Fairyrytales von Apricot ================================================================================ Kapitel 5: Red Riding Ryan [ohne Smut] -------------------------------------- Ryan hasste sein Dorf. Gut – hassen war wohl ein sehr starkes Wort, das Ryan natürlich niemals laut aussprechen würde. Dafür war er zu höflich, zu lieb… und vor allem würde er dafür zu viele geschockte Blicke von seinen Mitmenschen kassieren, weil in diesem Dorf so gut wie jedes negative Wort den Schock des Jahrzehnts auslöste. Dennoch, Ryan konnte sein Dorf wirklich nicht leiden. Er war sich nicht ganz sicher, womit diese plötzliche Erkenntnis kam: vielleicht weil seine Arme bis zu seinen Ellbogen im Mehl steckten, vielleicht aber auch, weil sich gestern seine Verlobung aufgelöst hatte. Nicht, weil Rachel ihn nicht geliebt hatte, nein, sie hatte ihn sogar vergöttert und Ryan hatte sogar wirklich geglaubt, dass es diesmal klappen würde. Hatte es aber nicht. Rachel – oder besser gesagt ihre Überreste – waren gestern Morgen am Waldrand gefunden worden. Bis auf ihren Kopf war da allerdings nicht mehr viel gewesen, aber hey, immerhin hatte man sie erkennen können. Wie üblich. Ryan würde wirklich gerne von sich selbst behaupten, dass er geschockt gewesen war. Dass er sich ehemalige Klamotten von ihr genommen, umarmt und sich in den Schlaf geweint hätte, weil er die Vorstellung so grausam fand, ein Leben ohne Rachel zu leben und weil er einfach ständig an sie denken musste… Aber nein, dem war wirklich nicht so. Beim fünften Mal war das eben einfach nicht mehr so emotional. Und mittlerweile war er schon 18, was hieß, er würde höchstwahrscheinlich bald nicht mehr so leicht seine nächste Verlobte finden können – und das alles nur wegen diesem vermaledeiten Wolf, der immer gerade seine Verlobte umbringen musste! Ja, Rachel hatte er nicht wirklich geliebt. Genauso wenig wie seine vierte Verlobte, Rosie, seine dritte Verlobte, Melissa und seine zweite Verlobte, Rain. Lediglich seiner ersten Verlobten, Thalia, hatte er noch annähernd sowas wie Gefühle entgegen gebracht. Sie war auch sowas wie seine Kindheitsfreundin gewesen und er hatte sich mehr als nur gefreut, als er sich mit 15 mit ihr verlobt hatte. Nur hatte der Wolf sie auch gefressen! Natürlich hatte er ihren Kopf verschont, wie immer, der Wolf aß nie den Kopf. Wahrscheinlich zu viel Gehirn oder sowas, oder, damit man die Leichen tatsächlich erkennen konnte. Jedenfalls fühlte Ryan sich mittlerweile wirklich abgestumpft, was seine Verlobten anging. Er hätte aber so gerne eine Verlobte, eine Familie – er wollte nicht wie sein Vater enden, ein trauriger Mann mit einem Sohn und einer nichtsnutzigen Tochter, während seine Frau sich sogar lieber in den Wald verkrümelt hatte, als sich länger mit ihm zu befassen. Die Leute redeten ja auch schon über ihn, verdammt! Als Bäckerssohn hatte er in ihrem kleinen Dorf immer gute Chancen gehabt, verlobt zu werden. Früher hatte man sogar über seinen Charme geredet und was er doch für ein toller Mann wäre, der auch noch so unglaublich gut aussah. Sie liebten ihn auch alle immer noch. Jeder liebte ihn, hielt ihn für diesen kleinen, unschuldigen Jungen. Durch seinen roten Mantel, dessen dicke Kapuze er sich immer über die Augen zog, hatte er sich sogar diesen unheimlich unschuldigen Namen ‚Rotkäppchen‘ eingehandelt. Keiner schien es seltsam zu finden, dass Ryans Verlobte wie die Fliegen umfielen, noch immer buhlten alle Mädchen um ihn. Beziehungsweise bei seinem Vater, weil hier im Dorf alles durch die Eltern geregelt wurde; der Vater verlobte seine Söhne, die Mütter ihre Töchter. Einfaches Prinzip. Ryan aber hatte die mitleidigen Blicke satt, die tausend Entschuldigungen erst recht und vor allem nervte es ihn, wie die unfähigen Kämpfer und Jäger des Dorfes immer wieder betonten, dass sie doch den Wolf nicht töten konnten und dass er zu groß, zu stark und zu unmenschlich sei. Pah, von wegen! Unfähigkeit nannte man das! Ryan wischte sich mit mehligen Händen über seine schweißüberströmte Stirn, während er den gefühlt tausendsten, noch ungebackenen Brotlaib neben sich ablegte. Frustrierenderweise waren es aber noch nicht tausend, sondern erst vier – und er musste noch viel, viel mehr machen, aber das war so unheimlich an-streng-end. Am Liebsten würde er das Dorf einfach verlassen. Wegrennen, so wie seine Mutter… aber wohin? Das Dorf wurde von Wald umgehen und außerhalb des Waldes war – nichts. Jedenfalls nichts, von dem irgendwer etwas wusste. Nur wenige wagten sich überhaupt in den Wald zu gehen, schließlich lauerten dort Millionen an Gefahren und bla, bla, bla, man sollte ja niiie weg gehen. Nur die Jäger und Sammler trauten sich für die Nahrung raus, aber sonst… „Du machst doch das Brot ganz kaputt!“, jammerte sein Vater. Ryan schaute verblüfft auf den Brotlaib, den er gerade geknetet hatte – und sah, dass er ihn tatsächlich eher zerrissen als wirklich in Form gebracht hatte. Man, er sollte in der Arbeit aufhören an solche nervenaufreibenden Themen zu denken. „Lass mich das machen“, fügte er noch seufzend an. „Mach du mal eine Pause, Ryan. Ich hätte dich heute noch nicht arbeiten lassen sollen… du trauerst noch um Rachel, das verstehe ich.