Corrupt Me! von Sky- ================================================================================ Kapitel 4: Let's Talk --------------------- Selbst am Tag nach der letzten Session war Christoph ziemlich erschöpft gewesen und hatte sich so gerädert gefühlt, dass er mit dem Auto zur Uni fahren musste, weil er es zu Fuß sonst nicht geschafft hätte. Seine Kollegin Dr. Mary Chamber, die im Bereich Neurobiologie tätig war, hatte im ersten Moment schon gedacht gehabt, er sei krank und hatte ihm schon geraten, zum Arzt zu gehen. Aber zum Glück ging es ihm heute deutlich besser und er hatte wieder seine Energie zurück. Also ging er wieder zu Fuß zur Uni, da sie ja eh nicht allzu weit entfernt lag. Außerdem brauchte er die Bewegung auch, um seinen Kopf sortiert zu bekommen, auch wenn er von sich selbst behauptete, ziemlich faul zu sein. Aber es hatte auch etwas Erholsames, wenn man natürlich die Tatsache außer Acht ließ, dass er selbst auf seinem Spaziergang das Rechnen nicht sein lassen konnte. Es war auch immer der gleiche Weg, den er ging. Dieselbe Ampel, die alle fünf Tage 0,34 Sekunden länger brauchte, dieselbe Strecke von knapp 25,446 Minuten Fußmarsch, wenn er sein Lauftempo konstant hielt. Er fragte sich manchmal, wie andere das aushielten, immer diese Konstante in ihrem Leben zu haben. Dieselben Wege, dieselben Tagesabläufe. Es gab einfach zu viel Ordnung in dieser Welt. Zu viel Vorhersehbares und zu viel Berechenbares. Dahingegen erschienen ihm die Sessions mit Crow wie eine willkommene Abwechslung. Es war wie eine Flucht aus seinem geordneten Leben, weil Crow diese Ordnung zerstörte und ihm die Kontrolle über seine Handlungen und über seinen Körper entzog. Er ließ ihn Dinge tun und spüren, die für Christoph noch nie vorstellbar gewesen waren. Auch wenn viele Menschen es vielleicht als unnormal und eventuell sogar als krank empfunden hätten, dass er so etwas machte, so bereute er diese Entscheidung durchaus nicht. Dieses Abenteuer brachte ihm den Nervenkitzel, den er brauchte und er konnte es offen gestanden kaum erwarten, dass es bald wieder soweit sein würde, auch wenn diese Demütigungen und die körperlichen Züchtigungen gewisse Spuren hinterlassen hatten. Da er keine Lust hatte, in der Kantine der Universität zu essen, hatte er sich einfach vom Chinaimbiss in der Nähe gebratene Nudeln geholt und wollte sich in sein Büro verkriechen. Er war sowieso gerade dabei, eine weitere Wahrscheinlichkeitsformel zu berechnen und er ließ seine Arbeit nur ungern unvollendet. In der Hinsicht war er fast genauso pedantisch wie mit seiner Rechnerei. Nur bemühte er sich halt damit, anderen damit nicht auf die Nerven zu gehen. Das konnten viele Akademiker ganz gut und deshalb hatte er auch nicht viel für diesen „Klugscheißer-Verein“ übrig. Zumindest galt das für jene, die meinten, man müsse unbedingt die ganze Welt wissen lassen, dass man intelligenter als der Durchschnitt war. Mit seinem Mittagessen ging er in sein Büro und wollte es sich an seinem Schreibtisch gemütlich machen, doch als er die Tür öffnete, sah er einen groß gewachsenen Mann mit südländischem Teint und dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren. Er war fast zwei Meter groß, hatte kräftige Oberarme und trug eine schwarze Lederjacke, schwere Stiefel und eine Jeans mit Nietengürtel. Obwohl er den Rücken zu Christoph gewandt hatte, erkannte dieser sofort, dass es Crow war. Und zu seinem Erstaunen war der Tätowierer gerade dabei, die Formel zu seiner Wahrscheinlichkeitsberechnung zu ergänzen. Ja, er hatte sie sogar korrekt gelöst. „Crow?