Erinnerst du dich? von ahaa ================================================================================ Kapitel 7: Kapitel 7 -------------------- Müde, hungrig und schlechtgelaunt kam ich in Madrid an. Nachdem ich eine Woche kreuz und quer durch Europa gereist war, und das kurz vor dem Kriegsausbruch, brauchte ich eine wohlverdiente Ruhepause. Doch mir blieb nichts Anderes übrig, als meine Klagen hinunterzuschlucken und um eine Audienz mit Eduardo Dato [Anmerkung: Spanischer Ministerpräsident Anfang des 20. Jhd.] zu bitten. Ich wusste, dass Spanien gerade mit ein paar wirtschaftlichen, politischen, territorialen und ideologischen Problemchen zu kämpfen hatte … na gut, es waren wirklich beschissene Probleme. Es schien keine Lösung in Sichtweite zu geben, noch weniger nach der „Tragischen Woche“ von Barcelona [Anmerkung: blutiger Arbeiteraufstand 1909] (wie sie genannt wurde), also hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was zur Hölle ich dort machte. Man könnte vermuten, ich hielte mich dort auf, um nach Verbündeten zu suchen. Seit dem Mord an dem österreichisch-ungarischen Erzherzog lagen die Nerven blank und Europa dürstete aus mir unbekannten Gründen nach Blut, und das am Anfang des Jahrhunderts. Man könnte meinen, es wäre ein Zeitpunkt um „nachzudenken, Frieden zu schließen und seinem Nächsten zu helfen“, da das Ende der Welt mal wieder nicht eingetreten war. Und doch konnte man den Krieg kilometerweit riechen. Jemand klopfte drei Mal leicht an die Tür, woraufhin ich schlagartig die Augen öffnete. Man hatte mir ein Zimmer gegeben bis Dato „genügend unbeschäftigt“ war um sich um mich zu kümmern falls die Angelegenheit, wegen der ich hier war, von so extremer Dringlichkeit war. Wenigstens war der Raum gemütlich, denn andernfalls hätte ich diesem billigen Präsidenten gehörig die Meinung gesagt. Das Bett war groß und mahagonifarben und das Bettlaken bestand aus weißen Leinen. Es gab auch einen leeren Schrank und einen Schreibtisch auf dem ich schamlos meinen Koffer abstellte. Meiner Meinung nach war es überflüssig, den Schrank mit meiner Kleidung zu füllen, da ich wusste, dass ich mich nur sehr, sehr kurze Zeit in Spanien aufhalten würde (wie kurz, hing davon ab, wie lange dieser blöde Präsident brauchen würde, um mich wieder zurückzuschicken). Erneutes Klopfen zwang mich, aufzustehen und mich stinksauer Richtung Tür zu begeben. War das hier nicht das Land der Siesta? Obwohl, sicher, was könnte man schon von einem Land erwarten, das von Antonio angeführt wurde. Und wenn man vom Teufel spricht … „Hallo, Lovino!“, grüßte mich der Idiot, der an die Tür gelehnt dastand und so schwer atmete, als ob er gerannt wäre. „Als ich erfuhr, dass du hier bist, bin ich sofort hergekommen.“ Ich ging einen Schritt zurück um ihn durchzulassen. Während er wieder zu Atem kam, warf er sich aufs Bett. Das war eine sehr heikle Situation, wir waren nicht mehr allein gewesen, seit … dem Vorfall und obwohl seit damals ziemlich viele Jahre vergangen waren, freute ich mich nicht sehr darüber, dass er auf meinem Bett lag, mich anlächelte und keuchend nach Luft schnappte. Er war so verschwitzt, dass ihm die Kleidung am Körper klebte. Ich wendete den Blick ab. „Was willst du?“, fragte ich, Distanz zwischen uns beiden schaffend. „Also tja ...“ Er holte Luft und setzte sich auf. „Mit dir reden. Es ist schon lange her, seit ...“ „Ich bin sehr beschäftigt, siehst du das denn nicht? Ich werde mich mit Dato treffen.“ „Wozu?“ Sein ahnungsloser Gesichtsausdruck brachte mich fast zum Lächeln. „Was heißt hier wozu? Bist du ein Idiot? Auf der anderen Seite der Pyrenäen sind alle europäischen Länder gerade dabei, sich zu bekämpfen und du bist hier so gelassen.“ Antonio gab ein schwaches Lachen von sich, das mir ziemlich gezwungen vorkam. „Es ist kein Geld da, Lovino“, erklärte er mir mit sehr müder Stimme als er endlich begriff, weshalb ich gekommen war. „Nichts, null, die Tresore sind völlig leer.“ „Schön, es ist nie Geld da ...“ Als er mich erneut ansah, erschien es mir so, als würde er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen. „Das weiß ich. Es ist nie Geld da, aber am Schlimmsten ist es, wenn man Niemanden um Hilfe bitten kann.“ Ich seufzte. Mein Aufenthalt hier war pure Zeitverschwendung, soviel hatte ich gemerkt. Spanien war nicht bereit, einen Krieg auf sich zu nehmen, er ertrug kaum die Lage in seinem eigenen Land … sicher würde er sich aus den Kämpfen raushalten und das war's dann. Und doch regte sich mein Gewissen als ich ihn so verletzlich, so traurig und so deprimiert dasitzen sah. Obwohl er noch bei guter Gesundheit war, ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass sein Land sich noch mehrere Jahre über Wasser halten würde, sah er so aus, als hätte man ihm die Lebensfreude direkt aus dem Herzen gesaugt. Also konnte ich als der gute Mensch, der ich war, nicht vermeiden, dass ich mich neben ihn setzte und ihm die Hand reichte. Diese Geste überraschte ihn ziemlich (mich auch, so ging ich gewöhnlich nicht mit ihm um, doch ich war müde von der Reise und dachte nicht über meine Handlungen nach). Seine erste Reaktion darauf war, zurückzuweichen, so als ob meine Hand irgendein giftiges Tier wäre, aber nach ein paar Minuten des Zweifels packte er sie ganz fest und wartete. Was denn, wollte er vielleicht noch ein aufmunterndes Gespräch dazu? „A-Alles wird wieder gut, Idiot“, fing ich an ohne genau zu wissen, was ich sagen sollte. „Du hast schon Schlimmeres überstanden. Was ist mit den Katholischen Königen? [Anmerkung: Königspaar im 15 Jhd.] Die haben die Steuern dermaßen erhöht, dass dein Volk sich nicht mal ein Stück Brot leisten konnte. Und dann noch die Karlistenkriege! [Anmerkung: Kriege um Spaniens Thronfolge im 19. Jhd.] Drei hintereinander, als wenn das nichts wäre und du hast sie überstanden. Du wirst mit allem fertig. Das ist nur eine weitere Etappe, die wir überstehen müssen, doch denk dran, es kommen bessere Zeiten. Es ist doch immer das Gleiche: Pech, noch mehr Pech und dann ein winziger Augenblick des Friedens, wo wir alles im Griff haben und uns für die nächste Pechsträhne vorbereiten. Und schau nicht so verloren drein, das nervt.