“ Er warf ein mitleidsvolles Lächeln in Ryans Richtung und klopfte ihm auch gleich auf die Schulter. „Du findest nochmal die Liebe deines Lebens, ich glaube daran.“ ‚Wenn sie nicht wieder gefressen wird, ja.‘ Die Worte lagen auf Ryans Zunge, aber er sprach sie natürlich nicht aus. Er war ja höflich. Deshalb lächelte er nur stumm, nickte und verließ anschließend so schnell es ging die Bäckerei. Seine Schürze band er dabei schnell ab und hängte sie neben der Tür an den Haken, machte sich sonst aber nicht sauber. Störte hier ja sowieso niemanden, wie er aussah… solange er sein Markenzeichen, den roten Umhang, noch anhatte jedenfalls. Und den legte er sowieso nie ab, immerhin war das das letzte Geschenk seiner Mutter, das er noch hatte. Ja, gut, der Mantel sah auch dementsprechend aus; er war fransig und hatte schon ein paar Löcher, die Ryan aber immer gewissenhaft genäht hatte. Zudem befanden sich darauf mehrere weiße, Waschgänge überstehende Flecken vom Mehl (und nicht nur vom Mehl, wenn Ryan ehrlich zu sich selbst war), da er selbst beim backen niemals den Mantel auszog. Aber immerhin stank er nicht! Ryan wusch ihn ja auch oft genug, dass das nicht der Fall war. Er verließ die Bäckerei in die Richtung seines eigenen Hauses, wo er kurz darauf schon das einzige Mädchen sah, das ihn gerade aufheitern konnte. Judith, die am Esstisch saß und irgendwas aus dem Stroh vor sich bastelte, das sie sicher wieder vom Pferdemeister gestohlen hatte. Wahrscheinlich ihre x-Millionste Puppe, von denen sowieso alle gleich aussahen. Grinsend schlich er sich an das Mädchen ran. „Hallo, Joody“, grüßte er sie, wobei sie gar nicht erst von ihrer Arbeit aufschaute. Gerade band sie eine Schnur um ein Bündel Stroh herum, die wohl die Taille der Puppe festlegen sollte. „Hi, Ryan“, sagte sie. „Was machst du denn da?“ Er legte seine Hände auf die Rückenlehne des Stuhles und beugte sich über seine kleine Schwester. „Schon wieder eine Puuuppe?“ „Mhm.“ Judith schaute immer noch nicht auf. „Ui. Lässt du dann die Puppen miteinander heiraten und Kinder kriegen, hm?“ Ryan ging an dem Stuhl vorbei und griff sich einen Bündel losen Stroh. Er drückte ihn in der Mitte zusammen und ‚stellte‘ die Figur neben Judiths. „Hallo, großer Pupperich“, sagte er mit einer tiefen, verstellten Stimme, während er mit dem Stroh zwischen seinen Fingern wackelte. „Lass mich an deiner grohoooßen Weisheit teilhaben! Was plant die große Joody, Schöpferin allen Lebens in dieser tristen Stroh-Welt?“ Judith presste ihre Lippen aufeinander, um ein Grinsen zu unterdrücken. „Du bist soooo peinlich“, sagte sie dann schließlich, wobei sie doch mal aufschaute. Ihre hellblauen, kristallklaren Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, fixierten direkt ihren großen Bruder. „Echt mal. Hör auf damit!“ Ryan lachte leise. „Ich bin gar nicht peinlich!“, sagte er dann, bevor er wieder zu dem Stroh in seinen Fingern schaute. „Oder, bin ich peinlich, Puppe?“ Er verstellte wieder seine Stimme und antwortete sich per ‚Puppe‘ selbst: „Nöööö.“ „Oh man.“ Judith rollte mit ihren Augen, grinste jetzt aber doch. „Du bist super doof.“ „Vielleicht ein bisschen.“ Ryan grinste wieder, legte aber die Puppe wieder ab und wuschelte Judith durch die Haare. „Aber du bist viel doooofer.“ „Mh-mh!“ Judith lachte. „Streich mir nicht durch die Haare als wäre ich ein kleines Kiiind!“ Ach… Judiths Lachen war wirklich besser als jede Medizin. Ryan grinste, aber plötzlich hörte Joody dann doch wieder auf zu lachen. „Tut mir Leid wegen Rachel…“, sagte sie leise. „Ach… nicht so schlimm.“ Ryan löste sich wieder von ihr. „Echt nicht.“ „Hm.“ Judith runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr dazu. Und plötzlich war die Situation gar nicht mehr lustig und schön, also seufzte Ryan nur und wuschelte ihr nochmal durch die Haare. „Bis später, Joody“, sagte er, bevor er auch ihr Haus verließ. Na, das lief ja heute echt alles ganz Klasse. Aber gut, es gab ja noch mehr Optionen für ihn. Also ging er weg von ihrem Haus, über die Lehmstraße, wo ihn schlagartig jeder grüßte der ihn sah. Ryan war das gewohnt. In diesem Dorf kannte ihn absolut jeder, obwohl er bei Weitem nicht jeden kannte – das Dorf war zwar klein, aber eben doch nicht so klein. Ryan grüßte immer zurück, mit einem Lächeln und einer erhobenen Hand. Dennoch verschwendete er nicht allzu viel Zeit an seine Mitmenschen, damit er auch irgendwann mal bei seinem Ziel ankam… das er auch zum Glück schnell erreichte. Die Schmiede, die nur ein paar Häuser weiter war. Ryan schlich sich an die Tür, die wie immer offen stand. Von innen strömte ihm die Hitze des Feuers entgegen. Das Rotkäppchen lehnte sich grinsend gegen den Türrahmen, wobei er die Arme vor der Brust verhschränkte. Vor sich sah er einen Jungen, der ihm den Rücken zugewandt hatte und gerade mit dem Hammer ein Schwert für die Jäger bearbeitete. Er arbeitete wie meist oberkörperfrei, weshalb Ryan einen perfekten Blick auf seinen Rücken hatte: die Muskeln, die sich durch das jahrelange Schmieden gestählt hatten und bei jedem Schlag anspannten und