“ Der Tätowierer drehte sich um und legte den Stift beiseite. „Ah Chris, da bist du ja. Und ich dachte schon, du wärst untergetaucht. Eine nette kleine Arbeit hast du da. Sag bloß, du machst solche Wahrscheinlichkeitsberechnungen häufiger. So etwas ist ja für eine Uni nicht gerade anspruchsvoll.“ „Ist eine Art kleine Nebenaufgabe von mir“, erklärte Christoph und setzte sich auf seinen Stuhl. „Die ganzen Professoren und Doktoranden kommen mit verschiedenen Anliegen zu mir, weil zum Beispiel Experimente durchgeführt werden müssen. Wenn sie sehr kostspielig sind, berechne ich ihnen die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs und Misserfolgs. Mit der Zeit wird die Arbeit auch recht eintönig und die einzige Herausforderung für mich ist das Suchen von Lösungsansätzen für ungelöste und teilweise auch als unmöglich lösbar eingestufte mathematische Probleme, sowie die Berechnung der nächsten Lottozahlen.“ „Dann musst du ja ziemlich viel Kohle haben, wenn du die Lottozahlen ausrechnen kannst.“ Crow nahm nun auf dem anderen Stuhl Platz, sodass er Christoph genau gegenüber saß. Er nahm eine recht bequeme Haltung ein und erinnerte nicht wenig an einen Rocker mit seiner Aufmachung. Er trug eine Silberkette mit einem Medaillon um den Hals und auf seinem weißen Shirt, welches seine Haut nur noch dunkler erscheinen ließ, hatte er einen Weißkopfadler als Aufdruck. „Ich behalte das Geld nicht“, erklärte der Akademiker, um auf diese Bemerkung zu antworten. „Ich spende es.“ „An Hilfsorganisationen?“ „An das Waisenhaus, in dem ich aufgewachsen bin, bevor ich adoptiert wurde.“ Crows Blick hatte nach wie vor etwas Lauerndes. So als warte er nur darauf, dass sein Gegenüber eine Schwäche zeigte oder anderweitig einknickte. Vielleicht bildet sich Christoph das aber auch nur ein. Dieser begann nun sein Mittagessen zu essen, da er allmählich Hunger verspürte. Auf seine Frage, ob er Crow etwas anbieten könnte, lehnte der Tätowierer ab. Nach den ersten Bissen merkte der Akademiker an „Ich hätte nicht gedacht, dass du etwas von Stochastik verstehst.“ „Ich hab selbst mal studiert. Näher gesagt Medizin, Psychologie und Neurobiologie“, gab Crow zu und verschränkte die Arme. Diese neue Erkenntnis erstaunte Christoph, denn das hätte er jetzt nicht erwartet. Und natürlich wollte er daraufhin wissen, wieso Crow dann ausgerechnet Tätowierer geworden war. Doch sofort verfinsterte sich der Blick des 28-jährigen und man sah ihm deutlich an, dass er keine näheren Einzelheiten nennen wollte. Stattdessen antwortete er nur damit, dass er seine Gründe dafür hätte und sie nicht weiter benennen wollte. Und damit beließ es der Mathematiker. Stattdessen interessierte ihn noch etwas anderes. Als er nämlich nach Crows IQ fragte, zuckte dieser mit den Schultern und erklärte, dass er sich nicht mehr an den genauen Wert erinnern könnte, aber es war irgendetwas zwischen 150 und 160. Und das verwunderte Christoph noch mehr. „Und wieso arbeitest du dann als Tätowierer?“ „Weil es besser ist, als mit diesem Akademikerpack arbeiten zu müssen. Das ist halt eine sehr lange und schwierige Geschichte, die aber auch niemanden etwas angeht.“ Nun, es brachte wohl nichts, weiter in diese Richtung nachzufragen. Also entschied sich Christoph dazu, lieber die Richtung zu wechseln. Denn da gab es nämlich noch etwas, was ihn dann doch interessierte und wo Crow schon mal hier war, um seine Fragen zu beantworten, dann konnte er die Situation gleich nutzen, um ihn etwas besser kennen zu lernen. „Hast du südländische Wurzeln?