den kleinsten Hinweis: ein paar Kaugummis, ein Schlüsselbund, ein Handy ohne Akku und ein kleines Kästchen bedeckt mit einem glänzenden Papier. Nichts Interessantes. Ich wusste lediglich meinen Namen dank des Personalausweises in meinem Geldbeutel. Neben meinem Namen befand sich ein schreckliches Foto von mir mit einer fürchterlichen Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte. Geboren in: Bagnoli Provinz: Neapel, Italien Eltern: unbekannt Adresse: Calle Arlabán, Madrid, Gebäude 5, Wohnung Nr.3 Geburtsdatum: unbekannt Wieso hatte ich kein Geburtsdatum? Das hatte doch keinen Sinn, obwohl … vielleicht war ich ja Waise und deshalb wusste auch keiner den Namen meiner Eltern oder wann ich geboren war. Ein echt trauriger Gedanke .. nein, nein. Ich musste realistisch sein. In meinem Geldbeutel befand sich außerdem noch eine seltsame Karte, die mich ein wenig durcheinanderbrachte. Darauf war das gleiche Foto wie auf der ersten, aber mit ganz anderen Angaben. Menschlicher Name: Lovino Vargas Kategorie: A+ Nation: Süditalien Kontinent: Europa Geschlecht: männlich Entstehungsdatum: 476 nach Christus Größe: 1,70 m Gewicht: 63 kg Merkmale: braune Augen, dunkles Haar Blutgruppe: 0+ Identifikation: 4184.16 Und nach diesen wirklich höchst absurden Informationen kamen noch ein paar schwarze kleine Flecken, die wohl wahrscheinlich meine Fingerabdrücke waren. Ich wurde immer verwirrter. Was hatte es mit all diesen merkwürdigen Angaben auf sich? Und wozu brauchte ich so eine spezielle Karte überhaupt? Darauf stand: Vereinigte Nationen. Vielleicht war ich italienischer Botschafler in Spanien oder sowas in der Art, auch wenn das nicht erklärte, wozu diese Karte da war, die einen Magnetstreifen und eine optische Ablesevorrichtung zu haben schien. Jedenfalls rief es nichts in mir wach, ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, diese Objekte jemals gesehen oder geschweige denn, sie benutzt zu haben. Ich wollte mich gerade daranmachen, das glänzende Kästchen zu öffnen als ich ganz deutlich hörte wie die Tür zu meinem Zimmer sich öffnete und wieder schloss. Ich spannte mich an. -„Wer ist da?“, murmelte ich Furchtlosigkeit vortäuschend. „Ich rufe … die Krankenschwestern .. und ich kann Taekwondo … du hast keine Chance gegen mich ...“ Ich wusste, ich würde anfangen, wie ein Irrer zu kreischen falls er sich mir näherte, aber so könnte ich wenigstens ein wenig Zeit gewinnen. Ich fuhr erschrocken in die Höhe als ich gewahr wurde wie Jemand sich lautlos neben mich stellte. Aus den Schatten heraus erschien eine Hand, die mir den Mund zuhielt. -„Psst“, wies mich Antonio an und stellte sich ins Licht damit ich ihn erkannte. „Ruhig, ich bin's.“ -„Ws mcht du hr, Bstard?“ „Was machst du hier, Bastard“, wollte ich sagen, aber Antonio drückte seine Hand noch stärker auf meinen Mund um mich zum Schweigen zu bringen. Mit der freien Hand nahm er meine Kleidung und all die Sachen, die auf meinem Bett lagen. -„Komm, wir haben nicht viel Zeit“, sagte er und hob mich zu meiner Überraschung hoch. Noch immer die Hand auf meinem Mund, verließ er mit mir das Zimmer. Ich wehrte mich nach Leibeskräften, versuchte, ihn zu treten oder sogar zu verletzen,a ber die Bandagen schränkten meine Bewegungen ein und dieses Arschloch war auch noch verdammt stark. Antonio stieg die Treppen so schnell hinunter als hätten seine Füße Flügel und trug mich zum Krankenhausausgang, wobei wir zu meinem Unglück Niemandem über den Weg liefen. Er öffnete eine Autotür, setzte mich in den Wagen und warf meine Sachen hinterher. Noch bevor ich dagegen protestieren konnte, schloss er die Tür wieder und rannte zur anderen um ebenfalls einzusteigen. Er startete den Motor und das Krankenhaus lag schon bald hinter uns. -„Eine Entführung!“, schrie ich angsterfüllt. Ich probierte, die Tür zu öffnen und auf selbstmörderische Weise rauszuspringen, aber Antonio reagierte rasch und betätigte den automatischen Schließmechanismus. -„Lass mich hier raus, Bastard!“ -„Heracles wartet auf uns, mach dir keine Sorgen ...“ -„Ich soll mir keine Sorgen machen? Du bist gerade dabei, mich zu entführen! Wer ist Heracles? Wer bist du? Was ist hier eigentlich los?“ Antonio seufzte mit sehr ernster Miene und trat aufs Gaspedal. -„Mach die Bandagen ab.“ -„Was? Ich hab mehrere gebrochene Knochen, du Idiot! Morgen wollten sie mir das Bein und die Arme eingipsen und du ...“ -„Lovino, um Gottes Willen, bitte mach das, worum ich dich gebeten habe!“, schrie Antonio mich an, was mich verstummen ließ. Ich fixierte ihn. Er sah ernst und beunruhigt aus, außerdem hatte er kleine Fältchen um die Augenlider, die wohl aus der Besorgnis entstanden sind. Mit viel zu viel Kraft umklammerte er das Lenkrad. Keinen Augenblick lang schaute er mir ins Gesicht. Mit angehaltenem Atem und starkem Herzklopfen machte ich mich daran, die Verbände, die mich wie eine Mumie aussehen ließen, nach und nach abzunehmen. Um nicht vor den sicher noch kommenden Schmerzen zu schreien, biss ich mir auf die Lippe, aber zu meiner Überraschung sah ich, dass ich meine Arme ganz normal bewegen konnte, so als wären sie nie gebrochen gewesen. Dasselbe auch mit meinem Bein. -„Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen“, entschuldigte sich Antonio. „Aber ich weiß wie dickköpfig du bist und dass du nicht auf Andere hörst. Ich wollte nur, dass du es selbst ausprobierst und dich davon überzeugst.“ -„Aber wie ist das möglich? Wie konnten sie so schnell heilen?“, fragte ich verwundert nach als ich sah, dass ich all meine Finger bewegen konnte und auch die Bewegungen meines Beins unter Kontrolle hatte. -„So sind wir eben“, antwortete Antonio mit einem bezaubernden Lächeln. -„Wer?“ -„Die Nationen“, sprach er weiter und drehte den Kopf einen Augenblick zur Seite um mir zuzuzwinkern. -„Was? Wie … die Nationen? Was meinst du damit?“ -„Wir sind Länder, Romano“, erklärte er mir mit unendlicher Geduld. „Wir werden geboren wenn unsere Nation entsteht, sterben wenn auch sie stirbt, fühlen das, was unsere Einwohner fühlen und reden das, was unsere Einwohner reden. Wir leben wegen und für unser Land.“ -„Aber wie?“, fragte ich verängstigt als ich hörte was er mir da enthüllte. -„Niemand weiß das mit Sicherheit. Ich weiß nur, dass wir geboren werden um auf unser Land aufzupassen, um darüber zu wachen Wir leben unter den Menschen ohne vollständig Jemand der Ihren zu sein, ohne es zuzulassen, dass sie von unserer Herkunft erfahren.“ Ich öffnete den Mund ein paar Mal um so etwas zu sagen wie „Was für ein Unsinn soll das denn sein?“ oder „Was, zur Hölle, hast du eigentlich geraucht, du Idiot?“ oder aber „Denkst du etwa, ich wäre so blöd und würde diesen Quatsch für bare Münze nehmen?“, aber ich hatte es immer noch vor Augen. Wie meine Hand sich perfekt bewegen ließ, obwohl ich doch mit eigenen Augen die Röntgenaufnahme gesehen hatte, auf der mindestens sechs gebrochene und fünf gesplitterte Knochen dargestellt waren. -„Deshalb bist du bei diesem Unfall auch nicht gestorben“, erklärte Antonio während er in eine Ausfahrt einbog. „Weil wir nicht durch Menschenhand sondern nur durch andere Länder sterben können. Das heißt, wir sterben, wenn andere Länder sich unseres einverleiben.“ -„Das ist sehr schwierig zu verstehen.“ Von all den Informationen wurde mir schwindelig. Ich hielt mir den Kopf um wieder klar denken zu können wobei mir auffiel, dass ich immer noch einen turbanartigen Verband trug. Vorsichtig nahm ich ihn ab und achtete dabei, die Schwellung, die mir der Aufprall bestimmt beschert hatte, nicht zu streifen. Aber wie Antonio es mir erklärt hatte, befand sich auf meinem Kopf nichts außer getrocknetem Blut und kleinen Quetschungen. Erschöpft seufzte ich. Da ich sowieso keine andere Erklärung für meine schnelle Heilung hatte, blieb mir nichts Anderes übrig als Antonios Worten Glauben zu schenken. Wenigstens für den Moment. -„Wo fahren wir jetzt hin?“, fragte ich. -„Nach Hause, Lovino“, sagte Antonio und nahm eine Ausfahrt namens „Flughafen“. „Wir fliegen nach Neapel.“ ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Jetzt war ich mir wirklich sicher, dass es sich um eine Entführung handelte. Warum sonst hätte er mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Krankenhaus geholt ohne Jemanden auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen um mich dann AUSGERECHNET nach Italien bringen zu wollen? (Vergessen wir nicht, dass Italien die Wiege der Mafia ist.) Ganz sicher werden sie mir dort die Brust aufschneiden und dann all meine Organe zu einem geringen Preis verkaufen. Oder sie werden mich foltern. Oder zur Prostitution zwingen … Ich war mir nur einer Sache sicher: ich musste hier raus. Ich musste entkommen bevor man mich noch umbrachte. Aber wie? Ich befand mich mitten auf der Autobahn, halb nackt und ohne einen Ort, wo ich hinkönnte. Gut, sobald wir am Flughafen parkten, könnte ich loslaufen, irgendeinen Polizisten finden und ihm das Ganze erklären. Man würde mir glauben, vermute ich mal, immerhin hatte ich immer noch das Bändchen vom Krankenhaus um mein Handgelenk und na ja, ich trug auch einen Krankenhauskittel, also würde es keinerlei Probleme geben. Aber nichts kam so wie geplant. Sobald wir anhielten (meine Hand lag bereits auf dem Türgriff), sagte Antonio: -„Zieh dich um.“ -„Was?“ -„Du sollst dich umziehen. Wir haben wenig Zeit, das Flugzeug startet in zwei Stunden.“ -„Aber soll ich mich umziehen wenn du dabei bist? Verdammter Perversling ...“ -„Ich schau nicht hin, versprochen. Aber mach schnell.“ Langsam zog ich mir meine Sachen über ohne dabei Antonio aus den Augen zu lassen, der scheinbar konzentriert seine Autoschlüssel betrachtete. Als ich mir endlich mein Hemd und den Mantel übergestreift hatte, versuchte ich, die Tür zu öffnen und hinauszustürmen, aber dieser Mistkerl Antonio hat die Autotüren noch nicht aufgeschlossen. -„Wirst du sie endlich öffnen oder was?“ -„Ja, werde ich, nur die Ruhe.“ Antonio öffnete die Tür und … ich nahm ihn nicht mehr wahr. Ich war frei, frei wie ein Kolibri im Felde, frei wie ein Hirsch im Wald, frei wie ein vom Wind hochgewehtes Papier, frei und … … ich hatte keine Schuhe an. Noch dämlicher konnte es nicht sein! Es war Winter und ich hatte keine Schuhe! Meine Füße werden einfrieren! Ich hüpfte ein paar Mal auf und ab um wieder warm zu werden, aber es nützte nichts, es war eiskalt, ich würde alle meine Zehen verlieren! Wieviel Grad hatten wir überhaupt? Fünfzehn unter dem Gefrierpunkt? Wie konnte es nur so kalt sein? -„Suchst du etwa die hier?“, ertönte eine Stimme hinter meinem Rücken, eine, die ich leider zu gut kannte. Ich drehte mich um und begegnete Antonios dämlichem Grinsen. Er hielt meine Schuhe mit einer Hand hoch. „Ich denke, die könntest du für deine Flucht sehr gut brauchen.“ -„Gib her!“ Ich stürzte mich auf ihn, aber da er deutlich größer war als ich, kam ich nichtmal an die Schnürsenkel ran. -„Nur, wenn du mir versprichst, nicht wieder wegzulaufen. Du kommst mit zum Flughafen, wir werden einen ruhigen Flug haben und gesund und munter in Italien ankommen.“ -„Und woher soll ich wissen, dass du mich nicht hintergehst? Verdammt, wie kann ich sicher sein, dass du mich nicht umbringst oder verkaufst oder ...“ -„Vertrau mir einfach. Ich werde dir nichts Schlimmes tun, darauf gebe ich dir mein Wort. Ich verspreche dir, ich werde dir im Flugzeug alles erklären, aber nur wenn du mitkommst. Außerdem ...“ Mit einem perversen Grinsen zeigte er mir die Schuhe. „... hast du gar keine andere Wahl, denke ich.“ Da hatte er Recht. -„Okay, okay. Aber gib sie mir endlich.“ In diesem Moment hätte ich meine Seele für ein Paar Armani-Schuhe verkauft. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * -„Mariano! Das kann doch nicht wahr sein!“, rief Antonio während er sich den Sitzgurt im Flugzeug anlegte. „Ich muss in dringender Angelegenheit nach Italien … nein, ich kann es dir nicht erklären … ich weiß, es ist kein passender Moment … ich tue alles was ich kann, versprochen! Aber ich muss wirklich dorthin! Mariano, hör auf zu schimpfen … ich weiß, Spanien steckt in einer Krise, klar weiß ich das, aber ich … tja, du wolltest ja nicht auf meinen Vorschlag eingehen, mehr Tomatenfelder zu errichten! Was soll ich denn sonst tun? Eine dumme Idee? Was willst du damit sagen?“ -„Mein Herr, wir heben gleich ab, bitte schalten Sie Ihr Handy aus“, bat ihn eine Stewardess. -„Mariano, ich muss auflegen … ich muss auflegen! Das ist alles ganz einfach, atme tief durch und lass dir von der Vizepräsidentin Soraya helfen, die ist die Einzige, die etwas zu wissen scheint … ja, sicher, ich komme ganz schnell zurück … Bis später, Mariano.“ Ich schaute ihn fragend an. -„Das war mein Präsident. Er ist neu im Amt, der Arme, und scheint ein wenig Angst davor zu haben, was auf ihn zukommt.“ Ich knurrte, das war der einzige Laut, den ich in den letzten zwei Stunden von mir gegeben hatte. Da war ich nun, bereit, in den sicheren Tod zu gehen mit meinen glänzenden schwarzen wertvollen Armani-Schuhen, die ich schon seit dem Betreten des Flughafens ohne Ende verfluchte. Antonio hatte meine Hand gehalten, damit ich nicht weglief. (Er hatte doch schon mein Wort, was wollte er denn noch?!) Gut, wenn ich schon heute sterben würde, dann wenigstens mit meinen kostbaren Schuhen. -„Verehrte Damen und Herren Passagiere, hier spricht Ihr Pilot. Die Besatzung von Spanair heißt sie herzlich willkommen ...“ Mir fiel auf wie Antonio sich neben mir immer mehr verkrampfte. Er schloss ganz fest die Augen und begann, mit verschränkten Fingern zu beten: Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme … -„Hey, was machst du da?“, fragte ich ihn beunruhigt als ich sah, dass er immer bleicher wurde und immer stärker schwitzte. -„N-Nichts ...“, sagte Antonio und versuchte zu schlucken. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung, was ihm einen kleinen Schrei entlockte, den ich sehr lustig fand. Wenn ich heute sterbe, dann würde ich mich daran erinnern, wie lächerlich er mir in diesem Moment erschien. „Es ist nur, haha, … ich hab ein wenig … Flugangst.“ Danach wirkte er irgendwie abwesend, was mich wirklich erschreckte. Mit fest geschlossenem Mund und in den Sitz gekrallten Händen saß er da und starrte einen festen Punkt auf dem Boden an. Er war so wehrlos. Plötzlich verließ mich der Drang, um Hilfe zu schreien und zu erklären, dass ich gerade von diesem Mann entführt wurde, nein, ich hob unbewusst die Hand und legte sie ein paar Millimeter entfernt zu der Seinen. -„Aber was mache ich denn da!“, wies ich mich zurecht. Ich zog meine Hand wieder zurück und sah mir die Morgendämmerung aus dem Fenster an. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Sobald wir aus dem Flugzeug ausgestiegen sind und unsere Koffer geholt haben (beide waren identisch, weiß und mit einem seltsamen Tomatenmuster verziert), sahen wir auch schon einen Mann am Ausgang stehen, der uns gemächlich grüßte. Er war weiß gekleidet und trug eine Katze (ja, eine Katze) im Arm, hatte dunkles Haar und grüne Augen, die denen von Antonio ähnelten, aber nicht so glänzten und viel verschlafener waren. -„Hallo, Heracles!“ Der Idiot schien sich von seinem stillen Leiden im Flugzeug vollständig erholt zu haben. -„Du hast mich aufgeweckt“, bekam er als Begrüßung. -„Ja, das tut mir sehr leid, aber ...“ -„Romano?“, fragte der Mann den Blick auf mich richtend. „Geht's dir gut? Spanien hat mir gesagt, du hättest dein Gedächtnis verloren ...“ Die Wahrheit ist, dass mich der Kerl schon ein wenig beeindruckte, vor allem durch seinen gleichmütigen Gesichtsausdruck, mit dem er mich genauestens untersuchte. -„Gehen wir“, bat uns Antonio. „Wir fallen zu sehr auf.“ -„Ja … es ist schon alles vorbereitet.“ Heracles gähnte so, als ob er noch nie in seinem Leben geschlafen hätte. -„Mach dir keine Sorgen, ich fahre.“ -„Wohin fahren wir? Wer ist er?“ „Was habt ihr Trottel mit mir vor?“, dachte ich und versuchte, Mut vorzutäuschen. Es gefiel mir gar nicht, dass ich von Keinem der beiden eine Antwort erhielt. Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- -„Ich hab euch gerade gefragt, wo wir hinfahren“, wiederholte ich als ich von Antonio mitgezerrt wurde. -„Ich hab's dir doch schon gesagt, wir fahren nach Hause, Lovino“, antwortete er ohne meine Hand loszulassen. „Da steht mein Auto“, zeigte uns Heracles, der gemächlich voranschritt. Die aufgehende Sonne schien mir direkt in die Augen als wir den Flughafen verließen. Ich weigerte mich mitzukommen. Zwar hatte ich Antonio versprochen, mich im Flugzeug zu benehmen, aber dass das auch nach unserer Ankunft in Neapel so bleibt, war nie die Rede gewesen. Wenn schon, dann war es seine Schuld, weil er mir keine überzeugenden ehrlichen und verständlichen Antworten gab, sondern mich einfach nur bat, ihm zu folgen und zu vertrauen, ihm, einem Mann den ich nicht einmal kannte. Ich hatte nun genug von der ganzen Hetzerei, das was ich wollte, waren Antworten und ich wollte sie sofort. -„Giacomo, attenzione!“ („Giacomo, Vorsicht!“) Ich drehte mich um. Häh? Woher kam dieser laute Schrei und wieso half keiner der Frau, die ihn ausgestoßen hatte? -„Mamma, mi sono fato male al giocchio.“ („Mama, ich hab mir am Knie weh getan.“) -„Filippa, no prendete el coltello!“ („Filippa, nimm das Messer nicht in die Hand!“) -„Stefano, mi fai male!“ („Stefano, das tut weh!“) Diese Schreie waren in meinem Kopf. Wehklagen, Hilferufe, Geschrei voller Verlust, Wut, Zorn und … Schmerzen. Schmerzen, die mich überfluteten, die ich so empfand, als wären es meine eigenen. Mit all meiner Willenskraft befreite ich meine Hand aus Antonios Griff und versuchte, die abertausend Stimmen, die mich schier in den Wahnsinn trieben, zu besänftigen, indem ich mir die Ohren zuhielt. -„Das tut weh“, wisperte ich. Nach und nach gaben meine Beine nach bis ich schließlich auf den Asphalt stürzte. Ganz fest schloss ich die Augen, versuchte, mich zu beruhigen, aber es war unmöglich. „Das tut weh, das tut so weh“, wiederholte ich ohne Ende. Es fühlte sich so an, als würde ich tausend Mal erschossen, eine Million Mal aufgeschnitten, als würden meine Knochen sich zersplittern, als würde ich verbrannt, erstickt und so hart verprügelt wie noch nie zuvor in meinem Leben … Warme Hände brachten mich wieder in die Realität zurück. Als ich die Augen öffnete, entdeckte ich, dass es Antonio war, der mir sanft die Wange streichelte und in seinen Armen hielt. Instinktiv umschlang ich seinen Hals und verbarg mein Gesicht an seiner Brust. -„Ganz ruhig, Lovino“, hörte ich seine Stimme aus der Ferne. Mühevoll hob ich den Kopf zu ihm hoch. Antonio blickte mich mit unendlicher Besorgnis an, zwang sich aber zu einem Lächeln. Sein Lächeln war das Letzte, was ich sah bevor ich endgültig das Bewusstsein verlor. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Das Erste, was ich beim Aufwachen wahrnahm, war das unglaublich weiche Bett, in dem ich lag. Man merkte, dass die Laken aus hochwertiger Baumwolle gemacht wurden, sie ließen keine Wärme entweichen. Ich nahm mir das feuchte Tuch von der Stirn und unternahm einen Versuch, die Augen aufzumachen, obwohl es aufgrund der Dunkelheit im Zimmer egal war, ob sie nun offen waren oder nicht. -„Wo bin ich?“, war mein einziger zusammenhängender Gedanke. Ich fühlte mich benebelt, mein Kopf schmerzte und glühte, aber dennoch konnte ich nicht einfach liegenbleiben und gar nichts tun, also stand ich auf, der Boden kalt unter meinen Füßen. Tastend suchte ich die Wände nach einem Lichtschalter oder der Tür ab und stieß dabei mehrmals mit den zahlreichen Möbeln im Zimmer zusammen, beginnend mit dem Schrank, dann mit dem Schreibtisch und schließlich mit einigen Regalen (ich wusste, dass es Regale waren, da durch den Zusammenstoß ein Buch aus einem der oberen Regalbretter fiel und zwar genau auf meinen Fuß.). Endlich fand ich die Tür, die sich genau neben dem Bett befand. Durch das Vorantasten an der Wand hatte ich unnötigerweise das gesamte Zimmer abgelaufen. Ich öffnete die Tür und sofort verbrannte die Sonne mein Gehirn, sie folterte und blendete mich mit ihrem intensiven Licht. Ich blinzelte einige Male, doch da meine Augen sich kaum öffenen ließen, beschloss ich, sie geschlossen zu halten bis sie sich an die Helligkeit gewöhnten. Genau in diesem Moment erreichten Stimmen aus der Ferne mein Gehör. -„Also ist alles in Ordnung?“ -„Ja, alle seine Knochen sind einwandfrei verheilt, genau so, wie man es von einer Nation erwartet. Alle Finger- und Zehenknochen sind wieder an ihrer ursprünglichen Position, siehst du? Das Schienbein und das Wadenbein sind wieder vollständig und mit den Hüftknochen scheint er auch keine Probleme zu haben.“ -„Und was ist mit der Lunge, dem Magen, dem Darm?“ -„Alles gut, Spanien, er hat keine inneren Blutungen und die Organe sind auch in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.“ -„Gott sei Dank“. Ich hörte einen lauten Schlag. „Aber was ist eigentlich mit ihm los? Warum kann er sich an nichts mehr erinnern?“ -„Genau das versuchte ich gerade herauszufinden.“ In diesem Moment beschloss ich, die Augen zu öffnen und mich an den Ort zu begeben, wo die Stimmen herkamen, blieb aber angesichts des riesigen Flures aus grau-braunem Stein verwundert stehen. Auf beiden Seiten fanden sich Türen aus dunklem Holz, die Wände geschmückt mit verschiedenen Landschaftsgemälden und menschlichen Skulpturen. Als Nächstes fand ich heraus, dass es die zweite Tür von rechts mit der Skulptur einer sehr schlanken Frau daneben war, von wo aus das Gespräch zu hören war. Ich öffnete sie ohne auf eine Erlaubnis zum Betreten zu warten. Wenn es mich schon erstaunt hatte, mich mitten in einem antiken Steinhaus voller Dekorationsgegenständen von unschätzbarem Wert zu befinden, brachte mich der jetzige Anblick nun völlig durcheinander. Ich stand in einem kleinen Raum, dessen Wände einzig und allein mit den Röntgenaufnahmen meines Körpers zugepflastert waren. (Ich wusste es, weil zwei davon einen liegenden Körper mit einer kleinen Locke in Originalgröße zeigten.) Die Röntgenaufnahmen reichten von den kleinen Fußknochen bis zu Bildern des Schädels aus verschiedenen Blickwinkeln. Mitten in diesem seltsamen Raum standen Antonio und Heracles an eine Art Scanner gelehnt und blickten mich verblüfft an. -„Lovino! Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Oder einen Keks, einen Saft oder vielleicht eine Tomate …?“, fragte er sich mir nähernd und hielt mich fest, damit ich nicht umfiel. -„Mir geht’s gut, du Idiot.“ Warum machte er sich nur solche Mühe mit mir? -„Warum bist du auf? Mit der Dosis, die ich dir verabreicht habe, solltest du eigentlich erst in ein paar Stunden in der Lage sein, aufzustehen.“ Also, dieser Heracles hatte nun wirklich nichts mehr mit dem ruhigen und unterwürfigen Mann gemein, den ich im Flughafen kennengelernt hatte. Jetzt stand er vor mir in einem weißen Kittel, mit weit geöffneten Augen und einer Taschenlampe in der Hand, mit der er mich beim Näherkommen blendete. -„Griechenland ist mit Ausnahme von China eine der ältesten Nationen der Welt“, erklärte mir Antonio ohne mich loszulassen. „Sein ganzes Leben lang hat er damit verbracht, den menschlichen Körper und den der Länder zu studieren und kennt sich perfekt mit beiden aus.“ -„Moment mal, Moment …“, sagte ich und schob das Lämpchen von mir weg. „Du bist Griechenland?“ -„Ja, und jetzt nicht bewegen.“ Aber wie konnte er Griechenland sein? Kapierte denn Niemand hier, dass das LÄNDER und wir MENSCHEN waren? Kannte denn Keiner auf dieser Welt den Unterschied zwischen den beiden Begriffen? Grie-, ich meine, Heracles runzelte die Stirn und betrachtete konzentriert eine Scanneraufnahme meines Gehirns. -„Die Ergebnisse der Gehirntomographie sind eindeutig, Spanien.“ Er zeigte uns die Aufnahmen. „Romanos Erinnerung sind immer noch da, in der linken Gehirnhälfte, aber sie scheinen ausgeschaltet zu sein, zu schlafen. Ich weiß nicht, ob es von dem Zusammenstoß herrührt oder dass er nach drei Minuten wieder ins Leben zurückgekehrt ist, aber so ist die Lage.“ -„Kann man da gar nichts machen?“, fragte Antonio verängstigt. Ich war so getroffen, dass ich kein Wort herausbrachte. -„Na ja, … wir könnten da etwas ausprobieren. Hast du alles mitgebracht, worum ich dich gebeten hab?“ -„Ja.“ Antonio rannte aus dem Zimmer um fünf Sekunden später mit einem seltsamen abgenutzten roten Buch wiederzukommen. -„Gut, öffne eine Seite, egal welche“, bat ihn Heracles. Als er Antonio zögern sah, entriss er ihm das Buch und übergab es mir. Nervös machte ich es auf, mehr oder weniger genau in der Mitte. Zu meiner Überraschung handelte es sich um ein Fotoalbum. Auf jeder Seite gab es zwei Fotos, auf der linken konnte man ganz deutlich einen Sonnenuntergang durch ein Gebirge erkennen und eine Person, die unter einem Baum lag. Das Bild darunter zeigte ein Tomatenfeld von einer beeindruckenden Größe, Antonio und ich mittendrin. Er gab mir glücklich lächelnd ein Stück Tomate zu essen. Ich blickte ihn wütend an und versuchte, mich unter dem riesigen Strohhut zu verstecken. Auf der rechten Seite sah man eine Schneelandschaft. Antonio war gerade dabei, mich mit einem Schneeball zu bewerfen, der mir genau ins Gesicht flog und zu Boden warf. Er lachte sich tot, und ich fand es lustig, mich mit vor Wut aufgeblähten Wangen zu sehen. Und auf dem letzten Bild … das letzte war ein Schock für mich. Wir beide auf einem Platz voller feiernder Leute. Ich versuchte mir aus irgendeinem Grund, Trauben in den Mund zu stopfen und Antonio küsste mir mit einer sehr spöttischen Geste die Wange. Aber das … das war nicht das Schlimmste. Im Hintergrund konnte man die Gestalt einer riesigen Uhr perfekt erkennen. Sie zeigte Mitternacht an und war mit den Worten „Frohes Neues Jahr 1992“ geschmückt. Plötzlich kamen die Kopfschmerzen, die mich am Ausgang des Flughafens gequält haben, mit voller Wucht zurück. Einzelne Erinnerungen kamen und gingen durch mein Gedächtnis, ohne Sinn, ohne den geringsten Zusammenhang. Sie überhäuften und erstickten mich dermaßen, dass ich sogar vergaß wie man atmete. -„Es reicht jetzt“, hörte ich Antonios Stimme im Hintergrund. Sekunden später nahmen mir ein Paar Hände das Album rasch ab und umarmten mich von hinten. -„Interessant“, murmelte Heracles und beobachtete mich aufmerksam mit diesen grünen Augen, die so sehr denen von Antonio glichen, aber gleichzeitig ganz anders waren. „Ist dir etwas eingefallen?“ -„Ja … nein … in Wirklichkeit hab ich keine Ahnung“, stammelte ich, Antonio von mir wegstoßend. „Mir sind mehrere Dinge eingefallen, aber alles ist immer noch sehr verworren. Es ist so, als würden diese Erinnerungen keinen Sinn ergeben. -„Das hab ich befürchtet“, sagte Heracles während er Antonio das Album zurückgab. „Romanos Gedächtnis ist intakt und seine Erinnerungen immer noch anwesend, aber sie schlafen. Indem wir ihm mehrere Fotos von seiner Vergangenheit gezeigt haben, haben wir sie aufgeweckt.“ -„Also ist alles gelöst, richtig?“, fragte Antonio freudig. -„So einfach ist das nicht.“ Heracles begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. „So wie Romano gesagt hat, sind diese Erinnerungen in seinem Gedächtnis verworren, was mich darauf hinweist, dass es nicht möglich ist, ihm diese Fotos zu zeigen und dann abzuwarten, was passiert. Wir müssen es so machen, dass Romano sich chronologisch an alles erinnert, von seiner Geburt bis zu diesem Zeitpunkt, damit seine Erinnerungen richtig miteinander verbunden sind.“ -„Was willst du damit sagen?“, fragte ich, was ihn innehalten ließ. -„Mmm, es ist nur eine Theorie … keine Ahnung, ob es klappt, aber ich denke, wir sollten dir deine Geschichte erzählen, deine eigene Geschichte, damit die Erinnerungen nach und nach zurückkehren.“ -„Und wie machen wir das?“, hakte Antonio beunruhigt nach. -„Tut mir leid, Spanien, aber ich glaube, wir müssen Italien anrufen.“ Daraufhin verstummte Antonio, er wurde bleich und schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. -„Nein, bitte nicht, Heracles, ruf Feliciano nicht an. Ich will ihm keine Sorgen bereiten.“ -„Bedaure, Spanien, aber er ist der Einzige, der Romanos Kindheit kennt. Wenn wir irgendwo anfangen wollen, dann mit Italien.“ Antonio seufzte und umklammerte mit aller Kraft das Fotoalbum. -„Gut, ruf Feliciano an.“ Und während Heracles im Flur telefonierte, ging ich auf Antonio zu und fragte ihn: -„Wer ist Feliciano?“ -„Dein entzückendes Brüderchen“, antwortete er lächelnd. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Nach dem Gespräch mit diesem Feliciano informierte Heracles uns, dass dieser in etwa drei Stunden erscheinen würde. „Obwohl, mit der Fahrgeschwindigkeit der Italiener werden es wohl eher weniger als zwei sein“, fügte er hinzu und zog sich den Kittel aus. Es war so, als wäre ein Schalter umgelegt worden: sobald er ihn auf den Garderobenständer gehängt hatte, kehrten sofort die Schläfrigkeit und die Müdigkeit zu ihm zurück, also verabschiedete er sich von uns und ging ins Wohnzimmer um dort ein Nickerchen auf dem Sofa zu machen. Antonio sah mich etwas unbehaglich an, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Dann kam ihm die glorreiche Idee, mich im Haus herumzuführen und zu schauen, ob es mir irgendwelche Erinnerungen zurückbrachte. Es nützte nichts, er war mir völlig unbekannt, dieser erd-und lachsfarben dekorierte Ort mit seinen hohen steinernen Decken, den hölzernen Türen, langen Korridoren, dem Wohnzimmer mit rustikalen Möbeln und schließlich einer mit den modernsten Küchengeräten ausgestatteten Küche. -„Du hast sicherlich Hunger, soll ich dir was kochen?“ Obwohl ich den Kopf schüttelte, konnte Antonio dem Drang nicht widerstehen, mir ein Omelette auf französische Art mit viel geschmolzenem Käse zu machen (ihm zufolge hatte er das Rezept von einem gewissen Francis) und ihn mir mit einer Stange Brot und einem Glas Orangensaft zu servieren. -„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich Heracles gebeten hatte, einzukaufen, da ich keine Sekunde lang von deiner Seite weichen konnte.“ Ich begann, das Essen in mich hineinzuschaufeln, wobei ich so tat, als hätte ich diese unglaublich peinlichen Worte nicht gehört. -„Sag mal, ist dir schon etwas eingefallen?“, fragte er und setzte sich neben mich. -„Etwas … ein bisschen.“ -„Erinnerst du dich an Neujahr 1992?“ -„Ein wenig. Beim Ansehen des Fotos fiel mir wieder ein, dass es sehr kalt war und dass die Leute viel Lärm machten. Du hast mich gezwungen, die zwölf Weintrauben in mich reinzustopfen, stimmt's?“ [Anmerkung: Silvesterbrauch in Spanien: zu jedem der zwölf Glockenschläge an Mitternacht isst man eine Traube.] -„Ja, und du hast alle aufgegessen.“ Er lächelte. „Sonst noch was?“ -„Nein, darüber hinaus ist alles sehr verschwommen.“ Ich nahm einen Bissen von diesem verdammt leckeren Omelette. „Antonio, kann ich dich was fragen?“ -„Si-Sicher“, antwortete er plötzlich sehr nervös werdend. -„Sind wir wirklich Länder, jetzt im Ernst?“ Antonio sah mich verwirrt an. Schließlich lachte er. -„Genau das habe ich versucht, dir die ganze Zeit zu erklären.“ Liebevoll strich er mir durchs Haar. „Gut, ich gehe jetzt noch etwas einkaufen, wir haben fast nichts mehr zu essen. Schon seit fast fünf Monaten haben wir dieses Haus nicht mehr verlassen, stell dir mal vor. Und du, ruh dich aus, Lovino.“ Und mit diesen Worten verließ er das Haus. Als das Omelette aufgegessen war, machte ich mich daran, noch eine Runde durchs Haus zu drehen. Es war komisch, denn es kam mir bekannt vor, obwohl ich mir ganz sicher war, noch nie in meinem Leben hier gewesen zu sein. Instinktiv wusste ich, wo sich das Badezimmer befand und kannte auch den Standort der Tomaten im Garten hinter dem Haus. Da diese in sehr schlechtem Zustand waren und ich sowieso nichts Besseres zu tun hatte, beschloss ich, mich um sie zu kümmern. Also nahm ich einen Mantel und das Gartenwerkzeug mit, das in einer Art Garage lag, und machte mich an die Arbeit. Ich wusste nicht, wieviel Zeit ich damit verbrachte, die Pflanzen zurechtzuschneiden, Unkraut zu beseitigen und Erde wegzutragen um sie mit Sauerstoff zu versetzen, aber als ich fertig war, war ich so durchgeschwitzt, als ob ich einen Marathon gelaufen wäre. Sicherlich würde ich mir eine Lungenentzündung holen. -„Fratello?“ (Bruder?) Ich drehte mich um und kam mir vor, als würde ich in einen Ganzkörperspiegel blicken. Der Junge, der vor mir stand, hatte diesselbe Körpergröße wie ich, diesselben Gesichtszüge, diesselben bernsteinfarbenen Augen … , die im Moment ganz rot vor lauter Weinen waren. Sein Haar war ein wenig heller als meins, glaubte ich, aber was alles Andere anging, waren wir nahezu identisch. -„Fratello! Cosa ti è succeso?“ (Bruder! Was ist mit dir passiert?), fragte er und begann, erneut zu weinen und mich ganz fest mit seinen schwachen Armen an sich zu drücken. „È certo? Non mi riconosci?“ (Ist das wahr? Erkennst du mich nicht?) „Eh … Scusi.“ (Tut mir leid.) Und erneut fing er an zu weinen und in einem sehr schnellen Italienisch zu plappern. Was konnte ich da sonst tun, als zu versuchen, ihn zu trösten? Ich legte ihm meine Hand auf den Kopf mit allem Drum und Dran! Sogar auf den Rücken klopfte ich ihm! -„Italien, versuch, Romano nicht zu überlasten“, sagte Heracles, der gerade in der Tür aufgetaucht war. -„Aber, aber, aber ...“ -„Kommt rein, ihr zwei“, bat er uns und trat zur Seite. So gut es ging, (der Junge hing immer noch wie eine Klette an mir) nahm ich meinen Mantel ab und hängte ihn an den Türknauf. Wir betraten das Wohnzimmer und setzten uns auf das Sofa. -„Gut, Italien. Wie du schon weißt, hat Romano sein Gedächtnis verloren, also brauchen wir dich, damit er es wiedererlangt.“ -„Was kann ich für ihn tun?“, fragte Feliciano in dem Versuch, seine Tränen zurückzuhalten. -„Ganz ruhig, Italien“, sagte Heracles ein Gähnen unterdrückend. „Du musst nur versuchen, dein Gedächtnis anzustrengen. Du kennst Romano von klein auf, nicht wahr? Weißt du noch, was deine erste Erinnerung an ihn war?“ Feliciano dachte scharf nach. Es schien ihm sehr viel Mühe abzuverlangen, da er seine Fäuste an die Knie drückte und die Augen fest zukniff. Vor lauter Anstrengung fiel ihm ein Tropfen Schweiß von der Stirn als er dann schließlich die Augen auf einem Schlag öffnete mit einem Gesicht voller unbeschreiblichen Glücks. -„Ja, ich weiß es wieder!“ Er machte es sich bequem und sah mich an. Dann nahm er meine Hände um meine Aufmerksamkeit zu erregen. „Es war im Jahr 476. Ich weiß noch, das Erste, was ich damals sah, war ein riesiger, stiller, grüner und dichter Wald. Die Erde in meinem Rücken tat mir weh und ich begann, aufgebracht zu weinen. Ich war weder in der Lage, mich auf die Beine zu stellen, noch zu sprechen oder auf mich selbst aufzupassen …“ -„Also nicht anders als jetzt“, hörte ich Heracles kommentieren. Aber Feliciano fuhr fort mit seiner Erzählung, als ob er nichts gehört hätte. -„Dann nahm mich eine Wölfin mit silbrigem Fell und Augen so schwarz wie die Nacht auf. Sie gab mir Wärme und beschützte mich. Ich schlief in ihrem Fell ein und als ich die Augen öffnete, fand ich mich in einem großen Palast wieder, und zwar in einem ziemlich geräumigen Zimmer voller Holzspielzeuge und einem enormen Bett. Auf dem Bett warst du, Lovino. Du warst so winzig, du konntest dich kaum aufrecht halten, geschweige denn auch nur ein Wort von dir geben, aber dein Blick war fast immer dermaßen ausdrucksvoll, dass ich in ihm deine starke Besorgnis ablesen konnte. So gut es ging, stellte ich mich hin und schaffte es irgendwie auf das Bett zu klettern, in dem ich einen Mann von etwa 40 Jahren liegen sah. Er wirkte ziemlich krank, Schweiß lief ihm die Stirn hinunter und er zitterte vor Kälte. Er schien in Sekunden zu altern. -„Bist du der Andere?“, fragte er zwischen Wehklagen. Da ich noch nicht sprechen konnte, antwortete ich nicht, aber ich verstand, was er mir sagen wollte und nickte. -„Ich bin so froh, euch noch kennengelernt zu haben.“ Bitterlich weinend versuchte er, sich aufrecht hinzusetzen. „Zwillinge, was sagt man dazu! Wenn ich daran denke, dass ich so etwas Schönes erschaffen habe...“ Er lächelte, versuchte, sich fröhlich zu zeigen. „Hey, Jungs, soll ich euch eine Geschichte erzählen?“ Du nähertest dich ihm und nahmst seine Hand während ich mich an ihn schmiegte und aufmerksam lauschte. Wir wussten beide nicht, um wen es sich bei diesem Mann handelte, also bewunderten wie ihn im Stillen. -„Alles begann vor über tausend Jahren. Zwei Männer, Romulus und Remus, Zwillinge wie ihr, erschufen die größte Stadt, die man sich vorstellen konnte. Sie war prachtvoll, voller Harmonie und Frieden, deshalb beschlossen sie, diese Stadt zum Anfang eines Imperiums zu machen, damit dieser Glanz auch auf andere Städte abfiel. Damals wurde ich geboren, das Römische Reich, das größte, das es je gegeben hat und jemals geben wird. Ich war so prächtig, dass die beiden Brüder sich um mich stritten, da jeder mich für sich allein haben wollte. Schließlich brachte Romulus Remus um und verschaffte sich die Kontrolle über das ganze Gebiet.“ Wir schauten den Mann verwundert an. Dieser verstummte einen Augenblick um wieder zu Atem zu kommen, dann richtete er seinen glasigen Blick wieder auf uns. -„Eigentlich sollte ich so kleinen Kindern wie euch keine solchen Geschichten erzählen, aber ...“ Er hustete und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, das sich rot färbte. „ … aber ich kann nicht von euch gehen ohne euch meinen größten Wunsch gesagt zu haben. Ich wünsche, dass ihr aufeinander aufpasst und euch niemals Schmerzen zufügt. Mehr will ich nicht.“ Die grünlichen Augen verfinsterten sich. „Und ich würde euch noch gerne Namen geben.“ Der Mann nahm mich in die Arme und kitzelte mir die Seiten, was mich in brüllendes Gelächter ausbrechen ließ. -„Du … du bist Feliciano“, verkündete er, dann setzte er mich wieder neben sich und streichelte meine Wangen mit sehr kalten Händen. „Du wirst Feliciano heißen, da ich weiß, dass dein Leben voller Glück sein wird. Sei glücklich, Feliciano.“ Ich nickte, ohne richtig zu verstehen, was er mir damit sagen wollte. Dann richtete er seinen Blick wieder auf dich. Du versuchtest, gelassen zu erscheinen, aber einzelne Tränen entflohen deinen Augen, die er mit dem Handrücken wegwischte. -„Und du … du bist Lovino, weil du so weich wie Schafsfell bist ...“ Du hast geschnaubt und seine Hand von deinem Gesicht geschoben. Er lachte kraftlos. „Und außerdem wirst du Lovino heißen, weil ich weiß, dass du die wahre Liebe finden wirst. Liebe, mein geliebter Lovino.“ Dann begann der Mann, schwach zu zittern, Lichtstrahlen kamen aus seinem Körper und ließen ihn nach und nach verschwinden. -„Ver-Vergesst mich nicht … Vergesst niemals eure Vergangenheit, eure Wurzeln … Vergesst Opa Rom nicht, hört ihr?“ Wir versuchten beide, Opa Rom zu umarmen, doch in diesem Moment löste er sich endgültig auf und ließ uns in diesem seltsamen Zimmer alleine zurück. -„Opa Rom ...“, sagtest du und ich fing an zu weinen. Du hast mich umarmt und getröstet wie du nur konntest, bis wir beide schließlich erschöpft vom vielen Weinen einschliefen, auf demselben Bett, auf dem wir Opa Rom zum ersten und letzten Mal gesehen haben. Beide schauten mich so an, als würden sie von mir eine Bewegung, einen Kommentar oder wenigstens einen Atemzug erwarten. Doch mein Blick war abwesend, in die Leere gerichtet, als ich versuchte, die von Feliciano so eindringlich erzählte Geschichte, vor meinem geistigen Auge wieder aufleben zu lassen. -„Und, Romano? Erinnerst du dich an irgendetwas?“ Heracles versuchte, mich mit dieser Frage aus meiner Versunkenheit zu befreien. Meine Antwort war unmissverständlich, einschneidend, sogar brutal. -„Nein.“ Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- [Anmerkung: Die Hochzeit, die in diesem Kapitel erwähnt wird, ist die von Prinzessin Constanza von Sizilien und Pedro III von Aragón (Pedro der Große) im Jahr 1262. Ich hab die Spanischen Königsnamen so gelassen, meiner Meinung nach klingt es besser.] Feliciano blieb den ganzen Tag an meiner Seite. Er erzählte mir verschiedene Anekdoten und lachte manchmal bei der Erinnerung daran oder weinte vor Hilfslosigkeit, als er sah, dass ich mich immer noch an nichts erinnern konnte. Er erklärte mir, dass wir damals jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang geweckt wurden ( oder man versuchte es zumindest, denn wir fielen jedes Mal todmüde ins Bett und waren nicht wieder herauzubekommen) und mit den wichtigen Leuten, die gerade da waren, frühstückten. Dann wurden wir von verschiedenen Gelehrten aus allen Ecken Italiens unterrichtet, die versuchten, uns die Grundlagen der Mathematik, Physik, Chemie und Astrologie beizubringen. Feliciano zufolge gefiel mir Astrologie dermaßen, dass ich in der Lage war, überall und jederzeit Sternbilder identifizieren zu können. Er dagegen liebte Kunst und füllte aus diesem Grund den Palast mit verschiedenen Gemälden von Alltagsszenen. Später aßen wir und verdrückten uns dann in die Stadt, wo Feliciano sich mit allen Einwohnern unterhielt, um danach aufs Land zu gehen und dort eine lange Siesta zu halten bis es Abend wurde. Aber egal wie sehr er sich auch anstrengte (er zeichnete mir Bildchen von den erzählten Szenen mit allem Drum und Dran), ich konnte mich an absolut nichts erinnern. Ich kam mir vor wie die Hauptfigur in einem Märchen, ein unsterbliches Wesen, das ewig leben konnte, sich mit mittelalterlichen Königen, Grafen und Herzögen traf und niemals alterte. Es war so unwirklich, dass es schon wieder faszinierend war. Es war schon sehr spät, die Datumsangaben und die Streiche, die wir früher gespielt hatten, vermischten sich in meinem Hirn wie Eier, die gerade verrührt werden. Ein seltsamer Vergleich, ich weiß, aber ich war sehr müde. Ich hatte es nicht einmal geschafft, seit dem Vormittag etwas zu essen, brachte aber keinen Bissen runter. Wenn mein „Bruder“ sich schon angesichts der Lage frustriert fühlte, so war ich noch tausend Mal wütender. Ich verstand es einfach nicht. Als ich die Fotos gesehen hatte, kamen ein paar Erinnerungen zurück, warum klappte es dann bei Felicianos Erzählungen nicht? Warum erinnerte ich mich nicht an jenen beeindruckenden Palast, an die Herzöge, die zu Besuch kamen, an den netten Bäcker, der uns immer Brot schenkte wenn er uns kommen sah, an den Schneider, der sich jedes Mal aufregte wenn wir in den mühsam geschneiderten Kleidern an ihm vorbeiliefen, an die endlosen Felder mitten im Nirgendwo umgeben von riesigen Bergen? Erschöpft legte ich mich ins Bett und versuchte, meine Sorgen im Kissen zu ersticken, darauf wartend, dass der Schlaf meine Seele auflöste bis nichts mehr von mir übrig war. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Ich saß auf dem Rasen und beobachtete wie die Zeit verging. Sie war so flüchtig, so irreal, so als ob sie vom Wind weggetragen würde. Ich blickte nach oben, in diesen unglaublich blauen Himmel, der mitangesehen hatte wie meine Tage einer nach dem anderen vergingen wie ein niemals endender Kreislauf. Jener Himmel hatte sich nicht verändert, genauso wenig wie ich selbst. Ich sah mich aus der Ferne wie ich mich von jener Sonne schützte, die uns Tag für Tag Licht schenkte. Jeden Tag. Für immer und ewig. Und ich fragte mich, wie es wohl wäre, ein Mensch zu sein. -„Hey … Lovino“, sagte Feliciano und umarmte mich von hinten. Ich wollte ihn von mir wegschieben, aber da er gerade am Einschlafen war, beschloss ich, nicht zu stören. Ich wollte ihn nicht aufwecken. „Lovino?“ -„Was willst du?“, fragte ich mich an ihn lehnend. Feliciano entfernte sich ein wenig als er es sich an den Baumstamm gelehnt, bequem machte. -„Ve, ich dachte, du wärst eingeschlafen.“ -„Idiot, ich rede doch gerade, hörst du mich denn nicht?“ -„Doch, tut mir leid, Bruder.“ Ich hasste es wenn er mir das Haar küsste so wie jetzt gerade. „Morgen kommt Thomas von Aquin, nicht wahr? Ve, ich würde ihn so gerne kennenlernen. Ich will ihm alle meine Bilder von Jesus am Kreuz zeigen, sicher werden sie ihm gefallen.“ -„Bah, noch so ein Pfarrer, nichts Besonderes“, erwiderte ich. -„Aber Bruder, er hat Beweise für die Existenz Gottes gefunden.“ -„Blödsinn. Er hat sich einfach nur fünf unsinnige Thesen ohne jede Grundlage ausgedacht, nur damit ist er berühmt geworden. Schau doch nur, er wird langsam bekannter als der Papst!“ Ich schnaubte. „Gott existiert … aber nicht, weil der es so sagt … sondern weil es einfach so ist. Mehr nicht.“ Eigentlich würde ich schon gerne wissen, wo sich Gott gerade aufhielt, jetzt wo Sizilien in einer dermaßen schweren Krise steckte, dass es fast zu einem Krieg geführt hätte. Ich fragte mich, was wohl mit Prinzessin Constanza passieren wird. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Plötzlich wachte ich auf. Das Bett war von meinem Schweiß durchnässt und ich konnte nicht aufhören wie verrückt zu zittern. Ich blinzelte ein paar Mal und begann, unruhig mit meinen Händen über meinen ganzen Körper zu fahren während ich versuchte, meine Atmung zu normalisieren. Nachdem ich das Bett verlassen hatte, ging ich zu dem Zimmer, in dem Feliciano schlief. -„Fratello!“ Ich warf mich aufs Bett ohne mich darum zu scheren, ihn dadurch aufzuwecken, tatsächlich war dies genau meine Absicht. Aber ich schaffte es nicht, dieser Junge schlief wie ein Stein. „Fratello, Fratello, Fratello ...“ Meine Rufe wurden von ein paar kräftigen Ohrfeigen begleitet. -„Ludwig?“, fragte er und öffnete die Augen einen Spalt weit. -„Wer?“ Gut, das war mir im Moment egal. „Feli, ich kann mich wieder an dich erinnern!“, rief ich während ich ihn heftig schüttelte. -„Im Ernst?“, fragte er ungläubig. -„Ja! Ich weiß wieder wie wir die Wachen abgelenkt und den ganzen Tag in Rom verbracht haben!“ -„Und auch wie wir dem Grafen von Saboya Hundefutter vorgesetzt haben?“ -„Das auch! Und wie wir auf jedes Gemälde in der Galerie Tomaten draufgepinselt haben!“ Wir lachten beide bei der Erinnerung an unseren Streich und obwohl er uns damals eine gehörige Tracht eingebracht hatte, hatten wir uns sehr amüsiert. -„Ve, also kannst du dich wieder an alles erinnern? Ich bin so glücklich, Fratello! Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht.“ -„Ähm ...“ Ich versuchte, mein Gedächtnis anzustrengen, aber es ging nicht. Es war so als würde ein undurchdringlicher Schleier über meinen restlichen Erinnerungen hängen. „Nein,an das, was danach kam, nicht.“ -„Was ist deine letzte Erinnerung?“, fragte er den Kopf leicht zur Seite neigend. -„Also … eine Hochzeit. Die der Prinzessin Constanza, ab da ist alles ein wenig verschwommen.“ Feliciano ließ ein dämliches Lächeln sehen und umarmte mich erneut. -„Das ist der Teil der Geschichte, in dem ich nicht mehr vorkomme.“ -„Ach, nein?“ Ich blickte ihn erschrocken an. War's das jetzt, würde ich jetzt nichts mehr über mein Leben erfahren? Und was sollte ich jetzt tun? Könnte ich ohne Vergangenheit leben? Nein, ich wollte kein Leben ohne Erinnerungen, vor allem jetzt, wo ich ihren süßen Geschmack gekostet hatte. „Und was soll ich jetzt machen?“ -„Ruf Spanien an, er wird wissen, was zu tun ist.“ Antonio? Was hatte der denn mit meiner Vergangenheit zu tun? Als wir uns dazu entschieden, runterzugehen und zu frühstücken, war es Mittag. Dort warteten Antonio und Heracles bereits auf uns, Ersterer bleich mit kilometerbreiten Augenringen, der Zweite so erschöpft, als er sein Scheißleben lang nicht geschlafen hätte. -„Heracles!“, wurde er von meinem Bruder fröhlich begrüßt. „Weißt du was? Weißt du was? Lovino erinnert sich an mich!“ Als ich merkte, wie mich alle anstarrten, wurde ich rot. -„Du erinnerst dich an ihn, Romano?“, fragte Heracles misstrauisch. -„Hey, ich lüge nicht, klar?“ -„Und woran erinnerst du dich genau?“ -„Na ja, an alles, was mir Feli gestern erzählt hat. An die Ausritte zu Pferd, an die zehn Generationen andauernden langweiligen Konversationen mit den Herzögen von Saboya, an die kirchliche Folter …“ -„Mit anderen Worten, also nur an Dinge, die du von Italien gestern erfahren hast.“ -„Nun ja, nicht an alles ...“ Ich wich zurück als ich Heracles immer weiter näherkommen sah. „Es gibt da einige Kleinigkeiten, die mir auch ohne Felicianos Erzählungen eingefallen sind, aber das waren wen-“ -„Perfekt. Meine Arbeit hier ist getan.“ Und mit diesen Worten begann Heracles, sein Zeug einzusammeln. -„W-Was soll das heißen, sie ist getan? Meine Erinnerungen sind noch nicht vollständig zurück!“, murrte ich, ihm durch den Flur folgend. -„Mal sehen … das Gehirn ist so etwas wie ein Schwamm, Romano.“ Er öffnete seinen Koffer und legte seine völlig zerknitterte Kleidung hinein. „Ich sage es dir schon zum vierten Mal, deine Erinnerungen sind immer noch da. Es braucht nur noch einen kleinen Anstoß, um sie wieder ans Licht zu befördern.“ -„Wie?“ -„Als Italien dir deine Geschichte erzählte, brachte das deinem Gehirn die nötigen Reize. Die Erinnerungen waren dabei, aufzuwachen, du musstest die nur noch im passenden Zustand befinden, damit sie wiederkommen konnten.“ -„Im Schlaf?“ Heracles nickte und schloss den Koffer. „Ich verstehe gar nichts, erklär mir das, verdammt noch mal.“ -„Beim Schlafen“ Heracles nahm seinen Koffer und begab sich zum Ausgang „festigt sich alles Gelernte, wenn man es so sagen kann. Und jetzt lass mich durch, mein Land steht kurz vor dem Bankrott. Es braucht mich.“ -„Ve, echt so schlimm?“, wollte mein Bruder wissen und öffnete ihm die Tür. Heracles zuckte mit den Schultern. -„Es gab schon Schlimmeres.“ Er schnappte sich seine Katze und verließ das Haus. „Viel Glück, Romano.“ -„Warte!“, rief Antonio, der ihm nachlief. „Ich … komme mit.“ -„Bruder Spanien, du darfst nicht gehen, du musst Lovino doch alles erzählen.“ -„Ich komme bald zurück. Tschüss, Feli ...“ Mit diesen Worten ging er, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, sich von mir zu verabschieden. Und schon wieder ließ er mich alleine zurück. -„Alles in Ordnung, Lovino?“ Mein Bruder umarmte mich von hinten so wie früher, als wir noch Kinder waren, doch ich erwiderte die Umarmung nicht und entfernte ihn von mir. -„Mir geht’s gut, Feliciano. Mach dir keine Sorgen.“ Eine glatte Lüge. Es war einfach nur … widersprüchlich. Erst sorgte er sich so übertrieben um mich, lief mir überall hinterher, entführte mich sogar und jetzt, wo ich es geschafft hatte, nach Neapel zu kommen, konnte er gar nicht genug Ausreden erfinden, nur um nicht mir allein zu bleiben. Hasste er mich denn so sehr? -„Vee Lovino, komm, trink einen Kaffee mit mir.“ Wenn Feliciano „Kaffee“ sagte, so meinte er damit einen Capucchino mit viel Schaum, sehr viel Zucker und Eiswürfeln, da wir beide keinen heißen Kaffee mochten. -„Kannst du mir eine Sache verraten, Feliciano?“, fragte ich, obwohl ich noch nicht genau wusste, was ich eigentlich fragen wollte. -„Was immer du willst, Lovi.“ Es war mir viel zu peinlich, ihn über meine Beziehung zu Spanien zu befragen (also, eigentlich war es schon seltsam, seinen Ländernamen zu verwenden). In Wirklichkeit wollte ich es gar nicht wissen. Ich wollte nicht wissen, ob wir Freunde, Feinde oder Nachbarn waren, es würde mir schwerfallen, zu akzeptieren, dass dieser Mann, der die ganze Zeit auf mich aufgepasst hatte, nur ein weiterer Bekannter sein könnte. -„Wer, zur Hölle, ist Ludwig?“, fragte ich schließlich um aus diesem ganzen Durcheinander herauszukommen. Feliciano verschluckte sich an seinem Kaffee und begann, heftig zu husten. -„W-Wie bitte, Bruder?“ -„Als ich dich weckte, war „Ludwig“ das Erste, was du gesagt hast.“ Felicianos Blicke wanderten in alle Richtungen, sicherlich war er gerade dabei, nach einer Ausflucht zu suchen. Was hatte er denn auf einmal? Ich habe ihm doch nur eine Frage gestellt. „In meinen Erinnerungen taucht Niemand mit diesem Namen auf.“ -„Ähm … Bruder … Ludwig ist ...“ Er zeigte mir seine linke Hand. „ ... mein Ehemann.“ -„WAS?“ Das war viel mehr, als ich erwartet hatte. Wäre da nicht dieser glänzende Ring an seinem Ringfinger, hätte ich ihm ganz sicher nicht geglaubt. Mein Bruder? Mein kostbares Brüderchen, verheiratet mit einem Mann? -„Ve, bitte nicht schlagen“, flehte er mich an und begann zu weinen. Ihn schlagen? Der, den ich hier schlagen wollte, war dieser Nichtsnutz von Ehemann! Wie konnte er meinen unschuldigen Feliciano nur dermaßen verderben? Das war unsittlich! -„A-Aber … du liebst doch Frauen“, sagte ich, immer noch ungläubig. -„Schon, aber ...“ Feliciano blickte zu Boden und lächelte. Wenn ich ihn nicht kennen würde, würde ich sagen, er sei ein wenig rot geworden. „Ludwig ist etwas Besonderes.“ -„Ah ...“ Sobald ich ihn kennenlerne, bringe ich ihn um, da gab es keinen Zweifel. Ich verstand gar nicht, warum ich es nicht schon früher getan hatte. „Ist er eine Nation?“ -„Ja, er ist Deutschland.“ -„Deutschland ...“ Ich kramte in meinem Gedächtnis herum. „Nein, ich kenne ihn nicht.“ -„Er ist ein ziemlich junges Land, Bruder.“ Na super, und hat Feliciano mit seiner Jugend auch gleich mal den Kopf verdreht. „Erinnerst du dich an das Heilige Römische Reich?“ Als ob ich den vergessen könnte. In seinen Briefen hatte mein Bruder ohne Ende über ihn geschrieben. Dass er ihn ziemlich genervt hätte mit seiner Bitte, wieder zu diesem Reich zu werden, das Europa fast ein ganzes Jahrtausend lang beherrscht hat. Und vor allem, dass er ziemlich … süß? wäre. Keine Ahnung, mir kam es vor, als hätte er so etwas erwähnt. -„Er ist sein … Nachfolger“, erklärte er mir. „Mehr darf ich dir zurzeit nicht verraten, aber das Heilige Römische Reich ist gestorben.“ -„Er lebt nicht mehr? Pff, umso besser, er ist dir ziemlich auf den Geist gegangen, was, Feliciano?“ -„Ja ...“ Dass sich der Blick meines Bruder für einen Moment verfinsterte, gefiel mir überhaupt nicht. Ich wollte ihn noch mehr darüber ausfragen, als wir beide hörten, wie die Haustür plötzlich schlagartig geöffnet wurde. -„ITALIEN!“ Lächelnd rannte Feliciano aus der Küche direkt in das Zimmerchen, in dem ein … Schrank auf ihn wartete. Oh ja, dieser Mann war ein laufender Schrank. Er war um die zwei Meter groß , hatte Beine breiter als Baumstämme und Arme, sollte er mir mit denen einen Schlag verpassen, würde ich schon tot sein, bevor ich auf dem Boden aufkäme. Seine Haare waren blond und zurückgekämmt und seine Augen so blau und kalt wie zwei Eiswürfel. -„Deutschland, Deutschland, du bist gekommen!“, rief mein Bruder und warf sich ihm an den Hals. Mühsam schluckte ich. Ich hatte ihn aus gutem Grund bis heute nicht verprügelt, er hätte mich ins Krankenhaus befördert, noch bevor ich mich ihm überhaupt nähern könnte. -„Italien ...“ Wie? Was? Mein Bruder ließ diesen Schrank erröten? Schämte der sich etwa für ihn? „Italien, wir müssen reden...“ -„Deutschland, es tut mir leid! Ich weiß, ich hätte heute eine Konferenz mit Frau Merkel gehabt, aber Griechenland hat mich angerufen und mir gesagt, dass Lovi sehr krank sei und ich ...“ -„Das ist jetzt egal“, sagte er und entfernte ihn von seinem Hals. „Hast du ihm etwas davon erzählt?“, fragte Deutschland mit zusammengekniffenen Augen. -„Davon? Was meinst du dam-...? Ah! Die ...“ In diesem Moment nahm Deutschland meine Anwesenheit wahr und drückte ihm rasch die Hand auf den Mund. -„Was versteckt ihr da vor mir?“, hakte ich nach. Langsam wurde ich wirklich wütend. -„Nichts, Lovino!“, beruhigte mich Spanien, der hinter dem Mutantenschrank hervorkam. „Ludwig, könntest du Feliciano hier wegbringen? Romano und ich müssen reden.“ Deutschland nickte und schleifte Feliciano, der ihn verwundert ansah, am Arm hinter sich her. Die Zwei verließen den Raum und schlossen die Tür hinter sich. -„Was, zur Hölle, ist hier los?“, fragte ich bereits ziemlich verärgert. -„Setz dich“, bat er mich freundlich. Trotz meiner Einwände ließ ich mich auf dem Sofa nieder, wobei ich eine angemessene Distanz zu ihm bewahrte. „Also gut … du hast nach Prinzessin Constanza gefragt, nicht wahr?“ -„Was könntest du schon über sie wissen?“ Antonio lächelte schüchtern und zwinkerte mir zu. -„Alles. „Constanza war wunderschön. Ihr Haar war mit einem enormen Diadem aus Brillianten und Rubinen hochgesteckt, es war ihr einziger Schmuck. Außerdem trug sie ein Kleid von einem reinen Weiß, das zu dem breiten Lächeln in ihrem Gesicht passte. Dies war ihr Hochzeitstag, der Tag, der mein Leben für immer verändert hat.“ -„Warum?“, unterbrach ich ihn zum ersten und einzigen Mal. -„Weil es der Tag war, an dem ich dich kennengelernt habe.“ „Ich weiß noch wie du die ganze Zeit an ihr hingst, so als ob du nicht wolltest, dass sie heiratet. Sie nahm dich in die Arme, tröstete dich. -“Das ist Romano“, sagte Österreich als er näherkam. „Der Bruder von Italien, meinem Bediensteten. Ab jetzt ist er dein Untergebener.“ Lächelnd nickte ich. Ich dachte schon, Österreich wäre ein schlechter Typ, aber wenn er mir einen Untergebenen anbot, konnte er gar nicht so schlimm sein. Constanza sah mich an und kam näher. -„Schau Romano, das ist Spanien. Ihr werdet sehr gute Freunde sein.“ In jenem Moment entdeckte ich dich. Du warst so klein, so niedlich, so hilflos. Mit dem Gewand, das an deine kleine Größe angepasst war, sahst du aus wie ein richtiger Hofkavallier. Es war so rührend wie du mich mit deinen goldenen Augen voller Tränen der Machtlosigkeit angeblickt hast. -„Willst du mit ihm gehen?“, fragte sie dich. -„Nein!“, schriest du und verbargst dein Gesicht wieder an ihrer Brust. „Ich will nicht, dass du heiratest.“ -„Schon gut, Romano, beruhige dich.“ Constanza reichte mir deinen kleinen Körper und ich drückte dich an meine Brust. „Ich werde dir nicht wehtun.“ -„Nein, nein, nein, nein und nochmals nein“, sagtest du ohne Unterlass weinend. „Ich will nicht, dass sie heiratet und vor allem keinen Spanier, ich will mein Reich mit Niemandem teilen ...“ -„Ach komm, Pedro ist ein guter Mann. Und noch was … schau mich an, Romano. Sehe ich wirklich so böse aus?