unter der Haut bewegten… überzogen von einem leichten Schweißfilm, der diesen perfekten Rücken leicht glänzen ließ… es war nicht zum ersten Mal, dass Ryan diesen Anblick sah und ein bisschen zu sehr genoss. Aber ehrlich, er hatte keine Ahnung, was das für eine Bedeutung haben sollte. Sich einen Typen zum Verlobten zu nehmen war für ihn genauso fremd wie der Gedanke, ein Schimpfwort laut auszusprechen. „Schaut so aus, als ob die Arbeit gut läuft“, kommentierte Ryan grinsend. Der Junge vor sich stoppte, um einen Blick über seine Schulter zu werfen. „Ryan“, stellte er grinsend fest… hörte aber schnell wieder auf zu Grinsen. „Ich hab das mit Rachel gehört“, schob er an, während er den Hammer sinken ließ und schließlich neben dem Schwert ablegte. „Das tut mir wirklich richtig Leid für dich. Ich dachte echt, dass das mit dir und Rachel was werden würde.“ Ryan zuckte mit den Schultern. „Komm schon, Ryder, du weißt, das sie genervt hat. Und du musst hier keine Schmierenkomödie veranstalten, ich mein, ich – “ Ryder hatte sich schnell zu ihm gedreht, die kurze Distanz zu ihm schon fast unmenschlich schnell überwunden und ihm am Arm gepackt. „Sei leise“, zischte er ihm zu. „Nicht, dass dich noch irgendwer hört.“ Ryan seufzte, nickte aber und betrat die Schmiede richtig. Nicht, dass es hier drinnen sicherer war, hier waren tausend Fenster, damit es hier drinnen nicht zu heiß werden würde. „Lass mich noch schnell fertig arbeiten, dann können wir rein gehen, ja?“, murmelte Ryder, woraufhin Ryan nur wieder nickte. Der Schmiede-Lehrling lächelte ihm nochmal zu, bevor er sich wieder abwandte und wieder den Hammer griff, um das Schwert fertig zu machen. Ryan strich von hinten an ihn heran und linste ihm über die Schulter, während er weiter auf das noch glühende Eisen einschlug. Komischer Anblick. Wenn Ryders Dad das machte, wirkte es irgendwie immer professioneller… aber wer war er schon, dass er da irgendwas beurteilen konnte? „Krass, dass du an einem so heißen Tag immer noch Lust auf arbeiten hast“, stellte Ryan nüchtern fest. „Krass, dass du an so einem heißen Tag immer noch Lust auf deinen Mantel hast.“ Ryder warf ihm ein rasches Lächeln zu, kümmerte sich aber gleich danach weiter um das Schwert; „Es ist sowieso gleich fertig. Schau mal her, das Eisen glüht sowieso schon kaum mehr und nochmal schmeiß ich’s nicht in die Schmiede.“ Zwei, drei Mal hämmerte Ryder noch zu, bevor er den Hammer wieder neben dem Amboss ablegte und seine Hand über seine Stirn wischte. „Eigentlich passt das schon so… solange es einigermaßen Balance hat – die Jäger können doch sowieso nicht richtig damit umgehen und der Wolf hat sowieso zu dicke Haut, um sie mit bloßem Metall zu durchbohren. Und wofür sonst brauchen sie schon Schwerter?“ Ryan merkte, wie sich bei den Worten seines besten Freundes die Nackenhaare aufstellten. „Wieso sagst du das?“, murmelte Ryan. „Du kannst das gar nicht wissen. Niemand hat den Wolf jemals gesehen und es überlebt. Irgendwie kann man dieses scheiß Viech sicher abschlachten.“ Außerdem wollte Ryan sich persönlich schon noch die Hoffnung bewahren, dass man das Ungetüm wenigstens irgendwie besiegen könnte. „Aber auf den Schwertern von den gefressenen Jägern war niemals Blut“, gab Ryder zurück. Er klang irgendwie verstimmt; vielleicht weil Ryan ihm widersprochen hatte. „Höchstens Blutspritzer von ihnen selber… Aber welche Vorstellung hast du denn lieber? Dass unsere Jäger unglaublich unfähig sind oder dass die Schwerter nichts taugen?“ Ryan drückte verstimmt seine Lippen aufeinander. Ryder, der gerade seine rußverschmierten, verschwitzten Hände an seiner Hose abwischte, runzelte die Stirn. Kurz schien er zu zögern, bevor er daraufhin näher trat und seine Hand an Ryans Schulter legte. „Jetzt schau nicht so, Ryan“, fügte er dann mit wesentlich sanfterer Stimme an. „Ich glaube nicht, dass du in Gefahr schwebst. Bleib einfach in meiner Nähe und ich passe auf dich auf, okay?“ „Und wie willst du auf mich aufpassen, wenn du selber sagst, dass man ihn nicht töten kann?“ Obwohl Ryan sich irgendwie trotzdem wohl fühlte, wenn Ryder sowas sagte… „Vertrau mir einfach.“ Ryder fixierte Ryans Augen, was diesem für einen Moment Herzklopfen bereitete. „Wenn es hart auf hart kommst, würde ich den Wolf von dir ablenken. Solange du entkommst…“ Ryans Gesichtszüge entglitten ihm. „Aber ich will auch nicht, dass du stirbst!“ „Werde ich auch nicht, weil der Wolf dich niemals angreifen wird.“ Ryder lächelte schief, „Aber selbst wenn, dann bist du nicht in Gefahr. Mach dir bitte einfach nicht so viele Sorgen darum, Ryan.“ Ryans Mund öffnete sich ein wenig zum Protest, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte Ryder auch gar nicht widersprechen und erst recht keinen Streit anfangen, also hielt er im Endeffekt doch einfach die Klappe – und sah wahrscheinlich ziemlich doof aus, so mit offenem Mund. „Du solltest dich lieber mal baden“, stellte Ryder ein wenig amüsierter fest. „Du hast überall Mehl.“ Mit den Worten löste er seine Hand von Ryans Schulter und fuhr stattdessen mit seinem Daumen über Ryans Wange, wobei sein Grinsen breiter wurde. „Und Ruß… an der Wange hast du auch noch Ruß.