“ „Ich bin so einiges“, antwortete der Tätowierer und musste lachen. „Ich habe japanische, chinesische, brasilianische und indianische Wurzeln. Mein Vater ist halb Japaner und Chinese und meine Mutter teils Brasilianerin und Indianerin. Geboren bin ich in Japan, genauer gesagt in Murakami. Aufgewachsen bin ich aber in Brooklyn. Von meinen asiatischen Wurzeln sieht man aber eh nichts.“ Christoph war erstaunt, denn so eine bunte Mischung hätte er bei Crow jetzt nicht vermutet. Wobei er aber beim genaueren Hinsehen dann doch bemerken musste, dass an den Augenwinkeln sehr schwach gewisse asiatische Züge vorhanden waren. Aber dazu musste man schon sehr genau hinsehen. „Und was willst du noch von mir wissen?“ hakte der 28-jährige schließlich nach und wirkte ein wenig rastlos. Irgendwie gewann Christoph immer mehr den Eindruck, als würde sich Crow hier nicht sonderlich wohl fühlen. Lag es an dem Büro, oder allgemein an der Uni? Nun, es war bekannt, dass Crow Akademiker verachtete und das bekam auch seine Kundschaft hin und wieder zu hören. Zwar war Christoph bisher immer nur bei dessen Angestellter Satori Horikawa gewesen, aber die hatte auch so einiges über ihren Chef erzählt. „Wie bist du eigentlich auf SM gekommen?“ „Das kam ganz spontan. Als ich gemerkt habe, dass mir das Ganze irgendwie gefällt, hab ich es zu meinem Hobby gemacht und hab mit der Zeit mein Repertoire an Geräten und Spielzeugen immer weiter ausgebaut. Ich mach halt das, was mir gefällt und von meinen Entscheidungen her war ich schon immer recht impulsiv gewesen. Aber weißt du, Chris… ich habe mal über dein Gerede vom Chaos-Faktor nachgedacht und ich hab so den Eindruck, als wärst du ein ganz schön kopflastiger Mensch. Zwar kenne ich dich nicht wirklich, aber du scheinst mir jemand zu sein, der instinktiv nach einer Logik in dieser ganzen Welt sucht. Du hast für dich eine gewisse Ordnung in deiner Welt und bist mit Sicherheit auch ein kleiner Pedant.“ Crow betrachtete Christoph aufmerksam und allein an dessen Reaktion konnte er sehr gut erkennen, dass er mit seiner Einschätzung gar nicht mal so falsch lag. Aber es war auch ziemlich offensichtlich, in welche Kategorie er seinen kleinen Akademiker einordnen konnte. Er hatte nicht umsonst Psychologie studiert und zudem verfügte er über eine äußerst gute Einschätzung, was seine Mitmenschen betraf. Nicht zuletzt wegen Prof. Bloom, den er am liebsten wieder aus seinem Gedächtnis streichen wollte und das am besten für immer. „Ich kann mir schon denken, wieso du dich auf die ganze Sache eingelassen hast“, fuhr er fort. „Du bist gelangweilt von diesem Leben und suchst Abwechslung. Etwas, das dir hilft, von dieser Routine und deiner Gewohnheit loszukommen, die ganze Welt in ein System zu bringen.“ Der etwas verunsicherte Blick bei dem 24-jährigen amüsierte ihn. Für ihn war der Junge fast genauso wie eine frustrierte Hausfrau, die die üblichen Spielchen leid war und keine Lust mehr hatte, immer in denselben Trott gefangen zu sein. „Hinter deinem Chaos-Faktor steckt kein großes Geheimnis, du denkst einfach nur zu umständlich. Es ist einfach so, dass Menschen den Drang verspüren, Kontrolle auszuüben, aber auch kontrolliert zu werden. Es gibt devote und dominante Menschen. Sogar die Männer aus der Chefetage suchen sich eine Domina, weil ihnen der Ausgleich fehlt. Bei dir ist es nicht anders: du braucht einen Ausgleich, wo auch mal du die Kontrolle abgeben kannst und dich von jemand anderem beherrschen lässt. Denn dann brauchst du nicht mehr über deine ganzen Formeln nachzudenken. Insbesondere dann nicht, wenn dein Kopf vollkommen ausgeschaltet ist.