“ Du hast mich angeschaut, auf sehr lustige Art und Weise deine Stirn gerunzelt und mit den Schultern gezuckt. -„Ein hübsches Mädchen wäre mir lieber gewesen, du Idiot ...“, sagtest du mit deinem dünnen Stimmchen. Mein Lachen konnte man in der gesamten Kirche hören. Die Zeit verging. Wir befanden uns mitten in der Reconquista, also überließ ich dich der Obhut einer meiner Kindermädchen und kehrte zu den Waffen zurück. Meinen Informanten zufolge gab es in Italien mehrere Unabhängigkeitsbewegungen. Das überraschte mich nicht, Niemandem gefällt es, wenn sein Reich jemand anderem gehört. Doch die Schlachten auf der Iberischen Halbinsel hatten Priorität, also schickte ich nur hundert oder zweihundert Soldaten los, die den Revolten ein schnelles Ende bereiteten. Aber das war nicht genug. Neapel musste noch eingenommen werden, da dessen Einwohner sich weigerten, sich mit Spanien zusammenzuschließen. Im Laufe dieser Epoche warst du wirklich ernsthaft krank. Du hattest hohes Fieber, konntest kaum laufen und fast nichts essen. Die Kindermädchen hatten mir einen Brief geschrieben um mir die Lage zu erklären, also nahm ich ein Schiff und fuhr so schnell wie möglich zu dir. Sobald ich dich sah, verstand ich, was dir fehlte. Ein Teil deines Gebietes war unabhängig, das andere immer noch unter Spaniens Herrschaft und du standest mittendrin. Die einzige Lösung, wie ich dir helfen könnte, war, den gesamten Süden zu erobern. Ich kehrte nach Spanien zurück und erklärte meinem „guten Freund Alfonso“, dem Enkel von Pedro dem Großen, die Situation. Ich versuchte, ihn zu überzeugen, seinem Feldzug in Spanien eine Zeit lang dem Rücken zu kehren und all seine Männer nach Italien zu schicken. Zwanzig Jahre habe ich dafür gebraucht, zwanzig lange Jahre, aber schließlich schaffte ich es (indem ich damit drohte, selbst die Unabhängigkeit Siziliens zu verkünden, sollte er Neapel nicht einnehmen) und nach weniger als einem Monat hatten wir Sizilien in unserer Hand. Ich fand es lustig, dass Alfonso nachträglich zu Alfonso dem Größmütigen umbenannt wurde. [Alfonso el Magnánimo] Bis du wieder vollständig gesund wurdest blieb ich an deiner Seite. Du warst ein sehr starkes Kind, Romano, und hast nur zwei Monate gebraucht, um die während eines Jahrhunderts verlorene Gesundheit wiederzuerlangen. Auch wenn es dir jetzt seltsam vorkommt, in diesen zwei Monaten warst du sehr liebenswert. Du hast mit mir über alles geredet, über meine Scherze gelacht und mir sogar ein paar Mal erlaubt, bei dir zu schlafen. Du warst so niedlich … schade, dass das alles eine Folge des Fiebers war. Denn sobald du dich wieder erholt hast, kehrte deine übliche schlechte Laune zurück. Du hattest keine Lust mehr, micht zu umarmen, zu küssen oder mich überhaupt zu ertragen. Außerdem warst du ungeschickt, anstatt zu putzen, machtest du Unordnung und zerbrachst einige meiner Sachen mit deinem Besen. Du hast mich ermüdet, du hast mich so ermüdet, Romano, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Und deshalb konnte ich beim Anblick des niedlichen Italien, der bei Österreich zu Hause ein wunderschönes Lied summend den Boden fegte, einfach nicht anders, als an jene wunderbaren zwei Monate zu denken, die wir zusammen verbracht haben. Also wollte ich deinen Bruder haben. Ich verhandelte mit Österreich, doch dieser wollte mir deinen Bruder nicht überlassen. Und er hatte Recht, sein Territorium lag jenseits meiner Interessen, also ließ ich es sein. Das Schlimme war jedoch, dass du danach nicht mehr derselbe warst. Beim Putzen warst du zwar immer noch ungeschickt, hast mich aber dazu noch angeschwiegen. Seit jenem Tag an hast du nicht ein Wort mit mir gesprochen, mich nicht einmal beschimpft. Gar nichts. -„Romano, es tut mir sehr leid, ich wollte dich nicht verletzen ...“ Nichts. -„Romano, bitte, sprich mit mir ...“ Nichts. -„Schau Romano! Lass uns ins Feld gehen, Tomaten ernten.“ Du hast mir zwar geholfen, aber immer noch ohne ein Wort zu sagen. -„Hast du gesehen, was für eine süße Schildkröte ich hab?“ Selbst als du von ihr gebissen wurdest, hast du nicht vor Schmerz aufgeschrieen. Du hast nur deine Tränen hinuntergeschluckt und bist weggelaufen. Und ließest nicht zu, dass ich dich umarmte. Ich war so traurig. Ich wollte nicht von dir gehasst werden. Deine Beschimpfungen, deine Schläge, das Kaputtmachen meiner Sachen, all das konnte ich ertragen, aber nicht diese Gleichgültigkeit. Es war so schrecklich. Und, so seltsam es auch klingt, es war Frankreich, der das Ganze auflöste. Er war schon mehrere Jahrhunderte lang hinter dir her, vier Mal hat er versucht, dich zu erobern, aber ich verjagte ihn jedesmal, wenn er dir zu nahe kam. Zwar war er einer meiner besten Freunde, aber ich wollte dich Niemandem überlassen, nicht einmal ihm. Beim letzten Mal ranntest du in den Wald, als du ihn kommen sahst. Ich verhaute ihn, so wie immer, und lief dir nach. Da du dich recht schnell verläufst, musste ich dich rasch finden, weil du sonst den Weg zurück nach Hause nicht finden und Angst haben würdest. Ich hörte einen Schrei und versteckte mich hinter einem Baum als ich sah, dass es Türkei war, der dich geschnappt hatte. In jener Zeit war Türkei im Aufschwung, er hatte Afrika, Asien und bestimmte Gebiete Europas eingenommen, also musste er richtig stark sein. Mein König, Felipe II, bekämpfte die Türkei praktisch schon seit seiner Thronbesteigung, genau wie sein Vater, und sagte stets, die Türken wären wirklich heimtückisch. Aber Türkei hatte dich in seiner Gewalt und ich musste handeln, um dich zu retten. Ich konnte dich nicht einfach so gehen lassen, Romano. Es machte mich stolz, dich nicht weinen zu sehen, so wie du es immer in verzwickten Situationen tatest. Nein, du fingst an, dich Türkei mit allen Mitteln zu widersetzen. („Lass mich, lass mich, Idiot, lass mich, Blödmann“, sagtest du immer wieder). -„Verdammt, Spanien, du Idiot“, hörte ich dich zwischen Schluchzern sagen. „Komm und rette mich endlich ...“ Und so musste ich rauskommen und dich holen. Es war das Selbstmörderischste, was ich je in meinem ganzen Leben getan habe, aber ich konnte dich nicht in türkischer Hand lassen … und noch weniger, wenn du mich mit so einer niedlichen Stimme um Hilfe bittest. Wenn du immer so ehrlich wärst, wärst du ziemlich süß, Romano. Ich schnappte mir meinen Stier und befreite dich aus diesem Planwagen, in den er dich eingeschlossen hatte. Seltsamerweise erkannte mich Türkei nicht einmal, er blickte mich lange durch seine Maske an und fragte: „Wer bist denn du?“ -„Ich bin Spanien, das Land der Leidenschaft! Ich werde nicht zulassen, dass du Romano zu einem Teil von deinem Territorium machst!“ -„Was wäre daran denn so schlimm? Leih ihn mir kurz aus, komm schon“, bat er mich hämisch. -„Nein. Ganz sicher nicht.“ Ich nahm mein zweischneidiges Schwert zur Hand und stellte mich jedem Mann gegenüber, der von Königen aus aller Welt gefürchtet wurde. „Wenn du es wagst, Romano anzugreifen, mache ich dich fertig!“ An dem Tag hatte Türkei keine Lust zu kämpfen, also nahm er sein Pferd, verabschiedete sich kurz und ging. Ich war sprachlos vor Überraschung. -„Hä? Ist das der Himmel?“, wolltest du wissen als du langsam zu dir kamst. Dann blicktest du mich lange mit einem sehr verschlafenen Gesicht an. „Spanien ist hier, also muss es die Hölle sein.“ Und das waren die ersten Worte, die du seit Jahren an mich gerichtet hast. Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Es war Nacht. Der Mond hatte sein schwarzes Gewand abgestreift und schien nun in all seiner Pracht, begleitet von kleinen Sternen, die den Himmel mit ihrem fernen Strahlen schmückten. Im Haus war Niemand mehr auf den Beinen. Alle waren letztendlich eingeschlafen, die Stille, die den Ort beherrschte, nur durch das endlose Zirpen einer dämlichen Grille unterbrochen. Diese Grille war es, die mich wieder in die Realität zurückbrachte. -„Ah! Das war's. Ich kann das nicht ...“, dachte ich während ich mich, mein Kissen im Arm, wieder umdrehte und in mein Zimmer zurückging. Aber mein Gewissen ließ mich wieder umkehren. Spanien bekämpfte Türkei, das wusste ich. Jeden Tag kam er verwundet, erschöpft und fast ohne die Kraft, zu sprechen nach Hause. Selbst dann machte er das Beste draus, den Schmerz, den seine Wunden verursachten vor mir versteckend, schenkte er mir ein Lächeln, das mich glauben ließ, alles wäre gut. -„Du verdammter Idiot, du hättest mich in die Türkei gehen lassen sollen!“ Dann würde er nicht immer so erschöpft heimkommen und ich könnte ihn nach Belieben ärgern ohne mich schuldig zu fühlen … „Er ist so ein Trottel, ein Blödmann, ah! Blöder Spanier ...“ Doch je mehr ich mich seinem Zimmer näherte, desto schneller schlug mein Herz. Meine Hände schwitzten so stark, dass ich das Kissen kaum halten konnte und ich hatte einen Kloß im Hals, der mir das Atmen erschwerte. Es ist nicht so, dass ich irgendwelche Gefühle für den Bastard übrig hätte, aber … ich war ihm sehr dankbar! Wenn Spanien Türkei schon davon abhielt, mich mitzunehmen (und vergessen wir Frankreich nicht, der immerhin schon vier Mal versucht hat, mich zu entführen), war ein Dankeschön doch das Mindeste, was ich für ihn tun konnte, nicht wahr? Vor seiner Tür stehend atmete ich noch ein paar Mal tief durch, da ich mich ein wenig entspannen musste. Dann öffnete ich sie entschlossen und … -„Romano? Was machst du hier?“ Ohne auf weitere Worte von Spanien zu warten, warf ich mich auf sein Bett und deckte mich zu. -„Hey! Besetz nicht das Bett von jemand Anderem!“ Ich hörte ihn näherkommen und wurde noch nervöser als ich es schon war. „Romano, ich weiß ganz genau, dass du mich hasst, aber könntest du das bitte nicht so direkt zeigen?“ -„Da-Danke“, flüsterte ich während ich mein errötetes Gesicht mit dem Kissen bedeckte. -„Hä? Was hast du gerade gesagt?“ -„Äh … also … ich sagte danke … verdammt ...“ -„R-Romano?“ An mein Gehör drang das schwache Lachen dieses Bastards Spanien. W-Was dachte der sich eigentlich? Wie konnte er sich in einem solchen Moment über mich lustigmachen? „Romano, im Ernst, du bist so süß ...“ Seine Hand begann, meinen Kopf zu streicheln. Ich hielt die Augen halb geschlossen, um seine Wärme besser zu spüren. Spanien war wirklich das Land der Leidenschaft. Mit seiner Hand, nur mit diesen fünf Fingern, schaffte er es, mir Wärme und Sicherheit zu geben, wenn er mich streichelte … Aber das würde er von mir nie im Leben zu hören bekommen. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Ich erwachte auf diesselbe Weise wie am Tag zuvor, erschöpft und mit furchtbaren Kopfschmerzen. Meinen Kopf in dem durchgeschwitzten Kissen versenkend, wartete ich darauf, dass der Schwindel und die Verwirrung, die ich in diesem Moment verspürte, sich legten. Tausende von Bildern sammelten sich in meinem Hirn an. Wie ich Spanien das erste Mal gesehen hatte, wie die erste Tomate schmeckte, die er mir geschenkt hatte, die unzähligen Male, wie wir unter einem Baum gesessen waren und ich ihm erzählte, was ich über die Sterne herausgefunden hatte während er geduldig zuhörte, sein Lächeln als mir zum ersten Mal „Boss Spanien“ herausgerutscht war … Mein Gehirn hatte wohl vor, mich daran zu gewöhnen, mein Leben in weniger als einem Augenblick nochmal zu durchleben, da mir sehr schwindelig war und ich Lust bekam, meinen Kopf gegen die Wand zu hauen. Langsam zog ich mich an während ich versuchte, die verwirrenden Bilder, die ohne Ende in meinem Bewusstsein herumschwebten, zu verscheuchen. Ich zog mir ein gelbes Hemd von Armani über und schwarze Hosen von, ach, wer kümmert das schon? Mit Sicherheit auch von Armani. Ich ging barfuß in die Küche, um dort von meinem Bruder endgültig geweckt zu werden als er mich so fest drückte, dass mir der Atem stockte. -„Fratello, Fratello, Fratello, deine Erinnerungen kommen weiterhin zurück, nicht wahr, stimmt doch, oder?“ -„Ja, stimmt, aber locker deine Umarmung ein wenig“, bat ich ihn mit fast nicht vorhandener Stimme. Er ließ mich mit einem albernen Lächeln los und drückte mir einen Kuss auf die Wange. -„Fratello, schau mal, wer gekommen ist um dir Hallo zu sagen!“ -„Was zum …?“ Ich schluckte. Da saß dieses blonde Monstrum an dem hölzernen Tisch und schaute mich mit seinen völlig ausdruckslosen blauen Augen an. -„Ich … ähm … wollte mich entschuldigen, Lovino“, fing er an während er sich durch die komplett zerzausten Haare fuhr. „Ich hätte dir gestern mit mehr Feinfühligkeit begegnen sollen, vor allem angesichts dessen, was du gerade durchmachst.“ Ich nickte. Zu mehr war ich in diesen Moment nicht imstande. -„Und … äh ...“ Wie konnte der Kerl gleichzeitig so riesig und so unsicher sein? Wenn ich so groß wäre, würde sich Niemand mit mir anlegen können! „Es tut mir leid … so, das war's.“ -„Siehst du, Bruder? So schlimm ist Ludwig gar nicht“, kommentierte mein Bruder während er zu ihm ging und seine Hand nahm, was wohl ein klarer Versuch war, mich zu provozieren. „Er ist echt süß.“ Ja, genau, so süß wie ein mit Sirup übergossenes Stachelschwein. Ein Hüsteln ließ mich meinen Hass für den Ehemann meines Bruders einen Augenblick lang vergessen. Zu meiner Überraschung erblickte ich einen jungen Mann, der genauso blond wie Ludwig, aber sehr viel kleiner war und statt eisblauen erstaunlich grüne Augen hatte. In seiner Hand hielt er eine rote Tasse, aus der er einen kleinen Schluck nahm bevor er sie auf die Untertasse stellte und aufstand, um sich mit mir auf Augenhöhe zu befinden. Was seine Erscheinung als Märchenprinz aber ruinierte, waren ein Paar gigantische Augenbrauen, die ihm fast bis zur Stirnmitte reichten. -„Man sagte mir, du hättest alles vergessen, stimmt das?“, fragte er ohne Weiteres. -„Ve, die Erinnerungen kommen nach und nach zurück.“ -„Weißt du wenigstens wer ich bin?“, fügte er hinzu, meinen Bruder nicht weiter beachtend. Ich schüttelte den Kopf. Tatsächlich erschien er mir ziemlich bedrohlich, sogar noch mehr als Ludwig. -„Mein Name ist Arthur Kirkland, auch bekannt als das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland.“ So einen langen Namen würde ich mir nie im Leben merken können, soviel war schon mal sicher. -„Ich bin Lovino“, sagte ich ohne zu wissen ob ich ihm nun die Hand geben sollte oder nicht. -„Das weiß ich. Ich weiß sehr gut, wer du bist, deshalb brauchst du ja auch meine Hilfe, nicht wahr?“ Keine Ahnung ob ich die Hilfe von einem Fremden annehmen wollte, der sich selbst Vereinigtes Königreich vom Norden von Großbritannien nannte (oder sowas in der Art). -„Arthur, du benimmst dich aber merkwürdig. Du fluchst ja gar nicht“, warf mein Bruder ein, während er Ludwig dazu bringen wollte, ihn von hinten zu umarmen. -„Ich versuche einfach nur, meinen geliebten Freund Lovino so zu grüßen wie es sich für einen wahren Gentleman ge-...“ -„Hahahaha! Lasst den Hero durch!“, ertönte eine durchdringende Stimme bevor ich plötzlich von starken Armen gepackt wurde. „Looooooovino! Wie geht’s dir? Na, erinnerst du dich schon an den Helden in all seiner Herrlichkeit?“ -„Lass mich los, Idiot!“, schrie ich und versuchte, mich aus dieser erdrückenden Umarmung zu befreien. -„Es reicht!“, befahl Antonio, der nach diesem Unbekannten eingetreten ist. „Stell Lovino sofort wieder hin, Alfred!“ -„Was? Warum?“ -„Du machst ihm Angst, du Trottel! Siehst du denn nicht, dass er sich nicht an dich erinnert?“, fuhr Arthur ihn an während er mir runterhalf. Ich drehte mich zu dem Mann, der mich festgehalten hatte um zu entdecken, dass dieser einen Kopf größer war als ich. Er war ebenfalls blond und hatte blaue Augen so wie Ludwig, aber von einem anderen Farbton. Seine hinter kleinen Brillengläsern versteckten Augen glichen eher dem Blau eines stürmischen Meeres als dem von klirrend kaltem Polareis. Er trug eine braune Jacke, die er anscheinend nicht ausziehen wollte und hatte seine Arme vor seinem ein wenig vorstehenden Bauch verschränkt während er eine gespielt traurige Miene aufsetzte. -„Yo, Iggy. Du bist heute morgen aber reizbar.“ -„Ich hab dir doch schon tausend Mal gesagt, du sollst mich nicht Iggy nennen, du übergewichtiger Hamburgerfresser!“ Arthur erschreckte mich mit diesem plötzlichen Stimmungswandel. Auf einmal bewegte er mich zur Seite und begann, ihm fürchterliche Dinge zuzuschreien, Dinge, die von mir stammten könnten. Noch nie hatte ich etwas Ähnliches aus fremden Lippen hören kommen. -„Alles klar, Lovino?“, flüsterte mir Antonio ins Ohr, was mich feststellen ließ, dass er mich nach Arthurs Schubser aufgefangen hatte. -„Bleib mir vom Leib!“ In weniger als einer Sekunde schüttelte ich ihn ab und versuchte, mein wild schlagendes Herz zu beruhigen … nein, verdammt, es klopfte nicht wegen ihm. Es sind einfach nur zu viele Dinge in zu kurzer Zeit passiert. -„Ich stelle dir Arthur und Alfred vor“, sagte Spanien, wobei er zuerst auf den mit den grünen und dann auf den mit den blauen Augen, der so durchdringend lachte, zeigte. „England und die USA, um genau zu sein.“ -„Ist es wirklich nötig, dass alle Länder der Welt kommen um mir zu helfen?“, fragte ich schlechtgelaunt. Ich wollte einfach nicht, dass die Nachricht von meinem Gedächtnisverlust sich noch mehr verbreitete. Spaniens immerwährendes fröhliches Lächeln erlosch und wurde durch einen traurigen und entschlossenen Gesichtsausdruck ersetzt. -„Romano … Lovino, ich werde alles tun, damit du dein Gedächtnis wiedererlangt. Einfach alles, egal was es auch sein mag.“ Ich wusste, ich würde nicht in der Lage sein, ihn lange anzustarren, vor allem, wenn er mich so ansah … mit diesem Blick, der gleichzeitig so vertraut und so fremd war. Also zog ich es vor, meine nackten Füße zu betrachten und eine leise Antwort zu murren. -„Lass mich wenigstens frühstücken, in Ordnung?“ -„Ja, Lovino, sicher“, stimmte Antonio mit seiner üblichen Fröhlichkeit zu. Ich verschlang ein paar Eier und dazu eine Tasse heiße Milch mit Honig, während ich das unerträgliche Wortgefecht zwischen den beiden Blonden über mich ergehen ließ, die sich ohne Unterlass gegenseitig beschimpften. Eigentlich war es schon ein wenig widersprüchlich, denn die Zwei schienen sich bis auf den Tod nicht ausstehen zu können, doch das kleine Lächeln, das jedem von Beiden von Zeit zu Zeit entschlüpfte, zeigte mir, dass sie jene sinnlose Unterhaltung sehr wohl genossen. Es war wie ein kleines privates Spiel zwischen ihnen, mit einem komplexen Hintergrund, der mir entging. -„Bist du fertig, Bruder?“, schrie mir Feli zu um die Beiden zu übertönen. -„Ja, warte ...“ Ganz langsam erhob ich mich und holte tief Luft. „WOLLT IHR WOHL ENDLICH MAL DIE KLAPPE HALTEN, VERDAMMTE SCHEISSE NOCHMAL?!“ Und endlich verstummten sie, was mich selbst überraschte. -„Ihr habt doch keine Ahnung, was für Kopfschmerzen ich heute Morgen hab! Ich bin schon so ein ungeduldiger Mensch, aber heute hängt meine Geduld wirklich am seidenen Faden! Also haltet eure Mäuler, um Gottes Willen, ich kann mich kaum denken hören ...“ -„Lovino … sie sind jetzt still“, wies mich Ludwig hin. „Wenn du solche Kopfschmerzen hast, dann sei bitte leise.“ Dieses verdammte blonde Arschloch! Wie konnte er es wagen, sich mit mir in meinem eigenen Haus anzulegen? Hatte er keine Manieren? Ich wollte ihm schon einige Sachen an den Kopf werfen, die mir schon im Kopf rumschwirrten seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte, aber Antonio schien meine Absichten schon vom Weiten zu riechen, denn er fasste mich bei den Schultern, beruhigte mich mit ein paar tröstenden Worten und setzte mich aufs Sofa. -„Fangen wir an?“, fragte er und rief die anderen Länder mit einer Handbewegung zu uns. Ich für meinen Teil, versuchte dagegen, ruhig zu bleiben, bevor mir noch eine wohlverdiente Beleidigung an Ludwig entschlüpfte. -„Wer ist es, der …? Ich glaube, du, Arthur“, sagte Antonio und machte Arthur Platz, damit dieser sich neben mich setzen konnte. „Es war damals, als du diesen üblen Trick bei mir versucht hast.“ -„So ist es, deshalb bin ich hier.“ Er lächelte und nahm mit übereinandergeschlagenen Beinen Platz. „In welchem Jahr war das nochmal genau?“ -„Die Österreicher waren immer noch bei mir zu Hause“, antwortete er ihm angestrengt nachdenkend. „Aber ich weiß nicht mehr ob es die Epoche von Felipe II oder Felipe III war. Obwohl, an eins kann ich mich erinnern … es geschah als wir beide noch Piraten waren.“ -„Ja, stimmt“, pflichtete ihm Arthur bei und blickte mich direkt an, mich mit seinen grünen Augen beurteilend. „Damals wollte Königin Elisabeth I die Schätze haben, die die Spanier aus Südamerika mitbrachten, also heuerte sie mehrere Piraten an damit sie spanische Frachtschiffe angriffen, und im Gegenzug versprach sie ihnen Titel.“ -„Die sogenannten „Freibeuter““, erklärte mir Antonio. -„Ja, … Gut, in Wirklichkeit war das eine Strategie ...“ -„Was für eine Strategie?“, fragte ich und machte es mir auf dem Sofa bequem. -„Natürlich wollten wir Engländer das Gold aus Südamerika, aber auch, dass Spanien … sich mehr auf seine Schiffe und seine Fracht konzentriert als auf seine europäischen Territorien, um … ähm ...“ -„Um sie mir zu stehlen?“, fragte Antonio lächelnd. -„Niemals! Wir Engländer sind keine Diebe!“ -„Und wie nennst du dann diese Truppen von Freibeutern?“ -„Du selbst hast die Ureinwohner bestohlen, du Dreckskerl! Schau zuerst auf deine eigenen Fehler bevor du ...“ -„Verdammt, wollt ihr mir wohl endlich erklären, was passiert ist?“, fragte ich sie mit all meiner Liebenswürdigkeit, die mich auszeichnete. Arthur versuchte, sich zu beruhigen, er fuhr sich durchs Haar und gab einen tiefen Seufzer von sich. -„Es war ein Befehl der Königin. Wenn es nach mir ginge, wäre ich lieber daheim in meinem London geblieben als in einer sinnlosen Mission durch die Welt zu reisen. Ich fuhr inkognito mit dem Schiff, besorgte mir ein kräftiges Pferd und ritt durch ganz Europa bis zu deinem Haus ohne gesehen zu werden, da ich persönlich mit dir sprechen musste.“ -„Und warum, zur Hölle, wolltest du mit mir reden? Ich war doch nur ein Untergebener Spaniens, nicht?“ -„Genau deshalb … Als ich dich das erste Mal sah, wirktest du wie elf oder zwölf. Du hattest ein schmutziges und unordentliches Kleid an und dazu ein kleines Kopftuch, bei dem du sehr darauf aufgepasst hast, diese seltsame Locke nicht festzuklemmen. Du schnapptest dir den Besen und versuchtest, ihn in einem Wutanfall in zwei Teile zu brechen, aber du hattest nicht die nötige Kraft dazu. -„Brauchst du Hilfe?“, wollte ich wissen als ich sah wie du deine Tränen, die du vor Wut vergossen hattest, trocknetest. Du blicktest mich erschrocken an ohne zu wissen, was du tun solltest, aber schnell blitzte die Wut wieder in deinen Augen auf und du wolltest mich rausschmeißen. -„Raus hier, raus, hier darf Keiner rein!“, schriest du, deinen Besen wie ein Schwert ziehend. -„Oh, ganz ruhig, kleiner Lovino. Ich bin nur zu Besuch gekommen. Ich bin England“, informierte ich dich und reichte dir mit mühevoll vorgetäuschter Nettigkeit die Hand. Die Befehle der Königin waren unmissverständlich gewesen: ich durfte dir keine Angst machen. Du wurdest bleich und entferntest dich umgehend von mir. -„Spanien sagt, du bist böse!“, murmeltest du. „Du darfst dich hier nicht aufhalten!“ -„Ich tu dir nichts, Lovino. Ich will einfach nur mit dir reden ...“ -„Verschwinde, geh woandershin mit deinen Augenbrauen! Ich darf dich nicht sehen, Spanien sagte mir, dass ...“ -„Und du gehorchst ihm natürlich immer?!“, knurrte ich. Meine Geduld war am Ende, Lovino, du hast mich echt auf die Palme gebracht. Du blicktest mich voller Furcht an, was dich aber nicht davon abhielt, mich immer noch rausschmeißen zu wollen. Ich ballte die Fäuste in einem verzweifelten Versuch, meine letzte noch verbliebene Geduld zu sammeln. -„Deswegen bin ich hier, Lovino. Wie würde es dir gefallen, dich für immer von Spanien zu trennen?“ Das war nämlich meine Mission: dich zur Unabhängigkeit zu überreden. Wozu? Nun ja, du warst eine sehr schwache Nation, es wäre eine Leichtigkeit, dich danach zu erobern.“ -„Und warum hast du mich nicht direkt erobert?“, fragte ich ohne einen Sinn in der Sache zu sehen. -„Wir Engländer sind Gentlemen, wir stehlen nicht.“ -„Erzähl das mal Alfred“, warf Deutschland ein, der sich mit meinem Bruder auf dem Schoß auf den Sessel rechts von mir niedergelassen hatte. Ich versuchte, ihn mit Blicken zu töten, bis nichts als Asche von ihm übrigbleiben würde, aber verdammt … warum funktionierte das nur nie? -„Kurz und gut“, fuhr Arthur fort, wobei er Ludwigs Einwand ignorierte. Ich sprach davon, wie schön Unabhängigkeit doch war. Kein Kehren mehr, kein Putzen mehr, kein Servieren des Essens, kein Aufräumen von Büchern und keine Befehle von deinem Boss. Deine Augen glänzten vor Aufregung, das konnte man deutlich erkennen, doch du hattest noch Zweifel. Meine ganze Mühe war jedoch vergeblich, da ein gewisser Jemand unser Gespräch unterbrach. -„Diener!“, lachte Antonio. „Ich bin gekommen, um zu sehen wie es dir so geht, aber als ich sah, dass Arthur bei dir war, konnte ich gar nicht anders, als wütend zu werden.“ In diesem Moment griff Antonio ein und erzählte weiter. -„Was machst du hier? In diesem Haus bist du nicht willkommen, Arthur“, rief ich während ich die Entfernung zwischen uns verringerte und dich in die Arme nahm. „Hat er dir irgendwas getan, Lovino?“ -„Nein.“ Du schütteltest den Kopf und wurdest rot. „Lass mich sofort runter, du Bastard!“ -„Verzieh dich, Arthur, sonst nehme ich mein Schwert und spieße dich damit auf.“ In Arthurs Blick lag etwas zwischen Belustigung und Ärger. Als ihm dann klarwurde, dass er nichts mehr machen konnte solange ich dort war, nahm er mit einem ironischen Lächeln seinen Hut ab, verbeugte sich elegant vor mir und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war. -„Ja, das sieht mir ähnlich“, bemerkte Arthur gutgelaunt. Ich ließ dich runter, so wie du es wolltest, Lovino, aber du warst sehr mürrisch. Du nahmst dir den Besen und fingst an zu Kehren ohne mich auch nur anzusehen. -„Du hättest früher kommen sollen, Idiot. Du hast mich ja nur drei Jahre allein gelassen“, sagtest du ohne den Blick vom Boden abzuwenden. -„Ich war mit diesen verdammten Engländern beschäftigt, das hab ich dir doch schon gesagt.“ In diesem Moment entdeckte ich die Verletzung auf deiner Hand. Sie war so tief, dass das Blut den Besenstiel hinuntertropfte. „Lovino? Woher hast du das?“ -„Das ist nichts Besonderes, nur ein Splitter“, murmeltest du und zeigtest ihn mir ganz langsam. Er war ziemlich groß und steckte tief in deiner Handfläche. Mir tat allein schon der Anblick weh, also nahm ich dich trotz deiner Wutanfälle und Beschimpfungen in die Arme und trug dich in die Küche. Es war der einzige Weg, dich zu tragen, ohne dass du dich an einem Möbelstück festhalten könntest, um mir zu entkommen. Vorsichtig entfernte ich den Splitter und wusch die Wunde gründlich mit Wasser aus. Ich machte dir einen Verband und lächelte dich so wie immer an. -„Besser?“, fragte ich während ich den Verband streichelte. -„Nein“, antwortetest du und wandtest den Blick ab. Amüsiert küsste ich deine Handfläche. Voller Überraschung drehtest du deinen Kopf wieder zu mir, wurdest wieder rot und schaudertest. Mir gefiel diese Reaktion sehr, es war der einzige Weg, dir direkt in deine goldenen Augen sehen zu können. -„Und wie ist es jetzt, besser?“ -„Halt's Maul, Bastard“, antwortetest du mit einer Stimme voller … Entschuldigt mich bitte, aber ich muss gehen.“ Spanien hörte auf zu reden, bedeckte seine Augen mit der Hand und stürmte sehr aufgeregt Richtung Tür. Ich schluckte während ich versuchte all diese gerade erhaltenen Informationen zu verdauen. Als Antonio … den … ähem … Kuss erwähnt hatte, hatte ich gespürt wie mein gesamter Körper darauf reagierte, es war beinahe so, als würde Spanien in diesem Moment wirklich meine Handfläche küssen. Was meinen Magen daraufhin veranlasste, sich umzudrehen und eine gewisse Unruhe kam in mir auf. -„Wa-Was ist mit diesem verdammten Idioten los?“, fragte ich in dem Versuch, dieses seltsame Gefühl zu vergessen, das mich nicht losließ wenn er sich in der Nähe befand. Ich beobachtete wie sich alle gegenseitig auf sehr unbehagliche Weise anblickten und nicht wussten, ob sie reden sollten oder nicht. -„Ich schau mal nach, was mit Spanien los ist. Kommst du, Ludwig?“, fragte Feliciano und erhob sich vom Schoß des Riesen. -„Natürlich.“ Und dann stürmten sie blitzartig aus dem Zimmer. Schließlich ergriff Alfred wieder das Wort und durchbrach so die Stille. -„Hahahaha, Lovino!“ Er warf sich rasch aufs Sofa, genau zwischen Arthur und mir. „Ich glaube, jetzt bin ich mit Reden dran.“ -„Aber ...