“ Um meine Worte zu verstärken, verpasste ich ihm noch einen Schlag in die Magengrube. Ich hätte ihm ja eine Kopfnuss gegeben, aber ich war schon erwachsen und musste mich auch dementsprechend benehmen. Zu meiner Verwirrung lachte dieser Mistkerl und umarmte mich. Mich, der ihm gerade einen schönen Schlag verpasst hatte! „Danke, Romanito.“ Ich schnaubte, diesen Namen verabscheute ich. „Ich werde versuchen, deine Ratschläge zu befolgen und geduldig zu sein. Du bist so süß, ich könnte dich den ganzen Tag umarmen, nein, jeden Tag, mein ganzes Leben lang ...“ „Lass das, Bastard!“ Ich versuchte, mich von ihm zu lösen, doch selbst ohne Energie war er der Stärkere, und so landete ich schließlich rücklings auf dem Bett. Er befand sich über mir und kitzelte mich, bis ich keine Luft mehr bekam. „Oh, Romanito, ich bin also immer noch imstande, dich zum Lachen zu bringen.“ „Ich hab gesagt … du sollst aufhören!“, schrie ich zwischen Lachanfällen. Wenige Augenblicke später war Antonio schon viel entspannter und hörte auf. Er sah mich fest an und streichelte mir liebevoll das Haar. In seinen Augen lag Liebe mit einem Hauch Zuneigung und ein wenig Wärme. Doch darunter verbarg sich noch etwas Dunkles und Tiefergehendes, was mein Herz schneller schlagen ließ. Mir lief ein Schauder über den Rücken und sein Blick war so intensiv, dass mir fast ein Wimmern entschlüpft wäre. „Ich muss gehen“, wisperte ich, insgeheim betend, dass ich meine Gelassenheit bewahrte. Doch Antonio fasste mich bei den Schultern und hielt mich mit dem Rücken an das Bettlaken gedrückt. Ich klammerte mich an das rauhe Leinen, um mich nicht von der Versuchung mitreißen zu lassen. Denn die Versuchung war da, vor mir … nein, genau über mir. Und es war so leicht, eine Grenze zu überschreiten, die in Wirklichkeit sehr viel dünner war als ich es mir vorgestellt hatte. „Nein“, murrte ich. Und es war diese eine Silbe, die mich vollständig entwaffnete. All meine Widerreden erstarben in meiner Kehle als ich seine Lippen auf den meinen spürte. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Ich knurrte. Ein nerviges Geräusch ließ mich nicht schlafen so wie es sich gehörte. Es war wie ein ewiges Summen, das nicht aufhörte, wie eine lästige Fliege, die ich nicht verscheuchen konnte, wie ein konstantes Murmeln, das sich nicht einstellte. Moment mal. Genau das war es. Ein Murmeln. Sanft, unverständlich und vor allem nervig. Ich versuchte, die Ohren zu spitzen, doch durch das Geräusch brauchte mein Verstand mehrere Sekunden länger als sonst zum Aufwachen. „Stella, stellina, la notte si avvicina, la fiamma traballa, la mucca è nella stalla ...“ „Feliciano … aber, was zur Hölle, machst du da?“, fragte ich und deckte mir die Ohren mit dem Kissen zu, um zu sehen ob ich damit nicht das nervige Wiegenlied, dass er für mich sang, dämpfen könnte. „Gestern sagtest du mir, du würdest dein Gedächtnis viel schneller wiedererlangen, wenn du mehr schlafen würdest“, flüsterte er mir zu. „Also helfe ich dir mit einem Lied.“ Ich wartete ein paar Sekunden ab um zu sehen ob er das Offensichtliche begriff, vergaß aber, dass es mein Bruder war, also deckte ich mich erschöpft zu und drehte mich zu ihm ohne den Kopf vom Kissen lösen zu wollen. Mein Bruder saß auf einem Stuhl und hielt in seinem anhaltendes Wippen inne als er meinen wütenden Blick bemerkte. „Raus aus meinem Zimmer.“ Ich biss mir auf die Zunge, um ihm nicht vorzuwerfen, was für ein Idiot er war, mich aus dem besten Traum zu reißen, den ich jemals hatte, seit ich in diesem Haus eingesperrt war. Insgeheim dankte ich ihm für Verständnis, dass ich keine Lust auf seinen Blödsinn hatte und er mich in meinem Zimmer in Ruhe ließ. Ich legte mich auf den Rücken und bedeckte meine Augen mit der Hand. Tausend seltsame Empfindungen durchdrangen mich blitzartig als ich mich an den Traum erinnerte. Diese sanften Liebkosungen, die meinen Körper mit unendlicher Geduld erforschten, ich konnte sie fast schon spüren, diese Küsse, die voller Wärme meinen Hals entlanggingen, diese tiefe Stimme, die mir Worte der Liebe ins Ohr flüsterte und mich vor Ungeduld erzittern ließ, diese Beklemmung, die verschwand als ich mich in seinen grünen Augen verlor. „Bist du in Ordnung?“, hatte er mich unaufhörlich gefragt. Konnte er es denn nicht selbst sehen? Konnte er denn nicht sehen, dass es mich erschreckte, so viel Glück in einem einzigen Moment zu empfinden? Konnte er nicht sehen, dass ich in einem riesigen Strudel aus Emotionen steckte, die mich lähmten, die mich davon abhielten, auch nur ein verdammtes Wort von mir zu geben? Konnte er nicht sehen, dass das Einzige was ich wollte, mehr war … von ihm? Ich atmete tief ein. Dass ich ein paar Sekunden lang den Atem angehalten hatte, hatte ich gar nicht gemerkt. Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht, in dem Versuch, all die anhaltenden Bilder von Antonios Körper auszuradieren, die sich in mein Innerstes eingegraben zu haben schienen. Ich war müde. Und nicht nur körperlich, mein Verstand war überholt, leer, durchgebrannt. Mein Hirn glich einer Art unklarem und zähflüssigem Brei, der mich davon abhielt, klar zu denken. Ich musste das Alles ein für alle Mal begreifen, ich musste hören, was im Laufe dieser Jahre von mir geblieben war, was ich gemacht hatte, was ich erreicht hatte, was ich verloren hatte, ich musste meine Irrtümer und Fehler sehen um sie nicht erneut zu begehen und musste stolz auf meine Erfolge sein. Ich musste eine Nation sein und mich an mein Leben erinnern. Und vor allem brauchte ich Antonio. Die Tränen, die ich so mühevoll zurückgehalten hatte, entflohen meinen Augen ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte. Ich schnappte mir mein Kissen und schrie hinein. Ich schrie vor Hilflosigkeit, vor Wut, vor Schmerz. Schrie, weil ich müde war, rasend vor Wut, weil ich das alles satt hatte. Schrie, da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Ich schrie und weinte und begann dann wieder zu schreien, denn ich wollte … was eigentlich? Nicht mal ich selbst wusste es. Vielleicht wollte ich ja, dass diese Angst verschwand, die mich nicht atmen ließ. Oder vielleicht musste ich auch allein sein, um ganz in Ruhe in Selbstmitleid zu versinken. Oder aber ich wollte den Mut, um Antonio in die Augen zu sehen und Erklärungen zu fordern. „Was habe ich dir denn angetan, dass du mich so sehr hasst?“ Doch ich hatte Angst vor der Antwort, ich wüsste nicht, wie ich das in Ordnung bringen könnte, wie ich ihm danach ins Gesicht sehen sollte. Letztendlich schluckte ich meinen Stolz hinunter, trocknete meine Tränen und zog mich schnell um (ich würde niemals zulassen, dass mich Jemand zwei Tage hintereinander in ein-und demselben Hemd sah, das wäre demütigend). Ich atmete langsam durch und versuchte, mich zu beruhigen. Das hier würde der letzte Tag sein. Heute würde ich alles verstehen, das hatte mir Antonio versprochen. Und er hielt seine Versprechungen immer. Egal, ob nun früher oder später, er hielt sie. Als ich mein Zimmer verließ, vernahm ich eine hitzige Diskussion aus der Küche. Unsicher begab ich mich dorthin. Da alle in ihrer eigenen Sprache redeten, verstand ich nicht, was sie sagten, das Gespräch war gerade dabei, sich in ein sinnloses Durcheinander aus Worten zu verwandeln. Aus dem Mund meines Bruders konnte ich Folgendes „Er sollte nicht ...“, „ … das wäre ungerecht ...“ und „Wenn wir ihn fragen ….“ auf Italienisch entziffern, sonst verstand ich so gut wie nichts. Als ich die Küche betrat, um zu erfahren, was da los war, verstummten alle schlagartig. Mehr Hinweise brauchte ich nicht, um zu wissen, dass sie über mich redeten. „Guten Morgen“, murmelte ich beim Eintreten. Mir fiel wieder ein, dass ich an diesem Tag erfahren würde, was sie vor mir versteckten. „Ist kein Kaffee da?“ „Es ist Mittag“, erklärte mir Roderich, der in einer sehr aufrechten Haltung auf einem Küchenstuhl saß. „Sei doch nicht so, Rod, dem armen Lovino geht es sehr schlecht.“ Elisabeth kam auf mich zu und setzte mich zu den anderen Ländern an den Tisch. „Willst du einen Kaffee, Romanito?“ „Nein, danke.“ Als ich die mitfühlenden Blicke, die auf mich gerichtet waren, wahrnahm, hatte ich plötzlich keinen Hunger mehr. Ich hasste es, dass alle Welt wegen mir so deprimiert war. „Ihr habt euch in letzter Zeit aber rargemacht“, sagte ich zu Amerika und England, die neben mir saßen. Arthur zuckte mit den Achseln und Alfred begann, übertrieben loszulachen, so wie er es gern tat. „Wir waren beschäftigt.“ Ich schaute Alfred an, ohne zu begreifen, was er damit sagen wollte. „Komm schon, wir sind in Italien! Dort, wo nie die Sonne untergeht! Oder war das Hawaii? Keine Ahnung, jedenfalls sind wir in Italien! Der perfekte Ort um als Paar allein zu sein und ...“ „Tourismus“, unterbrach ihn Arthur mit einem eiskalten Blick. „Mehr nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Links von mir saßen England und Amerika (, die, so wie es aussah, mal wieder eine ihrer berühmten Meinungsverschiedenheiten angefangen hatten), rechts von mir mein Bruder mit verängstigtem Gesicht, Deutschland mit angespanntem Kiefer und auf den Tisch gestützten Händen, und auch Österreich und Ungarn. Gegenüber befanden sich Frankreich, der sein Haar zurechtmachte und Preußen, der geistesabwesend sein Küken streichelte. „Wo ist Spanien?“, fragte ich ohne nachzudenken. Nun machte sich der unangenehme Moment Nummer Zwei bemerkbar. „Er ist … gerade … beschäftigt“, stammelte Francis und steckte seinen Kamm ein. „Beschäftigt womit? Er hat doch gerade nichts zu tun.“ „Wie bitte? Er ist schon lange Zeit von Zuhause weg, da muss er doch ab und zu mal anrufen und schauen wie die Dinge so laufen. Er hat seit Kurzem einen neuen Präsidenten, weißt du?“ „Ja, weiß ich“, antwortete ich als ich mir das Telefongespräch im Flugzeug von vor einigen Tagen wieder ins Gedächtnis rief. Es schien mir eine ganze Ewigkeit her zu sein und nicht bloß eine Woche. „Also beschwer dich nicht, sein Land hat viele Probleme, er hat schon genug damit zu tun, das Kindermädchen für dich zu spielen“, schnauzte Preußen mich an und steckte sich sein Küken in die Jackentasche als er Francis' Vögelchen mit sehr schlechten Absichten herauskommen sah. „Also dann … fangen wir an?“ Die anderen Länder stimmten erleichtert zu. „Dieses Mal bin ich mit Sprechen dran, denke ich“, sagte Ludwig, während er sich so hinstellte als wäre er mitten in einer Konferenz und wäre an der Reihe, das Wort zu ergreifen. „Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?“ Erschöpft schloss ich die Augen und öffnete sie wieder, entschlossen, alles, was nötig war, hinzunehmen, um herauszufinden was in den letzten hundert Jahren meiner Geschichte geschehen war. „Der Mord an einem Erzherzog.