“ Ein spielerisches Lächeln zog sich über seine Lippen und er konnte sehr gut beobachten, dass Christoph ein wenig rot um die Wangen wurde. Mit Sicherheit musste er wieder an die zwei Sessions denken. Und allein schon als er sah, dass der 24-jährige etwas unruhig auf seinem Platz saß, konnte er sich natürlich denken, dass dieser das nächste Treffen kaum abwarten konnte. Nun, er hatte ihn vorgestern auch deutlich mehr rangenommen als bei der ersten Session, aber er wollte auch nicht, dass sein Spielgefährte auf den Trichter kam, sie könnten es jeden Abend machen. Nein, er musste ihn auch mal ein wenig zappeln lassen, damit es nicht noch zur Gewohnheit wurde. Außerdem musste der gute Chris lernen, dass es nicht nach seinen Wünschen ging und er sich dementsprechend unterzuordnen hatte Wenn er dann sogar noch überreizt war, machte es umso mehr Spaß. Außerdem hasste Crow es, wenn die Dinge eine gewisse Regelmäßigkeit entwickelten. In der Hinsicht war er fast genauso wie Christoph, nur unter einem anderen Aspekt. „Der Unterschied zwischen uns beiden ist einfach, dass du so kopflastig bist, dass du es von alleine gar nicht mehr abschalten kannst. Da macht auch der Sex mit Frauen keinen Spaß, wenn die obendrein noch zu der devoten Sorte im Bett gehören. Sex ist ein sehr gutes Mittel, um komplett abzuschalten und sich, anstatt von seinem Kopf, einfach von seinen Sehnsüchten und seinem tiefsten Verlangen beherrschen zu lassen. Ich für meinen Teil lasse mich schon lange nicht mehr von meinem Kopf beherrschen, sondern nehme mir einfach das, was ich will und lebe das aus, was ich auch will. Und dabei denke ich auch nicht lange über irgendwelche Wahrscheinlichkeiten nach. Ich spiele gerne auf Risiko und gehe dabei aufs Ganze. Meiner Meinung nach solltest du dich mehr nach dem richten, was du dir gestochen hast.“ Dabei tippte er auf die Stelle auf Christophs Brust, wo er unter der Kleidung die Schlangentätowierung hatte. „Wenn du die Symbolik verstehen würdest, dann müsstest du, dass es tu, was du willst bedeutet und besagt, dass du deinem wahren Willen folgen solltest. Und nichts ist schwieriger als das. Aber keine Suche ist lohnenswerter als die nach dem wahren Willen.“ Als es langsam Nachmittag wurde, verabschiedete sich Crow und sagte ihm noch, dass er sich kurzfristig für das nächste Treffen melden würde. So war Christoph für den Rest des Tages allein im Büro und dachte über das nach, was der Tätowierer ihm gesagt hatte. Er sollte seinem wahren Willen folgen… Was würde das in seinem Fall bedeuten? Was wollte er denn? Wollte er mehr von dem, was Crow ihm gezeigt hatte und mehr von dieser Welt sehen, der er sich bisher noch nie so wirklich genähert hatte, weil er nie einen Anlass dazu gesehen hatte? Wollte er mehr von diesen Züchtigungen und Liebkosungen spüren? Oder war es viel eher sein Wille, sich voll und ganz der Mathematik zu widmen und das zu tun, was er am besten konnte? Auch wenn er diese ganze Ordnung leid war, änderte es nichts an der Tatsache, dass er die Mathematik liebte und gerne alles im Kopf berechnete. Es war für ihn eine wunderbare Spielerei, nur war halt das Problem da, dass sie einfach zu viel von seinem Leben beanspruchte. Er brauchte einen gewissen Freiraum. Einen Lebensbereich, den seine Mathematik nicht vereinnahmen konnte… einen Ausgleich… Genauso wie Crow es gesagt hatte. Als sich seine Arbeitszeit dem Ende zuneigte, packte er seine Tasche und verließ sein Büro, die Tür schloss er gleich ab. Auf dem Weg nach Hause begann es zu regnen und da er keinen Schirm dabei hatte, kam er etwas durchnässt nach Hause. Er wurde direkt an der Haustür von seiner Adoptivmutter in Empfang genommen, die ihm erst mal ein Handtuch brachte. „Schatz, wieso hast du nicht angerufen? Ich hätte dich doch abholen können!