“ Ich hasste es, wenn das Thema so schnell gewechselt wurde, vor allem, wo ich wusste, dass man mir etwas ziemlich Wichtiges verheimlichte. -„Okay, ein paar Jahre später … oder war es ein Jahrhundert? … und nach mehreren gescheiterten Versuchen“, fuhr er fort ohne mich gehört zu haben. „ ... kam Arthur in mein Land, nahm mich mit und wir gingen gemeinsam wieder zu dir nach Hause. -„Wir werden versuchen, Romanos Unabhängigkeit von Spanien zu erreichen. Hilfst du mir dabei, Alfred? Du musst Lovino beruhigen, dich zu seinem Freund machen. Das wird schwierig, deshalb musst du mir versprechen, alles zu tun, was in deiner Macht steht“, sagte er mir bevor wir dein Haus betraten. Ich nickte und wir traten ein. Dieses Mal würde Spanien nicht kommen, darin waren wir uns sicher, da er viel zu sehr mit einigen Angelegenheit beschäftigt war, von denen mir Arthur nichts erzählen wollte.“ -„Wir hatten an Malagas Küste ein paar spanische Schiffe in Brand gesetzt“, verkündete Arthur mit einem gemeinen Grinsen. -„Also hatten wir freie Bahn“, erzählte Alfred weiter. „Arthur brach das Türschloss mit Hilfe eines Dietrichs auf, er fluchte zwar, weil es wohl vor Kurzem ausgetauscht worden war, hatte aber trotzdem keine große Mühe, die Tür aufzubekommen. Wir betraten den Wohnraum, er ging damals mit seinem Schwert in der Hand voraus und ich folgte ihm. Ich weiß noch, dass mir dein Haus gefiel, denn obwohl es ziemlich unordentlich war, war es warm und gemütlich. Zu der Zeit sahen wir beide gleich alt aus, etwa wie 13 oder 14 Jahre, aber wegen dieses weißen Kleides, von dem du dich nicht trennen konntest, wirktest du viel kleiner als ich. Arthur versuchte noch einmal, dich wieder zur Unabhängigkeit von Spanien zu überreden, aber … nun ja, er merkte nicht, dass ich ebenfalls zuhörte.“ -„Ja, das war mein Fehler“, sagte er traurig lächelnd. -„Warum?“, fragte ich. -„Weil mir bewusst wurde, wie wundervoll Unabhängigkeit sein konnte und wie sehr es meinen Leuten zugute käme“, antwortete mir Alfred. „Und nach vielen Kämpfen mit Generälen und Soldaten war ich es, der sich unabhängig machte.“ -„Hör auf, mir deswegen wieder Vorwürfe zu machen, Idiot.“ Man sah Arthur die Schmerzen an, die ihm diese Erinnerung verursachte. -„Es tut mir leid, Iggy“, entschuldigte er sich und verschränkte seine Finger mit denen des Anderen. „Aber du hast mir doch schon verziehen, oder?“ Alfred näherte sich auf höchst verdächtige Art Arthurs Gesicht und sagte ihm etwas, was ich nicht mitbekam. Doch als er sich wieder entfernte, merkte ich, dass Arthur glühend rote Wangen hatte. „Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, meine Unabhängigkeit!“ -„Was hat deine Unabhängigkeit mit alldem zu tun?“, wollte ich mit verschränkten Armen wissen. In mir kam der Verdacht auf, dass Alfred ein Egozentriker war. -„Sie ist sehr, sehr, sehr wichtig. Das ist die Unabhängigkeit des Hero! Hahahahaha!“ Gott, wie ich sein aufdringliches Lachen verabscheute. Ich hatte Lust, mir die Ohren mit Kissen zu bedecken. -„Ja … also das … obwohl ich nun unabhängig war, konnte ich mein Versprechen an Iggy nicht vergessen. Also kehrte ich wieder zu dir nach Hause zurück. Ich ärgerte dich, weil du seit unserer letzten Begegnung kein Stück gewachsen warst, ich aber dagegen schon wie ein Erwachsener aussah. Du hattest schlechte Laune, noch schlechter als sonst, und hörtest mir schweigend zu. Als ich fertig war, nicktest du und sagtest nur: „Da ist die Tür.“ Enttäuscht ging ich, nahm ein Schiff und kehrte nach Hause zurück ...“ Und da wurde es schlagartig still. Offensichtlich hatte er mir nichts mehr zu sagen. -„Und das war's?“, fragte ich und wollte ihn ermutigen, mir mehr zu sagen. „Mehr hast du mir nicht zu erzählen?“ Er zuckte mit den Achseln. -„Das Einzige, was ich weiß, ist, dass du dich ein Jahr später von Spanien unabhängig gemacht hast.“ Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- Verdammter Spanien, dieser blöde Bastard, der glaubt, er wäre der sympathischte Hausherr der Welt mit seinem ewigen Lächeln und seiner ewigen Nettigkeit. „Könntest du dich um die Tomatenernte kümmern, Lovino?“, hatte er mich ganz lieb gefragt und mir dabei sanft den Kopf gestreichelt. „Ich komme nächsten Monat zurück, das verspreche ich dir.“ Einer nach dem anderen waren die Monate vergangen, doch Antonio war nicht zurückgekehrt. Nicht, dass es mich überraschte, Spanien war immer viel zu sehr damit beschäftigt, Verträge abzuschließen, Kriege zu planen, gegen die Ureinwohner zu kämpfen, Feste zu organisieren und mit den anderen Ländern Champagner zu trinken. Selbst wenn er vorbeikam, um nach seinem Bediensteten zu sehen (also mir), blieb er ein paar Wochen um dann wieder mit einem Versprechen zu verschwinden, das er niemals hielt. Wie konnte ich da also erwarten, dass er mir auch nur das kleinste bisschen Respekt entgegenbrachte? Wie konnte ich erwarten, von ihm als Land anerkannt zu werden, das diesselben Rechte und Pflichten wie all die anderen hatte? Wie konnte ich nur wollen, dasss er mich so ansah wie ich ihn und mich liebte …? Als es drei Mal an der Tür klopfte, verschwanden diese Gedanken aus meinem Kopf. Na ja, gut, so stark hat er sich jetzt nicht verspätet. Es konnten Jahre vergehen, bis Antonio einen Fuß in dieses Haus setzte, aber natürlich würde ich ihn deswegen nicht mit offenen Armen empfangen, oh nein. Ich würde ihn wie immer mit einem wütenden Gesicht begrüßen, ihn von mir schieben wenn er mich umarmte, ihn mit dem Besen verhauen und ihn dann fragen wo, zur Hölle, er gesteckt ha- „Hallo, Lovino“, grüßte mich ein blonder Junge von etwa 19 Jahren, der ein paar Köpfe größer war als ich. „Äh ...“ Ich sah zu ihm hoch. Er schien eine lange Reise hinter sich zu haben, denn er roch nach Meer, Algen und Schweiß und hatte feuchte Kleidung und abgenutzte Stiefel an. Er zog sich den Hut vom Kopf und zauste sich ein wenig durchs Haar bevor er mich erneut ansah und dümmlich anlächelte. „Wer, zum Teufel, bist du?“ „Oh, Lovino, erinnerst du dich etwa nicht an mich? Wie enttäuschend, hahaha.“ Der Junge blickte mich an, seine ozeanblauen Augen glänzten einen Moment lang vor Belustigung. „Ach, komm schon, Lovino, ich bin Alfred.“ „A … Alfred?“, wiederholte ich ohne das alles so recht glauben zu können. „Ja, Alfred. Oder die Vereinigten Staaten, wie ich jetzt genannt werde, hahaha. Du weißt schon, der Bru-, der ehemalige Bruder von England“, verbesserte er sich mit Traurigkeit in der Stimme. Ich sah ihn nun mit neuen Augen. Es war einfach unmöglich, dass dieser junge Mann, der da vor mir stand, derselbe Alfred war, den ich vor einem Jahrhundert kennengelernt hatte. Jener Jugendliche, der ein sanftes Lächeln im Gesicht trug und der mich immer in Rage versetzte, wenn er näherkam um mich zu umarmen, konnte sich nicht in einen so großgewachsenen und selbstbewussten Mann verwandelt haben. „Darf ich eintreten?“, fragte er mich verschmitzt. „Na-Natürlich“, antwortete ich in dem Versuch, aus meinem persönlichen Schock herauszukommen. „Was willst du hier? Spanien ist nicht da.“ „Eigentlich bin ich wegen dir gekommen.“ Alfred nahm auf einem der Stühle, die am Eingang standen, Platz und trank einen Schluck vom Tee, den ich für mich gemacht hatte, doch bevor ich ihn in hohem Bogen hinauswerfen konnte, sprach er weiter. „Weißt du noch, worüber Arthur und ich bei unserem Besuch geredet haben?“ „Ja ...“, antwortete ich schlechtgelaunt imd setzte mich ihm gegenüber. „Über diese blöde Unabhängigkeit.“ „Weißt du, ich hab mich von England unabhängig gemacht.“ Ein dunkler Schatten verdeckte seinen Blick für einen Moment. „Und … es geht mir besser als je zuvor.“ „Ja, das sehe ich“, dachte ich und verschränkte gelangweilt die Arme. Und dann begann er mir zu erzählen wie großartig und wundervoll die Unabhängigkeit doch war. Er sprach von den Weizen- und Maisfeldern, die nach dem Krieg umgepflanzt wurden und dessen Ertrag einzig und allein für die Amerikaner bestimmt war. Nur der Überschuss wurde in andere Länder verkauft. Sie hatten schon einen eigenen Präsidenten, einen gewissen George Washington (was für ein dämlicher Name) und eine Erklärung, in der England seine Unabhängigkeit akzeptierte und ihm den größten Teil seiner Territorien zusicherte, außer dem Zugang zum Fluss Mississippi. Aber ich dachte an keines von diesen Dingen, sondern nur an die immer häufiger werdenden Angriffe von riesigen Gruppen von Italienern, die die Unabhängigkeit verlangten. Natürlich hatte es ich mir durch den Kopf gehen lassen, Spanien einen Vertrag zu übergeben, den er mit Sicherheit nicht unterschreiben würde, um dann damit auf die Straße zu gehen und ihn aus Protest anzuzünden! Aber ich hatte zuviel Angst vor der Unabhängigkeit … ich konnte mich kaum daran erinnern, wie es war ein richtiges Land zu sein ohne dass mir Jemand Befehle erteilte und mit dem ich meine freie Zeit verbrachte. Es war aber auch nicht so, dass ich Spanien „brauchte“, dass ich „ohne ihn nicht leben könnte“ oder dass ich „so viel Angst vor einem Leben ohne Spanien hätte, dass ich kaum in der Lage wäre, etwas zu unternehmen“. Nein, das war es nicht. Ich hatte einfach nur Angst … nicht das Land zu sein, das sich die Italiener erhofften. Also eigentlich gab es da noch ein Problem, das mir nicht aus dem Kopf ging. Ich wuchs mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte. Auf dem ersten Blick sah ich nämlich aus wie ein Fünfzehn- oder Sechzehnjähriger, wie könnte ich also erreichen, dass Spanien mich respektierte? Und Alfred, der mehr als tausend Jahre jünger war … nun ja, den Unterschied konnte man schon deutlich erkennen. „ … und stell dir das mal vor! Du triffst deine eigenen Entscheidungen ohne dass dich Jemand zwingt, das Gegenteil davon zu tun!“, fuhr Alfred fort, ohne zu merken, dass ich nicht mehr zuhörte. „Eine Frage, Alfred ...“ Dass ich ihn zum ersten Mal ansprach, überraschte ihn sichtlich. „Wann bist du eigentlich so gewachsen?“ Diese Frage schien den Jungen ein wenig aus der Fassung zu bringen. „Äh … also … ich glaube, das war während meine Unabhängigkeit in vollem Gange war, als ich mehr Territorien bekam. Und als die Leute anfingen, sich für unsere Sache zu vereinigen, wurde ich stärker.“ Ich dachte einen Augenblick nach, genau die Zeit, die ich benötigte, um eine Entscheidung zu treffen. „Perfekt. Da ist die Tür.“ Und dann schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Die Zweifel, die mein Hirn all die Jahre lang bevölkert hatten, waren wie weggeblasen und als ich die Worte „Unabhängigkeitsvertrag von Italien“ niederschrieb, zitterte nicht einmal meine Hand. Im Laufe der letzten Jahrhunderte war es sehr hart für mich, Jemanden zu lieben, für den ich nichts weiter als ein Kind war. Wenn ich also wollte, dass Spanien eines Tages etwas für mich empfindet … dann musste ich für immer mein Dasein als einfacher Untergebener aufgeben und ihm ebenbürtig sein. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Erschöpft wachte ich auf. Sehr erschöpft. Ich konnte mich kein bisschen an dieses Gefühl gewöhnen alles wieder in den paar Stunden Schlaf, die ich bekam, wieder neu zu durchleben. Es war schon seltsam: Obwohl ich sehr wohl wusste, dass ich im Schlaf wieder alles zum zweiten Mal erlebte, war ich beim Insbettgehen viel zu aufgeregt, um einzuschlafen, auch wenn ich so müde war, dass ich kaum die Augen offen halten konnte. Ich konnte nicht aufhören zu denken: „Und was war mit meinem Bruder geschehen?“, „Was ist zwischen Arthur und Alfred passiert?“und „Wie hatte ich meine Unabhängigkeit erreicht?“ Natürlich verschwanden diese Zweifel beim Aufwachen, doch dieses Mal konnte ich einfach nicht ruhig bleiben. Da war er nun, der Beweis, dass meine Gefühle für Antonio im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zugenommen hatten. Und natürlich hatte er sie niemals erwidert, denn andernfalls hätte er den Unabhängigkeitvertrag nicht einfach so unterschrieben, ihn mir lächelnd zurückgegeben und sich dann so schnell wie immer aus dem Staub gemacht. Was mich schrecklich traurig und einsam fühlen ließ. Ah, ich muss aufhören, daran zu denken. Was geschehen ist, ist geschehen und es gab keine Möglichkeit, es zu ändern. Also stand ich auf, zog mir einen grauen Pullover und schwarze Jeans an , bereit, meine Vergangenheit noch einmal zu durchleben. Ich verließ das Zimmer und sofort durchbohrten stechende Kopfschmerzen mein Hirn, so wie jeden Morgen beim Aufwachen in diesem Haus. Ich murrte und torkelte wie ein Betrunkener Richtung Küche, bereit, die ganze Kaffeekanne in einem Zug leerzutrinken. Als ich eintrat, entdeckte ich Antonio, der mit einer Tasse in der Hand dasaß und sein Handy der neuesten Generation anstarrte. „Gu … Guten Morgen.“ Er hob den Blick und seine eiskalten Augen hellten sich für einen Augenblick auf … bevor sie sich wieder verfinsterten. „Hallo, Lovino, willst du Kaffee?“ Ohne auf eine Antwort zu warten reichte er mir eine Tasse. „Danke“, murmelte ich gedehnt und führte die Tasse an meine Lippen. Der Kaffee war schwarz, heiß und sehr süß. So wie ich ihn mochte. „Gut geschlafen?“, wollte er wissen während er aufstand um die Reste des gestrigen Abendessens wegzuräumen, das mein Bruder versprochen hatte, zuzubereiten. „Wie immer … seit ich hier bin, kann ich nicht gut schlafen. Einschlafen ist unmöglich, wenn man weiß, dass man viele Dinge aus seinem Leben noch nicht kennt. Es macht mich … unsicher.“ Spanien nickte unmerklich während ich mir den Kopf zerbrach, warum ich so ehrlich zu ihm war. „Und was ist mit dir?“ Spanien glitt die Tasse aus der Hand, fiel auf den Boden und zersprang in tausend Stücke. „Tut-Tut mir leid“, entschuldigte er sich und machte sich umgehend daran, die Scherben einzusammeln. „Ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen.“ „Pass besser auf, du Idiot. Diese Tassen sind antik.“ Ich gesellte mich zu ihm und half ihm beim Aufräumen, vorsichtig, um mich nicht zu schneiden. „Es ist schlecht, so wenig … oder gar nicht zu schlafen“, murmelte ich und versuchte dabei, ihm nicht in diese grünen Augen zu blicken. Doch dies gestaltete sich als eine Sache der Unmöglichkeit. Vor allem, als er mich bei den Wangen nahm und mich zwang, ihn direkt anzusehen. Er schien so … so traurig. So hilflos. Es muss schon etwas richtig Fürchterliches passiert sein, um ihn sein immerwährendes Lächeln und seine ewige Fröhlichkeit verlieren zu lassen. Ich hatte große Lust, ihn zu fragen was geschehen war, ihn zu umarmen und zu trösten, ihm den Kopf zu streicheln und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde. Und dann … und dann … „DA SIND WIR NUN!“, ertönten ein Paar Stimmen hinter unseren Rücken. Nachdem ich den größten Schrecken meines Lebens bekommen hatte, drehte ich mich um, ein paar Beleidigungen bereits auf den Lippen parat. Ich musste zugeben, so einen Jungen hatte ich mein Leben lang nicht gesehen. Obwohl er sehr jung zu sein schien, hatte er gräuliches Haar und dazu noch rote Augen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, Jemanden mit so seltsamen Eigenschaften gekannt zu haben. Den anderen kannte ich dafür sehr gut. Viel zu gut. „Francis!“ Ich wich so weit wie möglich vom Eingang zurück und schnappte mir einen Holzlöffel zur Verteidigung, da ich mir ganz sicher war, dass er mich wieder jagen würde. „Oh, Lovino, mon amour“, begrüßte er mich nachdem er Spanien umarmt hatte. „Und so empfängst du mich also? Nach all unseren schönen Momenten unter der Bettdecke als du mich angefleht hast, dich zu dem Meinen zu machen?“ „Wa-Was sagst du da? Sowas hätte ich niemals getan!“, fragte ich erschrocken. „Honhonhon, er erinnert sich wirklich an nichts.“ Francis lächelte und ein kleines Vögelchen flog hinter seinem Rücken hervor um sich auf seine Schulter zu setzen. „Ganz ruhig, Lovino, ich werde dir nichts tun. Jetzt hab ich ja einen gewissen Kanadier zu Hause, dem ich all meine Liebe geben kann, stimmt’s, Pierre?“ Frankreich tätschelte liebevoll den Kopf seines Haustieres. „Unsere Geschichte d’amour ist seltsam, vous savez? Alles begann mit einer Wette …“ Weiterreden konnte Francis aber nicht, da sein kleines Vögelchen ihm von der Schulter sprang und auf den hölzernen Tisch zuflog, wo ein gelbes Küken auf es wartete, das ein wenig größer war als es. Sie hüpften aufeinander zu, doch bevor sie sich berühren konnten, kam der Albino und nahm das Küken hastig an sich. „Nein, nicht schon wieder, Gilbird!“, tadelte er und steckte es in seine Jackentasche. „Und da bleibst du jetzt.“ Er drehte sich um und zeigte auf das Vögelchen, das angefangen hatte, zu protestieren. „Und du, du blöder Vogel, hör auf, die süße Unschuld meines kleinen Kükens auszunutzen! Komm Gilbird nicht näher als zwei Meter!“ Das war die irrealste Szene, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. „Ach, Gilbert! S’il vous plaît, c’est l’amour!“ „Halt die Klappe, Perversling, du weißt doch gar nicht, wovon du redest.“ Gilbert (ja, so hatte Frankreich ihn genannt) wandte sich mir zu, nahm mir den Löffel aus der Hand und legte mir den Arm um den Hals. „Ah, Romano, du hast die Ehre, den Awesome zwei Mal kennenlernen zu dürfen. Bist du etwa nicht glücklich darüber? Kesesesesese.“ „Nimm die Hände da weg, du Idiot“, bat ich ihn mit meiner typischen Liebenswürdigkeit und zahlte es ihm mit ein paar Faustschlägen heim. Rasch flüchtete ich mich an Spaniens Seite, der in einer Küchenecke stand und sich totlachte. „Er … ist … ein guter Freund, Lovino. Er ist Preußen“, erklärte er mir während er sich die Tränen mit dem Handrücken wegwischte. Ich verstand kein bisschen, was daran so lustig war. „Deutschland ist in zwei Zonen unterteilt: den Osten und den Westen. Preußen gehört der östliche Teil des Landes …“ „Aber trotzdem kann sich ein Awesome wie ich doch nicht seinem kleinen Bruder unterordnen, das ist eine Beleidigung!“ Er kam auf mich zu und begann, zu meinem Entsetzen, in mein Ohr zu flüstern. „Wie würde es dir gefallen, wenn wir uns zusammenschließen, Lovino? Wir stürzen dann unsere kleinen Brüder und unsere jeweiligen Länder gehören uns ganz allein …“ „Ich hab dir doch gesagt, komm mir nicht zu nahe!“, schrie ich bevor ich ihm den wohlverdienten Schlag verpasste. Dieser war so kräftig, dass der Kerl auf dem Boden liegen blieb, mit der Hand auf der getroffenen Stelle im Gesicht. Und wieder brachen Frankreich und Spanien in brüllendes Gelächter aus und machten sich über die verletzte Nation lustig. Hat er nicht gesagt, sie wären Freunde? Mir erschien ihre Beziehung viel zu seltsam, um „Freundschaft“ genannt zu werden. „Das …ist … nichts für mich“, sagte Preußen und stand so würdevoll vom Boden auf wie es nur ging. „Und das wo, ich, so awesome wie ich bin, mich dazu niedergelassen habe, hierherzukommen und dir beim Erinnern zu helfen, verdammter Undankbarer.“ „Ich brauche deine beschissene Hilfe nicht, du Bastar-…“, aber bevor ich weiterschimpfen konnte, legte Antonio mir seine Hand auf den Mund. „Wir sind dir sehr dankbar, dass du gekommen bist, Gilbert.“ Und dann schenkte ihm dieser Verräter auch noch ein strahlendes Lächeln, eins von der Sorte, die er mir in letzter Zeit fast gar nicht gezeigt hat. Ha, als ob mir das was ausmachen würde … „Perfekt. Also, während Gilbert Lovino beim Erinnern hilft …“ Frankreich nahm Spaniens Handy. „ … helfe ich dir bei deinen Angelegenheiten.“ Plötzlich warf sich Antonio auf Francis und drückte ihn fest an sich. In diesem Moment spürte ich etwas Bitteres in meiner Kehle aufsteigen, keine Ahnung ob es Wut, Verwirrung oder einfach nur Mordlust war. Als wir zum Wohnzimmersofa gelangten, das sich mittlerweile in unseren Treffpunkt verwandelt hatte, teilte man mir mit, dass Amerika angeboten hatte, Einkaufen zu gehen und mit England im Schlepptau gegangen war und dass mein Bruder Hand in Hand mit Deutschland irgendwohin verschwunden war (Spanien musste mich gut festhalten, damit ich ihnen nicht mit einem Gewehr nachlief). Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, zeigte mir Preußen ein sehr abgenutztes Buch mit gelblichen Seiten, auf dessen Einband in goldenen Lettern TAGEBUCH DES AWESOME BAND 157 stand. „Oh nein, Gilbert, bitte sag mir nicht, dass du aus deinem Tagebuch vorliest“, flehte Antonio, immer noch meine Hand haltend, damit ich nicht weglief. „Was glaubst du denn, warum ich so spät gekommen bin? Ich musste den Band finden, in dem Lovino zum ersten Mal auftaucht, und da ist er!“ „Oh, Gott, das wird ein langer Tag“, jammerte die grünäugige Nation bevor er es sich auf dem Sofa bequem machte und mit halbgeschlossenen Augen dasaß. Wenig später verstand ich seinen gelangweilten Gesichtsausdruck. „Ich fange an … 11. Februar im Jahre unseres Herrn 1858 So awesome wie ich bin, stand ich schon auf, bevor sich die Sonne hinter den Bergen erhob. Meine Köchin Caroline bereitete mir Rühreier mit vier Scheiben Brot, Milch und Honig zu. Da es ein langer Tag werden würde, musste ich Kräfte sammeln. Nach dem Frühstück ging ich los um meinen kleinen Bruder zu wecken und war sehr überrascht, festzustellen, dass Ludwig schon auf den Beinen war, vollständig angezogen und bereit, einen neuen Tag mit mir zu verbringen …“ „Warum gehen wir nicht direkt zu der Stelle, wo du mich kennenlernst und das war’s?“, fragte ich ein bisschen naiv. „Aber das ist das Leben des Awesome! Und du hast die Ehre, es zu hören …“ „Das interessiert mich kein Stück“, warf ich ohne Nachzudenken ein. „Lovino, sei ein wenig netter. Gilbert ist gekommen, um dir zu helfen“, ermahnte Antonio mich liebevoll. Er hatte Recht, das wusste ich. Ich war wohl ein wenig ungerecht zu ihm gewesen, doch ich war an dem Tag mit dem falschen Fuß aufgestanden als ich erfahren hatte, dass ich mein ganzes Leben lang in Spanien verliebt gewesen war und er niemals meine Gefühle erwidern würde … aber trotzdem versuchte, ich mich zu beherrschen. „Na gut … ich denke, ich kann ein wenig vorspulen.“ Gilbert blätterte ein paar Seiten vorwärts. Er las und übersprang nochmals fünf. „Aha! Hier ist es … Nach dem Mittagessen stattete Francis mir einen kleinen Besuch ab, der sich rasch in eine Besprechung verwandelte und noch schneller in ein Flehen. „Sagst du mir jetzt endlich, was du von mir willst? Hör auf, um den heißen Brei herumzureden, ich hab sehr wichtige Dinge zu erledigen.“ „Ah, verehrter Gilbert, hab ich dir schon mal gesagt wie sehr ich dich wertschätze und bewundere für deine Genialität und ...“ „Das alles weiß ich schon selbst. Komm zur Sache.“ „Schon gut, schon gut. Du weißt sicher schon , dass Napoleon III sich mit Romano vereinigen will, weil er Verbündete braucht. Dafür hat er ihm sogar die Grafschaft Nizza versprochen. Gut, Romano hat sich tausend Mal geweigert, weil er weiß, dass ich hinter Napoleon stehe und er hasst mich, keine Ahnung warum ...“ „Er wusste nicht, warum ich ihn hasse?“, brach es plötzlich aus mir raus. „Aber er hat mich mit seinen Verfolgungsjagden keine Minute lang in Ruhe gelassen!“ „Ganz ruhig, Lovino.“ Antonio legte mir einen Arm um die Schultern, eine Geste, die mich ziemlich überraschte. „Das alles ist lange her ...“ „Schon, aber mir kommt es wie gestern vor“, erklärte ich ihm und schüttelte ihn ab. Er konnte nicht erwarten, dass seine Zärtlichkeiten erwiderte nachdem er mich tagelang links liegen gelassen hatte. „Habt ihr vor, mich noch weiter zu unterbrechen?“ „Tut mir leid, Gilbert“, entschuldigte sich Antonio und versuchte, Distanz zwischen uns beiden zu schaffen. „Gut, ich fahre fort … „ … aber Romano hat zu einer Unterredung mit Napoleon eingewilligt, wenn du uns begleitest.“ „Ich? Was könnte dieses Kind von mir wollen? Ich kenne ihn nicht einmal, jedes Mal wenn ich mich um eine Angelegenheit in Bezug auf Italien kümmern musste, redete ich mit Spanien.“ „Er sind schon mehr als 60 Jahre vergangen, seit er sich unabhängig gemacht hat, mon chéri. Wir müssen damit anfangen, mit Romano politische Fragen zu behandeln.“ Es war ungewöhnlich „mon chéri“ mit einem deutschen Akzent zu hören, doch ich schluckte meine Bemerkungen hinunter und hörte weiterhin zu. Also, eigentlich gab es nichts mehr zum Zuhören, denn so wie es aussah, hatte Gilbert eine sehr lange Reise von Preußen nach Italien gemacht, die er uns mit allen Einzelheiten schilderte: dass sie von Banditen angegriffen wurden, an welchem Tag sie in welchem Dorf gegessen hatten, dass er und Francis sich in der inmitten der Reise gestritten und wieder versöhnt hatten – an der Stelle ist Gilbert verdächtig rot geworden - , dass er sich ein Buch gekauft und in Vollmondnächten gelesen hatte, dass sie geangelt und gejagt hatten, dass er ein Spielzeug für Ludwig gekauft hatte, und dann noch eins und noch ein drittes, wie sie gemerkt hatten, dass Pierre und Gilbird eine besondere Liebesgeschichte durchlebten … und danach kam noch ein riesiges Etcetera, das sich über mehr als 200 Seiten hinzog. Als es dann schließlich 15 Uhr wurde und ich vor Hunger starb, kamen die beiden Nationen erschöpft in Italien an und wurden von mir, so wie es aussah, mit einem Festmahl begrüßt. Beim Essen hatte ich mich angeregt mit Napoleon III unterhalten, der sehr daran interessiert schien, mich persönlich kennenzulernen und als Verbündeten zu haben. Ich hatte mit Vergnügen eingewilligt, aber unter einigen Bedingungen (außer Nizza wollte ich noch Savoyen und bekam beides). Und nach dem Nachtisch hatte ich die Franzosen freundlich gebeten, sich zurückzuziehen, da ich noch Einiges mit Preußen zu besprechen hätte. „Also echt, Lovino, du hast mich damals ziemlich überrascht.“ „Wieso?“, fragte ich und öffnete schlagartig die Augen, weil ich während des Reiseberichtes halb eingeschlafen war. Und Preußen fing erneut an, aus seinem Tagebuch vorzulesen. „Endlich lernen wir uns kennen.“ „Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hab ich das Gefühl, dich schon zu kennen, Lovino. Spanien hat viel von dir gesprochen.“ Nachdem er diese Worte vernahm, hüllte sich Romano in kurzes Schweigen. Doch es dauerte nicht lange. Er ignorierte meine letzte Bemerkung und schlug mir ein seltsames Angebot vor, das ich ohne Weiteres ablehnte: Jeder wusste, dass der Krieg gegen die Österreicher immer näher kam, und er bat mir seine Hilfe in Form von Waffen, Soldaten und Lebensmitteln an. Im Gegenzug wollte er die Region Venetien, die zu Österreich gehörte. „Venetien? Venetien gehört seit dem Wiener Kongress Österreich und das weißt du ganz genau.“ „Besieg ihn und erobere Venetien. So einfach ist das.“ „Da sieht man, dass du noch ein Kind bist, Romano. Glaubst du etwa, Krieg sei ein Spiel für kleine Kinder, bei dem sich jeder das nimmt, was er will? Bedaure, es dir sagen zu müssen, aber so einfach ist das nicht.“ „Aber du brauchst doch Lebensmittel und Soldaten!“ „In jedem Krieg braucht man Lebensmittel und Soldaten, doch du bist nicht in der Lage, sie mir zu geben. Lass dir mal eine Sache erklären: wenn ein Land gerade seine Unabhängigkeit erreicht hat, dann haben seine Einwohner keine Lust, es zu verlassen. Sie beginnen, ihre Freiheit zu genießen indem sie Dörfer bauen, Felder pflügen, Waren kaufen und verkaufen und damit letzten Endes die Wirtschaft des Landes auf die Beine bringen. Gewöhnlich bringen sie ihre Kinder und Enkel dazu, dasselbe zu tun, also rechne ich damit, dass du noch eine Generation warten musst, bis du Außenpolitik machen kannst. Ich will deine Hilfe nicht, die du mir sowieso nicht geben kannst.“ Und mit diesen Worten erhob ich mich vom Tisch und ging in mein … Preußen erzeugte einen Spannungsmoment und las das Geschriebene noch einmal mit gerunzelter Stirn und ungläubigem Gesichtsausdruck durch. „Seltsam“, murmelte er nachdem er das Tagebuch geschlossen und sorgfältig in einem antiken Wams versteckt hatte. „Ich erinnere mich an den Krieg gegen Österreich, nun ja, ich erinnere mich an alle Kriege“, fügte er lächelnd hinzu. „ … und ich glaube, ich hatte dich als Verbündeten, aber das kann eigentlich nicht sein, ein Awesome nimmt niemals seine Worte zurück.“ „Und … Warum dann?“ Das verschmitzte Grinsen, das sich auf Antonios Lippen ausbreitete, gefiel mir kein bisschen. Aber bevor ich es schaffte, auch nur eine einzige Frage zu stellen, erschien Francis in der Tür und gab Spanien sein Handy, das nun einen leeren Akku hatte, wieder zurück. „Alles erledigt, mein Lieber. Du kannst dich beruhigen“, kommentierte Francis und setzte sich neben ihn. „Vielen Dank, ich … ich wüsste nicht, wie ich das sonst schaffen sollte.“ Er sah ziemlich betrübt aus. „Kann mir eigentlich Jemand verraten, was hier los ist?“, fragte ich, verärgert, weil alle Welt seltsame Geheimnisse zu haben schien und Keiner mir etwas erzählte. Die drei verstummten und blickten sich gegenseitig fragend an. Keiner von ihnen sagte auch nur ein verdammtes Wort. „Ah, mir ist gerade etwas Lustiges eingefallen, was in der Nacht als wir nach Italien kamen, passiert ist“, warf Francis mit einem perversen Grinsen ein. Antonio erblasste. „Wag es ja nicht, ihm davon zu erzählen“, drohte er stotternd. „Das wird lustig.“ Und mit diesen Worten machte Gilbert es sich auf dem Sofa gemütlich und beobachtete leicht grinsend Antonios Reaktionen. Francis räusperte sich bevor er weitersprach. „Ich weiß es noch ganz genau: der zunehmende Mond, der Wind, der das Gras hin-und her wiegte und die Blätter der Bäume über meinem Kopf. Ich hatte mir meine besten Kleider angezogen, um dir einen kleinen Besuch abzustatten, Lovino, und mit dir wie ein Kavalier zu sprechen, doch wir kamen nicht dazu.