“ Ludwig und mein Bruder tauschten vielsagende Blicke aus, die mir nicht verborgen blieben. „Ohne Zweifel der Erste Weltkrieg“, sagte Roderich und sah Elisabeth an. Sie nickte ernst. „Franz-Ferdinand war ein großartiger Mann, ein großartiger Adeliger und ein großartiger Mensch. Er war der Thronerbe und wurde von den Serben brutal ermordet. Eine fürchterliche Nachricht, die ein großer Schock für unser Land war. Es überrascht mich nicht, dass in seinem Namen ein Krieg geführt wurde.“ Arthur hustete und sagte so etwas wie „Heuchler“, aber Österreich schien ihn nicht gehört zu haben. „Tatsächlich war die Lage in Europa zu jenen Zeiten nicht die beste, mon frère.“ Francis warf sein Haar zurück und lächelte. „Wir haben einfach auf eine Ausrede gewartet um uns zu bewaffnen und die Ermordung deines unbedeutenden Erzherzogs war der perfekte Vorwand um wieder einmal den Staub des Kampfes und den Geschmack des Blutes zu probieren.“ „Ich erinnere euch daran, dass wir nicht hier sind um zu streiten“, kam Deutschland zuvor, als er sah, das Österreich und Ungarn kurz davor standen angesichts Frankreichs Andeutungen in die Luft zu gehen. „Wir sind hier, um Romano bei dem Wiedererlangen seines Gedächtnisses zu helfen.“ „Ve, Bruder, Bruder“, sagte Feli, der vergessen zu haben schien, dass ich diesen Morgen kurz davor war, ihn um die Ecke zu bringen. „Der Weltkrieg war nicht lustig, aber ich hab gern mit dir gekämpft. Außerdem hab ich Ludwig kennengelernt, auch wenn er mir nicht geglaubt hat, als ich sagte, ich sei die Tomatenkistenfee ...“ Mein Gesicht spiegelte wohl perfekt die Verwirrung wider, die ich bei diesem Satz verspürte, denn Feliciano begann umgehend, es mir so gut es ging zu erklären. „Genau! Ich wusste dass das deutsche Aufspürkommando sich in der Nähe des Waldes aufhielt also versteckte ich mich in einer Kiste.“ „In einer Kiste? Mitten im Wald?“ „Aber sicher, damit ich nicht gesehen werde.“ „Können wir bitte mit der Geschichte weitermachen?“, unterbrach uns Arthur mit einem müden Gesichtsausdruck. „Ich würde auch gerne irgendwann wieder nach Hause zurückkehren.“ „Das versuche ich ja.“ Ludwig räusperte sich und ließ den Blick durch den Raum wandern bis er sich mit meinem kreuzte. „Ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges hielten Österreich, Ungarn und ich eine Versammlung ab. Wir stellten fest, dass wir deutlich im Nachteil waren, da Russland mit über sechs Millionen Soldaten von Osten kam, uns im Süden Frankreich bedrängte und da außerdem noch Großbritannien war, der sich mit seiner Seestreitkraft am Kampf beteiligte. Wir brauchten einen neuen, starken Verbündeten … und da begegnete ich Feliciano.“ „Daher ...“ „Wartet mal.“ Äußerst aufgewühlt stand ich auf und heftete den Blick auf den Holztisch vor mir. „Ich glaube … ich erinnere mich daran … Ich weiß es wieder!“ Ich klatschte in die Hände. „Ja! Endlich, verdammt. Das war bevor ihr mich nach Spanien geschickt habt, stimmt's?“ „Ja, wir hatten eine Konferenz ...“ „Im Hotel Piemonte“, ergänzte ich selbstzufrieden. „Und Keiner von den Alliierten sollte davon erfahren ...“ Endlich hatte ich eine greifbare Erinnerung, an der ich festhalten konnte. Mir fiel wieder ein, dass der Raum eng, aber lang gewesen war, dass die Wände von einem gräulichen Blau waren und dass es dort nichts außer einem Mahagonitisch mit fünf Stühlen gab. Es hatte nach Minze, Lavendel und Österreichs Rasierwasser gerochen. „Schau mal, schau mal, Bruder, das ist Ludwig. Er ist Deutschland und er sagt, er hätte uns etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.“ Mich mit einer beinahe schon wissenschaftlichen Sorgfalt musternd streckte er mir die Hand entgegen. „Ich weiß schon, was ihr mir sagen wollt.“ Ich nahm Platz und verschränkte die Arme. „Und meine Antwort ist nein. Wir nehmen nicht am Krieg teil.“ „Du bist dazu verpflichtet, uns im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung zu helfen“, erinnerte mich Österreich. „Nur im Verteidigungsfall“, verdeutlichte ich mit erhobenem Finger. „Du hast Serbien den Krieg erklärt, also waren deine Absichten eindeutig offensiver Natur. Das heißt, wir sind überhaupt nicht gezwungen, euch zu helfen.“ „Aber Bruder ...“ Mit einem Blick befahl ich ihm zu schweigen. Nun kamen die Verhandlungen, meine Stärke. Ich wartete ab bis sie feststellten, dass ich hier die Oberhand hatte und ihnen keine andere Wahl blieb als ein paar Territorien an mich abzutreten, wenn sie wollten, dass ich mit ihnen zusammentat. „Was willst du? Mehr Territorien?“, wollte Österreich mit einem Blick voller Verachtung wissen. Lächelnd nickte ich. „Ich will dasselbe wie immer: fruchtbare Gebiete im Norden wie Istrien oder Dalmatien und vielleicht noch den Hafen von Triest.“ „Das ist zu viel“, rief Ungarn, da diese Gebiete Österreich gehörten. „Gib keinen solchen Unsinn von dir, so viel Gebiet können wir nicht an dich abtreten.“ „So lauten meine Forderungen. Und alle hier Anwesenden wissen, dass ihr unsere Unterstützung braucht, um diesen Krieg zu gewinnen. Wie viele Soldaten haben wir, Feli?“ „Eine halbe Million und doppelt so viel Munition“, antwortete er nach kurzem Zögern. „Das ist nicht gerade viel“, bemerkte Ludwig. „Genug, um die Franzosen in ihre Schranken zu weisen und ihr könnte euch währenddessen ganz auf den Kampf gegen Russland konzentrieren.“ Ich hatte es mir lange überlegt. Mein Plan war perfekt, das wussten sie, sie mussten nur einwilligen und der Sieg gehörte ihnen. Obwohl … „Das war noch nicht alles.“ Die Länder um mich herum hörten mir aufmerksam zu. Am Anfang meiner Erklärungen hatten sie zwar versucht, mich zu unterbrechen, doch da sie wussten wie wichtig es für mich war, mich daran erinnern zu können, verstummten sie und warteten geduldig ab. Das Schlimme daran war, dass der Teil der Geschichte, der jetzt kommen würde, einer breiten Mehrheit nicht gefallen würde. „Später … begegnete ich … England und Frankreich.