“ „Weil mir der Spaziergang auch mal ganz gut tat. Außerdem bin ich kein kleiner Junge mehr, Mum.“ Kopfschüttelnd machte sie ihm Platz und sagte nichts weiter dazu. Sie kannte seine Launen inzwischen schon zur Genüge und beließ es dabei, dass sie ihn darauf hinwies, dass er gleich zum Essen kommen könne. Helen Strauss war im Gegensatz zu ihrem Mann keine Akademikerin und konnte nicht mit dem Niveau ihrer beiden Männer mithalten. Doch davon hatte sie sich auch nie beirren lassen und hatte stets die Meinung vertreten, dass es reichte, wenn sie Harold eine gute Ehefrau und Christoph eine gute Mutter sein konnte. Und als resolute Hausfrau wusste sie sich gegen die beiden durchzusetzen und sich gegen ihren Intellekt zu behaupten, auch wenn sie selbst nie das College besucht hatte. Nicht gerade die beste Kombination, wenn man bedachte, dass Harold Strauss sowohl drei Doktortitel besaß, sondern auch noch den Status als Professor genoss. Aber er war auch stets bemüht, den „Akademiker“ bei der Arbeit zu lassen und zuhause ein normaler Vater und Ehemann zu sein. Und so etwas hatte sich auch Christoph angewöhnen müssen, denn nicht selten hatte er seine Adoptivmutter zum Verzweifeln gebracht, als er ihr mit zehn Jahren das Collatz-Problem erläutern wollte und versucht hatte, einen eventuellen Lösungsweg zu entwickeln. Ganz zu schweigen, als er den Großen Fermatschen Satz auseinandergepflückt hatte, um auch wirklich zu sehen, ob die Gleichung a^n + b^n = c^n für positive ganze Zahlen a,b,c, n mit n>2 keine Lösung hatte. Sie konnte da absolut nicht mitreden und hatte ihm deshalb klar gemacht, sich während der familiären Unternehmungen mit seinen Zahlen zurückzuhalten. Und daran hatte er sich auch immer gehalten, oder zumindest meistens. Bevor er aber zum Essen kam, ging er erst mal nach oben in seine Wohnung und zog sich um, damit er wenigstens aus den nassen Klamotten rauskam. Als er sich halbnackt im Spiegel betrachtete, stellte er fest, dass tatsächlich keine Spuren zu sehen waren. Keine Abschürfungen, keine blauen Flecken. Und als er das AURYN-Tattoo auf seiner Brust betrachtete, musste er sich an Crows Worte erinnern und tatsächlich schmunzeln. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieser Typ seine Lieblingslektüre aus seiner Zeit im Waisenhaus kannte? Hauptsächlich hatte er sich das AURYN-Motiv stechen lassen, weil es sich in einer perfekten elliptischen Symmetrie befand und es ein wunderbares dualistisches Motiv darstellte. Aber die Botschaft dahinter hatte er fast schon vergessen. Tu, was du willst. Eigentlich konnte er diese Botschaft ja auf sein derzeitiges Dilemma beziehen. Im Grunde war die Lösung für dieses Problem, dass er halt tat, was er wirklich wollte. Aber die Schwierigkeit bestand eben halt darin, zu erkennen, was er wirklich wollte. Das war nämlich nicht ganz so einfach. Nachdem er sich umgezogen hatte, ging er nach unten in die Wohnung seiner Adoptiveltern. Harold saß bereits am Tisch und freute sich sichtlich über den Besuch. „Christoph! Das ist ja auch mal wieder schön, dass man dich zu Gesicht bekommt. Da wohnst du schon über uns und trotzdem sieht man dich kaum.