“ „Du bist ein Vollidiot“, stellte Ryan lachend fest. Das ungefähr schlimmste Schimpfwort, das er in diesem Dorf laut aussprechen würde – und dann auch nur vor Ryder, weil es vor Ryder nicht weiter schlimm war. „Das bin ich!“, stimmte Ryder zu, bevor er sich wieder ganz von Ryan löste. „Also dann – reingehen, baden?“ Ryan nickte zufrieden, woraufhin Ryder nochmal lächelte und seine Hände an der Hose abwischte. Währenddessen ging er auch schon zur Tür, die er, sobald er sie geöffnet hatte und drinnen war, für Ryan aufhielt. „Sind deine Eltern da?“, fragte Ryan nach während er die Hütte betrat. Ryder schüttelte seinen Kopf. „Treiben sich bei unseren Nachbarn rum“, erklärte er, während er durch die viel zu große Hütte ging. „Willst du was essen?“ „Nee. Ich hab heute genug mit essen zu tun gehabt, um das nicht zu wollen“, erwiderte das Rotkäppchen und schloss dabei auch gleich die Tür zu der Hütte. Private Zeit mit Ryder, yay! Aber noch viel mehr freute Ryan sich auf die Wanne der Flynns… „Dann mach ich mir nur selbst was. Du kannst schon mal in die Wanne“, sagte Ryder noch, bevor er schon in der Küche verschwand. Also, ‚Küche‘: Bei den Flynns war alles eigentlich ein großer Raum, abgesehen von den Schlafzimmern (Ryder hatte sogar ein eigenes!!!) und der Toilette. Es war eines der größten Häuser aus den Dorf, was wahrscheinlich daran lag, dass Ryders Vater mit seiner Schmiede wirklich gut verdiente. Und naja, irgendwie war er auch sowas wie der Oberhaupt des Dorfes – genauso wie seine Frau. Im Grunde schaute jeder zu denen auf, woran auch immer das lag. Höchstwahrscheinlich waren es die übertrieben Muskeln des Typen, ha. Aber wie dem auch sei; in einer Ecke stand das Ding, von dem Ryan schon träumte. Die beste Wanne ever, ernsthaft! Die hatte Ryders Vater gemacht, so halb aus Eisen, halb aus Holz – und sie war riesig! Aber das Beste von allen: sie hatten eine Apparatur darunter gemacht, sodass man sie ohne Gefahr mit Feuer erhitzen und man dadurch immer in unglaublichem warmen Wasser baden konnte. Und perfekt wie Ryder war, hatte er die Wanne natürlich bereits gefüllt und erhitzt – als ob er geahnt hätte, dass Ryan kommen würde! (Oder, weil er nach der Arbeit ein Bad hatte nehmen wollen…) Ohne groß zu zögern ging Ryan also nach hinten, grinste dabei über beide Ohren und verkündete: „Ich liebe dich für diese Wanne.“ „Weiß ich doch“, erwiderte Ryder, während Ryan seinen roten Umhang von sich band und auf den Boden fallen ließ. Der Boden war hier eh immer sauber, war also nicht so wichtig; auch das Leinenhemd hatte Ryan sich schnell über den Kopf gezogen. Vor dem Rest zögerte er aber nochmal und warf einen Blick über die Schulter. Ryder hatte ihm den Rücken zugewandt, was ihm wieder ein bisschen Mut machte. Und eigentlich sollte es ihn sowieso nicht kümmern, weil er schon wirklich, wirklich oft in Ryders Wanne gebadet hatte. Halt immer, wenn dessen Eltern nicht da waren. Und da hatte Ryder ihn schon mehrmals nackt gesehen, aber es war halt doch irgendwie immer wieder komisch! Deshalb entledigte Ryan sich auch schnell seiner restlichen Klamotten, bevor er auch schon direkt in die Wanne hüpfte. Es war unglaublich heiß, so heiß, dass es schon dampfte, aber das passte so; denn heißer würde es nicht werden (Ryan hatte keine Ahnung wieso, das lag irgendwie an der Art, wie diese Wanne gebaut war – viel zu verwirrend für Ryan, als dass er Ryders Erklärung dazu jemals verstanden hätte) und er liebte diese anfängliche Hitze. Sofort entspannten sich Ryans Muskeln und er schloss seine Augen, während er sich in der Wanne sinken ließ. Solange, bis sein Nacken den Holzrand berührte. Sein Gesicht müsste er auch noch sauber machen, aber diese Entspannung war gerade viel zu göttlich, um sie nicht zu genießen… „Kann ich dazu kommen?“ Ryan öffnete schnell blinzelnd seine Augen. „Huuuh…“, gab er von sich. War er gerade kurz eingenickt? „Ja, klar“, sagte er dann aber noch schnell, „Ist ja deine Wanne.“ Ryder lächelte, bevor er sich ohne große Scham entkleidete. Zeit für Ryan, ein bisschen tiefer in die Wanne zu sinken. Oder jedenfalls so weit, dass wenigstens sein Mund und seine Wangen im Wasser waren und er nur noch mit den Augen über der Wasseroberfläche war. Dann sah man wenigstens nicht, wie rot er anlief – auch wenn er wegen der Hitze des Wassers wahrscheinlich sowieso schon knallrot war. Aber trotzdem… Und wie immer fiel sein Blick sofort auf Ryders Mitte, nachdem der komplett nackt war und in die Wanne trat. Es war aber auch einfach krass!! Ryder war… unglaublich. Er ihm so ein Gefühl, das unweigerlich Erregung war, die man aber logischerweise nur für Frauen empfinden konnte – und wie immer fand Ryan das unheimlich seltsam. Das Wasser war auch nicht sonderlich gut darin das zu verstecken, aber Ryan wollte seine Beine nicht anziehen. Denn wenn er so sitzen blieb, berührten sich seine und Ryders Beine und das war sooo schööön… „Und, Ryan? Irgendwelche Pläne für später?“ Ryan blinzelte, guckte von Ryders Mitte, die mittlerweile unter Wasser war, überrascht zu Ryder hoch und tauchte auch gleich wieder auf. „Jaaah“, sagte er ein wenig verplant, bevor er sich mit der Hand übers Gesicht wischte. „Ich will meine Großmutter besuchen.