“ „Was?“ Alfred sprang auf und zeigte sehr verstört auf den Engländer. „Was hattest du denn bitte mit dem Franzosen zu schaffen? Und das auch noch ganz allein!“ „Das ist nicht das, was du denkst, Idiot! Hör auf, das Ganze aus dem Zusammenhang zu reißen!“ „Hon hon hon, und woran denkt er wohl genau?“ „An nichts, was dich interessieren könnte.“ Arthur warf ihm vernichtende Blicke zu, doch Francis ließ sich nichts anmerken. „Ve, war das etwa als man wollte, dass du dich mit den Alliierten verbündest?“ „So ist es. Das war wenige Wochen nach meinem Treffen mit der Triple Entente [Anmerkung: Bündnis im Ersten Weltkrieg] wie wir uns nannten. Ich bereitete mich darauf gerade vor, Spanien zu überreden, sich mit uns zu verbünden als England und Frankreich plötzlich unerwartet in meinem Zimmer auftauchten. „Wie seid ihr hier reingekommen?“ „Indem wir die Wachen bestochen haben“, antwortete Francis als ob das offensichtlich wäre. „Hör zu, Keiner weiß, dass wir hier sind ...“ „Das dürft ihr auch nicht. Immerhin sind wir Feinde, eigentlich … sollte ich euch jetzt auf der Stelle eine Kugel in den Kopf schießen.“ Mit einem Tempo, das ich einem halben Jahrhundert Erfahrung mit der Mafia zu verdanken hatte, zog ich meinen Revolver und richte ihn auf Arthurs Kopf. „Ihr habt dreißig Sekunden, dann drücke ich ab.“ Auf einmal war die Anspannung, die im Raum lag, zum Schneiden dick. „Lovino, beruhige dich und hör uns zu.“ Man merkte, dass Francis vortäuschen wollte, als wäre nichts, aber seine Stimme zitterte ein wenig. Arthur dagegen, stand da wie gelähmt mit der Hand in der Hosentasche, wo sich seine Waffe befand. Er war viel zu langsam gewesen und musste nun die Konsequenzen auf sich nehmen. „23 Sekunden.“ Langsam lud ich den Revolver ohne von diesen grünen Augen abzulassen, die Furchtlosigkeit vortäuschten. „Wir sind gekommen, um … um ...“ Als ich sah wie es ihnen ging, fühlte ich mich schrecklich. In Wirklichkeit hatte ich gar nicht vor, sie zu erschießen. Eigentlich war es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie dadurch starben, aber beide hatten mich verspottet und betrogen, als ich selbst hilflos war. Francis war ständig hinter mir her als ich gerade mal ein Kind war und England hatte meine Unabhängigkeit gewollt um mich dann selbst zu annektieren wie ich später erfahren hatte. Ein Italiener vergaß nie etwas, ich musste ihnen zeigen, dass ich bereits erwachsen war und man mit mir keine Spielchen trieb. „Zwölf Sekunden“, flüsterte ich um sie nervös zu machen. „Wir sind gekommen um dir den Süden des Tirols anzubieten“, ergänzte Arthur mit falscher Gelassenheit als er merkte, dass Francis kein Wort herausbekommen konnte. Ich hob eine Augenbraue ohne meine Waffe beiseite zu legen. „Der Tirol gehört Österreich“, bemerkte ich in erster Linie. „Im Moment schon“, sagte England geheimnisvoll lächelnd. Endlich ließ ich die Waffe sinken und nahm eine offenere Haltung ein. „Erklär mir das.“ In Wirklichkeit war das Ganze viel einfacher. Die Gebiete, die man mir versprochen hatte, also Istrien oder Dalmatien und der Hafen von Triest waren bereits Teil meines Landes, also gab es nichts, wofür ich kämpfen musste, nichts was ich erreichen musste. Wenn ich mich aber den Alliierten anschließen würde, hätten wir den sicheren Sieg in der Tasche und ich bekäme viel mehr Städte. Mehr Land. Mehr Landwirtschaft, mehr Viehzucht und somit auch eine gesteigerte Wirtschaft. Dies war das Einzige, was mich im Moment interessierte: Italien voranschreiten zu lassen und es auf die gleiche Stufe mit Großmächten wie Deutschland oder Großbritannien zu stellen. Nur so würde man aufhören, Italien als ein Land zweiter Klasse herabzustufen. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Wir verbrachten den ganzen Vormittag in der Küche, indem wir uns angeregt über den Weltkrieg unterhielten. Obwohl die Anderen versuchten so zu tun, als wäre nichts und das Ganze ein wenig ins Lächerliche zu ziehen, merkte ich, dass sie alle schlechte Erinnerungen an diese Zeit hatten. Das sah man an dem traurigen Glanz in Ungarns Augen, an Arthurs zitternden Händen und an dem melancholischen Tonfall in der Stimme meines Bruders. Und doch entging mir nicht, was für eine unglaubliche Mühe sie sich gaben, um mir den Ersten Weltkrieg auf möglichst angenehme Art und Weise zusammenzufassen. Oh ja, sie nutzten jede Gelegenheit, um über meine Ungeschicklichkeit zu lachen oder meine mangelnden sozialen Kompetenzen zu verspotten, aber dennoch(und das würde ich niemals laut sagen) war ich glücklich, mich auf diese Freunde verlassen zu können. Freunde, die in der Lage waren, alles stehen und liegen zu lassen, in ein Flugzeug zu steigen und mir beim Erinnern zu helfen. Freunde, die die Geduld hatten, um all meine Launen und ständigen Stimmungsschwankungen zu ertragen. Freunde, die obwohl sie praktisch alle von mir hintergangen wurden, sich dermaßen anstrengten, um mir zu helfen, mein Leben zurückzugewinnen. „ … und das geschah dann letzten Endes.“ Mit einem Seufzer schloss Österreich die 30-er Jahre ab. „Und dann?“, fragte ich begierig um noch viel mehr zu erfahren. „Tja ...“ Preußen schien von den ganzen Datumsangaben, Verträgen und Schlachten der Kopf zu schwirren. „Dann kam doch auch schon die Hochzeit von Deutschland und Italien, nicht wahr?“ „Was?!“ Das hier war genau der Teil der Geschichte, den ich so gar nicht hören wollte. „Sie war geheim“, erklärte Ungarn mir freudig. „Die Nazis in Deutschland wurden immer mächtiger und es war ja bekannt, dass sie die Homosexualität verdammten.