“ „Ich war viel mit Arbeit beschäftigt“, erklärte der Angesprochene und nahm nach der Ermahnung seiner Adoptivmutter die Mütze ab, als er sich an den Tisch setzte. „Wenn ich nicht mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu tun habe, arbeite ich noch an der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer und am P-NP-Problem. Dr. Becker meinte, dass sich das Problem auch mit der Polynomialzeitreduktion klären lässt, weil man es somit in deterministischer Polymialzeit lösen könnte, womit also P = NP wäre. Nur müsste dafür erst mal ein solcher Algorithmus her und solange der nicht gefunden wird, gilt also P≠NP. Lösbar wäre das Problem also dann, wenn sich ein Algorithmus findet, sodass bewiesen wird, dass P≠NP und vielleicht auch logisch unabhängig von ZFC ist. Oder aber es findet sich eine nicht-konstruktive Technik, mit der bewiesen werden kann, dass P = NP gilt, ohne dass man einen expliziten Algorithmus konstruieren müsste.“ „Jungs, ich hab doch gesagt: keine Fachgespräche am Tisch, wenn ich dabei bin!“ Sofort unterbrachen sie ihr Fachgespräch und beschlossen, es später fortzusetzen. Auch wenn Christoph seinen Adoptivvater in vielen Bereichen längst überholt hatte, holte er sich dennoch oft bei ihm Ratschläge ein, da Harold etwas hatte, was ihm wiederum mangelte: lange Berufs- und Lebenserfahrung. Und manchmal brachte sein Adoptivvater ihn auch hin und wieder mal mit einem guten Ratschlag auf die richtige Spur und dann kam er auch der Lösung näher. „Sag mal Christoph, was war denn eigentlich gestern mit dir los?“ fragte Helen, als sie das Essen auf den Tisch stellte. Es gab Steaks mit Kartoffeln und Gemüsebeilage. Der 24-jährige nahm sich eine etwas kleinere Portion, da er nach dem Essen in der Mittagspause noch keinen allzu großen Appetit verspürte. „Ich hatte mich vorgestern ziemlich verausgabt, deshalb war ich auch noch etwas neben der Spur. Aber es geht schon wieder. Ich fühl mich bestens.“ „Ja, das sieht man auch. Du wirkst ausgeglichener als sonst.“ Diese Bemerkung überraschte ihn nun doch. War es denn so deutlich zu sehen, dass er durch diese Sessions nicht mehr ganz so frustriert und übellaunig war wie sonst? Zugegeben, es war eine wirklich wunderbare Abwechslung und es gab ihm auch gewissermaßen den Kick. Und als Helen natürlich nachfragen musste, was genau er jetzt machte, überlegte er nicht lange und sagte einfach, dass er zu einer Art Therapie gehen würde, die auch mit sportlichen Aktivitäten verbunden sei. Naja… ganz ehrlich war es jetzt nicht, aber komplett gelogen war es auch nicht. Allerhöchstens etwas umformuliert. „Ach das ist ja wunderbar! Und wie ist dein Therapeut so?“ „Er nimmt mich ganz schön ran, aber er versteht sein Fach.“ „Na das ist ja wohl die Hauptsache. Und wenn es dir dadurch besser geht, ist es doch wunderbar!“ Christoph musste bei dem Gedanken fast schmunzeln, dass er doch tatsächlich diese BDSM-Sessions als Therapie bezeichnete. Naja… aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet, könnte man es tatsächlich als ziemlich ungewöhnliche Therapie betrachten. Immerhin half sie ihm, ihm einen guten Ausgleich zu seiner Arbeit zu geben und er merkte ja auch selbst, dass diese Sessions ihm das gaben, was er die ganze Zeit gesucht hatte. Aber trotzdem war die Vorstellung einfach schräg, dass er Crow als Therapeuten bezeichnete