“ „Die im Wald?“ Ryder zog seine Augenbrauen zusammen. „Sicher? Es ist schon spät… und du weißt, dass es im Wald nicht sicher ist.“ „Mir ist noch nie was passiert…“, gab Ryan zurück, während er sich wieder an den Rand der Holzwanne lehnte. Ryders Fuß war mittlerweile bei Ryans Oberschenkel gelandet, über den er scheinbar gedankenverloren strich – was furchtbar ablenkend war. „Und außerdem brauch ich einfach Abstand von allen. Und meine Großmutter weiß sicher nichts davon, dass Rachel gestorben ist… genau genommen weiß sie wahrscheinlich nicht mal was von der Verlobung“, redete er dennoch tapfer weiter. Das, was er sagte, stimmte auch: seine Großmutter war komplett abgeschottet von der Außenwelt. „Kann ich mitkommen?“, fragte Ryder sofort nach. Ryan seufzte leise. „Ryder, komm schon, du kannst nicht lange weg… und außerdem mag meine Großmutter dich nicht, das weißt du ganz genau.“ Ryder verzog sein Gesicht. „Aber ich mag es nicht, wenn du alleine in den Wald gehst… Das ist gefährlich.“ „Ach, komm schon…“ Ryan grinste und stupste mit seinem Fuß gegen Ryans Unterschenkel. „Ich hab den Dolch noch, den du mir gegeben hast, ja? Und ich werde ihn einsetzen, wenn es hart auf hart kommt.“ Ryder drückte seine Lippen aufeinander. „Meinetwegen…“, sagte er schließlich, woraufhin Ryan zufrieden grinste. Ryder hielt immer seine Klappe, wenn er diesen Dolch erwähnte. Den Dolch, den er Ryan schon zu dessen erster Verlobung geschenkt hatte… und den er schon seit Ewigkeiten verloren hatte. Aber hey, das musste Ryder ja nicht wissen. „Soll ich deinen Rücken sauber machen?“ Mit den Worten lenkte Ryder die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Ryan merkte, wie sich trotz der Hitze eine Gänsehaut auf seinem Rücken bildete. „Jap…“, erwiderte er mit vor Aufregung leicht zittriger Stimme. Ah, er liebte diesen Part so sehr… Also war es auch kein Wunder, dass er sich kurz darauf drehte. Er positionierte sich zwischen Ryders Beinen, immer noch weit weg genug, dass er Ryder nicht direkt berührte. Ryders Hände fingen dann auch gleich mit der Arbeit an: sie strichen sanft über Ryans Rücken, fuhren ihm durch die Haare und kurz darauf begann er mit dem, was Ryan am Allerliebsten mochte. Er begann, Ryans Schultern und Rücken zu massieren. „Gott, Ryder…“ Ryan ließ seine Augen zufallen, während ihm immer wieder ein leichtes Stöhnen entfuhr. „Deine Hände sind magisch…“, fügte er noch an. „Weiß ich“, erwiderte Ryder – und obwohl er ihn nicht sehen konnte, hörte Ryan dieses Grinsen einfach. Aber hey, darüber durfte Ryder ruhig grinsen, es war ja auch die Wahrheit. Ryders magische Hände arbeiteten sich weiter an den Schultern entlang, bis sie schließlich an Ryans Vorderkörper gelangten. Ryan lehnte sich dabei an Ryders (so unglaublich muskulösen) Oberkörper – machte er immer – und ließ sich weiter von Ryder durchkneten, der bei Ryans (nicht ganz so eindrucksvollen…) Brustmuskeln weiter machte. „Du kannst das… wirklich… gut, Ryder“, murmelte Ryan. Er sagte das nicht zum ersten Mal, und Ryder erwiderte auch nicht zum ersten Mal nichts. Die Massage ging immer weiter, immer besser – und ging auch weiter bis zu einem... eher intimen Part von Ryan. „Du wirst… jedes Mal besser, glaub ich“, stellte Ryan fest, nachdem Ryder fertig war, woraufhin er ein Lachen von Ryder erntete. Er liebte dieses Lachen; es bewegte Ryders Brustkorb so hübsch, direkt gegen seinen Rücken… „Ich glaube, ich war am Anfang schon nicht schlecht im massieren.“, gab Ryder grinsend zurück. Und oh ja, da hatte er recht – Ryan konnte sich noch allzu gut an das erste Mal erinnern… Damals war Ryan noch viel, viel nervöser gewesen, nackt mit Ryder zu baden. Das Angebot mit dem massieren hatte er nur widerwillig angenommen und als Ryder nach vorne gegangen war… Also, Ryan war dezent gesagt ziemlich ausgeflippt. Aber dann hatte Ryder es erklärt – dass das nur dafür gedacht war, dass Ryan sich gut fühlte und dass das ungefähr jeder im Dorf miteinander machte und dass daran absolut nichts verwerflich war. Natürlich sollte er trotzdem niemanden davon erzählen! Ja, okay, Ryan war nicht dumm. Er wusste, wie die ganze Sache mit dem Sex ging und in gewisser Maßen war das ja schon was ähnliches. Und dass Ryder sagte, er dürfte es niemanden sagen; also, Ryan ahnte schon, dass diese Art der ‚Massage‘ schon irgendwie verwerflich war. Sprach ja auch dafür, dass sie das absolut niemals machten wenn Ryders Eltern da waren. Aber ehrlich, solange Ryder immer wieder betonte, dass daran nichts schlimm war hatte Ryan ein reines Gewissen. In gewissermaßen war er auch süchtig nach Ryders Berührungen und solange niemand dabei zu Schaden kam… war das doch nicht weiter schlimm, oder? Jetzt löste Ryan sich aber doch mal von Ryder. „Warst du“, stimmte er zu, während er grinsend wieder aus der Wanne stieß. „Und… danke für die Entspannung, Ryder.“ „Kein Problem…“, gab der zurück, während er wieder in die Wanne sank. „Ich geh dann gleich los, okay?