“ Mit deutlicher Verachtung kniff sie die Augen zusammen und murmelte etwas auf Ungarisch, das nicht sehr nett klang. „Wann war das genau?“ Doch Niemand konnte mir antworten. Ein Geräusch an der Küchentür zeigte uns, dass Jemand das Gespräch belauschte. Wir drehten uns alle gleichzeitig um und entdeckten Spanien mit einem überraschten Gesichtsausdruck, der seinen Koffer aufhob und wieder hinstellte. „Leute … könnt ihr mich einen Moment lang mit Lovino alleinlassen?“, fragte er mit trauriger Stimme ohne den Blick vom Boden abzuwenden. Einer nach dem Anderen verließen sie den Raum, wobei sie mir mitleidige und … vorwurfsvolle? Blicke zuwarfen. Dieses ganze Melodrama begann mir langsam Kopfschmerzen zu bereiten. „Lovino“, wisperte er als wir schließlich allein waren. „Komm her.“ Ich hätte mich weigern können, hätte ihn fragen können, wozu er einen Koffer dabeihatte oder warum er das ganze Theater nicht endlich sein ließ und es mir einfach sagte. Aber ich gehorchte, so langsam wie ich konnte, ging ich zu ihm und versuchte, mein hektisch schlagendes Herz zu beruhigen. Ohne Vorwarnung nahm er meine Hand, zog mich zu sich und umarmte mich. Sofort stellte ich fest, dass diese Umarmung anders war als die voller Wärme und Liebe, die Antonio sonst immer gab. Nein. Diese hier war beladen mit so verschiedenen Gefühlen wie Schmerz, Leiden, Sanftheit, Zuneigung, Zärtlichkeit und Kummer. Ich riss die Augen auf, als mir bewusst wurde, dass dies eine Abschiedsumarmung war. „Mein Flugzeug geht in einer Stunde“, erklärte mir Antonio als er sich von mir löste. „Ich hab nicht viel Zeit.“ „Fliegst du nach Spanien zurück?“, fragte ich mit einem Kloß im Hals. Ich wollte nicht, dass er ging, ich brauchte ihn bei mir. Bitte bleib, bleib bei mir. Hass mich, verachte mich, wenn du das willst, aber bitte geh nicht. „Ich bin schon lange Zeit nicht mehr in meinem Land gewesen, meine Leute brauchen mich ...“ „Zur Hölle mit deinen Leuten!“, schrie ich kraftlos. „Du … hast mir gesagt, dass … du mir sagst, warum ...“ „Ich weiß, Lovino, ganz ruhig.“ Er führte mich zum Sofa und setzte sich mit mir zusammen hin. „Das hab ich auch vor. Ich werde dir alles erzählen, das versprech ich dir, aber ich werde es schnell machen, also musst du gut zuhören. Einverstanden? Du darfst mich nicht unterbrechen.“ Ich nickte. Ich hatte das Gefühl als wären wir in der Zeit zurückgereist und wären wieder einmal Boss und Untergebener, als ich noch nichts verstand und er sich mit Geduld wappnen musste, um mir zu erklären wie die Welt funktionierte. In gewisser Weise war das ein angenehmes Gefühl. „Es mag dir vielleicht verrückt vorkommen, aber alles begann im Jahr 1939. Die Republikaner hatten den spanischen Bürgerkrieg verloren und eine neue Ordnung wurde in Spanien geschaffen, der Faschismus mit Franco als sichtbaren Anführer [Anmerkung: General Francisco Franco, spanischer Diktator bis 1975]. Er war ein Mann mit äußerst rechtsorientierten Ideen, ein wenig verschlossen, ruhig, stolz, intelligent und von Zeit zu Zeit auch schweigsam. Er führte das Land mit fester Hand, ohne jedes Zögern. Nicht einmal ich wurde von ihm verschont. Jeder wusste wie hart er mit denen umging, die er als „Abweichler“ ansah. Er verprügelte sie, er folterte sie, erließ sie unmenschliche psychische Qualen durchstehen … Obwohl es im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zu einer Ablehnung von Homosexuellen kam, hatte ich Angst. Ich war sehr verängstigt, mehr als je zuvor in meinem Leben. Franco schien wirklich besessen von mir zu sein, er folgte mir auf Schritt und Tritt, rief mich zu den unmöglichsten Uhrzeiten zu sich, brauchte stets meine Meinung und passte immer auf, was machte oder sagte. Ich wollte gar nicht wissen, was passieren würde falls er mitbekam, dass das Land, das er so verehrte, für das er praktisch sein Leben lang gekämpft hatte … in einen anderen Mann verliebt war. Ach, komm, Lovino, sei doch nicht so überrascht. Du weißt doch schon, dass ich verrückt nach dir bin. Je mehr Jahre vergingen, desto mehr beharrte er darauf, über Frauen zu sprechen. „Was du brauchst, Junge, ist eine gute Ehefrau, die den Boden unter deinen Füßen küsst. So hast du Jemanden, der dir nachts das Bett warmhält … und nicht nur das Bett.“ Als ich mich für keine der Frauen interessierte, die er mir vorstellte, wirkte er misstrauisch. Die Frauen waren blond, braunhaarig, rothaarig, groß, klein, schüchtern, mit guter Figur, mochten Spaziergänge, Gartenarbeit, Geigespielen, hörten gern aufmerksam zu und mochten es, immer Recht zu geben. Letztendlich musste ich eine Entscheidung treffen. Ich hatte da eine gute Freundin, die über meine Lage Bescheid wusste und mir zur Hand gehen könnte. Auf Festen und gesellschaftlichen Versammlungen könnten wir einfach vortäuschen, ein Paar zu sein. Oh ja, Belgien half mir sehr in diesen Augenblicken meines Lebens, ich könnte ihr niemals genug danken für das, was sie für mich getan hatte. Doch selbstverständlich dachtest du nicht das Gleiche. An dem Tag, als ich Franco zu seinem Treffen mit Mussolini begleitete, warst du ebenfalls anwesend und als wir dann allein waren, zeigtest du mir sehr deutlich, was du von diesem Schwindel hieltest. „Du bist ein Heuchler“, warfst du mir vor als ich mich zu dir beugte um dich zu umarmen. „Ein verlogenes Schwein.“ Deine Worte haben mich sehr verletzt, sie waren wie tausend Messerstiche. „Sei nicht so grausam, Lovino. Vergiss nicht, dass dein Minister diesselben Ideen hat wie meiner.“ „Aber wenigstens spiele ich mich nicht mit einem Mädchen am Arm auf, um ihm Recht zu geben.