“ „Warum nicht?“, fragte ich naiv. „Ist es wirklich nötig, dass ich das mitanhöre?“ Spanien stand vom Sofa auf und machte sich bereit, zu gehen, als Preußen ihn packte und wieder nach unten zog. „Aber sicher doch. Bitte, erzähl weiter, Francis.“ „Vielen Dank, Gilbert.“ Er räusperte sich noch einmal theatralisch. „Wo war ich? Ah, ja. Also, der Grund, warum ich nicht mit dir sprechen konnte, war, weil du eine ganze Flasche Wein in dich hineingeschüttet hattest und am Tisch eingeschlafen warst. „Antonio, Antonio … Bastard“ murmeltest du und lauter solche Sachen. Und da konnte ich natürlich nicht widerstehen … Ich begann, dir ins Ohr zu flüstern um dich aufzuwecken. Du öffnetest die Augen einen Spalt weit und drehtest den Kopf nach hinten. „Was willst du, Idiot?“, fragtest du. „Dich.“ Und so fing ich an, dich langsam und bedächtig auf die Lippen zu küssen. Ich weiß noch, dass du nach Wein schmecktest, nach Alkohol … und nach Schmerz, da du angefangen hast, mich mit all deiner Kraft ins Gesicht zu schlagen. Doch du warst betrunken und ich der Stärkere, also hielt ich dich an den Armen fest und küsste dich immer fester und fester. Ich hatte so viele Jahrhunderte darauf gewartet, dich zu küssen, dass ich ganz bestimmt nicht die Chance verstreichen lassen würde, dich zu dem Meinen zu machen. Genau dort, auf jenem Tisch.“ „Im Ernst, Francis, ich will nichts mehr hören.“ Ich hielt meinen Arm so fest, dass es wehtat, um ihm nicht die Ohrfeige zu geben, die er so sehr verdiente. „Leise, jetzt kommt die beste Stelle“, mahnte Preußen. „Ich stieß die leere Weinflasche zusammen mit dem Glas vom Tisch“, fuhr Francis fort. „ … die beide auf dem Boden zerschellten und legte dich auf den Mahagonitisch. Du hast weiterhin protestiert und geschrieen, doch nachdem ich deine Lippen gekostet hatte, konnte mich Niemand mehr aufhalten … nun ja, Niemand außer Spanien, der in diesem Moment den Essenssaal betrat, mich von dir wegzog und so schlimm verprügelte wie noch nie zuvor in meinem Leben. „Lovino, alles in Ordnung? Hat er dir irgendwas getan?“ Und diese Worte waren das Letzte, was ich vernahm bevor ich auf dem Boden liegend das Bewusstsein verlor, mit Wunden, die Monate brauchen würden, um zu heilen. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Antonio weigerte sich, mir zu erzählen, was in dieser Zeitspanne passiert war. Nachdem er das alles gehört hatte, stürmte er einfach durch die Tür und wurde nicht mehr gesehen. Er kam weder zum Mittagessen, noch zur Merienda [Anmerkung: Zwischenmahlzeit in Spanien zwischen Mittag-und Abendessen] und auch nicht, um sich mit seinen „Freunden“ zu unterhalten oder zu erklären, warum, zum Teufel, er so viele Stimmungsschwankungen an nur einem Tag hatte (er war doch keine Frau!). Die Schnauze voll von diesem ganzen Mist, ging ich spätabends los, um ihn zu suchen. Ich wusste ganz genau, wo er sich aufhielt, nämlich auf diesem Hügel, hundert Meter von meinem Haus, mit dem Rücken an den einzigen Apfelbaum gelehnt, die Beine an die Brust gezogen und den Sonnenuntergang beobachtend. Und ich hatte mich nicht geirrt. „Antonio?“, fragte ich als ich mich ihm näherte. „Antonio, komm, gehen wir wieder ins Haus, Idiot, es wird langsam kalt hier.“ „Ja … ich komme“, antwortete er mir träge ohne den Blick von dem orange-rötlichen Leuchten abzuwenden, das sich hinter dem Gebirge versteckte. Ich seufzte. Dieses Mal war er nicht nur ein tausendmal größerer Idiot als sonst, sondern auch noch unvernünftig, was ich ihn mit einem kräftigen Tritt ans Schienbein wissen ließ. „Na dann denke ich nicht daran, mich von hier wegzubewegen, bis du wieder ins Haus gehst.“ Und so setzte ich mich stinksauer und mit verschränkten Armen neben ihn. Wenn er schon dickköpfig war, dann konnte ich es noch tausend Mal mehr sein. So verbrachten wir die nächsten Minuten. Er außerstande, mir den Kopf zuzudrehen und mich anzusehen und ich völlig den Verstand verlierend von dieser dämlichen Nation, deren Anwesenheit mein Herz schneller schlagen ließ. Die Farbe des Himmel wandelte sich zu einem bläulichen Violett und als die ersten Sterne anfingen, zu funkeln, brachte ich endlich den Mut auf, ihn erneut anzusprechen. „Kann ich dich eine Sache fragen?“ „Bitte frag mich nicht, was passiert ist, nachdem ich dich vor Frankreich gerettet hab.“ „Nein … das ist es nicht.“ Man sah es ihm an, dass ihm diese Sache ziemlich viel Unbehagen bereitete, also wollte ich das Ganze nicht noch verschlimmern. „Warum … Warum hast du mir die Unabhängigkeit so schnell verliehen? Du hast weder mit mir gestritten, noch für mich gekämpft, du hast gar nichts gemacht um sie zu verhindern. Obwohl ich vermute, dass es andere, wichtigere Angelegenheiten gab, um die du dich kümmern musstest ...“ Antonios Lachen war leise, kühl und abweisend. „Seltsam, das Gleiche hast du mich auch damals gefragt ...“ Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Es lässt sich wohl nicht vermeiden. Ich werde dir erzählen, was passiert ist.“ „Aber das war doch nicht meine Frage!“, dachte ich, beschloss aber, den Mund zu halten um nicht noch mehr kaputtzumachen. „Sobald ich erfuhr, dass Frankreich dich zusammen mit Napoleon besuchen kommen würde, nahm ich mir ein Schiff und fuhr so schnell wie es nur ging zu dir nach Hause. Du standest nicht mehr unter meinem Schutz, da konnte ich mir gar nicht vorstellen, was dieser Perverse dir antun könnte. Leider habe ich mich nicht geirrt … Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine rasende Wut in mir aufkam als ich dich unter seinem Körper liegen sah, protestierend und um dich tretend und nicht in der Lage, dich aus seinem Griff zu befreien. Also eilte ich so schnell wie ich konnte zu ihm, warf ihn zu Boden und ich erinnere mich nicht mehr genau an die Schläge, die ich ihm verpasste, aber ich glaube, meine Knöchel hatten sofort angefangen zu bluten. Obwohl mir das natürlich völlig egal war. „Lovino, alles in Ordnung? Hat er dir irgendwas getan?“, fragte ich mit bebender Stimme. Fast auf der Stelle umarmtest du mich und fingst an, fürchterlich zu zittern. Du hattest schreckliche Angst durchgestanden, doch nicht einmal halb soviel wie ich. Langsam nicktest du und drücktest dich an mich. „Müsstest … du … nicht … eigentlich in deinem blöden Land sein?“ Ich lächelte. Trotz des Traumas, das du gerade hinter dir hattest, hattest du immer noch genug Kraft, um mich zu beschimpfen. „Das Wichtigste ist jetzt, dass ich hier bin und dir nichts mehr Schlimmes passieren wird, Lovi, das versprech ich dir.“ „Du solltest nicht hier sein.“ Mit überraschender Kraft hast du mich nach hinten gestoßen und bist vom Tisch hinuntergestiegen. „Du und ich, wir haben nichts mehr miteinander zu tun.“ „Wie bitte? Ich s-schätze dich immer noch sehr.“ „Daran hättest du denken müssen bevor du mir die Unabhängigkeit verliehen hast, du Trottel.“ „Lovi“ Ich nahm dein Gesicht in meine Hände. In den sechzig Jahren, die wir uns nicht gesehen hatten, warst du so sehr gewachsen. Du warst so groß, so gutaussehend und so schlecht gelaunt wie noch nie. „Ich schenkte dir die Unabhängigkeit, weil du mich darum gebeten hast und wie du ja schon weißt, kann ich dir nie etwas abschlagen.“ Du bist rot geworden und hast mich erneut von dir geschoben. „Die Zeit war gekommen, dich gehen zu lassen und egal was für Schmerzen es mir bereitete, in wäre nicht in der Lage, dich noch länger bei mir zu behalten.“ „Du bist ein Idiot.“ „Das weiß ich, du hast ja gar keine Ahnung, was für einer.“ Und dann küsste ich dich. Antonio küsste mich nicht nur in der Vergangenheit, im 19. Jahrhundert, sondern auch jetzt, in der Gegenwart unter dem Apfelbaum. Mit der einen Hand hatte er meine genommen und mit der anderen meine Wange gestreichelt, dann war er mir langsam nähergekommen und war nun dabei, mich zu küssen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, auf der einen Seite konnte ich mich nicht daran erinnern, ihn jemals geküsst zu haben und wusste deshalb nicht, was zu tun war, doch andererseits reagierte mein Körper ganz von allein. Ich zog ihn enger an mich, meine Hände in seinen Haaren. Es war so, als würde ich dieses unglaubliche Glücksgefühl bereits kennen, wusste aber gleichzeitig nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Also schloss ich die Augen und ließ mich von jenem Gefühl treiben, das meinen gesamten Körper erschaudern ließ. Ganz langsam begannen wir, uns voneinander zu lösen. Mein Herz klopfte wie eine Lokomotive in voller Fahrt und meine Hände hatten immer noch nicht die Absicht, sich aus seinen Haaren zu lösen. Ich wollte mehr von Spanien, viel mehr als nur einen einzigen Kuss, egal wie intensiv dieser auch gewesen sein mochte. Schließlich nahm er meine Hände und legte sie mir in den Schoß. „Danach versprach ich dir, mit Gilbert zu sprechen“, erzählte er weiter, so als ob nichts gewesen wäre. „damit er dich als Verbündeten akzeptiert und dann … verschwand ich.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Zwar wollte ich über das gerade Geschehene sprechen, doch gleichzeitig bekam ich kein Wort heraus. Ich war so verwirrt, ich wollte ihn schlagen, ihn umarmen, ihn erneut küssen und dann wieder von diesem unglaublichen Gefühl mitgerissen zu werden. Doch ich konnte nichts machen, da Spanien sich erhob, sich die Hose richtete und auf mich hinunterblickte. „Gehen wir?“ Immer noch berauscht von dem Geschmack seiner Lippen, nickte ich langsam. Schweigend stand ich auf und wir gingen beide ins Haus zurück, der Stille der Nacht lauschend. Kapitel 6: Kapitel 6 -------------------- Einige Tage nach dem „Unfall“ bat Gilbert mich um eine Privataudienz. Ich grinste. Dass er mir gesagt hatte, ich sei nicht in der Lage an einem Krieg teilzunehmen, würde ich ihm reichlich heimzahlen. Also ließ ich ihn erst einmal stundenlang in seinem Zimmer warten bis ich meinen Haushofmeister bat, ihn passieren zu lassen. Wie ich bereits vermutet hatte, war er unglaublich wütend, als er den Essenssaal betrat, doch es gelang mir, ihn mit einem scheinheiligen Lächeln zu beruhigen. „Oh, Preußen, schön, dass du da bist. Ich habe mich schon gefragt, warum du so lange gebraucht hast. Bitte setz dich doch.“ „Du hast mich bis Mittag in meinem Zimmer versauern lassen, ohne dass du etwas zu tun gehabt hättest! Den Awesome lässt man nicht warten!“, schrie er mich an und blieb an der anderen Seite des Tisches stehen. „Was soll das heißen, ich hatte nichts zu tun? Ich hab tausend Verpflichtungen, um die ich mich Tag für Tag kümmern muss, also sei nicht so ein Blödmann und sag mir, was du von mir willst, ich hab's eilig“, log ich. Natürlich hatte ich nichts zu tun, schließlich war es der Tag des Herrn und ich hatte meine Pflichten beiseite gelegt, um mich mit Leib und Seele der Kirche widmen zu können. Doch das konnte er nicht wissen, was das Lustigste an der Sache war. „Spanien hat mit mir gesprochen.“ Und diese fünf Worten ließen meine Ernsthaftigkeit im Nu verschwinden. Als die Erinnerungen an den „Unfall“ wieder hochkamen, wurde ich angespannt, ich merkte wie mein Puls immer weiter anstieg, spürte wie sich ein Feuer in meinem Bauch entfachte und zur gleichen Zeit wie meine Kehle vor Angst zufror als ich daran dachte, dass Spanien ihm … etwas davon erzählt haben könnte. „Antonio, du idiotischer Bastard, worüber hast du mit Gilbert gesprochen? Ich schwöre, ich bring dich um.“ „Er hat mich davon überzeugt, mir beim Kampf gegen Österreich von dir helfen zu lassen“, ergänzte er, was mich wieder aufatmen ließ. Beim Gedanken, dass er ihm etwas von den Geschehnissen erzählt haben könnte, hätte ich fast einen Herzinfarkt bekommen. „Also mache ich eine Ausnahme für meinen guten Freund Antonio, auch wenn ein Awesome niemals seine Worte zurücknimmt. Das heißt, du kannst helfen, mit allem Drum und Dran.“ Langsam nickte ich und versuchte, mich wieder zu entspannen. „Also erledige ganz schnell das, was du zu tun hast, weil ich morgen nämlich wieder in mein Land zurückfahre und du mit mir mitkommst. Ist das klar? Rüste deine Armee damit ich weiß, dass sie mehr als bereit ist.“ „Natürlich.“ Ohne sich zu verabschieden, verließ Preußen den Raum und ließ mich mit meinen Gedanken alleine. Ich lehnte mich mit geschlossenen Augen auf meinem Stuhl zurück. Auf einmal fiel mir wieder ein, dass dies derselbe Stuhl war, auf dem Frankreich mich beinahe … und von wo aus ich Antonio zu meiner Rettung kommen sah. „Alles in Ordnung?“, hatte er mich gefragt und ich konnte nichts Anderes tun, als zu zittern und mich wie ein Verlierer an ihn zu klammern. Wie armselig. Und dann … dann … hatte er mich … „Geküsst.“ Bei der Erinnerung daran strich ich mir sanft über die Lippen und mir fielen all die Gefühle wieder ein, die ich damals verspürt hatte: Nervösität, Verwirrung … und Hitze. Mein Körper hatte gezittert und mein Herz geklopft wie ein durchgegangenes Pferd, ich glaubte, in dem Moment, vor Glück zu sterben und doch konnte ich mich nicht von ihm lösen. Von seinen Lippen, seiner Umarmung, seinen Haaren, seiner Zunge, die meinen Mund in Beschlag nahm, so als ob er ihn sein Leben lang kennen würde und damit bisher unbekannte Emotionen in mir hervorrief, die … Nein. Es war nicht richtig. Ich hatte schon die ganze Zeit gewusst, dass meine Gefühle für ihn nicht normal waren. Man durfte keinen Mann lieben, es war gegen die Anordnungen der Kirche, gegen Gott. „Seid fruchtbar und mehret euch“, war sein Befehl gewesen. Außerdem war das alles fürchterlich und abstoßend, nein, das durfte nicht sein, egal wie weh es tat und ,verdammt, tat das weh … Obwohl Gott aber auch gesagt hatte: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“, wie mir plötzlich einfiel. Verwirrt machte ich mich auf den Weg in die Schlosskapelle. Mit Vater Stefano konnte ich nicht darüber sprechen, da dieser nur auf eine Ausrede wartete, um den ganzen Vatikan gegen mich aufzuhetzen. Also kniete ich mich vor dem Kreuz hin und betete mit Tränen der Hilflosigkeit: „Vergib mir Vater, ich habe gesündigt“, dachte ich wie wenn ich mich an einen Priester wenden würde. „Jahrhundertelang habe ich einen Mann geliebt und ihn geküsst. Ich erlag dem Verlangen, doch ich bereue es, ich bereue, ich bereue es … Meine Seele ist verdorben, schmutzig, zerrissen, aber Herr, gewähre mir ein kleines bisschen Frieden von meinem Kummer, einen Hauch Deiner Gnade, um meine Zweifel zu zerstreuen. Verleih mir die Ruhe und die Gelassenheit, die ich benötige.“ Ich betete und betete bis meine Kehle ausgetrocknet war und meine Knie bluteten, doch als ich mich erhob, fühlte ich mich schon ein wenig besser. Und obwohl der Kummer verschwunden war, wusste ich, dass ich nicht aufhören würde, ihn zu lieben. Doch ich konnte es heimlich tun. Schließlich war es genau das, was ich mein Leben lang gemacht hatte. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Ich erwachte verängstigt, verwirrt und mir war schwindelig. Nicht einmal die Augen wollte ich öffnen, oder mich herumdrehen, um zu sehen, ob ich es nicht noch einmal schaffen könnte, einzuschlafen. Ich hatte keine Lust mehr, so zu leiden, indem ich in einer einzigen Nacht jeden Moment meines Lebens durchlebte. Es wäre besser gewesen, mehrere Tage hintereinander in einem tiefen Schlaf zu verbringen und sich an alles auf einmal zu erinnern, verdammt. Genauso wenig wollte ich, dass die Nationen glaubten, sie hätten das Recht, zu mir nach Hause zu kommen, in meine Privatsphäre einzudringen und mein Leben ohne jedes Schamgefühl öffentlich darzulegen, es zu zerschneiden wie ein Stück Fleisch. Ich hasste diese Situation. Ich hasste alles, was mit dieser ganzen Geschichte zu tun hatte. Und vor allem hasste ich es, dass meine selbsternannten „Freunde“ mit etwas überaus Wichtiges verheimlichten. „Sogar Antonio ...“ Der Stachel, den ich in meiner Brust spürte, fing erneut an, mein Herz zu durchbohren. Allein die Erinnerung an seinen Kuss rief bei mir eine Gänsehaut und ein Kitzeln im Bauchbereich hervor, doch gleichzeitig war mir so, als ob meine gesamte Welt auf dem Kopf stehen würde. Alles, woran ich Zeit meines Lebens geglaubt hatte, war in sich zusammengestürzt als ich ihn kennenlernte, als ich in seine grünen Augen geblickt, mit ihm gesprochen, ihn berührt, umarmt, geküsst hatte … Ich hätte mich besser in ein schönes Mädchen aus gutem Hause verlieben und mit ihr die Zeit, die uns gewährt gewesen wäre, teilen sollen. Als ich Belgien kennenlernte, dachte ich, sie wäre dieses Mädchen: sie war wunderschön, nett, bescheiden und ehrlich und hatte ein blütenweißes Lächeln, das den ganzen Raum erleuchtete. Ich redete mir ein, dass wenn ich noch ein wenig wachsen würde, sie sich Hals über Kopf in mich verliebt und wir unsere Ewigkeit zusammen verbringen könnten. Aber nein. Ich musste mich ja ausgerechnet in diesen Typen mit den grünen Augen verlieben, den ich beinahe schon zu hassen begann, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte und der mich vor jeder einzelnen Nation beschützt hatte, der es in den Sinn kam, von mir profitieren zu wollen. Jahrhundertelang hatte er mich ertragen, hatte versucht, all meine Zweifel zu zerstreuen und hatte alle meine Launen gebilligt, egal wie unbedeutend sie waren. Und außerdem hatte er mich geküsst. Zähneknirschend musste ich mir eingestehen, dass ich bis über beide Ohren in ihn verliebt war, auch wenn es gegen das Gesetz Gottes, gegen die Bibel und gegen die Heilige Katholische Kirche verstieß. Und soweit ich wusste, schien auch er in mich verliebt zu sein. „Was verbirgst du also vor mir, Antonio? Was ist das für eine Sache, die ich nicht erfahren soll?“, dachte ich als ich das Bett verließ und das Erstbeste anzog, was ich fand, das sich als ein kurzärmeliges T-Shirt und ein Paar blaue Hosen herausstellte. Ausnahmsweise war mir mein Aussehen völlig egal, mein Hirn war zu Brei zermanscht und meine Nerven am Boden. Würde ich jemals wieder zur Normalität zurückkehren? Barfuß (warum nochmal wollte ich damals meine Seele für ein Paar Armani-Schuhe verkaufen?) ging ich desorientiert den Flur entlang mit einer fixen Idee im Kopf: „Capucchino, Capucchino, ein Königreich für einen Capucchino ...“ bis ich ein paar Stimmen vernahm, die aus der Küche kamen. „Quoi? Kannst du das nochmal wiederholen, Antoine?“ „Ich hab dir doch schon tausend Mal gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst.“ Ein Seufzen drang an mein Gehör. „Aber es stimmt … gestern haben wir uns unterhalten … und ich hab ihn geküsst … Ay! Das hat wehgetan.“ „Das hast du verdient, weil du so ein Idiot bist“, murrte Gilbert. „Nach all der Mühe, die es dich gekostet hat, das Ganze zu vergessen, stehen wir jetzt wieder ganz am Anfang.“ „Gestern war ich zwei Stunden lang damit beschäftigt, alles abzusagen“, schnauzte Francis ihn an, der sich irgendwo in der Nähe der Tür befand. „Zwei Stunden. Und was jetzt? Soll ich sie erneut anrufen?“ „Nein.“ Jemand schlug mit der Faust auf den Tisch. „Er hat eine Entscheidung getroffen und ich muss sie akzeptieren, egal wie weh es tut. Das gestern war nur ein Ausrutscher.“ Und wieder machte sich der Stachel bemerkbar. „Wir müssen das was geschehen ist vergessen. Ich muss mit der ganzen Sache so schnell wie möglich fertig werden, das Ganze bringt mich noch um ...“ Ich schluckte. Entscheidung? Was für eine Entscheidung? Wovon, zur Hölle, redeten sie da? Verdammt, warum sagte mir Niemand etwas? Stinksauer betrat ich die Küche, was die drei selbstverständlich sofort verstummen ließ, nahm mir die Kaffeekanne und schenkte mir eine Tasse Kaffee ein, der abscheulich schmeckte (sicher war es Gilbert, der ihn gekocht hatte). „Scheiße, was guckt ihr so? Ihr tut so, als hättet ihr einen Geist gesehen.“ Ich schüttete den Kaffee in die Spüle und eilte zum Sofa, auf das ich mich mit verschränkten Armen fallen ließ. „Will heute denn Keiner kommen, um mir was zu erzählen?“, schrie ich, damit das Idiotentrio es auch mitbekam. Plötzlich hörte ich, wie sich eine Tür sehr langsam öffnete. „Ve, Fratello, nicht so laut, ich will noch schlafen“, sagte mein Bruder während er sich streckte. Er trug nichts weiter als ein Hemd … tausend Mal größer als die, die er sonst trug. „Feliciano.“ Mit sehr ernstem Gesicht stand ich auf. Es war erst 11 Uhr vormittags, doch ich war bereits jetzt schon sicher, dass dieser Tag nicht schlimmer kommen konnte. „Wem gehört dieses Hemd und wieso hast du es an?“ Als Feliciano sah wie wütend ich war, wich er einen Schritt zurück. „Es … es gehört Niemandem. Es lag in meinem Schrank und ich hab's angezogen“, stotterte er, unauffällig die Tür zu seinem Schlafzimmer schließend. „Darf ich reingehen, Feli?“, fragte ich und ohne eine Antwort abzuwarten, warf ich mich gegen die Tür und nahm den Türknauf. „Nein, nicht!“, schrie er und packte mich am Handgelenk. „Antonio, Hilfe!“ „Hör auf, um Hilfe zu bitten, Feli, das geht die anderen nichts an.“ Ich mühte mich noch ein wenig weiter mit der Tür ab, bis ich spürte wie sanfte Hände meine Hüfte liebkosten. „Lovi, hör auf“, flüsterte mir Antonio ins Ohr. Als ich seinen warmen Atem spürte, hielt ich inne, aber … wieso tat ich das, nur weil er es mir sagte? Immer wenn sein Körper so nah war, hatte ich keine Kontrolle mehr über mich. „Lass mich los, du Bastard.“ Mit ein paar Schlägen zwang ich ihn, sich zu entfernen. Falls dieser blonde Riese mein Brüderchen ausgenutzt haben sollte, dann musste er dafür büßen. „Komm da raus, wenn du ein Mann bist, Deutschland! Komm raus und lasgg mich … veerg!“ Nein, ich hatte keinen Schlaganfall erlitten, es war Antonio, der mir den Mund zuhielt. Konnte mich denn Niemand auch nur für eine Minute in Ruhe lassen? Und das war noch nicht alles, die beiden anderen Idioten hatten die Küche verlassen und nun waren sie alle zusammen dabei, mich nach hinten zu schieben.Mehr als bereit, mir den Kartoffelmacho (Ha, endlich erinnerte ich mich an den Spitznamen, den ich ihm gab) vorzuknöpfen, wehrte ich mich nach Leibeskräften, doch es war nicht genug. Und als ich endlich freikam, fielen wir natürlich alle lärmend zu Boden. Ich war kurz davor, mit dem Kopf an dem Holzboden aufzuschlagen, doch Antonio fing mich im letzten Moment auf und umarmte mich, damit ich mich nicht verletzte. Nach einem Moment der Verwirrung als ich das Gewicht meines Bruders auf mir spürte und von mehreren Leuten Wehklagen hörte, öffnete ich die Augen, die seinen grünen begegneten. Beschämt stieß er ein Kichern aus. Ich wendete den Blick ab und … Die Haustür ging auf. „Oh. Mein. Gott. Rod, her mit der Kamera, aber sofort.“ Ich hob den Kopf, um mir die gerade Eingetroffenen anzusehen, doch das Sofa versperrte mir die Sicht. „Sowas sieht man nicht alle Tage, was für ein Glück! Du wirst schon sehen, wenn ich das Japan erzähle.“ „D-Das ist nicht das … wonach es aussieht“, vernahm ich Gilberts Stimme, gedämpft von den ganzen Körpern, die auf ihm lagen. „Du enttäuschst mich, Gilbert.“ Obwohl Antonio mich im Arm hielt und wärmte, lief mir ein Schauder über den Rücken als ich diese Stimme hörte. Sie war so kalt wie Eis. „Ein Kavallier macht so etwas nicht.“ „Halt's Maul, Roderich“, zischte Gilbert als er sich mit Mühe und Not aus unserer Pyramide aus Körpern befreite. Mein Bruder zupfte sich das Hemd zurecht („Nicht nach unten sehen, was auch immer passiert, Lovino, schau nicht nach unten“) und half mir beim Aufstehen. Ohne Antonio anzusehen, der ein wenig von der Idee abneigt war, mich loszulassen, besah ich mir die, die gerade gekommen waren: sie waren zu zweit, ein Mann und eine Frau. Sie war von kleinem Wuchs, hatte sehr langes lockiges Haar und schaute sehnsüchtig in eine Tüte, die sie über der Schulter trug. Der Mann war … wie soll ich das erklären … eine Salzsäule. Leblos. Starr. Als er uns ansah, blitzte ein Hauch von Missbilligung in seinen veilchenblauen Augen. Er hob eine Hand an sein schwarzes Haar und kämmte es mit der Eleganz einer Katze. „Halt, aber warum steht ihr denn auf?“, wollte die Frau wissen als sie endlich die besagte Kamera herausgeholt hatte. „Das sollte ein Teil der Sammlung meiner wertvollsten Schätze werden.“ „Sie ist Ungarn, Lovino“, sagte Antonio mit einem meiner Meinung nach etwas gezwungenem Lächeln. „Du kannst sie auch Elisabeth nennen.“ „Oh, das stimmt!“ Sie steckte die Kamera wieder in die Tüte und mit ein paar Schritten, die mir wie die einer Ballerina vorkamen, stellte sie sich mit mir auf Augenhöhe und fasste mich an den Wangen. „Der kleine Lovi-Love erinnert sich an gar nichts, mein armer Junge. Wenigstens ist Tonio da, um dir zu helfen, nicht wahr? Was wärst du nur ohne ihn.“ Sie kneifte mir so fest die Wangen, dass sie rot wurden (Oh nein, das war nicht wegen ihrer Bemerkung über Antonio!). Murrend löste ich mich von ihr und wich zurück. Dieser Tag würde sich als extrem schlecht erweisen. „Schau, Lovi, mein Schatz, das ist Roderich. Er ist Österreich. Liebling, sag Hallo zu Romano.“ Mit einer kleinen Berührung seiner Finger rückte Österreich sich die Brille zurecht, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken, kam langsam auf mich zu und gab mir die Hand ohne auch nur ein Wort zu sagen. „Romano“, sprach sie weiter während sie mir das Hemd ein wenig richtete. „Könntest du uns etwas zu essen machen? Wir waren die ganze Nacht unterwegs und sterben vor Hunger. Komm schon, bitte, wir haben nämlich Hunger ...“ Ohne viel Lust, etwas zu kochen, begab ich mich in die Küche, um ein paar Thunfisch-Tomaten-Sandwiches zuzubereiten, ohne den Blick von meinen hochverehrten Gästen abzuwenden. (Wann, lieber Gott, wann hören diese Nationen endlich auf, hierherzukommen und über mein Leben zu tratschen?). „Soll ich dir helfen?“, hörte ich Spanien hinter meinem Rücken sagen. Ihn erneut so nah bei mir zu haben, war das Letzte, was ich wollte, also schüttelte ich den Kopf und beobachtete weiter die Anderen. Gilbert hatte sich neben Elisabeth gesetzt und davon angefangen, wie awesome er und wie fantastisch sein Leben war. Das Mädchen fing umgehend an, sich zu langweilen und befahl ihm, die Klappe zu halten als sie sich in die Arme ihrer Freundes fallen ließ, der sie mit einem Lächeln empfing, doch … irgendetwas war komisch. Warum hörte Roderich nicht auch nur für eine Sekunde auf, Gilbert anzustarren? „Seltsam ...“, kommentierte ich mit leiser Stimme, ohne mich zurückhalten zu können. Antonio lachte. Ohne auf mich zu hören, schnitt er ein paar Tomaten und half mir bei der Zubereitung der Sandwiches. „Ja … es ist eine heikle Lage. Frag lieber nicht.“ Er nahm mir das Messer ab und machte die Arbeit zu Ende, wobei er mich ein wenig verwirrt dastehen ließ. „Wieso? Was ist zwischen ihnen los?“ Antonio seufzte und flüsterte so leise, dass ich Mühe hatte, es mitzubekommen. „Ich sage es mal so, Gilbert ist in Elisabeth verliebt, Eli in Roderich und Rod … in Gilbert.“ Ich blinzelte einige Male in dem Versuch, das gerade Gehörte zu verdauen. „Es ist also … so eine Art Dreiecksbeziehung ...“ Als ich mir die Protagonisten der schlechtesten Liebesgeschichte, die ich jemals gehört hatte, ansah, verstand ich es endlich. „Ja. Sie tauschen ab und zu ihre Partner untereinander aus … ein guter Kompromiss, wenn man so darüber nachdenkt.“ „Ich finde es schrecklich“, sagte ich während ich Österreich beobachtete. „Obwohl diese Liebe an sich schon schrecklich ist, aber so haben sie es sich nun mal ausgesucht.“ Ich nahm die Sandwiches und stellte sie, ohne zurückzublicken, auf den Couchtisch. Dann setzte ich mich neben Gilbert, der mit allen Mitteln versuchte, die Szene, die sich vor seinen Augen auftat, zu ignorieren: Elisabeth, die auf Roderichs Schoß saß und ihm ein belegtes Brötchen reichte. „Und?“, fragte ich als ich merkte, dass Keiner etwas sagte. „Was, und?“ Österreich sah verärgert aus, weil wir wohl seine Luft atmeten oder so etwas in der Art. „Seid ihr nicht hierhergekommen, um mir etwas zu erzählen?“ „Doch, aber dazu benötigen wir noch Felicia-… aber was rede ich denn da! Wir brauchen Niemanden mehr, wenn der Awesome schon da ist!“ „Feliciano! Wie konnte ich ihn nur vergessen?“ Hastig stand ich auf, doch Preußen packte mich am T-Shirt und zwang mich, mich wieder hinzusetzen. „Das wirst du mir büßen, Gilbert. Und du auch, Feli!“, schrie ich, damit mein Bruder mich hörte. „Gut, wir sollten anfangen, meint ihr nicht auch?“, sagte Österreich in einem schneidernden Tonfall. Großer Gott, was für ein hochnäsiger Typ. „Alles klar, Romano … erinnerst du dich endlich daran, wie ich dir die Erlaubnis gab, an meinem Krieg gegen diesen Idioten Österreich teilzunehmen?“ „Ein wenig Respekt, Gilbert“, murmelte dieser. „Ja, es ist mir wieder eingefallen.“ Erlaubnis, also na ja, er war wohl eher verzweifelt, mich in seinen Reihen zu finden, soweit ich wusste. „Also gut, das, was ich dir jetzt erzählen werde, geschah am darauffolgenden Tag ...