“, fragte Ryan dann nach, während er mit noch nassen Haaren in seine Klamotten schlüpfte. „Klar…“, gab Ryder zurück, wobei er ein leichtes Keuchen unterdrückte. „Bis morgen.“ Ryan band sich noch seinen roten Umhang um, bevor er noch einmal einen Blick über seine Schulter warf. „Und nochmal danke…“ „Immer wieder gerne.“ Ryder öffnete seine Augen, warf ihm ein Lächeln zu und Ryan spürte, wie sofort Blut in seine Wangen schoss. Oh man! Bevor er da aber zu viel drüber nachdachte, verließ er doch schnell wieder das Hause der Flynns. Er fühlte sich wie immer ein klitzekleines bisschen schlecht, weil er ja doch irgendwie wusste, dass das was hier passierte nicht hundert Prozent richtig war. Aber, phew, der Gedanke war schnell beiseite geschoben und Ryan machte sich auf den schnellsten Weg nach Hause. Dabei ging er nicht durch die Bäckerei, sondern über einen Umweg direkt ins Haus. Es wäre leichter, seinen Dad vor vollendete Tatsachen zu stellen anstatt ihn um Erlaubnis zu fragen, ob er denn zu Großmutter gehen dürfte. Im Haus selber schnappte er sich einen Korb, in den er ein bisschen Essen packte: Brot, ein paar Kräuter und ein wenig Gemüse. Zudem noch eine Flasche Wein, den hier doch sowieso niemand trinken würde. Seine Großmutter kam im Wald zwar auch gut alleine klar, aber dennoch war ein wenig Essen für sie sicher gut – manchmal fühlte Ryan sich einfach schlecht, wenn so eine alte Frau ganz alleine im Wald war und niemand hier half. Das war doch verständlich, oder? Nachdem er sich um den Korb gekümmert und alles verstaut hatte, machte er noch einem kurzen Abstecher zu seinem Vater. Der knetete gerade wie erwartet an irgendeinem Teig rum, was es für Ryan noch viel leichter machte. „Ich besuch Großmutter“, verkündete er, gefolgt von einem Lächeln. Sein Vater schaute auf von seiner Arbeit. „Aber Ryan…“ „Ich werde auch ganz brav übernachten, weil ich natürlich niemals nachts durch den Wald gehen würde“, fuhr Ryan fort, mit seiner liebreizendsten Stimme. „Ich grüße sie von dir, Vater.“ Ryans Vater blinzelte noch ein, zweimal, aber bevor er nochmal reagieren konnte hatte Ryan schon die Bäckerei verlassen. Sein Vater würde nicht hinterher kommen, immerhin arbeitete er gerade und, wie er immer erklärte, man unterbrach seine Arbeit nicht einfach so! Ryan nahm den Korb in eine Hand und ging pfeifend weiter, grüßte ein paar der Leute, die ihm sicherlich ihr Mitleid bekunden wollten und erreichte glücklicherweise sehr schnell den Waldrand. Okay… Ja, es war schon immer ein bisschen gruselig hier. Auch tagsüber. Man konnte nicht sonderlich weit in den Wald sehen, denn obwohl es einen Weg gab, schlängelte der sich durch die dicht stehenden Bäume. Und wenn man bedachte, was da für Kreaturen lauerten… Aber wie auch immer! Ryan war ja schließlich keine Memme. Also zögerte er nur kurz mal am Waldrand, bevor er den plattgetretenen Weg betrat. Es war nur ein kleiner Weg, der am südlichen Teil der Stadt lag und den man eigentlich kaum beachten musste. Nichts im Vergleich zu dem größeren Weg im Norden, den die Soldaten manchmal gingen, wenn sie tiefer in den Wald vordrangen um Proviant zu holen. Oder den nordwestlichen Weg, auf die man Verstoßene mit drei Tagesrationen Essen schickte! Nein, dieser Weg war einzig und allein dafür da, um zu dem Haus seiner Großmutter zu führen. Das Haus, das schon seit mehreren Generationen bewohnt wurde und in das vielleicht auch Ryans Vater ziehen würde, wenn er alt war. Und dann irgendwann Ryan, wenn er ein verrückter Alter werden und tatsächlich denken würde, dass die Hütte im Wald sicher war. Jedenfalls folgte das Rotkäppchen dem Weg, immer noch pfeifend. Es dauerte nicht lange, bis auch das Dorf hinter ihm von Bäumen verschluckt wurde, aber zum Glück hatte der Weg keine Abzweigungen. Deshalb konnte er sich immerhin nicht verlaufen… auch wenn der Weg lange war, viel zu lange, wie Ryan jedes Mal wieder fand. Irgendwann hörte er dann auch auf zu pfeifen – es wurde dunkler, je tiefer er in den Wald ging und die Atmosphäre gefiel ihm langsam überhaupt nicht mehr. Wieso nochmal überwandte er sich immer, zu seiner Großmutter zu gehen? Ah ja, richtig, weil er weg von den anderen Leuten aus dem Dorf wollte. Aber war es das wirklich wert, dafür umgebracht zu werden? Hmmm? Naja, umkehren brauchte er jetzt auch nicht mehr. Außerdem war es ja auch ganz natürlich, hier immer ein wenig Angst zu bekommen. Das Rascheln der Blätter unter seinen Schuhen, das Geräusch von knackenden Stöcken in den Baumreihen… und noch dazu dieses grausame Gefühl, immer beobachtet zu werden. Ein Frösteln überkam Ryan. Mit seiner freien Hand zog er den roten Umhang enger um sich und die Kapuze direkt über seinen Kopf, damit er wenigstens die Geräusche einigermaßen ausblenden konnte. Geräusche, die er sich sicherlich sowieso nur einbildete. Tat man immer, wenn man den Weg hier entlang ging. Nur – Moment. Da war was. Nicht irgendein Geräusch, dass er sich einbildete. Sondern vielmehr etwas ganz anderes, etwas, das fast schon so klang wie ein… Kichern? Ryan blieb wie erstarrt auf dem Weg stehen. Wieso um alles in der Welt hörte er hier ein Kichern? Er hatte viele Legenden von den Kreaturen im Wald gehört. Und eine davon war die Geschichte