“ Du wirktest gekränkt, gedemütigt und enttäuschst. Ich hatte noch gar nicht den Mund aufgemacht um mich zu entschuldigen, da schütteltest du schon den Kopf. „Ich will nicht mit dir reden. Verschwinde, dein Anführer wartet bereits auf dich, nicht wahr?“ Die darauffolgenden Jahre verbrachte ich mit Versuchen, dich für meine Dummheit um Verzeihung zu bitten. Ich hatte mich wie ein Vollidiot benommen, hatte nur an mich selbst gedacht und daran, alles Mögliche zu tun, um das Geheimnis zu bewahren. Keinen Sekunde lang hatte ich mich damit aufgehalten, an dich zu denken und wie du dich wohl fühlen würdest, wenn du erfahren würdest, dass ich mit Belgien ausging. Zu meiner Verteidigung darf ich sagen, dass ich glaubte, du würdest es verstehen und wissen, dass alles nur Theater war. Der Einzige, den ich liebte, warst du, so wie ich es dir im Laufe der Geschichte unzählige Male wiederholt hatte … aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, wie konntest du es bitte verstehen? Denn ich hatte dir nicht mal einen Brief geschrieben um es dir zu erzählen. Um zu versuchen, es wieder gutzumachen, schrieb ich dir Hunderte von Briefen, die ich aber leider nicht abschicken konnte, da dein Land in einen zweiten Weltkrieg verwickelt war und die Grenzen verschlossen waren. Ich schrieb dir davon, was ich jeden Tag machte, was grundsätzlich darin bestand, dich zu vermissen und mich um die Zukunft deines Landes zu sorgen, da der Krieg eine unvorhergesehene Wende nehmen konnte. Ich bat dich um Verzeihung in allen Sprachen, die ich kannte und wiederholte bis zum Überdruss, dass du der Einzige warst, den ich jemals geliebt hatte, obwohl ich wusste, dass meine Worte all ihre Glaubhaftigkeit verloren hatten. Ich überredete Franco, dir eine Truppe zuschicken zu dürfen und dir im Kampf zu helfen. Zwar dachte ich daran, dir die Briefe durch eine Kontaktperson zukommen zu lassen, aber da es immer noch zu riskant war, behielt ich sie und wartete ab. So vergingen fünf Jahre und als der Krieg vorbei war, schickte ich sie dir alle auf einmal. Es versteht sich wohl von selbst, dass du keinen einzigen davon beantwortet hast. Aber ich gab nicht auf. Ich wusste, was für ein Dickkopf du warst. Nur durch Beharrlichkeit konnte ich dich wiedersehen, indem ich jedes Jahr oder alle zwei Jahre in dein Land reiste, mich dir näherte und dich selbst davon überzeugen ließ, dass ich dich nicht so einfach gehen lassen würde. Fünfzig Jahre hatte ich gebraucht, um dich zu überzeugen. Fünfzig Jahre. An Silvester 1992 hatte ich dich endlich dazu gebracht, zur Puerta de Sol [Platz in Madrid] zu kommen um mit mir zusammen die Glockenschläge anzusehen. Ich hörte weder den Lärm um uns herum, noch die Glockenschläge und feierte auch das neue Jahr nicht. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, wie ich dich mitten im Gedränge umarmte und wie ich lächelte als du mich nicht von dir geschoben hast. „Gibst du denn niemals auf?“, murmeltest du mir ins Ohr mit einer vor Kälte zitternden Stimme. „Niemals“, schwor ich dir. „Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Ich werde alles bekämpfen, was nötig ist, um mit dir zusammen zu sein.“ Du hast geseufzt und dich enger an mich gedrückt. „Also vermute ich mal, dass ich nichts dagegen tun kann. Du bist so ein störrischer Bastard.“ Und so begannen die zwanzig glücklichsten Jahre meines Lebens. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, entweder in meiner Wohnung in Madrid oder in diesem Haus hier. Ich konnte es nicht ertragen, mehr als ein paar Monate von dir weg zu sein, also lief ich jedes Mal wenn du nicht kommen konntest davon, um dir einen schnellen Besuch abzustatten, und kehrte dann wieder zurück ohne dass Jemand meine Abwesenheit bemerkte. Wir gingen zusammen ins Kino, ins Theater, machten Spaziergänge und unterhielten uns. Nur wenige Male schaffte ich es, dich zum Lachen zu bringen, doch das war nicht wichtig. Das Beste am ganzen Tag war für mich, wenn wir im Bett lagen, ich dich umarmte und dir immer und immer wieder sagte wie glücklich ich mit dir war bis du mich anschriest, ich solle dich gefälligst schlafen lassen. Doch unsere schöne Zeit kam zu einem Ende. Die rechte Regierung war an die Macht gekommen und es war sehr warscheinlich, dass sie das Gesetz, das die Homoehe erlaubte, aufheben würde und … Ach, wusstest du das nicht? Ja, wir wollten heiraten. Doch du warst von Anfang an dagegen. Du wolltest nicht, dass Jemand von unserer Hochzeit erfuhr, wolltest kein Geschenk von mir, um es zu feiern und auch nicht mehr darüber sprechen als unbedingt nötig. Du wolltest nicht einmal, dass ich dir einen Antrag machte wie es sich gehörte! Deinen Verlobungsring verstecktest du sogar vor der ganzen Welt. Du hast ihn als Halskette getragen und mit deiner Kleidung verdeckt. Aber trotz allem wollten wir … wollte ich mit der Hochzeit fortfahren. Unsere Pläne kamen voran, als wir mitbekamen, dass die Regierung wieder gewechselt hatte. Ich wollte nicht zulassen, dass wir es weiter verschoben. Im April wollten wir heiraten. Am zehnten April. In etwa … zwei Monaten. Doch dann kam der Tag deines Unfalls. Wir befanden uns in unserer Wohnung in Madrid und verteilten die Leute auf die einzelnen Tische für das Festessen als ich den Fehler beging, zu erwähnen, dass Belgien zur Hochzeit kommen würde. Erst dachtest du, es handele sich um einen Scherz, doch als ich es dir noch einmal ganz ernst wiederholte, wurdest du rasend vor Wut. Du hast mich angeschrien, beleidigt, und dann wieder völlig außer dir angebrüllt. Wenn ich so sehr wollte, dass sie zu unserer Hochzeit kommt, sagtest du, dann könnte ich auch gleich sie heiraten. „Lovino, das ist unlogisch.“ „ICH unlogisch? Du bist es doch, der seine Ex auf UNSERE Hochzeit eingeladen hat.