“ „Am darauffolgenden Tag?“ „Oh Gott, so kommen wir nie im Leben zu einem Ende“, dachte ich während ich es mir mit verdrehten Augen auf dem Sofa gemütlich machte. „Warum beschleunigst du die Geschichte nicht ein wenig? Ich will das Ganze heute abschließen.“ „Das wird nicht möglich sein“, verkündete Preußen, so als wäre es die beste Nachricht von der Welt. „Am darauffolgenden Tag, als wir zu meinen awesomen Schloss aufbrechen wollten, erschienst du ganz ohne Gepäck, sondern nur mit vier Briefen in der Hand, die an dich gerichtet waren …“ „Hast du etwa dein Tagebuch nicht dabei?“, bemerkte ich. „Nein, diesmal nicht. Ich erinnere mich sehr gut an alles … „Was hast du da?“, fragte ich und sah mir die Papiere an, die du mir reichtest. „Vier Briefe von meinen vier besten Männern, die in ganz Europa verstreut sind.“ „Was? Du betreibst Spionage? Moment mal … hast du auch in meinem Land Spione?“ „Diese vier Männer haben mich darüber informiert, dass ich überall Feinde habe: Russland, England, Portugal, Griechenland“, erzähltest du weiter ohne meine Fragen zu beantworten. „Jedes Einzige von diesen Ländern ist gerade dabei, eine Armee aufzubauen, um meine Nation anzugreifen und zu zerstören. Keine Ahnung, wozu ich mich von Spanien getrennt hab, wo jetzt ganz Europa ein Stückchen von mir haben will.“ Du zerknülltest die Briefe in deiner Faust und übergabst sie mir. „Wie du sicher verstehen wirst, kann ich nicht mit dir mitkommen. Ich muss mein Land verteidigen.“ „Aber wie willst du es verteidigen?“, warf ich ein als ich mir die Briefe durchsah. „Wenn mehr als 20.000 Engländer kommen, 30.000 Griechen ….und 50.000 Russen! Du kannst dein Land nicht alleine beschützen, das ist schier unmöglich.“ „Und was dann, Gilbert? Was kann ich sonst tun? Einfach so zusehen, wie alles verschwindet, wofür ich gekämpft hab, ohne zurückzuschlagen, ohne mein Land zu verteidigen? Nein, ich bleibe hier. Wenn ich tausend Verträge unterzeichnen und tausend Gefälligkeiten tun muss, um meine Unabhängigkeit beizubehalten, dann werde ich es tun.“ „Wärst du sogar bereit, Frankreich um Hilfe zu bitten?“ Du zittertest ein wenig und verzogst das Gesicht, doch als du mir antwortetest, war dein Blick voller Entschlossenheit: „Wenn mir nichts Anderes übrigbleibt, als zu Frankreich zu gehen, dann mach ich es.“ Als ich sah, wie ernsthaft du trotz deines jungen Alters warst, lachte ich, gab dir die Briefe zurück und führte dich zurück ins Schloss. „Sei nicht so dramatisch, das ist gar nicht awesome. Komm, trockne deine Tränen ...“ „Ich heule nicht!“ „ … und geh wieder rein, um dir einen Plan auszudenken. Es wird sicher eine Lösung geben. Und dann erzählst du mir, was passiert ist. Geh mit Gott.“ „Was? Du gehst?“, fragtest du als du von mir ins Schlossinnere geschleift wurdest. „Natürlich gehe ich, ich muss noch Vieles vorbereiten und kann es mir nicht leisten, meiner Nation länger als nötig fernzubleiben.“ „Also war es eine Lüge, dass ein Awesome seine Worte niemals zurücknimmt. Wie tief du doch gesunken bist.“ „Hör auf mich zu erpressen, Kleiner. Obwohl du viel älter bist als ich, hab ich mehr Erfahrung im Umgang mit dem Schwert. Ich kann dir in weniger als einem Herzschlag einen Schnitt von der einen zur anderen Seite verpassen. Willst du dich davon überzeugen?“ „Feigling.“ Wie alle hier im Raum Versammtelten es sicher wissen, hat es noch Keiner jemals gewagt, mich Feigling zu nennen. Es ist eine Beleidigung meiner Person, meines Lebens, meines Stolzes, meines Mutes, meiner Nation und meiner Einwohner. Also schnappte ich dich mir, und wir schlossen uns im Essenssaal ein, zusammen mit deinem neuen König (keine Ahnung, wer es war, ich weiß nur noch, dass er einen riesigen Schnurrbart hatte und nicht einmal die Fassung verlor als er erfuhr, dass etwa hunderttausend Soldaten aus der ganzen Welt unterwegs waren, um das Land anzugreifen und zu überfallen). Und wir drei haben etwas sehr Wichtiges festgestellt: es war an der Zeit, die italienische Halbinsel wiederzuvereinen. Nach mehr als einem Jahrtausend Dasein als Zusammenschluss von Städten sollte sie sich nun in ein großartiges Land verwandeln, das in der Lage war, gegen Angriffe von außen vorzugehen. Ich muss schon zugeben, dein Krieg hat echt viel Spaß gemacht. Trotz deiner äußeren Erscheinung wusstest du viel über die Kunst, mit Schwert und Schild zu kämpfen, deshalb warst du mal ausnahmsweise kein Klotz am Bein. Auch beim Preußisch-Österreichischen Krieg haben wir uns gut amüsiert, da der junge Herr hier sich geweigert hat, dir deinen Bruder zu überlassen, damit er unterschreiben konnte.“ „Wo wir gerade davon sprechen, wo ist eigentlich Francis?“, fragte Elisabeth sich im Raum umschauend. „Und Spanien?“ „Vielleicht machen sie gerade einen Spaziergang, was weiß ich, unterbrich mich nicht mehr“, sagte Gilbert, verärgert darüber, dass er seiner eigenen Stimme nicht mehr lauschen konnte. „Ich unterbreche dich wann immer ich will!“ „Elisabeth, mach nicht bei seinem Spielchen mit, du weißt doch, dass es genau das ist, was er beabsichtigt“, riet Österreich ihr. „Ja, Eli, befolg die Ratschläge des jungen Herrn, dann wird es dir sehr gut gehen“, scherzte Gilbert mit einem bösen Grinsen. „Kommen wir mal endlich zum Ende?“ „Ich hab die Schnauze echt voll von den beschissenen Dummheiten dieser drei Verliebten.“ Eine Sekunde lang fragte ich mich ob ich nicht auch so verbittert aussah wie diese drei … ein Gedanke, den ich sofort beiseiteschob. Ich war nicht verbittert, ich war … wütend. Ja genau, ich war zornig und das nicht nur, weil dieser Idiot Spanien mich geküsst und es gleich wieder bereut hatte. Liebe? Ha, wer braucht die schon? Außerdem war ich gar nicht verliebt! Wer hat das überhaupt behauptet? Wer auch immer es war, er irrte sich gewaltig … Gott sei Dank, holte mich Gilberts Stimme wieder aus meinen Gedanken. „Wo waren wir?“ Er räusperte sich und schlug die Beine übereinander. „Ah, ja, der Preußisch-Österreichische Krieg, der war lustig. Leider haben wir verloren … obwohl es wohl vielmehr Frankreich war, der uns verraten hat, aber gut, seine Strafe hat er bereits erhalten.“ „Ich denke, jetzt bin ich an der Reihe mit Erzählen, glaubst du nicht auch?“, fragte Österreich, der Ungarn seinen Sitzplatz überließ und sich neben mich setzte. „Wo wir von Verrat sprechen, wäre es besser, sich dem interessanten Teil zuzuwenden, Preußen.“ „Das nennst du Verrat? Meiner Meinung nach war es eher ein Ausrutscher“, spottete Gilbert eine Grimasse ziehend. „Ausnahmsweise bin ich mal seiner Meinung, Liebling“, sagte Elisabeth lächelnd. „Ihr habt euch doch alle abgesprochen, um ...“ „Warum erzählt ihr mir nicht endlich, was geschehen ist, verdammte Scheiße nochmal?“ „Ich schwöre, das ist das letzte Mal, dass ich ihre dämlichen Debatten ertrage, das nächste Mal werfe ich sie raus und gehe schlafen, so bekomme ich mein Gedächtnis bestimmt viel schneller zurück ...“ Österreich seufzte und richtete sich mit einer Geste der Erschöpfung die Brille. „Es war im Sommer des Jahres 1866. Ich weiß noch, dass Jules Verne damals seinen neuesten Roman veröffentlicht hatte und einer meiner Diener nach Paris gegangen ist, um mir die Erstausgabe zu kaufen. Am selben Tag als ich das Buch in Händen hielt und mehr als bereit war, es vor Einbruch der Dunkelheit zu Ende zu lesen, betratest du zusammen mit Gilbert mein Arbeitszimmer ohne um Einlass zu bitten. „Österreich, du hast keinen meiner Briefe beantwortet“, sagtest du. „Ich habe vergessen, meine Post durchzusehen, genau wie du deine Manieren. Was fällt dir ein, einfach so hineinzugehen ohne anzuklopfen?“ „Versuch nicht, uns für blöd zu verkaufen, du weißt ganz genau, warum wie hier sind“, fuhr Preußen mich ohne einen Hauch von Benehmen an. „Und ich dachte schon, ihr wärt intelligenter. Ich werde Feliciano nicht an euch abtreten, weil, abgesehen davon, dass er jahrhundertelang in meiner Obhut stand, es mir auch keinerlei Nutzen bringen würde.“ Ich stand vom Tisch auf und zeigte euch, wo sich die Tür befand, doch ihr habt weiterhin hartnäckig darauf bestanden, mich bei meiner Lektüre zu stören.“ „Feliciano muss unterschreiben, wir brauchen ihn, um Italien wiederzuvereinigen. Verdammte Scheiße, was willst du denn noch? Ich hab dir doch schon mehrere fruchtbare Gebiete versprochen und dazu noch wichtige Städte und ...“ „Ich will nichts anderes als Veneziano“, entschied ich. „Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, ich habe viel zu tun.“ „Das bedeutet Krieg, Roderich.“ Gilbert schien jedes Wort davon zu genießen. „Ich hoffe ganz ehrlich, dass ihr wisst, was ihr tut ...“ Österreich verstummte für einen Moment um sich die Brille mit einem seidenen Putztuch zu säubern. Ungarn schien nicht zu wissen, wohin sie ihre Blicke richten sollte und Preußen sah so aus, als hätte er einen Heidenspaß. „Und? Was ist passiert?“ „Er hat verloren, Lovino“, antwortete Gilbert und legte mir einen Arm um die Schultern. „Der junge Herr hier hat nämlich nicht gemerkt, dass du den Awesome als Verbündeten hattest. Und Frankreich hat trotz seiner Feigheit gut gekämpft. Nichts im Vergleich zu mir, aber er war nicht übel. Und du … du hast auch was getan.“ „Aber Österreich hatte zu der Zeit Schwierigkeiten mit seinen internationalen Beziehungen“, verteidigte ihn Ungarn. „Ich bat um Hilfe, die mir nicht gewährt wurde, das ist etwas Anderes.“ „Genau … es ist durchaus wahrscheinlich, dass keiner der von dir abgeschickten Briefe sein Ziel erreicht hat, natürlich aus uns völlig unbekannten Gründen“, lachte Gilbert. „Das war sehr niederträchtig.“ „Hey, schau mich nicht so an, er hier war's.“ Und dann zeigte dieses Arschloch auf mich, wohl wissend, dass ich mich nicht wehren konnte. „Seine genauen Worte waren: Wenn er schon keinen von meinen Briefen gelesen hat, dann sorgen wir dafür, dass der Rest der Welt seine nicht lesen kann.“ Bei jeder anderen Gelegenheit hätte ich mich mit einer sehr überzeugenden Rede über die Ehre der Nation, die wir lieben und der wir dienen, aus der Sache herauswinden können … wenn da nicht Österreich anklagende Blicke wären, die mir langsam die Seele durchbohrten. Ich war kaum in der Lage, eine einfache Entschuldigung auf Italienisch zu stammeln. Ach, verdammt, wenn Spanien hier wäre, wäre das alles ganz anders ausgegangen. „Nach der Schlacht bei Königgrätz gab Österreich seine Niederlage zu und übergab uns Veneziano ganz bereitwillig …“, kommentierte Preußen kichernd. „Das ist nicht witzig.“ Ich atmete tief durch in dem Versuch, mich zu entspannen. „Was ist wirklich geschehen?“, fragte ich ohne zu wissen, was die ganze Geheimnituerei sollte. „Sagen wir es mal so: der Awesome hat den jungen Herrn mit nicht sehr orthodoxen Mitteln dazu gebracht, den Friedensvertrag zu unterzeichnen.“, bemerkte er grinsend. „Eine ganze Woche lang hat keiner von den Beiden Rods Zimmer verlassen“, erklärte mir Elisabeth als sie merkte, dass ich immer noch etwas verloren aussah. „Als Österreich wieder das Tageslicht zu sehen bekam, stellte er fest, dass er unterschrieben hatte, und nicht nur die Anerkennung seiner Niederlage, sondern auch den Verzicht auf alle Rechte, die er über Feliciano hatte. Doch als er etwas dagegen unternehmen wollte, war es bereits zu spät. Veneziano war Italien, eine Nation mit all ihren eigenen Rechten und Pflichten.“ „Das war ein sehr schmutziger Spielzug. Selbst für dich, Gilbert.“ Trotzdessen sah Roderich nicht verärgert aus, sondern eher das Gegenteil. „Hey, du hast eine schöne Zeit mit mir verbracht, oder etwa nicht?“ „Eine schöne Zeit? Ihr seid nicht einmal zum Essen rausgekommen. Ich war überrascht, dass ihr danach noch so viel Energie hattet“, sagte Elisabeth. „Ganz ruhig, wir zwei hatten sehr viel Energie. Außerdem hatte ich das Hausmädchen angewiesen, uns jeden Tag das Essen vor die Tür zu stellen ...“ Als ich sah, dass ich nicht mehr gebraucht wurde, stand ich vom Sofa auf und verließ das Zimmer. Verblüffend, dass die drei so offen über so ein heikles Thema reden konnten. Elisabeth ist nicht wütend geworden, als sie erfahren hat, dass ihr Freund mit einem Anderen ins Bett gegangen war, noch schien Österreich beschämt darüber zu sein und … gut, Preußen war Preußen, ich glaubte nicht, dass er dabei irgendetwas fühlte. Trotzdem fand ich es erstaunlich, dass trotz ihrer Lage Keiner von Ihnen den Mut verlor oder Ähnliches. Es musste viel Mühe gekostet haben, sich an so eine seltsame Beziehung zu gewöhnen, doch Niemand schien wirklich unzufrieden mit der Abmachung zu sein. Und noch dazu kam es mir so vor, als würde Elisabeth eine tiefe Zuneigung für Gilbert (ja, ich verstand es auch nicht) empfinden und als würde Roderich Ungarn aufrichtig lieben. Und es gab auch noch die Möglichkeit, nur eine Möglichkeit, dass Gilbert irgendwie gelernt hatte, Roderich zu ertragen. (Ich war mir nämlich sicher, dass kein vernünftiger Mensch eine Woche zusammen mit ihm verbringen könnte ohne danach Selbstmordgedanken zu hegen.) Liebe musste schon etwas sehr Kompliziertes sein, wenn sie es schaffte, drei so unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Letztendlich war das Ganze wohl doch nicht so schrecklich. „Fratello!“, rief Feli als er mich in Gedanken versunken und mit den Händen in den Hosentaschen auf dem Rasen spazieren gehen sah. Er kam angerannt und fiel mir um den Hals. „Bist du immer noch böse?“ Ich seufzte. Ich hatte Besseres zu tun als mir wegen des Kartoffelmachos Sorgen zu machen. „Nein. Ganz ruhig, alles ist in Ordnung. Aber lass dich nicht in seiner Nähe erwischen.“ Feliciano erstarrte für einen Moment und blickte mit halb geschlossenem Mund in die Leere. Als ich ihn ein wenig an den Schultern rüttelte, begann das kleine Getriebe in seinem Hirn wieder zu arbeitenund ließ ihn natürlich auf der Stelle das Thema wechseln. „Ve, hast du Hunger? Wir haben fast nichts mehr da, die Pasta ist fast alle, gehen wir Einkaufen.“ Meine Vorstellungen von Einkaufen waren ganz verschieden von denen, die ich an jenem Nachmittag erlebte. Ich tauschte Armani und Dolce&Gabana gegen Luici-Nudeln und Pizza Tarantella, doch wenigstens war es keine absolute Zeitverschwendung. Feliciano war dabei, mir zu erzählen, was passiert war, nachdem wir wieder angefangen hatten, zusammenzuleben. Er erklärte mir, dass die Entscheidung, ihn die ganze Last der Nation tragen zu lassen, zur Vorbeugung gedacht war, falls Österreich mal wieder beschloss, seine Nase hineinzustecken und welche wirtschaftlichen Unterschiede unsere beiden Gebiete aufwiesen. Meins war aus logischen Gründen sehr viel ärmer und es hatte uns sehr viel Mühe gekostet, die Situation auszugleichen. Obwohl mein Bruder von außen dumm aussehen mochte, war er in Wirklichkeit sehr intelligent, er erinnerte sich ganz genau an die heikle Lage mit der Viehzucht in unserem Land Anfang des Jahrhunderts und wie wir die Wirtschaft mit dem Export unserer Weine in das restliche Europa gesteigert hatten. Leider hörte ich ihm nur mit halbem Ohr zu. Gegen meinen Willen (ja, gegen meinen Willen, verdammt, ich muss aber auch alles erklären) konnte ich nicht aufhören, an Antonio zu denken. An seine Worte an diesem Morgen, wie er ohne ein Wort verschwunden war, wo er wohl stecken mochte … Und wenn ihm etwas zugestoßen war? Natürlich war es nicht so, dass es mich interessieren würde … Würde er eines Tages zurückkommen? Sicher würde er zurückkommen, schließlich hatte er seine Sachen hiergelassen und soweit ich wusste, konnte man ohne Ausweis kein Flugzeug betreten, stimmt's? Am Abend war ich so besorgt, dass ich keinen Bissen von der köstlichen Lasagne, die mein Bruder gemacht hatte, hinunterbekam. Er hat mich sogar gefragt, ob ich nicht krank sei. Um ehrlich zu sein, fragte ich mich das Gleiche. Es war doch nicht normal, den ganzen verdammten Tag an ein-und diesselbe Person zu denken. Ich musste krank sein, sehr krank. Aber natürlich war das alles die Schuld dieses spanischen Idioten, der mir ohne Grund so viele Sorgen bereitete. Scheiße, wäre es denn zuviel verlangt, wenn er eine verdammte Nachricht hinterlassen hätte? Oder Jemandem mitgeteilt hätte, wo er hinging oder sowas in der Art, verdammt noch mal. Und, um dem Ganzen eine Krone aufzusetzen, hatte Francis sich auch ohne ein Wort aus dem Staub gemacht, was mich kein bisschen beruhigte. Obwohl er gesagt hatte: „Oh, là là, ich hab mich gebessert, jetzt hab ich ja einen wunderschönen Kanadier, der zu Hause auf mich wartet“, schluckte ich kein Wort davon. Ich kannte ihn viel zu gut, wusste wie er war und deshalb gefiel es mir kein Stück, dass die beiden zusammen waren (weil es klar war, dass sie zusammen waren), und das mitten an einem kalten Abend Mitte März … Zusammen. Allein. Im Dunkeln. Gott, wie abstoßend das war. Ich hatte keine Ahnung, wann ich letztendlich auf dem Sofa sitzend eingeschlafen war, versuchte aber, aufzuwachen, als ich spürte, wie ich plötzlich hochgehoben wurde. „Wo hast du gesteckt?“, fragte ich ohne die Augen aufzumachen als ich merkte, dass es Antonio war, der mich trug. „Du solltest besser in deinem Bett schlafen, dafür ist es schließlich da.“ Er öffnete die Tür und legte mich auf meiner Matratze ab. „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Ich gähnte und zog mir schnell die Schuhe aus, um mich unter die Decke zu flüchten. „Aber du antwortest nie auf Fragen … also … ist es nichts Neues.“ Ich war gerade dabei, erneut in den Schlaf zu sinken als ich seine Hand auf meinem Kopf spürte. „Morgen“, flüsterte er. „Was ist morgen?“, fragte ich und flehte insgeheim, dass er nicht wieder wegging. Dass er mir nicht alleinlassen würde, sondern bei mir bleibt, mich liebkost, mich umarmt und meine Hand nimmt. „Morgen bekommst du all deine Antworten. Das verspreche ich dir.“ Ich seufzte. Zwar wollte ich etwas sagen, aber mein Kiefer weigerte sich, sich zu öffnen und meine Stimmbänder versagten ihren Dienst Doch kurz bevor ich vollständig in meine Vergangenheit eintauchte und mich an das kleinste Detail, von dem, was mir widerfahren war, an jeden Laut, jedes Gespräch, jeden Brief, jede Geste und jede Entscheidung erinnerte, hörte ich ihn sagen: „Das Härteste an der ganzen Sache ist, dass ich dich immer noch liebe, Lovino.“ Aber ich konnte ihn nicht mehr fragen, was er damit meinte. Kapitel 7: Kapitel 7 -------------------- Müde, hungrig und schlechtgelaunt kam ich in Madrid an. Nachdem ich eine Woche kreuz und quer durch Europa gereist war, und das kurz vor dem Kriegsausbruch, brauchte ich eine wohlverdiente Ruhepause. Doch mir blieb nichts Anderes übrig, als meine Klagen hinunterzuschlucken und um eine Audienz mit Eduardo Dato [Anmerkung: Spanischer Ministerpräsident Anfang des 20. Jhd.] zu bitten. Ich wusste, dass Spanien gerade mit ein paar wirtschaftlichen, politischen, territorialen und ideologischen Problemchen zu kämpfen hatte … na gut, es waren wirklich beschissene Probleme. Es schien keine Lösung in Sichtweite zu geben, noch weniger nach der „Tragischen Woche“ von Barcelona [Anmerkung: blutiger Arbeiteraufstand 1909] (wie sie genannt wurde), also hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was zur Hölle ich dort machte. Man könnte vermuten, ich hielte mich dort auf, um nach Verbündeten zu suchen. Seit dem Mord an dem österreichisch-ungarischen Erzherzog lagen die Nerven blank und Europa dürstete aus mir unbekannten Gründen nach Blut, und das am Anfang des Jahrhunderts. Man könnte meinen, es wäre ein Zeitpunkt um „nachzudenken, Frieden zu schließen und seinem Nächsten zu helfen“, da das Ende der Welt mal wieder nicht eingetreten war. Und doch konnte man den Krieg kilometerweit riechen. Jemand klopfte drei Mal leicht an die Tür, woraufhin ich schlagartig die Augen öffnete. Man hatte mir ein Zimmer gegeben bis Dato „genügend unbeschäftigt“ war um sich um mich zu kümmern falls die Angelegenheit, wegen der ich hier war, von so extremer Dringlichkeit war. Wenigstens war der Raum gemütlich, denn andernfalls hätte ich diesem billigen Präsidenten gehörig die Meinung gesagt. Das Bett war groß und mahagonifarben und das Bettlaken bestand aus weißen Leinen. Es gab auch einen leeren Schrank und einen Schreibtisch auf dem ich schamlos meinen Koffer abstellte. Meiner Meinung nach war es überflüssig, den Schrank mit meiner Kleidung zu füllen, da ich wusste, dass ich mich nur sehr, sehr kurze Zeit in Spanien aufhalten würde (wie kurz, hing davon ab, wie lange dieser blöde Präsident brauchen würde, um mich wieder zurückzuschicken). Erneutes Klopfen zwang mich, aufzustehen und mich stinksauer Richtung Tür zu begeben. War das hier nicht das Land der Siesta? Obwohl, sicher, was könnte man schon von einem Land erwarten, das von Antonio angeführt wurde. Und wenn man vom Teufel spricht … „Hallo, Lovino!“, grüßte mich der Idiot, der an die Tür gelehnt dastand und so schwer atmete, als ob er gerannt wäre. „Als ich erfuhr, dass du hier bist, bin ich sofort hergekommen.“ Ich ging einen Schritt zurück um ihn durchzulassen. Während er wieder zu Atem kam, warf er sich aufs Bett. Das war eine sehr heikle Situation, wir waren nicht mehr allein gewesen, seit … dem Vorfall und obwohl seit damals ziemlich viele Jahre vergangen waren, freute ich mich nicht sehr darüber, dass er auf meinem Bett lag, mich anlächelte und keuchend nach Luft schnappte. Er war so verschwitzt, dass ihm die Kleidung am Körper klebte. Ich wendete den Blick ab. „Was willst du?“, fragte ich, Distanz zwischen uns beiden schaffend. „Also tja ...“ Er holte Luft und setzte sich auf. „Mit dir reden. Es ist schon lange her, seit ...“ „Ich bin sehr beschäftigt, siehst du das denn nicht? Ich werde mich mit Dato treffen.“ „Wozu?“ Sein ahnungsloser Gesichtsausdruck brachte mich fast zum Lächeln. „Was heißt hier wozu? Bist du ein Idiot? Auf der anderen Seite der Pyrenäen sind alle europäischen Länder gerade dabei, sich zu bekämpfen und du bist hier so gelassen.“ Antonio gab ein schwaches Lachen von sich, das mir ziemlich gezwungen vorkam. „Es ist kein Geld da, Lovino“, erklärte er mir mit sehr müder Stimme als er endlich begriff, weshalb ich gekommen war. „Nichts, null, die Tresore sind völlig leer.“ „Schön, es ist nie Geld da ...“ Als er mich erneut ansah, erschien es mir so, als würde er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen. „Das weiß ich. Es ist nie Geld da, aber am Schlimmsten ist es, wenn man Niemanden um Hilfe bitten kann.“ Ich seufzte. Mein Aufenthalt hier war pure Zeitverschwendung, soviel hatte ich gemerkt. Spanien war nicht bereit, einen Krieg auf sich zu nehmen, er ertrug kaum die Lage in seinem eigenen Land … sicher würde er sich aus den Kämpfen raushalten und das war's dann. Und doch regte sich mein Gewissen als ich ihn so verletzlich, so traurig und so deprimiert dasitzen sah. Obwohl er noch bei guter Gesundheit war, ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass sein Land sich noch mehrere Jahre über Wasser halten würde, sah er so aus, als hätte man ihm die Lebensfreude direkt aus dem Herzen gesaugt. Also konnte ich als der gute Mensch, der ich war, nicht vermeiden, dass ich mich neben ihn setzte und ihm die Hand reichte. Diese Geste überraschte ihn ziemlich (mich auch, so ging ich gewöhnlich nicht mit ihm um, doch ich war müde von der Reise und dachte nicht über meine Handlungen nach). Seine erste Reaktion darauf war, zurückzuweichen, so als ob meine Hand irgendein giftiges Tier wäre, aber nach ein paar Minuten des Zweifels packte er sie ganz fest und wartete. Was denn, wollte er vielleicht noch ein aufmunterndes Gespräch dazu? „A-Alles wird wieder gut, Idiot“, fing ich an ohne genau zu wissen, was ich sagen sollte. „Du hast schon Schlimmeres überstanden. Was ist mit den Katholischen Königen? [Anmerkung: Königspaar im 15 Jhd.] Die haben die Steuern dermaßen erhöht, dass dein Volk sich nicht mal ein Stück Brot leisten konnte. Und dann noch die Karlistenkriege! [Anmerkung: Kriege um Spaniens Thronfolge im 19. Jhd.] Drei hintereinander, als wenn das nichts wäre und du hast sie überstanden. Du wirst mit allem fertig. Das ist nur eine weitere Etappe, die wir überstehen müssen, doch denk dran, es kommen bessere Zeiten. Es ist doch immer das Gleiche: Pech, noch mehr Pech und dann ein winziger Augenblick des Friedens, wo wir alles im Griff haben und uns für die nächste Pechsträhne vorbereiten. Und schau nicht so verloren drein, das nervt.“ Um meine Worte zu verstärken, verpasste ich ihm noch einen Schlag in die Magengrube. Ich hätte ihm ja eine Kopfnuss gegeben, aber ich war schon erwachsen und musste mich auch dementsprechend benehmen. Zu meiner Verwirrung lachte dieser Mistkerl und umarmte mich. Mich, der ihm gerade einen schönen Schlag verpasst hatte! „Danke, Romanito.“ Ich schnaubte, diesen Namen verabscheute ich. „Ich werde versuchen, deine Ratschläge zu befolgen und geduldig zu sein. Du bist so süß, ich könnte dich den ganzen Tag umarmen, nein, jeden Tag, mein ganzes Leben lang ...“ „Lass das, Bastard!“ Ich versuchte, mich von ihm zu lösen, doch selbst ohne Energie war er der Stärkere, und so landete ich schließlich rücklings auf dem Bett. Er befand sich über mir und kitzelte mich, bis ich keine Luft mehr bekam. „Oh, Romanito, ich bin also immer noch imstande, dich zum Lachen zu bringen.“ „Ich hab gesagt … du sollst aufhören!“, schrie ich zwischen Lachanfällen. Wenige Augenblicke später war Antonio schon viel entspannter und hörte auf. Er sah mich fest an und streichelte mir liebevoll das Haar. In seinen Augen lag Liebe mit einem Hauch Zuneigung und ein wenig Wärme. Doch darunter verbarg sich noch etwas Dunkles und Tiefergehendes, was mein Herz schneller schlagen ließ. Mir lief ein Schauder über den Rücken und sein Blick war so intensiv, dass mir fast ein Wimmern entschlüpft wäre. „Ich muss gehen“, wisperte ich, insgeheim betend, dass ich meine Gelassenheit bewahrte. Doch Antonio fasste mich bei den Schultern und hielt mich mit dem Rücken an das Bettlaken gedrückt. Ich klammerte mich an das rauhe Leinen, um mich nicht von der Versuchung mitreißen zu lassen. Denn die Versuchung war da, vor mir … nein, genau über mir. Und es war so leicht, eine Grenze zu überschreiten, die in Wirklichkeit sehr viel dünner war als ich es mir vorgestellt hatte. „Nein“, murrte ich. Und es war diese eine Silbe, die mich vollständig entwaffnete. All meine Widerreden erstarben in meiner Kehle als ich seine Lippen auf den meinen spürte. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Ich knurrte. Ein nerviges Geräusch ließ mich nicht schlafen so wie es sich gehörte. Es war wie ein ewiges Summen, das nicht aufhörte, wie eine lästige Fliege, die ich nicht verscheuchen konnte, wie ein konstantes Murmeln, das sich nicht einstellte. Moment mal. Genau das war es. Ein Murmeln. Sanft, unverständlich und vor allem nervig. Ich versuchte, die Ohren zu spitzen, doch durch das Geräusch brauchte mein Verstand mehrere Sekunden länger als sonst zum Aufwachen. „Stella, stellina, la notte si avvicina, la fiamma traballa, la mucca è nella stalla ...“ „Feliciano … aber, was zur Hölle, machst du da?“, fragte ich und deckte mir die Ohren mit dem Kissen zu, um zu sehen ob ich damit nicht das nervige Wiegenlied, dass er für mich sang, dämpfen könnte. „Gestern sagtest du mir, du würdest dein Gedächtnis viel schneller wiedererlangen, wenn du mehr schlafen würdest“, flüsterte er mir zu. „Also helfe ich dir mit einem Lied.“ Ich wartete ein paar Sekunden ab um zu sehen ob er das Offensichtliche begriff, vergaß aber, dass es mein Bruder war, also deckte ich mich erschöpft zu und drehte mich zu ihm ohne den Kopf vom Kissen lösen zu wollen. Mein Bruder saß auf einem Stuhl und hielt in seinem anhaltendes Wippen inne als er meinen wütenden Blick bemerkte. „Raus aus meinem Zimmer.“ Ich biss mir auf die Zunge, um ihm nicht vorzuwerfen, was für ein Idiot er war, mich aus dem besten Traum zu reißen, den ich jemals hatte, seit ich in diesem Haus eingesperrt war. Insgeheim dankte ich ihm für Verständnis, dass ich keine Lust auf seinen Blödsinn hatte und er mich in meinem Zimmer in Ruhe ließ. Ich legte mich auf den Rücken und bedeckte meine Augen mit der Hand. Tausend seltsame Empfindungen durchdrangen mich blitzartig als ich mich an den Traum erinnerte. Diese sanften Liebkosungen, die meinen Körper mit unendlicher Geduld erforschten, ich konnte sie fast schon spüren, diese Küsse, die voller Wärme meinen Hals entlanggingen, diese tiefe Stimme, die mir Worte der Liebe ins Ohr flüsterte und mich vor Ungeduld erzittern ließ, diese Beklemmung, die verschwand als ich mich in seinen grünen Augen verlor. „Bist du in Ordnung?“, hatte er mich unaufhörlich gefragt. Konnte er es denn nicht selbst sehen? Konnte er denn nicht sehen, dass es mich erschreckte, so viel Glück in einem einzigen Moment zu empfinden? Konnte er nicht sehen, dass ich in einem riesigen Strudel aus Emotionen steckte, die mich lähmten, die mich davon abhielten, auch nur ein verdammtes Wort von mir zu geben? Konnte er nicht sehen, dass das Einzige was ich wollte, mehr war … von ihm? Ich atmete tief ein. Dass ich ein paar Sekunden lang den Atem angehalten hatte, hatte ich gar nicht gemerkt. Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht, in dem Versuch, all die anhaltenden Bilder von Antonios Körper auszuradieren, die sich in mein Innerstes eingegraben zu haben schienen. Ich war müde. Und nicht nur körperlich, mein Verstand war überholt, leer, durchgebrannt. Mein Hirn glich einer Art unklarem und zähflüssigem Brei, der mich davon abhielt, klar zu denken. Ich musste das Alles ein für alle Mal begreifen, ich musste hören, was im Laufe dieser Jahre von mir geblieben war, was ich gemacht hatte, was ich erreicht hatte, was ich verloren hatte, ich musste meine Irrtümer und Fehler sehen um sie nicht erneut zu begehen und musste stolz auf meine Erfolge sein. Ich musste eine Nation sein und mich an mein Leben erinnern. Und vor allem brauchte ich Antonio. Die Tränen, die ich so mühevoll zurückgehalten hatte, entflohen meinen Augen ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte. Ich schnappte mir mein Kissen und schrie hinein. Ich schrie vor Hilflosigkeit, vor Wut, vor Schmerz. Schrie, weil ich müde war, rasend vor Wut, weil ich das alles satt hatte. Schrie, da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Ich schrie und weinte und begann dann wieder zu schreien, denn ich wollte … was eigentlich? Nicht mal ich selbst wusste es. Vielleicht wollte ich ja, dass diese Angst verschwand, die mich nicht atmen ließ. Oder vielleicht musste ich auch allein sein, um ganz in Ruhe in Selbstmitleid zu versinken. Oder aber ich wollte den Mut, um Antonio in die Augen zu sehen und Erklärungen zu fordern. „Was habe ich dir denn angetan, dass du mich so sehr hasst?“ Doch ich hatte Angst vor der Antwort, ich wüsste nicht, wie ich das in Ordnung bringen könnte, wie ich ihm danach ins Gesicht sehen sollte. Letztendlich schluckte ich meinen Stolz hinunter, trocknete meine Tränen und zog mich schnell um (ich würde niemals zulassen, dass mich Jemand zwei Tage hintereinander in ein-und demselben Hemd sah, das wäre demütigend). Ich atmete langsam durch und versuchte, mich zu beruhigen. Das hier würde der letzte Tag sein. Heute würde ich alles verstehen, das hatte mir Antonio versprochen. Und er hielt seine Versprechungen immer. Egal, ob nun früher oder später, er hielt sie. Als ich mein Zimmer verließ, vernahm ich eine hitzige Diskussion aus der Küche. Unsicher begab ich mich dorthin. Da alle in ihrer eigenen Sprache redeten, verstand ich nicht, was sie sagten, das Gespräch war gerade dabei, sich in ein sinnloses Durcheinander aus Worten zu verwandeln. Aus dem Mund meines Bruders konnte ich Folgendes „Er sollte nicht ...“, „ … das wäre ungerecht ...“ und „Wenn wir ihn fragen ….“ auf Italienisch entziffern, sonst verstand ich so gut wie nichts. Als ich die Küche betrat, um zu erfahren, was da los war, verstummten alle schlagartig. Mehr Hinweise brauchte ich nicht, um zu wissen, dass sie über mich redeten. „Guten Morgen“, murmelte ich beim Eintreten. Mir fiel wieder ein, dass ich an diesem Tag erfahren würde, was sie vor mir versteckten. „Ist kein Kaffee da?“ „Es ist Mittag“, erklärte mir Roderich, der in einer sehr aufrechten Haltung auf einem Küchenstuhl saß. „Sei doch nicht so, Rod, dem armen Lovino geht es sehr schlecht.“ Elisabeth kam auf mich zu und setzte mich zu den anderen Ländern an den Tisch. „Willst du einen Kaffee, Romanito?“ „Nein, danke.“ Als ich die mitfühlenden Blicke, die auf mich gerichtet waren, wahrnahm, hatte ich plötzlich keinen Hunger mehr. Ich hasste es, dass alle Welt wegen mir so deprimiert war. „Ihr habt euch in letzter Zeit aber rargemacht“, sagte ich zu Amerika und England, die neben mir saßen. Arthur zuckte mit den Achseln und Alfred begann, übertrieben loszulachen, so wie er es gern tat. „Wir waren beschäftigt.“ Ich schaute Alfred an, ohne zu begreifen, was er damit sagen wollte. „Komm schon, wir sind in Italien! Dort, wo nie die Sonne untergeht! Oder war das Hawaii? Keine Ahnung, jedenfalls sind wir in Italien! Der perfekte Ort um als Paar allein zu sein und ...“ „Tourismus“, unterbrach ihn Arthur mit einem eiskalten Blick. „Mehr nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Links von mir saßen England und Amerika (, die, so wie es aussah, mal wieder eine ihrer berühmten Meinungsverschiedenheiten angefangen hatten), rechts von mir mein Bruder mit verängstigtem Gesicht, Deutschland mit angespanntem Kiefer und auf den Tisch gestützten Händen, und auch Österreich und Ungarn. Gegenüber befanden sich Frankreich, der sein Haar zurechtmachte und Preußen, der geistesabwesend sein Küken streichelte. „Wo ist Spanien?“, fragte ich ohne nachzudenken. Nun machte sich der unangenehme Moment Nummer Zwei bemerkbar. „Er ist … gerade … beschäftigt“, stammelte Francis und steckte seinen Kamm ein. „Beschäftigt womit? Er hat doch gerade nichts zu tun.“ „Wie bitte? Er ist schon lange Zeit von Zuhause weg, da muss er doch ab und zu mal anrufen und schauen wie die Dinge so laufen. Er hat seit Kurzem einen neuen Präsidenten, weißt du?“ „Ja, weiß ich“, antwortete ich als ich mir das Telefongespräch im Flugzeug von vor einigen Tagen wieder ins Gedächtnis rief. Es schien mir eine ganze Ewigkeit her zu sein und nicht bloß eine Woche. „Also beschwer dich nicht, sein Land hat viele Probleme, er hat schon genug damit zu tun, das Kindermädchen für dich zu spielen“, schnauzte Preußen mich an und steckte sich sein Küken in die Jackentasche als er Francis' Vögelchen mit sehr schlechten Absichten herauskommen sah. „Also dann … fangen wir an?“ Die anderen Länder stimmten erleichtert zu. „Dieses Mal bin ich mit Sprechen dran, denke ich“, sagte Ludwig, während er sich so hinstellte als wäre er mitten in einer Konferenz und wäre an der Reihe, das Wort zu ergreifen. „Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?“ Erschöpft schloss ich die Augen und öffnete sie wieder, entschlossen, alles, was nötig war, hinzunehmen, um herauszufinden was in den letzten hundert Jahren meiner Geschichte geschehen war. „Der Mord an einem Erzherzog.“ Ludwig und mein Bruder tauschten vielsagende Blicke aus, die mir nicht verborgen blieben. „Ohne Zweifel der Erste Weltkrieg“, sagte Roderich und sah Elisabeth an. Sie nickte ernst. „Franz-Ferdinand war ein großartiger Mann, ein großartiger Adeliger und ein großartiger Mensch. Er war der Thronerbe und wurde von den Serben brutal ermordet. Eine fürchterliche Nachricht, die ein großer Schock für unser Land war. Es überrascht mich nicht, dass in seinem Namen ein Krieg geführt wurde.“ Arthur hustete und sagte so etwas wie „Heuchler“, aber Österreich schien ihn nicht gehört zu haben. „Tatsächlich war die Lage in Europa zu jenen Zeiten nicht die beste, mon frère.“ Francis warf sein Haar zurück und lächelte. „Wir haben einfach auf eine Ausrede gewartet um uns zu bewaffnen und die Ermordung deines unbedeutenden Erzherzogs war der perfekte Vorwand um wieder einmal den Staub des Kampfes und den Geschmack des Blutes zu probieren.“ „Ich erinnere euch daran, dass wir nicht hier sind um zu streiten“, kam Deutschland zuvor, als er sah, das Österreich und Ungarn kurz davor standen angesichts Frankreichs Andeutungen in die Luft zu gehen. „Wir sind hier, um Romano bei dem Wiedererlangen seines Gedächtnisses zu helfen.“ „Ve, Bruder, Bruder“, sagte Feli, der vergessen zu haben schien, dass ich diesen Morgen kurz davor war, ihn um die Ecke zu bringen. „Der Weltkrieg war nicht lustig, aber ich hab gern mit dir gekämpft. Außerdem hab ich Ludwig kennengelernt, auch wenn er mir nicht geglaubt hat, als ich sagte, ich sei die Tomatenkistenfee ...“ Mein Gesicht spiegelte wohl perfekt die Verwirrung wider, die ich bei diesem Satz verspürte, denn Feliciano begann umgehend, es mir so gut es ging zu erklären. „Genau! Ich wusste dass das deutsche Aufspürkommando sich in der Nähe des Waldes aufhielt also versteckte ich mich in einer Kiste.“ „In einer Kiste? Mitten im Wald?“ „Aber sicher, damit ich nicht gesehen werde.“ „Können wir bitte mit der Geschichte weitermachen?“, unterbrach uns Arthur mit einem müden Gesichtsausdruck. „Ich würde auch gerne irgendwann wieder nach Hause zurückkehren.“ „Das versuche ich ja.“ Ludwig räusperte sich und ließ den Blick durch den Raum wandern bis er sich mit meinem kreuzte. „Ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges hielten Österreich, Ungarn und ich eine Versammlung ab. Wir stellten fest, dass wir deutlich im Nachteil waren, da Russland mit über sechs Millionen Soldaten von Osten kam, uns im Süden Frankreich bedrängte und da außerdem noch Großbritannien war, der sich mit seiner Seestreitkraft am Kampf beteiligte. Wir brauchten einen neuen, starken Verbündeten … und da begegnete ich Feliciano.“ „Daher ...“ „Wartet mal.“ Äußerst aufgewühlt stand ich auf und heftete den Blick auf den Holztisch vor mir. „Ich glaube … ich erinnere mich daran … Ich weiß es wieder!“ Ich klatschte in die Hände. „Ja! Endlich, verdammt. Das war bevor ihr mich nach Spanien geschickt habt, stimmt's?“ „Ja, wir hatten eine Konferenz ...“ „Im Hotel Piemonte“, ergänzte ich selbstzufrieden. „Und Keiner von den Alliierten sollte davon erfahren ...“ Endlich hatte ich eine greifbare Erinnerung, an der ich festhalten konnte. Mir fiel wieder ein, dass der Raum eng, aber lang gewesen war, dass die Wände von einem gräulichen Blau waren und dass es dort nichts außer einem Mahagonitisch mit fünf Stühlen gab. Es hatte nach Minze, Lavendel und Österreichs Rasierwasser gerochen. „Schau mal, schau mal, Bruder, das ist Ludwig. Er ist Deutschland und er sagt, er hätte uns etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.“ Mich mit einer beinahe schon wissenschaftlichen Sorgfalt musternd streckte er mir die Hand entgegen. „Ich weiß schon, was ihr mir sagen wollt.“ Ich nahm Platz und verschränkte die Arme. „Und meine Antwort ist nein. Wir nehmen nicht am Krieg teil.“ „Du bist dazu verpflichtet, uns im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung zu helfen“, erinnerte mich Österreich. „Nur im Verteidigungsfall“, verdeutlichte ich mit erhobenem Finger. „Du hast Serbien den Krieg erklärt, also waren deine Absichten eindeutig offensiver Natur. Das heißt, wir sind überhaupt nicht gezwungen, euch zu helfen.“ „Aber Bruder ...“ Mit einem Blick befahl ich ihm zu schweigen. Nun kamen die Verhandlungen, meine Stärke. Ich wartete ab bis sie feststellten, dass ich hier die Oberhand hatte und ihnen keine andere Wahl blieb als ein paar Territorien an mich abzutreten, wenn sie wollten, dass ich mit ihnen zusammentat. „Was willst du? Mehr Territorien?“, wollte Österreich mit einem Blick voller Verachtung wissen. Lächelnd nickte ich. „Ich will dasselbe wie immer: fruchtbare Gebiete im Norden wie Istrien oder Dalmatien und vielleicht noch den Hafen von Triest.“ „Das ist zu viel“, rief Ungarn, da diese Gebiete Österreich gehörten. „Gib keinen solchen Unsinn von dir, so viel Gebiet können wir nicht an dich abtreten.“ „So lauten meine Forderungen. Und alle hier Anwesenden wissen, dass ihr unsere Unterstützung braucht, um diesen Krieg zu gewinnen. Wie viele Soldaten haben wir, Feli?“ „Eine halbe Million und doppelt so viel Munition“, antwortete er nach kurzem Zögern. „Das ist nicht gerade viel“, bemerkte Ludwig. „Genug, um die Franzosen in ihre Schranken zu weisen und ihr könnte euch währenddessen ganz auf den Kampf gegen Russland konzentrieren.“ Ich hatte es mir lange überlegt. Mein Plan war perfekt, das wussten sie, sie mussten nur einwilligen und der Sieg gehörte ihnen. Obwohl … „Das war noch nicht alles.“ Die Länder um mich herum hörten mir aufmerksam zu. Am Anfang meiner Erklärungen hatten sie zwar versucht, mich zu unterbrechen, doch da sie wussten wie wichtig es für mich war, mich daran erinnern zu können, verstummten sie und warteten geduldig ab. Das Schlimme daran war, dass der Teil der Geschichte, der jetzt kommen würde, einer breiten Mehrheit nicht gefallen würde. „Später … begegnete ich … England und Frankreich.“ „Was?“ Alfred sprang auf und zeigte sehr verstört auf den Engländer. „Was hattest du denn bitte mit dem Franzosen zu schaffen? Und das auch noch ganz allein!“ „Das ist nicht das, was du denkst, Idiot! Hör auf, das Ganze aus dem Zusammenhang zu reißen!“ „Hon hon hon, und woran denkt er wohl genau?“ „An nichts, was dich interessieren könnte.“ Arthur warf ihm vernichtende Blicke zu, doch Francis ließ sich nichts anmerken. „Ve, war das etwa als man wollte, dass du dich mit den Alliierten verbündest?“ „So ist es. Das war wenige Wochen nach meinem Treffen mit der Triple Entente [Anmerkung: Bündnis im Ersten Weltkrieg] wie wir uns nannten. Ich bereitete mich darauf gerade vor, Spanien zu überreden, sich mit uns zu verbünden als England und Frankreich plötzlich unerwartet in meinem Zimmer auftauchten. „Wie seid ihr hier reingekommen?“ „Indem wir die Wachen bestochen haben“, antwortete Francis als ob das offensichtlich wäre. „Hör zu, Keiner weiß, dass wir hier sind ...“ „Das dürft ihr auch nicht. Immerhin sind wir Feinde, eigentlich … sollte ich euch jetzt auf der Stelle eine Kugel in den Kopf schießen.“ Mit einem Tempo, das ich einem halben Jahrhundert Erfahrung mit der Mafia zu verdanken hatte, zog ich meinen Revolver und richte ihn auf Arthurs Kopf. „Ihr habt dreißig Sekunden, dann drücke ich ab.“ Auf einmal war die Anspannung, die im Raum lag, zum Schneiden dick. „Lovino, beruhige dich und hör uns zu.“ Man merkte, dass Francis vortäuschen wollte, als wäre nichts, aber seine Stimme zitterte ein wenig. Arthur dagegen, stand da wie gelähmt mit der Hand in der Hosentasche, wo sich seine Waffe befand. Er war viel zu langsam gewesen und musste nun die Konsequenzen auf sich nehmen. „23 Sekunden.“ Langsam lud ich den Revolver ohne von diesen grünen Augen abzulassen, die Furchtlosigkeit vortäuschten. „Wir sind gekommen, um … um ...“ Als ich sah wie es ihnen ging, fühlte ich mich schrecklich. In Wirklichkeit hatte ich gar nicht vor, sie zu erschießen. Eigentlich war es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie dadurch starben, aber beide hatten mich verspottet und betrogen, als ich selbst hilflos war. Francis war ständig hinter mir her als ich gerade mal ein Kind war und England hatte meine Unabhängigkeit gewollt um mich dann selbst zu annektieren wie ich später erfahren hatte. Ein Italiener vergaß nie etwas, ich musste ihnen zeigen, dass ich bereits erwachsen war und man mit mir keine Spielchen trieb. „Zwölf Sekunden“, flüsterte ich um sie nervös zu machen. „Wir sind gekommen um dir den Süden des Tirols anzubieten“, ergänzte Arthur mit falscher Gelassenheit als er merkte, dass Francis kein Wort herausbekommen konnte. Ich hob eine Augenbraue ohne meine Waffe beiseite zu legen. „Der Tirol gehört Österreich“, bemerkte ich in erster Linie. „Im Moment schon“, sagte England geheimnisvoll lächelnd. Endlich ließ ich die Waffe sinken und nahm eine offenere Haltung ein. „Erklär mir das.“ In Wirklichkeit war das Ganze viel einfacher. Die Gebiete, die man mir versprochen hatte, also Istrien oder Dalmatien und der Hafen von Triest waren bereits Teil meines Landes, also gab es nichts, wofür ich kämpfen musste, nichts was ich erreichen musste. Wenn ich mich aber den Alliierten anschließen würde, hätten wir den sicheren Sieg in der Tasche und ich bekäme viel mehr Städte. Mehr Land. Mehr Landwirtschaft, mehr Viehzucht und somit auch eine gesteigerte Wirtschaft. Dies war das Einzige, was mich im Moment interessierte: Italien voranschreiten zu lassen und es auf die gleiche Stufe mit Großmächten wie Deutschland oder Großbritannien zu stellen. Nur so würde man aufhören, Italien als ein Land zweiter Klasse herabzustufen. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Wir verbrachten den ganzen Vormittag in der Küche, indem wir uns angeregt über den Weltkrieg unterhielten. Obwohl die Anderen versuchten so zu tun, als wäre nichts und das Ganze ein wenig ins Lächerliche zu ziehen, merkte ich, dass sie alle schlechte Erinnerungen an diese Zeit hatten. Das sah man an dem traurigen Glanz in Ungarns Augen, an Arthurs zitternden Händen und an dem melancholischen Tonfall in der Stimme meines Bruders. Und doch entging mir nicht, was für eine unglaubliche Mühe sie sich gaben, um mir den Ersten Weltkrieg auf möglichst angenehme Art und Weise zusammenzufassen. Oh ja, sie nutzten jede Gelegenheit, um über meine Ungeschicklichkeit zu lachen oder meine mangelnden sozialen Kompetenzen zu verspotten, aber dennoch(und das würde ich niemals laut sagen) war ich glücklich, mich auf diese Freunde verlassen zu können. Freunde, die in der Lage waren, alles stehen und liegen zu lassen, in ein Flugzeug zu steigen und mir beim Erinnern zu helfen. Freunde, die die Geduld hatten, um all meine Launen und ständigen Stimmungsschwankungen zu ertragen. Freunde, die obwohl sie praktisch alle von mir hintergangen wurden, sich dermaßen anstrengten, um mir zu helfen, mein Leben zurückzugewinnen. „ … und das geschah dann letzten Endes.“ Mit einem Seufzer schloss Österreich die 30-er Jahre ab. „Und dann?“, fragte ich begierig um noch viel mehr zu erfahren. „Tja ...“ Preußen schien von den ganzen Datumsangaben, Verträgen und Schlachten der Kopf zu schwirren. „Dann kam doch auch schon die Hochzeit von Deutschland und Italien, nicht wahr?“ „Was?!“ Das hier war genau der Teil der Geschichte, den ich so gar nicht hören wollte. „Sie war geheim“, erklärte Ungarn mir freudig. „Die Nazis in Deutschland wurden immer mächtiger und es war ja bekannt, dass sie die Homosexualität verdammten.“ Mit deutlicher Verachtung kniff sie die Augen zusammen und murmelte etwas auf Ungarisch, das nicht sehr nett klang. „Wann war das genau?“ Doch Niemand konnte mir antworten. Ein Geräusch an der Küchentür zeigte uns, dass Jemand das Gespräch belauschte. Wir drehten uns alle gleichzeitig um und entdeckten Spanien mit einem überraschten Gesichtsausdruck, der seinen Koffer aufhob und wieder hinstellte. „Leute … könnt ihr mich einen Moment lang mit Lovino alleinlassen?“, fragte er mit trauriger Stimme ohne den Blick vom Boden abzuwenden. Einer nach dem Anderen verließen sie den Raum, wobei sie mir mitleidige und … vorwurfsvolle? Blicke zuwarfen. Dieses ganze Melodrama begann mir langsam Kopfschmerzen zu bereiten. „Lovino“, wisperte er als wir schließlich allein waren. „Komm her.“ Ich hätte mich weigern können, hätte ihn fragen können, wozu er einen Koffer dabeihatte oder warum er das ganze Theater nicht endlich sein ließ und es mir einfach sagte. Aber ich gehorchte, so langsam wie ich konnte, ging ich zu ihm und versuchte, mein hektisch schlagendes Herz zu beruhigen. Ohne Vorwarnung nahm er meine Hand, zog mich zu sich und umarmte mich. Sofort stellte ich fest, dass diese Umarmung anders war als die voller Wärme und Liebe, die Antonio sonst immer gab. Nein. Diese hier war beladen mit so verschiedenen Gefühlen wie Schmerz, Leiden, Sanftheit, Zuneigung, Zärtlichkeit und Kummer. Ich riss die Augen auf, als mir bewusst wurde, dass dies eine Abschiedsumarmung war. „Mein Flugzeug geht in einer Stunde“, erklärte mir Antonio als er sich von mir löste. „Ich hab nicht viel Zeit.“ „Fliegst du nach Spanien zurück?“, fragte ich mit einem Kloß im Hals. Ich wollte nicht, dass er ging, ich brauchte ihn bei mir. Bitte bleib, bleib bei mir. Hass mich, verachte mich, wenn du das willst, aber bitte geh nicht. „Ich bin schon lange Zeit nicht mehr in meinem Land gewesen, meine Leute brauchen mich ...“ „Zur Hölle mit deinen Leuten!“, schrie ich kraftlos. „Du … hast mir gesagt, dass … du mir sagst, warum ...“ „Ich weiß, Lovino, ganz ruhig.“ Er führte mich zum Sofa und setzte sich mit mir zusammen hin. „Das hab ich auch vor. Ich werde dir alles erzählen, das versprech ich dir, aber ich werde es schnell machen, also musst du gut zuhören. Einverstanden? Du darfst mich nicht unterbrechen.“ Ich nickte. Ich hatte das Gefühl als wären wir in der Zeit zurückgereist und wären wieder einmal Boss und Untergebener, als ich noch nichts verstand und er sich mit Geduld wappnen musste, um mir zu erklären wie die Welt funktionierte. In gewisser Weise war das ein angenehmes Gefühl. „Es mag dir vielleicht verrückt vorkommen, aber alles begann im Jahr 1939. Die Republikaner hatten den spanischen Bürgerkrieg verloren und eine neue Ordnung wurde in Spanien geschaffen, der Faschismus mit Franco als sichtbaren Anführer [Anmerkung: General Francisco Franco, spanischer Diktator bis 1975]. Er war ein Mann mit äußerst rechtsorientierten Ideen, ein wenig verschlossen, ruhig, stolz, intelligent und von Zeit zu Zeit auch schweigsam. Er führte das Land mit fester Hand, ohne jedes Zögern. Nicht einmal ich wurde von ihm verschont. Jeder wusste wie hart er mit denen umging, die er als „Abweichler“ ansah. Er verprügelte sie, er folterte sie, erließ sie unmenschliche psychische Qualen durchstehen … Obwohl es im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zu einer Ablehnung von Homosexuellen kam, hatte ich Angst. Ich war sehr verängstigt, mehr als je zuvor in meinem Leben. Franco schien wirklich besessen von mir zu sein, er folgte mir auf Schritt und Tritt, rief mich zu den unmöglichsten Uhrzeiten zu sich, brauchte stets meine Meinung und passte immer auf, was machte oder sagte. Ich wollte gar nicht wissen, was passieren würde falls er mitbekam, dass das Land, das er so verehrte, für das er praktisch sein Leben lang gekämpft hatte … in einen anderen Mann verliebt war. Ach, komm, Lovino, sei doch nicht so überrascht. Du weißt doch schon, dass ich verrückt nach dir bin. Je mehr Jahre vergingen, desto mehr beharrte er darauf, über Frauen zu sprechen. „Was du brauchst, Junge, ist eine gute Ehefrau, die den Boden unter deinen Füßen küsst. So hast du Jemanden, der dir nachts das Bett warmhält … und nicht nur das Bett.“ Als ich mich für keine der Frauen interessierte, die er mir vorstellte, wirkte er misstrauisch. Die Frauen waren blond, braunhaarig, rothaarig, groß, klein, schüchtern, mit guter Figur, mochten Spaziergänge, Gartenarbeit, Geigespielen, hörten gern aufmerksam zu und mochten es, immer Recht zu geben. Letztendlich musste ich eine Entscheidung treffen. Ich hatte da eine gute Freundin, die über meine Lage Bescheid wusste und mir zur Hand gehen könnte. Auf Festen und gesellschaftlichen Versammlungen könnten wir einfach vortäuschen, ein Paar zu sein. Oh ja, Belgien half mir sehr in diesen Augenblicken meines Lebens, ich könnte ihr niemals genug danken für das, was sie für mich getan hatte. Doch selbstverständlich dachtest du nicht das Gleiche. An dem Tag, als ich Franco zu seinem Treffen mit Mussolini begleitete, warst du ebenfalls anwesend und als wir dann allein waren, zeigtest du mir sehr deutlich, was du von diesem Schwindel hieltest. „Du bist ein Heuchler“, warfst du mir vor als ich mich zu dir beugte um dich zu umarmen. „Ein verlogenes Schwein.“ Deine Worte haben mich sehr verletzt, sie waren wie tausend Messerstiche. „Sei nicht so grausam, Lovino. Vergiss nicht, dass dein Minister diesselben Ideen hat wie meiner.“ „Aber wenigstens spiele ich mich nicht mit einem Mädchen am Arm auf, um ihm Recht zu geben.“ Du wirktest gekränkt, gedemütigt und enttäuschst. Ich hatte noch gar nicht den Mund aufgemacht um mich zu entschuldigen, da schütteltest du schon den Kopf. „Ich will nicht mit dir reden. Verschwinde, dein Anführer wartet bereits auf dich, nicht wahr?“ Die darauffolgenden Jahre verbrachte ich mit Versuchen, dich für meine Dummheit um Verzeihung zu bitten. Ich hatte mich wie ein Vollidiot benommen, hatte nur an mich selbst gedacht und daran, alles Mögliche zu tun, um das Geheimnis zu bewahren. Keinen Sekunde lang hatte ich mich damit aufgehalten, an dich zu denken und wie du dich wohl fühlen würdest, wenn du erfahren würdest, dass ich mit Belgien ausging. Zu meiner Verteidigung darf ich sagen, dass ich glaubte, du würdest es verstehen und wissen, dass alles nur Theater war. Der Einzige, den ich liebte, warst du, so wie ich es dir im Laufe der Geschichte unzählige Male wiederholt hatte … aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, wie konntest du es bitte verstehen? Denn ich hatte dir nicht mal einen Brief geschrieben um es dir zu erzählen. Um zu versuchen, es wieder gutzumachen, schrieb ich dir Hunderte von Briefen, die ich aber leider nicht abschicken konnte, da dein Land in einen zweiten Weltkrieg verwickelt war und die Grenzen verschlossen waren. Ich schrieb dir davon, was ich jeden Tag machte, was grundsätzlich darin bestand, dich zu vermissen und mich um die Zukunft deines Landes zu sorgen, da der Krieg eine unvorhergesehene Wende nehmen konnte. Ich bat dich um Verzeihung in allen Sprachen, die ich kannte und wiederholte bis zum Überdruss, dass du der Einzige warst, den ich jemals geliebt hatte, obwohl ich wusste, dass meine Worte all ihre Glaubhaftigkeit verloren hatten. Ich überredete Franco, dir eine Truppe zuschicken zu dürfen und dir im Kampf zu helfen. Zwar dachte ich daran, dir die Briefe durch eine Kontaktperson zukommen zu lassen, aber da es immer noch zu riskant war, behielt ich sie und wartete ab. So vergingen fünf Jahre und als der Krieg vorbei war, schickte ich sie dir alle auf einmal. Es versteht sich wohl von selbst, dass du keinen einzigen davon beantwortet hast. Aber ich gab nicht auf. Ich wusste, was für ein Dickkopf du warst. Nur durch Beharrlichkeit konnte ich dich wiedersehen, indem ich jedes Jahr oder alle zwei Jahre in dein Land reiste, mich dir näherte und dich selbst davon überzeugen ließ, dass ich dich nicht so einfach gehen lassen würde. Fünfzig Jahre hatte ich gebraucht, um dich zu überzeugen. Fünfzig Jahre. An Silvester 1992 hatte ich dich endlich dazu gebracht, zur Puerta de Sol [Platz in Madrid] zu kommen um mit mir zusammen die Glockenschläge anzusehen. Ich hörte weder den Lärm um uns herum, noch die Glockenschläge und feierte auch das neue Jahr nicht. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, wie ich dich mitten im Gedränge umarmte und wie ich lächelte als du mich nicht von dir geschoben hast. „Gibst du denn niemals auf?“, murmeltest du mir ins Ohr mit einer vor Kälte zitternden Stimme. „Niemals“, schwor ich dir. „Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Ich werde alles bekämpfen, was nötig ist, um mit dir zusammen zu sein.“ Du hast geseufzt und dich enger an mich gedrückt. „Also vermute ich mal, dass ich nichts dagegen tun kann. Du bist so ein störrischer Bastard.“ Und so begannen die zwanzig glücklichsten Jahre meines Lebens. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, entweder in meiner Wohnung in Madrid oder in diesem Haus hier. Ich konnte es nicht ertragen, mehr als ein paar Monate von dir weg zu sein, also lief ich jedes Mal wenn du nicht kommen konntest davon, um dir einen schnellen Besuch abzustatten, und kehrte dann wieder zurück ohne dass Jemand meine Abwesenheit bemerkte. Wir gingen zusammen ins Kino, ins Theater, machten Spaziergänge und unterhielten uns. Nur wenige Male schaffte ich es, dich zum Lachen zu bringen, doch das war nicht wichtig. Das Beste am ganzen Tag war für mich, wenn wir im Bett lagen, ich dich umarmte und dir immer und immer wieder sagte wie glücklich ich mit dir war bis du mich anschriest, ich solle dich gefälligst schlafen lassen. Doch unsere schöne Zeit kam zu einem Ende. Die rechte Regierung war an die Macht gekommen und es war sehr warscheinlich, dass sie das Gesetz, das die Homoehe erlaubte, aufheben würde und … Ach, wusstest du das nicht? Ja, wir wollten heiraten. Doch du warst von Anfang an dagegen. Du wolltest nicht, dass Jemand von unserer Hochzeit erfuhr, wolltest kein Geschenk von mir, um es zu feiern und auch nicht mehr darüber sprechen als unbedingt nötig. Du wolltest nicht einmal, dass ich dir einen Antrag machte wie es sich gehörte! Deinen Verlobungsring verstecktest du sogar vor der ganzen Welt. Du hast ihn als Halskette getragen und mit deiner Kleidung verdeckt. Aber trotz allem wollten wir … wollte ich mit der Hochzeit fortfahren. Unsere Pläne kamen voran, als wir mitbekamen, dass die Regierung wieder gewechselt hatte. Ich wollte nicht zulassen, dass wir es weiter verschoben. Im April wollten wir heiraten. Am zehnten April. In etwa … zwei Monaten. Doch dann kam der Tag deines Unfalls. Wir befanden uns in unserer Wohnung in Madrid und verteilten die Leute auf die einzelnen Tische für das Festessen als ich den Fehler beging, zu erwähnen, dass Belgien zur Hochzeit kommen würde. Erst dachtest du, es handele sich um einen Scherz, doch als ich es dir noch einmal ganz ernst wiederholte, wurdest du rasend vor Wut. Du hast mich angeschrien, beleidigt, und dann wieder völlig außer dir angebrüllt. Wenn ich so sehr wollte, dass sie zu unserer Hochzeit kommt, sagtest du, dann könnte ich auch gleich sie heiraten. „Lovino, das ist unlogisch.