von kleinen Kindern, die sich im Wald verlaufen und ihre Seelen dabei schließlich verloren hatten. Sie hatten weiße Pupillen, aschfahle Haut und ihre Fingernägel waren abgebrochen und blutig geworden, als sie im Wahn versucht hatten, die Erde aufzukratzen, um einen Ausweg zu finden… Ryan verschwand vom Weg. Er drückte sich gegen einen der Bäume, atmete flach und schloss seine Augen. Wenn er jetzt nur Ryders Dolch noch hätte! Wobei er natürlich nicht an diese dämliche Geschichte mit den Kindern glaubte – die seelenlose Kinder waren ein Ammenmärchen, das man sich erzählte, um Kleinkinder von den Wäldern fernzuhalten. Andererseits gab es hier schon sehr viele, magische Kreaturen im Wald und die meisten Ammenmärchen hatten schließlich einen Ursprung… „Hier entlang, Aary!“, sagte die Stimme, die eben noch gekichert hatte. In einem Schlag fiel Ryans komplette Anspannung von ihm ab. Er kannte die Stimme! „Aaah… nich‘ so schnell, Danny!“ Wieder folgte ein Lachen, diesmal von der anderen Stimme. Ryan schnaubte, bevor er sich von dem Baum abstieß. Solche Idioten… was machten sie so tief im Wald? Und noch dazu abseits der Wege? „Ey!“, rief Ryan so laut es ging. Die Schritte der Beiden verstummten, aber Ryan hatte schon erkannt, dass sie ganz nahe waren. Also wagte er sich abseits der Wege zu gehen, womit er kurz darauf in die Zwei lief – von denen auch gleich jede Anspannung abfiel, als sie ihn erkannten. „Hallo, Rotkäppchen!“, grüßten die Zwei ihn (gruselig) synchron, gefolgt von einem Lächeln. „Hey… Aaron und Dan.“ Die zwei Brüder. Rotkäppchen konnte sie gut leiden, vor allem Aaron, auch wenn die Zwei manchmal ein bisschen seltsam waren. Zum Beispiel, wie sie nahezu ständig Händchen hielten. Übrigens auch gerade im Moment! Sie verdienten sogar ihr Geld zusammen, indem sie auf dem Marktplatz und in den zwei Tavernen sangen und Gitarre spielten. Viele Menschen gaben ihnen viel Geld dafür… so sehr, dass sie schon ein kleiner Hit in dem Dorf waren, in dem sowieso fast jeder jeden kannte. Sie hatten beide weiße Mäntel, die ähnlich wie der von Ryan fast schon ihre Erkennungsmerkmale waren. Nur hatten sie dafür keine Spitznamen bekommen, aber ‚Die Zwei Brüder‘ war ja eigentlich auch Spitzname genug. „Was macht ihr hier?“ Ryan runzelte seine Stirn. „Es ist ganz schön weit weg vom Dorf… ich mein, ich besuch meine Großmutter, aber ihr?“ Sie hatten zwar auch einen Großvater, aber der lebte ebenfalls im Dorf. Die zwei Sänger wechselten einen kurzen Blick. „Wir sind nur…“, fing Dan langsam an, bevor Aaron wieder zu Ryan schaute. „… in den Wald gegangen, um ein bisschen Ruhe für uns zu haben“, vollendete er den Satz. Auch Dan schaute wieder zu Ryan. „Ja, im Dorf… haben wir so selten… Zeit für uns.“ Ryan schaute von Aaron zu Dan. „Aha“, sagte er schließlich nur, langsam, unsicher. Er hatte irgendwie das Gefühl, als ob er irgendeinen Witz gerade nicht verstand, aber gleichzeitig glaubte er auch, dass er ihn gar nicht verstehen wollte. „Aber ihr könnt doch nicht einfach so in den Wald rennen… ihr findet doch nie mehr zurück, wenn ihr nicht auf den Wegen bleibt!“ Aaron und Dan wechselten wieder einen Blick. „Wir hinterlassen Brotkrumen“, sagte Aaron dann. „Wir finden zurück, ganz sicher. Mach dir keine Sorgen, Rotkäppchen.“ „Okay…“ Ryan schaute nochmal skeptisch zwischen Aaron und Dan hin und her. „Dann… viel Spaß euch noch. Morgen Abend schau ich mal in der Taverne vorbei, okay?“ Aaron und Dan nickten Beide. Sie schienen auch gleich weiter gehen zu wollen, aber Aaron stoppte dann doch nochmal: „Und es tut mir Leid wegen…“ Ryan winkte ab. „Vergiss es“, sagte er und lächelte Aaron nochmal schief an. „Ach, Rotkäppchen…“ Aaron schüttelte den Kopf, löste seine Hand kurz von Dan und zog Ryan schnell in eine Umarmung. „Das wird schon wieder“, versprach er, während Ryan leise seufzte. Oh man… wie die ganze Welt ihn wegen seiner toten Verlobten bedauern wollte… Nachdem Aaron sich aber wieder gelöst hatte, verabschiedeten sich die Brüder auch gleich wieder – und auch Ryan ging zurück auf den Weg, um in Richtung des Hauses seiner Großmutter zu gehen. Lange würde es nicht mehr dauern und diese Begegnung gerade hatte ihr Übriges getan, die düstere Stimmung des Waldes wieder ein wenig zu lockern. Deshalb ging Ryan auch relativ sorglos weiter den Weg entlang. Nach einer Weile sah er auch die Umrisse des Hauses seiner Großmutter und peilte es natürlich auch an, nun doch ein wenig glücklich, den Waldweg jetzt hinter sich gebracht zu haben. Vor der Tür strich er sich nochmal die Klamotten glatt, damit seine Großmutter nicht wieder meckern würde, nahm die Kapuze von seinem Kopf und klopfte – ein, zwei, dreimal. Keine Antwort. Ryan klopfte nochmal, lauter, indem er seine Hand zur Faust ballte und damit gegen die hölzerne Tür öffnete. Wieder keine Reaktion. Ryan seufzte und fuhr sich durch die Haare. Wenn seine Großmutter gerade dabei war, zu sammeln, dann hätte er natürlich schlechte Karten, jetzt in dieses Haus zu kommen. Immerhin war es gesichert und – „Wer ist da?“ – Na endlich. Die ältere, zittrige Stimme seiner Großmutter drang durch das Holz der Tür. „Ich bin’s“, erwiderte er. „Ryan.