“ „Sie ist bloß eine Freundin!“ „Eine Freundin! Ich pfeife darauf! Wenn sie nur eine Freundin wäre, wärst du nicht mit ihr ausgegangen, hättest sie nicht vor den Augen aller geküsst und nicht bis zum Überdruss wiederholt, dass du sie gern heiraten würdest.“ „Ich hab dir doch schon tausend Mal gesagt, dass das nur gespielt war. Franco ...“ „Ja, genau, immer kommst du mir mit derselben Ausrede. Franco schaute dich komisch an, weil du nicht mit Frauen ausgegangen bist. Aber verdammt, soweit ich weiß, hat er dich nicht dazu gezwungen!“ Du schnapptest dir den Türgriff und öffnetest sehr verärgert die Tür. „Also gut, mach doch was du willst. Heirate sie, heirate die halbe Welt, wenn es das ist was du willst, aber lass mich in Frieden. Wir sind fertig miteinander.“ Die Tür hinter dir zuknallend gingst du. Es war nicht das erste Mal, dass du nach einem hitzigen Streit unsere Beziehung abgebrochen hattest, also nahm ich es nicht so ernst. Ich glaubte, du würdest entspannter nach Hause zurückkommen und wir könnten in Ruhe darüber reden. Ich würde dich um Entschuldigung bitten, dass ich es dir nicht früher gesagt hatte und du würdest sagen, wie blöd es von dir war, zu glauben, dass zwischen ihr und mir irgendwann etwas gelaufen war.. Aber natürlich lag ich falsch.. Als ich dich dann im Krankenhaus sah … es gibt keine Worte, die beschreiben, wie schlecht ich mich fühlte. Wir können zwar nicht sterben, aber sehr wohl Schmerzen spüren. Angesichts dieser schrecklichen Wunden, konnte ich mir vorstellen, wie unglaublich du leiden musstest, die Bilder verfolgen mich nachts immer noch wenn ich die Augen schließe und versuche, zu schlafen. Obwohl ich das konstante Piepsgeräusch hörte, das deinen Tod anzeigte, versuchte ich mich zu beruhigen. „Nationen sterben nicht, Nationen sterben nicht, du darfst nicht sterben!“ Ich verlor langsam den Verstand, also begann ich, dich immer wieder beim Namen zu rufen und dich anzuflehen, endlich aufzuwachen, auch wenn ich wusste, dass das nichts viel brachte. Ich musste nur abwarten bis du das Bewusstsein zurückerlangst um dich wieder in unsere Wohnung zu tragen. Doch während du im Koma lagst, bemerkte ich etwas sehr Wichtiges. Du hattest den Verlobungsring nicht mehr um den Hals. Also hattest du unsere Hochzeit tatsächlich abgesagt. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * Tick, tack, tick, tack … Der Sekundenzeiger der Uhr an der Wand war das Einzige, was mich noch auf dem Boden der Tatsachen, in der Wirklichkeit, hielt. Wenn dieses hämmernde Geräusch nicht wäre, wäre mein Verstand zwischen Verzweiflung und Verbitterung umhergeirrt. Antonio hatte einen letzten Blick auf diese Uhr geworfen bevor er gegangen war. Für immer. Und es war meine Schuld. Tick, tack, tick … In meinen Händen ruhte noch das letzte Geschenk, das er mir gegeben hatte. Sein eigener Verlobungsring. Er hatte ihn die ganze Zeit vor mir versteckt. „Ich wollte nicht, dass du unnötige Fragen stellst“, hatte er traurig lächelnd gesagt. Das war das Letzte, was ich aus seinen Lippen gehört hatte. Nein. Eine Lüge. Er hatte auch Lebewohl gesagt. Nein, ich wollte nicht, dass er ging. Ich wollte nicht, dass er aus meinem Leben verschwand, ich konnte es nicht ertragen. Ich wollte es nicht ertragen. Doch als ich ihn davongehen sah, erstarben die Bitten in meiner Kehle. Tack, tick, tack, tick, tack … Von all den Gefühlen, die ich in diesen Momenten empfand, war mir nur eine Sache klar, ein greifbarer Gedanke: so etwas Schreckliches konnte ich nicht getan haben. Es war mir gleich, was die Beweise sagten, sicher hatte ich den Ring nicht bei mir, doch er konnte ja während des Unfalls heruntergefallen sein oder ich könnte ihn bei meinem Spaziergang durch Madrid verloren haben oder aber … ich hatte ihn in einem Wutanfall weggeworfen. Tick, tack, tick, tack … tack … tack … Nein, niemals. Niemals hätte ich ihn weggeworfen, da war ich mir sicher, schließlich kannte ich mich selbst. Was hätte ich getan, hätte ich, mal angenommen, die Beziehung mit Antonio abgebrochen? Lange überlegen musste ich nicht: ich hätte den Ring auf dem nächstbesten Marktstand verkauft. Kein einziges Andenken an ihn hätte ich behalten wollen und mich von allem getrennt, was mich auch nur das kleinste bisschen an unseren glücklichen Zeiten erinnerte. Mir meiner Sache sehr sicher, stand ich auf und eilte in mein Zimmer. Meine braune Brieftasche lag neben meinem Bett. Ich machte sie auf und suchte nach irgendeinem Beweis, einer Quittung, einer Adresse, irgendetwas, was mich auf die Spur brachte, wo sich der Ring befand. Meine Hände zitterten und kalter Schweiß begann, mir den Rücken hinunterzulaufen. Wenn der Beleg da war, dann war das der Beweis dafür, dass ich die Beziehung beeendet hatte. Die Beziehung mit dem einzigen Mann, den ich jemals in meinem Leben geliebt hatte und dann wusste ich, würde ich mich noch schuldiger fühlen. Vor lauter Nervösität fiel mir eine der Visitenkarten auf den Boden und gelangte unter das Bett. Ich verfluchte mich selbst und bückte mich um sie schnell aufzuheben. Doch bevor ich mich wieder aufrichtete, streifte ich eine kleine Schachtel, die so groß wie meine Handfläche war. Unsicher nahm ich sie mir und betrachtete sie eingehend. Es war das in buntes Papier eingewickeltes Kästchen, das man am Tag meines Unfalls neben meinem bewusstlosen Körper gefunden hatte. Mit zum Zerreißen gespannten Nerven zog ich an der roten Schnur und machte es langsam auf. Als ich den Inhalt sah, lächelte ich. Ich erinnerte mich. Endlich erinnerte ich mich an alles. [Anmerkung: Das, was Lovino gefunden hat, ist NICHT der Ring] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)