“ „ICH unlogisch? Du bist es doch, der seine Ex auf UNSERE Hochzeit eingeladen hat.“ „Sie ist bloß eine Freundin!“ „Eine Freundin! Ich pfeife darauf! Wenn sie nur eine Freundin wäre, wärst du nicht mit ihr ausgegangen, hättest sie nicht vor den Augen aller geküsst und nicht bis zum Überdruss wiederholt, dass du sie gern heiraten würdest.“ „Ich hab dir doch schon tausend Mal gesagt, dass das nur gespielt war. Franco ...“ „Ja, genau, immer kommst du mir mit derselben Ausrede. Franco schaute dich komisch an, weil du nicht mit Frauen ausgegangen bist. Aber verdammt, soweit ich weiß, hat er dich nicht dazu gezwungen!“ Du schnapptest dir den Türgriff und öffnetest sehr verärgert die Tür. „Also gut, mach doch was du willst. Heirate sie, heirate die halbe Welt, wenn es das ist was du willst, aber lass mich in Frieden. Wir sind fertig miteinander.“ Die Tür hinter dir zuknallend gingst du. Es war nicht das erste Mal, dass du nach einem hitzigen Streit unsere Beziehung abgebrochen hattest, also nahm ich es nicht so ernst. Ich glaubte, du würdest entspannter nach Hause zurückkommen und wir könnten in Ruhe darüber reden. Ich würde dich um Entschuldigung bitten, dass ich es dir nicht früher gesagt hatte und du würdest sagen, wie blöd es von dir war, zu glauben, dass zwischen ihr und mir irgendwann etwas gelaufen war.. Aber natürlich lag ich falsch.. Als ich dich dann im Krankenhaus sah … es gibt keine Worte, die beschreiben, wie schlecht ich mich fühlte. Wir können zwar nicht sterben, aber sehr wohl Schmerzen spüren. Angesichts dieser schrecklichen Wunden, konnte ich mir vorstellen, wie unglaublich du leiden musstest, die Bilder verfolgen mich nachts immer noch wenn ich die Augen schließe und versuche, zu schlafen. Obwohl ich das konstante Piepsgeräusch hörte, das deinen Tod anzeigte, versuchte ich mich zu beruhigen. „Nationen sterben nicht, Nationen sterben nicht, du darfst nicht sterben!“ Ich verlor langsam den Verstand, also begann ich, dich immer wieder beim Namen zu rufen und dich anzuflehen, endlich aufzuwachen, auch wenn ich wusste, dass das nichts viel brachte. Ich musste nur abwarten bis du das Bewusstsein zurückerlangst um dich wieder in unsere Wohnung zu tragen. Doch während du im Koma lagst, bemerkte ich etwas sehr Wichtiges. Du hattest den Verlobungsring nicht mehr um den Hals. Also hattest du unsere Hochzeit tatsächlich abgesagt. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Tick, tack, tick, tack … Der Sekundenzeiger der Uhr an der Wand war das Einzige, was mich noch auf dem Boden der Tatsachen, in der Wirklichkeit, hielt. Wenn dieses hämmernde Geräusch nicht wäre, wäre mein Verstand zwischen Verzweiflung und Verbitterung umhergeirrt. Antonio hatte einen letzten Blick auf diese Uhr geworfen bevor er gegangen war. Für immer. Und es war meine Schuld. Tick, tack, tick … In meinen Händen ruhte noch das letzte Geschenk, das er mir gegeben hatte. Sein eigener Verlobungsring. Er hatte ihn die ganze Zeit vor mir versteckt. „Ich wollte nicht, dass du unnötige Fragen stellst“, hatte er traurig lächelnd gesagt. Das war das Letzte, was ich aus seinen Lippen gehört hatte. Nein. Eine Lüge. Er hatte auch Lebewohl gesagt. Nein, ich wollte nicht, dass er ging. Ich wollte nicht, dass er aus meinem Leben verschwand, ich konnte es nicht ertragen. Ich wollte es nicht ertragen. Doch als ich ihn davongehen sah, erstarben die Bitten in meiner Kehle. Tack, tick, tack, tick, tack … Von all den Gefühlen, die ich in diesen Momenten empfand, war mir nur eine Sache klar, ein greifbarer Gedanke: so etwas Schreckliches konnte ich nicht getan haben. Es war mir gleich, was die Beweise sagten, sicher hatte ich den Ring nicht bei mir, doch er konnte ja während des Unfalls heruntergefallen sein oder ich könnte ihn bei meinem Spaziergang durch Madrid verloren haben oder aber … ich hatte ihn in einem Wutanfall weggeworfen. Tick, tack, tick, tack … tack … tack … Nein, niemals. Niemals hätte ich ihn weggeworfen, da war ich mir sicher, schließlich kannte ich mich selbst. Was hätte ich getan, hätte ich, mal angenommen, die Beziehung mit Antonio abgebrochen? Lange überlegen musste ich nicht: ich hätte den Ring auf dem nächstbesten Marktstand verkauft. Kein einziges Andenken an ihn hätte ich behalten wollen und mich von allem getrennt, was mich auch nur das kleinste bisschen an unseren glücklichen Zeiten erinnerte. Mir meiner Sache sehr sicher, stand ich auf und eilte in mein Zimmer. Meine braune Brieftasche lag neben meinem Bett. Ich machte sie auf und suchte nach irgendeinem Beweis, einer Quittung, einer Adresse, irgendetwas, was mich auf die Spur brachte, wo sich der Ring befand. Meine Hände zitterten und kalter Schweiß begann, mir den Rücken hinunterzulaufen. Wenn der Beleg da war, dann war das der Beweis dafür, dass ich die Beziehung beeendet hatte. Die Beziehung mit dem einzigen Mann, den ich jemals in meinem Leben geliebt hatte und dann wusste ich, würde ich mich noch schuldiger fühlen. Vor lauter Nervösität fiel mir eine der Visitenkarten auf den Boden und gelangte unter das Bett. Ich verfluchte mich selbst und bückte mich um sie schnell aufzuheben. Doch bevor ich mich wieder aufrichtete, streifte ich eine kleine Schachtel, die so groß wie meine Handfläche war. Unsicher nahm ich sie mir und betrachtete sie eingehend. Es war das in buntes Papier eingewickeltes Kästchen, das man am Tag meines Unfalls neben meinem bewusstlosen Körper gefunden hatte. Mit zum Zerreißen gespannten Nerven zog ich an der roten Schnur und machte es langsam auf. Als ich den Inhalt sah, lächelte ich. Ich erinnerte mich. Endlich erinnerte ich mich an alles. [Anmerkung: Das, was Lovino gefunden hat, ist NICHT der Ring] Kapitel 8: Epilog ----------------- Anmerkung: Der Epilog ist genau wie der Prolog aus Antonios Sicht geschrieben. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und ging langsam zu dem von Alfred gemieteten Auto. Sobald ich dieses Haus verlassen hätte, sobald ich den Türknauf losließ, so glaubte ich, würde ich mich fühlen als hätte ich ein Buch zugemacht, traurig, dass es zu Ende gegangen ist und gleichzeitig erleichtert, das alles hinter mir zu haben. Doch so war es nicht. Als ich das Haus verließ, war es so, als hätte sich die Last, die ich in dieser ganzen Zeit schleppen musste, vertausendfacht. Ich legte den Koffer auf den Rücksitz und machte die Beifahrertür auf bevor ich mich auf den Sitz fallen ließ und mein Gesicht in den Händen vergrub. Ausnahmsweise hatte Alfred mal den Anstand, seine Meinung für sich zu behalten. Schweigend startete er den Motor und sagte nichts bis er die Ausfahrt zur Autobahn nahm. Dann wurde es zu viel für ihn. „Nicht gut gelaufen?“, fragte er ohne den Blick von der Straße zu lösen. „Nein, es ist wirklich nicht gut gelaufen“, antwortete ich ihm und holte das Fotoalbum heraus. Nacht für Nacht hatte ich mir seinen Inhalt angesehen, mich an schöne Zeiten erinnert und mich selbst verflucht, nicht jeden Blick, jedes Blinzeln, jedes Wort und jede Geste von Lovino aufbewahrt zu haben. Nein, nicht Lovino. So durfte ich ihn nicht nennen, es tat zu sehr weh. Romano. Dieser Name war professioneller, förmlicher, unpersönlicher, schaffte mehr Distanz zwischen uns und hatte keinen liebevollen Beiklang wie der Name Lovino. Denn für mich war er immer Lovino gewesen oder zumindest „Romanito“ um ihn zu ärgern. „Lovino, hilf mir beim Hausputz.“ „Lovino, bist du hingefallen? Hast du dir wehgetan?“ „Für mich? Zu meinem Geburtstag? Vielen Dank, Lovino!“ „Du bist niedlich.“ „Bleib heute nacht bei mir.“ „Lass mich nicht allein.“ „Ich kann nicht ohne dich.“ „Ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll.“ „Liebe mich.“ Wütend knallte ich das Album zu. Ich hatte es satt, mich selbst zu bemitleiden, es brachte doch sowieso nichts. Man sagte, die Zeit würde alle Wunden heilen, was ich auch ehrlich erhoffte, sonst würde ich noch den Verstand verlieren wenn ich jede Minute an Lovino denke. (Nein, Romano. Was hatte ich vorhin gesagt? RomanoRomanoRomano.) „Alfred“ Meine Stimme kam aus dem Nichts wie ein plötzlicher Windstoß. Ich sollte nicht mehr über dieses Thema sprechen, das wusste ich, doch die Unsicherheit quälte mich. „Alfred … denkst du, ich tue das Richtige?“ Stille. Er überholte einen blauen Seat und schwieg weiter. „Was hättest du an meiner Stelle getan?“ Er richtete seine Brille und zeigte lächelte albern so wie nur er es konnte. „Genau das Gleiche wie du“, sagte er und wechselte wieder auf die rechte Fahrspur. „Aber ich wäre dageblieben bis ich die ganze Wahrheit erfahre, Helden gehen nicht einfach so weg.“ Langsam nickte ich. Ich hätte bei ihm bleiben sollen, schließlich hatte ich das Recht zu erfahren, warum er mich auf so eine unerwartete und absurde Weise verlassen hatte. Doch tief in mir drin wusste ich es bereits. Lovino hatte mich nie geliebt. Das war die einzige mögliche Wahrheit, das Einzige, worüber ich mir von Anfang an im Klaren war, die harte Realität, die mein Herz Zentimeter für Zentimeter auseinanderriss, seit ich festgestellt hatte, dass der Ring nicht mehr um seinen Hals hing. Fünfzig Jahre hatte er mich leiden lassen, bis ich lästig genug für ihn wurde, dass er akzeptierte um mich so zum Schweigen zu bringen. Und im Laufe dieser Zeit, in der wir zusammen waren, war immer ich der, der anrief, der, der ihn in Italien besuchte, der, der ihn dazu drängen musste, nicht nur ein paar Stunden miteinander zu reden und dann wieder an die Arbeit zu gehen. Warum hätte ich sonst fast zwei Monate gebraucht, um ihn zu überzeugen, möglichst bald zu heiraten? Warum sonst hatte er die Nachricht vor der ganzen Welt verheimlicht? Warum sonst wollte er nicht einmal ein Verlobungsgeschenk von mir? Er hat sich nie für mich interessiert. Ich vermute mal, ich war keine wichtige Person in seinem Leben. So wie er es für mich war (ist). ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Die Autofahrt kam mir wie ein Traum vor. Ich erinnerte mich wie Alfred ein paar Mal versucht hatte, mich aufzumuntern, aber ich war so niedergeschlagen, dass ich kaum ein Wort von mir gab. Ich musste im Stillen leiden, das war das Beste, was ich tun konnte. Das alles führte dazu, dass ich so darauf konzentriert war, mir den Kummer nicht anmerken zu lassen, dass es mich überraschte, als ich mich plötzlich auf einen Sitzplatz im Flugzeug niederließ und man mir riet, mein Handy auszuschalten. Ich lächelte. Normalerweise war es Lov …. Romano, der mich jedes Mal etwa zwanzig Mal daran erinnerte, obwohl ich ihm schwor, dass es schon aus war. Dann hätte er sich neben mich gesetzt und mir ein paar Anekdoten erzählt, damit ich lachte und mich entspannte. Nur wenn wir mit dem Flugzeug flogen, war er einigermaßen nett zu mir, zumindest hatte er wenigstens den Anstand, mich nicht wegen meiner Flugangst zu ärgern oder sich darüber lustigzumachen. Manchmal reichte er mir sogar die Hand, die ich fest drückte. „Alles wird gut, Bastard. Mach dir keine Sorgen mehr, du machst mir Kopfschmerzen.“ Doch diesmal saß er nicht neben mir. Es gab nichts außer einem leeren Sitzplatz am Fenster, von dem aus man sah wie die Flughafenangestellten mit ihren Warnwesten hin- und hereilten und den Flugzeugen mit ihren farbigen Lichtern das Signal zum Abheben gaben. Ich strich über den Umschlag des Fotoalbums. Heracles hatte mir empfohlen, es ihm nach und nach zu zeigen wenn er in seiner Geschichte vorankommt, damit er sich schnell wieder erinnern kann. Doch ich hatte es nicht geschafft. Ich war ein Feigling, einfach so abzuhauen ohne zu warten bis er sein Gedächtnis wieder vollständig zurückerhalten hat, aber es tat einfach zu sehr weh, sich zur gleichen Zeit wie er an all unsere glücklichen Momente zu erinnern. Das Einzige, was ich wollte, war nach Hause zurückzukehren und mich so schnell wie möglich zu erholen um wieder an die Arbeit zu gehen. „Verzeihung … sind Sie Antonio Fernández?“, fragte eine sehr nette Stewardess in perfektem Spanisch und mit einem gigantischen Lächeln. „Ja, gibt’s ein Problem?“ „Bitte kommen Sie mit.“ Erstaunt folgte ich der Stewardess, die mich zum Ausgang des Flugzeugs führte. Meine Überraschung war enorm als ich Elisabeth, Francis und Gilbert dort draußen warten sah. „Was ist lo-?“ „Das ist er!“, rief Elisabeth und zeigte mit dem Finger auf mich. „Das ist der Betrüger, der mein ganzes Geld geklaut hat!“ „Verhafte ihn, Beilschmidt.“ Gilbert kam auf mich zu und ohne dass ich immer noch begriff, was eigentlich los war, legte er mir Handschellen an. „Moment mal … warte! Was soll das?“ „Du hast das Recht zu schweigen. Und auch das Recht auf einen Anwalt. Widersetz dich nicht, denn sonst werden wir Gewalt anwenden müssen ...“ „Gilbert! Was redest du denn da?“ „Vielen Dank für Ihre Mitwirkung, Fräulein“, sagte Francis galant. „Dank Ihnen werden wir nun einen der bekanntesten Betrüger der Geschichte verhaften können.“ Die Stewardess nickte eifrig. „Gott sei Dank haben Sie ihn geschnappt, nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre so ein Krimineller weiterhin auf freiem Fuß.“ „Aber ich bin kein ...“ „Kesesese, zum Glück ist der Awesome da, um die Welt zu retten.“ Er passte die Handschellen ein wenig an. „Und spar dir deine Ausreden für den Anwalt auf, der hat sicher mehr Interesse daran, dir zuzuhören.“ „Halten wir sie nicht mehr auf.“ Und Francis nickte ihr zu, was verdächtigerweise nach einer dieser veralteten Verbeugungen aussah, die er Frauen im 18. Jahrhundert gewidmet hatte. „Einen schönen Flug wünsche ich Ihnen, Fräulein ...“ „Erika Morgan.“ Sie hob die Hand, verabschiedete sich von uns und schloss die Tür hinter sich. Trotz meiner zahlreichen Bitten und Forderungen, blieben die drei stumm und gaben kein Wort von sich bis wir den Flughafen hastig verlassen hatten. „Da bist du aber in ein schönes Durcheinander geraten, Antonio“, bemerkte Elisabeth lächelnd. „Darf ich bitte erfahren, was hier los ist?“ fragte ich während ich versuchte, mich zu befreien. „Nimmst du mir endlich diese Handschellen ab, Gilbert?“ „Nein, noch nicht. Er hat uns gesagt, das wäre deine Strafe.“ „Strafe? Er? Aber was …?“ Sie öffneten die Türen eines grünen Autos und steckten mich mit dem Kopf voran hinein. „Das ist nicht lustig. Lasst mich hier raus, ihr Idioten!“ „Der einzige Idiot hier bist du“, hörte ich eine wütende Stimme in meinem Rücken. Eine Stimme, die ich nur zu gut kannte. Langsam drehte ich mich um, was angesichts der Ketten gar nicht so einfach war, um einem angespannten, gereizten und unglaublich wütenden Lovino zu begegnen. „Bastard, Mistkerl, Arschloch, Idiot, Blödmann, ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!“, schrie er während er auf mich einschlug. „Aufhören! Du tust mir weh! Schluss damit!“ Doch er verhaute mich weiterhin und ich steckte die Schläge ein ohne zu wissen wie ich mich verteidigen sollte. Dann schien Lovino sich zu beruhigen. Er atmete schwer, war feuerrot im Gesicht, hatte steife Kiefer und die Hände fest zu Fäusten geschlossen. Er musste wirklich stinksauer sein. Und dann startete er ohne Weiteres den Motor, beschleunigte mit allem was er hatte und fuhr auf die Autobahn. Wusstet ihr, dass man von den Italienern sagt, sie seien fürchterliche Autofahrer? Das stimmt. Lovino raste über die Landstraße als wäre der Teufel hinter ihm her. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass er schon die 140 km/h überschritten hatte und noch weiter beschleunigte. Mir schlug das Herz bis zum Hals als er ein Polizeiauto überholte, das wir dann zum Glück an einer der Kreuzungen abschüttelten. „Lovino, bitte … fahr langsamer“, flehte ich verängstigt und versuchte, mir den Sicherheitsgurt so gut es ging anzulegen. „Wie konntest du … nur denken, dass ich … dass ich ...“ Fest umklammerte er das Lenkrad. „Du verstehst aber auch gar nichts.“ Auf einmal schloss ich meinen Mund. Er hatte Recht, ich verstand es nicht. Fast eine Woche hatte ich mich im Kreis bewegt und es nicht geschafft, auch nur das kleinste bisschen Licht in die Angelegenheit zu bringen. Warum hatte er mich verlassen? Warum hatte er die Beziehung zu mir abgebrochen? Warum hatte er mich die ganze Zeit getäuscht obwohl er mich in Wirklichkeit niemals geliebt hatte? „Dann erklär du es mir“, verlangte ich mit Bestimmtheit. Er atmete tief durch in dem Versuch, sich vollständig zu beruhigen. Dann kniff er die Augen zusammen und nahm den Fuß ein wenig vom Gaspedal bis er eine mehr oder weniger normale Geschwindigkeit erreichte. „Als ich ging … war ich sehr wütend auf dich. Schrecklich wütend. Ich glaubte, das Ganze mit der Hochzeit sei nur ein Vorwand, um dich wieder mal mit Belgien zu treffen und mit ihr durchzubrennen oder sowas in der Art. Die ganze Zeit dachte ich, dass sie die Einzige wäre, die du liebst ...“ Überrascht von diesem seltsamen Geständnis runzelte ich die Stirn. „Aber … ich hab dir doch tausend Mal gesagt, dass ich dich liebe.“ „Ich weiß, aber …“ Er seufzte ohne den Blick von der Straße abzuwenden. „Sie ist wunderschön, sympathisch, nett, liebevoll und denkt niemals schlecht von Anderen, im Gegensatz zu mir. Und das ist genau … genau das, was du brauchst.“ Er schluckte geräuschvoll und fuhr sich durchs Haar, so wie jedes Mal, wenn er bestimmte Gedanken beiseiteschieben wollte. „Deshalb habe ich immer gedacht, dass du mit ihr zusammen sein solltest und nicht mit mir. Aus diesem Grund war ich so gereizt, was die Hochzeit anging, weil ich dachte, du verdienest etwas Besseres als mich.“ Ich fragte mich ob ich richtig gehört hatte. Ob ich exakt das hörte, was er zu sagen schien. Letztendlich könnte es doch sein, dass … „Also … liebst du mich?“ „Aber natürlich …!“ Er räusperte sich und drehte sich zum Fenster, so als ob er in den Rückspiegel schauen würde obwohl ich ganz genau wusste, dass Spiegel für Italiener kaum mehr als nur Schmuck waren. „Als ich durch die Straßen lief und dich dabei in dutzend verschiedenen Sprachen verfluchte, stellte ich fest, dass ich mich auf der Gran Vía befand, von unbekannten Leuten umzingelt, die aus allen Richtungen kamen.“ Sehr langsam nickte ich. Aus meiner Erfahrung wusste ich, dass Lovi Menschenmengen nicht so gern mochte. „Um aus der Menge rauszukommen, begab ich mich in den nächstbesten Laden, den ich finden konnte“, fuhr er fort. „Er stellte sich als ein Juwelier der teuren Sorte heraus, einer von der Art, in dem man dich schon fürs Atmen abkassiert und in dem sich in jedem Winkel Kameras befanden. Ein Verkäufer kam auf mich zu und fragte, ob er mir helfen könne. Ich wollte schon nein sagen und so schnell es ging verschwinden als ich im Schaufenster etwas entdeckte, was meine Aufmerksamkeit erweckte. Und dann erinnerte ich mich an dich.“ Lovino beugte sich in Richtung Autotür und warf mir eine Schachtel zu, die in sehr zerknittertes buntes Papier eingewickelt war. Vorsichtig nahm ich sie entgegen und schaute ihn aus dem Augenwinkel an, um zu erfahren, was ich damit tun sollte. Da er ungeduldig murrte, schien er wohl darauf zu warten, dass ich sie aufmachte. Ich zog das Papier vorsichtig ab und machte das Kästchen auf, dass sich mit einem vielversprechenden Klicken öffnete. Darin lag eine wunderschöne silberne Armbanduhr mit pechschwarzen Zeigern. „Du fragst mich ständig nach der Uhrzeit, das nervt“, erklärte er mir während die Zahnrädchen in meinem Hirn anfingen, sich zu drehen, in meinem Versuch, zu verstehen, was ich da gerade in der Hand hielt und was es bedeutete. „Ich weiß schon, dass … dass ich dir gesagt hatte, ich wolle dir nichts zur Verlobung schenken, aber sie gefiel mir und ist praktisch und … hör auf mich so blöd anzustarren.“ „Lovino, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Das war die Wahrheit. Er hatte mich sprachlos gemacht. „Dann könntest du doch so höflich sein und sie dir umlegen, oder? Sie ist sehr teuer.“ Ich strich über das kristallene Zifferblatt und nahm die Uhr vorsichtig heraus. Sie war ziemlich schwer, doch ich musste mich schnell daran gewöhnen. Ich wollte sie jeden Tag anziehen und jede Sekunde lang nach der Uhrzeit schauen. „Es gibt noch mehr“, flüsterte Lovino. „Mehr? Wie das?“ „Such es doch.“ Verwundert versuchte ich einen Hinweis zu finden, der mir sagte, wo ich suchen sollte und entdeckte einen doppelten Boden. Ich hob den zweiten Deckel an und das Herz blieb mir fast stehen als ich drinnen seinen Verlobungsring liegen sah. Mit zitternden Händen nahm ich ihn an mich und starrte ihn eingehend an, so als würde ich fast erwarten, dass er sich jeden Moment in Luft auflöst. „Damit … wollte ich versuchen, mich zu entschuldigen. Du hast mehrmals versucht, mir einen Antrag zu machen, doch ich hatte es jedes Mal vermasselt. Ich wollte, dass du das anständig machst, da du dich so darauf gefreut hast.“ Nun war ich erst recht sprachlos. Ich wollte ausdrücken wie dankbar ich war, wie glücklich ich war, ihn an meiner Seite zu haben und wie unglaublich erleichtert ich war, als ich erfuhr, dass er mich immer noch liebte … Nein. Dass er niemals aufgehört hatte, mich zu lieben. „Lovi, ich ...“ „Aber das ist jetzt vorbei“, sagte er während er die Schachtel von der Uhr nahm und sie auf den Rücksitz warf. „Wie vorbei?“, fragte ich verwirrt. „Was meinst du damit?“ „Du willst mich gar nicht heiraten.“ „Was?! Aber natürlich will ich das, das ist das Einzige, woran ich seit zwei Jahrhunderten denke.“ „Wenn du mich wirklich heiraten wolltest, dann hättest du dich nicht wie ein verängstigtes Schulmädchen aufgeführt als du den Ring nicht um meinen Hals hängen sahst.“ Beschämt wendete er sich ab. Er hatte völlig Recht. Die Entscheidung, die ich getroffen hatte, war feige und dazu noch von der allerkindischten Sorte. „Also echt, was hast du dir eigentlich gedacht?“ „Es tut mir schrecklich leid, Lovino. Ich war ein Egoist.“ „Ja, ich weiß.“ „Und ein Feigling“, fügte ich noch hinzu, um die Gemüter zu besänftigen. „Und ein Idiot, vergiss das mit dem Idioten nicht.“ „Ich war der größte Idiot von allen Idioten, die es gibt.“ Es freute mich sehr, ein ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen. „Verzeihst du mir?“ Plötzlich wurde er ernst und schüttelte den Kopf. „Aber warum denn nicht?“, fragte ich verzweifelt. „Weil du mich nicht heiraten willst.“ „Doch, das will ich, Lovi, wirklich, ich schwöre es. Es gibt nichts, was mich glücklicher machen würde als dich zu heiraten.“ Ich legte mir die Hand auf die Brust, damit er sah, dass meine Worte vom Herzen kamen. Lovino nahm die Ausfahrt, in der sein Landhaus lag und parkte auf einem Feldweg. Er schaltete den Motor aus, schnallte sich ab und drehte sich um, um mir in die Augen zu blicken. „Schön, dann beweis es mir.“ „Was?“ „Beweis es mir. Heirate mich hier und jetzt. Und keine Ausreden.“ Meine Herzschläge wurden schneller, als ich merkte, dass es kein Scherz war. „H-Hier?“ Er nickte sehr ernst. „Aber wir haben weder eine Kirche hier, noch Trauzeugen, noch ...“ „Leider haben wir mehr als genug Trauzeugen.“ Er zeigte nach draußen, wo ich all die anderen Nationen ungeduldig warten sah. „Und ich glaube nicht, dass wir die Papiere in einer Kirche unterschreiben müssen. Gott ist schließlich überall. Sicher wird er es verstehen.“ „Aber … Lovino, bist du dir sicher? Ist es das, was du willst? Eine informelle Hochzeit mitten auf dem Land?“ Nachdenklich kniff er die Augen zusammen und verschränkte dann sarkastisch lächelnd die Arme. „Wir sprechen nicht davon, was ich will, sondern wozu du fähig bist. Du sagst, dass mich zu heiraten dein sehnlichster Wunsch ist, nicht? Dann beweis es mir.“ Ich lächelte als ich verstand was er da gerade versuchte. Er stellte eine Art „Falle“ für mich auf, damit ich aus freiem Willen zustimmte, ihn zu heiraten. Obwohl er mir in Wirklichkeit einen Antrag machen wollte. „Hilfst du mir, hier rauszukommen? Ich will dich so schnell wie möglich heiraten.“ Lovino stieg aus und öffnete mir die Tür mit ernstem Gesicht obwohl ich ganz genau den freudigen Glanz tief in seinen goldfarbenen Augen sehen konnte. „Also ja?“, fragte Feliciano aus der Ferne. „Der Idiot sagte ja, also vermute ich mal, es lässt sich nicht vermeiden“, antwortete ihm sein Bruder. Ich merkte, dass seine Stimme brach und er anfing, nervös zu werden. Doch auch nicht mehr als ich. Die Anderen kamen auf uns zugelaufen und begannen, uns gerührt zu umarmen. Ich hatte immer noch die Handschellen um, doch sowohl Francis als auch Gilbert weigerten sich, mir den Schlüssel auszuhändigen. „Wir wollen ja nicht, dass du wieder wegläufst“, sagte Francis und zwinkerte mir zu. „Wie schade! Mein Antoine wird erwachsen und nimmt meinen Lovino mit. Ach, hat Jemand ein Taschentuch?“ „Halt den Mund“, sagte mein Verlobter (mein Verlobter!). „Sonst bereue ich es noch, dich hier zu haben.“ „Ich sage kein Wort mehr, je promets.“ Das war das erste Mal, das Francis eine Abmachung akzeptierte und nicht einmal verhandeln wollte. Ich ließ meinen Blick wandern und jeder Einzelne von meinen Freunden lächelte mir zu. Elisabeth weinte bereits. Gilbert lachte sie aus und bekam dafür einen schönen Schlag verpasst. Feliciano hielt den Arm von Ludwig umklammert, der sich nicht sehr wohl zu fühlen schien. Österreich zeigte mir die Papiere, die wir unterschreiben mussten um den Akt offiziell zu machen. Keine Ahnung, wo er die herhatte, doch ich war ihm sehr dankbar dafür, sie in so kurzer Zeit besorgt zu haben. Ich lächelte als wir auf den Hügel gelangten und uns um den einzigen Apfelbaum herum, den es im Umkreis von einigen Kilometern gab, aufstellten. Dies war unser heiligster Ort, der einzige, an dem wir ohne jede Zurückhaltung reden konnten, wo wir uns die Sterne ansahen und uns über unsere Probleme und Sorgen unterhielten. Der einzige Ort, an dem wir wir selbst sein konnten. „Fangen wir an?“, wollte Lovino wissen. „Ich, Lovino Vargas, nehme dich ...“ „Warte, warte“, unterbrach ich ihn plötzlich und ein wenig enttäuschst. „Und unsere Hochzeitsschwüre?“ „Was für Hochzeitsschwüre? Ich werde keine blöden Schwüre sagen ...“ „Ach, komm schon, Lovi, ich würde mich sehr freuen, wenn du mir an dem Tag unserer Hochzeit etwas Schönes sagen würdest. Schau, ich fang an, in Ordnung?“ Die Ketten klimperten als ich seine Hand nahm und ihm in die Augen sah, jedes meiner gesagten Worte auch wirklich so meinend. „Lovino Vargas, ich liebe dich. Ich liebe dich schon seit so langer Zeit, dass ich selbst nicht weiß wie lange. Das Einzige, was ich weiß ist, wie beunruhigt ich war wenn du nicht bei mir warst, wie ich mir wegen jeder Sache Sorgen um dich machte und wie sehr ich dich bei jeder politischen Wahl an meiner Seite brauchte. Ich brauche dich an meiner Seite. Ich verspreche dir, ich werde auf dich aufpassen, jeden Tag, für den Rest meines Lebens und meiner Ewigkeit, von der ich jede Sekunde nutzen werde, um dich glücklich zu machen.“ Sanft drückte ich seine Handflächen. „Bitte, erweise mir die unglaubliche Ehre, dein Ehemann zu werden.“ Obwohl ich nur Augen für Lovino hatte, der nach und nach rot wurde, konnte ich Elisabeth schluchzen hören. „Ist das alles?“, fragte er den Blick abwendend. „Ich hab ein wenig improvisiert“, gab ich lächelnd zu. „Du bist sowas von blöd.“ Mühevoll verflechtete er seine Finger mit den meinen. „Nichts gelingt dir, du nervst, bist kindisch, verwirrend und ein Blödmann, wie es nur wenige auf dieser Welt gibt. Aber … ich nehme mal an, du brauchst Jemanden, der auf dich aufpasst, nicht wahr? Damit du dich nicht in mehr Schwierigkeiten begibst als unbedingt nötig.“ „Mehr nicht?“, fragte ich eine Schnute ziehend. „Und außerdem liebe ich dich auch, du Bastard“, gab er leise zu. Von nun an geschah alles in Zeitraffer. Kraftlos sprach ich Worte nach („ … in Gesundheit und in Krankheit ...“), unterschrieb wie mir schien, hunderte verschiedener Formulare und unsere Hände ließen nicht mehr voneinander ab, außer um die Ringe zu nehmen und sie uns an die Finger zu stecken, damit den Akt besiegelnd. Sobald alle Formalitäten erledigt waren, küssten wir uns. Es war ein Kuss voller Versprechen für die Zukunft. Einer Zukunft mit zahlreichen Streitigkeiten, leisen Gesprächen nach dem Liebemachen, voller Lächeln und Wutausbrüchen von beiden Seiten. Es war ein „Kuss der wahren Liebe“, so wie es einige nannten. Doch für mich war es nichts Anderes als ein Kuss von meinem Lovino. Dem ersten von vielen. „Verdammt, Gilbert!“, schrie Elisabeth und ruinierte damit den Moment. „Du hast vergessen, mir die Kamera für den Kuss zu geben, ich wollte doch ein Foto für meine Sammlung machen!“ Ach was, kein Problem. Ich brauchte kein Foto. Denn ich wusste eines: Wenn ich mich in ein, zwei oder zehn Jahren an unsere Hochzeit erinnern wollte, dann brauchte ich nichts Anderes zu tun, als Lovino auf meinen Schoß zu setzen, seine Proteste mit einem Kuss verstummen zu lassen und ihm ins Ohr zu flüstern: „Lovino, erinnerst du dich?“ ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)