und seine Adoptiveltern keinen blassen Schimmer hatten, dass er sich von einem Hobby-Dominus an einem Pranger fesseln und den Allerwertesten versohlen ließ. Wenn die das erfahren würden, Hellen würde erst mal vor Schreck einen Herzinfarkt kriegen und sich fragen, was sie in der Erziehung falsch gemacht hatte. Und Harold würde auch erst mal ziemlich dumm aus der Wäsche gucken. Aber so wie Christoph ihn auch einschätzte, würde er es etwas gefasster aufnehmen. Unter Männern verstand man sich eben etwas besser und er war auch sehr liberal. Immerhin pflegte seine Nichte als Vollblutgothic auch keinen stinknormalen Lebensstil. Aber fürs Erste bestand sowieso noch keine Veranlassung, irgendeiner Menschenseele von seiner neuen Vorliebe zu erzählen. Wozu denn auch? Es war seine eigene Privatangelegenheit und es konnte ihm eh vollkommen egal sein, was andere darüber dachten. Solange er zufrieden bei der ganzen Geschichte war, war auch alles in bester Ordnung. Und es war eh vertraglich abgesegnet, dass Stillschweigen bewahrt wurde. Zumindest hätte Christoph nicht gesagt, wer sein „Therapeut“ war. Aber wem hätte er es denn schon erzählen sollen? Seine Adoptiveltern mussten es ja nicht unbedingt wissen, zumindest noch nicht und richtige Freundschaften hatte er auch nicht. Er war ohnehin noch nie der sozialste Typ gewesen und aufgrund der Tatsache, dass er einen so extrem hohen IQ hatte, war es ihm schon als Kind sehr schwer gefallen, Freunde zu finden. Wenn man mit zehn Jahren schon zur Uni ging und alle anderen knapp zehn bis zwanzig Jahre älter waren, dann hatte man eben ziemlich Pech. Da war man nicht mehr mit Gleichaltrigen in der Schule. Hochbegabung machte einsam, das hatte Christoph früh erkannt und es akzeptiert. Etwas anderes blieb ihm ja auch nicht übrig. Und da er schon immer eher zu den Einzelgängern zählte, der nicht wirklich auf freundschaftliche Kontakte angewiesen war, hatte er auch nicht sonderlich viele Probleme damit gehabt. „Und was genau machst du bei dieser Therapie?“ „Jetzt bedräng den Jungen doch nicht gleich wieder, Helen“, kam es von Harold herüber, der sich bis jetzt nicht oft zu Wort gemeldet hatte. Aber nun sah er sich doch gezwungen, etwas dazu zu sagen und seine Frau ein wenig zu bremsen. „Wenn du in einer Therapie wärst, wenn es dir nicht gut geht, dann würdest du auch nicht über Einzelheiten sprechen wollen.“ „Aber ich mache mir doch nur Sorgen! Wieso denn überhaupt ein Therapeut? Hast du Ärger auf der Arbeit oder bekümmert dich irgendetwas?“ „Es ist nichts Ernstes“, versicherte Chris und goss sich ein Glas Wasser ein. Seine Kehle fühlte sich irgendwie trocken an. „Es ist nur halt so, dass ich mit mir selbst im Moment unzufrieden bin und diese Therapie als inneren Ausgleich brauche, um von meiner Unzufriedenheit wegzukommen.“ Das war ja nicht mal gelogen, nur eben halt in eine elternfreundliche Version umformuliert worden. Er konnte ja wohl schlecht sagen, dass er darauf stand, körperlich gezüchtigt und dominiert und wie ein Sklave behandelt zu werden und dass es ihm den Ausgleich zu seinem routinierten und kontrollierten Alltag gab. Welche Eltern wollten so etwas denn auch schon gerne hören? „Auf jeden Fall braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Wie gesagt: es ist nichts Ernstes. Ich brauch einfach nur ein Ventil, um auch mal von diesem Frust loszukommen. Und ich denke, dass die Therapie auch ganz gut ist und ich sie weiterhin machen werde.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)