“ Seine Großmutter reagierte natürlich wieder nicht, aber nach wenigen Momente hörte Ryan, wie die Eisenriegel der Tür zur Seite geschoben wurden. Wenige Momente später wurde die Tür geöffnet – aber auch nur so weit, wie es eine kleine Kette an der Innenseite erlaubte. Eine ältere Frau schaute durch den so entstehenden Türschlitz. „Hallo, Ryan“, sagte sie und grinste, wobei sie zwei Reihen lückenloser, weißer Zähne entblößte. Ryan hatte sich schon immer gewundert, wie einfach alles an seiner Großmutter so alt aussehen konnte – alles, bis auf die Zähne, die immer noch in ihren alten Jahren so perfekt waren! Sie schloss die Tür wieder, entfernte auch die Kette und öffnete die Tür dann ganz. „Komm doch herein, mein Junge“, fuhr sie fort. „Ich habe gerade Kekse gebacken. Du kommst genau perfekt.“ Noch so eine Sache. Seine Großmutter machte immer Kekse, wenn Ryan kam. Ryan war sich nicht ganz sicher, ob das daran lag, dass sie irgendeinen magischen, überirdischen Sinn dafür hatte, wann er sie besuchen wollte oder ob sie einfach den ganzen Tag nichts anderes machte, außer Kekse zu backen. Trotzdem leuchteten Ryans Augen natürlich auf. „Ich liebe deine Kekse!“, frohlockte er, was ebenfalls nicht gelogen war. Wie konnte man auch nicht die Kekse seiner Großmutter lieben? Ryan betrat das Haus, aber bevor er allzu weit gehen konnte, kam auch schon die übliche Attacke seiner Großmutter. Ausgeführt mit lediglich zwei Fingern, ihrem Daumen und ihren Zeigefinger, aber das mit einer solchen Präzision und Schnelligkeit, dass es Ryan immer wieder überwältigte. Sie kniff in seine Wange, drückte sie und zog daran, als wäre er immer noch das kleine Kind von damals; und nicht ungefähr zwei Köpfe größer als sie, so wie jetzt. „Du bist schon wieder so gewachsen! Hast du etwa einen Zauberspruch benutzt?“ Sie gackerte, bevor sie ihre Finger wieder von Ryan nahm. Ryan strich sich mit der Handfläche über die schmerzende Wange, wohl darauf bedacht, dass seine Großmutter das nicht sah. Er wollte doch nicht ihre Gefühle verletzen. „Nein, das ist ganz natürlich“, erwiderte er, wobei er versuchte, ernst zu klingen. Seine Großmutter war sehr in Magie und derlei Dinge vernarrt, obwohl doch jeder wusste, das Menschen sowas nicht bewirken konnten. Aber seine Großmutter glaubte daran und ehrlich, so abgefahren wie ihre Hütte war, würde es Ryan nicht wundern, wenn sie tatsächlich eine Hexe wäre. Die Hütte war steinalt und es gab tatsächlich einen Kamin, über den ein altertümlicher Kessel hing. Dann gab es hier unglaublich viele Wurzeln und andere Pflanzen und es lag immer dieser eigentümliche, exotische Geruch in der Luft. Der gerade aber ganz stark von dem Geruch nach frisch gebackenen Keksen überdeckt wurde. Ryan stellte seinen Korb auf einem Tisch ab, bevor er zu dem Ofen ging. „Oh, die sehen toll aus!“, stellte er fest und schnappte sich gleich einen – ließ ihn aber gleich wieder mit einem „Au…!“ fallen, als er feststellte wie heiß sie noch waren. Seine Großmutter gackerte wieder. „Ich sag doch, ganz frisch.“ Sie hatte gerade die Tür wieder komplett geschlossen, bevor sie in Richtung Ryan trottete. Der nuckelte gerade an seinem Daumen und an Zeige- und Mittelfinger, schaute aber mit großen Augen zu der alten Frau. Sie machte Halt an dem Korb und durchstöberte ihn. Besonders schien sie sich an dem Wein zu freuen, aber das machte sie eigentlich immer. Deshalb nahm Ryan ja auch immer eine Flasche Wein mit, ganz vorsorglich. „Wie geht es eigentlich Rosie?“, fragte seine Großmutter schließlich ganz beiläufig. Ryan seufzte. Seine Großmutter war mit seinen Verlobten sogar noch zwei im Rückstand, so schnell starben die immer. Das war echt bescheuert! Aber gut, dann dürfte er jetzt wohl wieder erzählen… Ein schriller Aufschrei weckte Ryan. Müde richtete er sich so halb auf, rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und brauchte erstmal ein paar Sekunden, um zu realisieren, wo er war: bei seiner Großmutter, auf der alten Matratze, die er direkt vor den Kamin geschoben hatte. Sein roter Umhang hatte bis eben noch als Decke gedient… Und es dauerte ein wenig, bis ihm wieder einfiel, wieso er gerade überhaupt aufgewacht war. Ein Schrei…? Hier, im tiefsten Wald? Hatte er sich das nur eingebildet? Ryan lauschte angestrengt, aber bis auf das Rauschen der Blätter außerhalb der Hütte und den regelmäßigen Atem seiner Großmutter, die nicht mal das stärkste aller Gewitter jemals wecken würde, konnte er absolut nichts hören. Hm! Also doch nur ein Traum? Aber da, da kam es nochmal. Nur diesmal nicht schrill, sondern eher ein kehliger, tiefer Schrei. Ganz in der Nähe der Hütte – fast schon direkt daneben. Ryans Nackenhaare stellten sich zu Berge, während sein Mund ganz trocken wurde. Dieser tiefe Schrei, es – es klang so furchteinflößend. Als ob die Person wirkliche Todesängste durchlitt. Ryan glaubte nicht, jemals was so furchtbares gehört zu haben. Aber… noch schlimmer als das war die Tatsache, dass er glaubte die Stimme zu kennen. Es war unglaublich verzerrt, alleine durch den Schrei, aber… er würde zwar seine Hand dafür nicht ins Feuer legen… aber es klang ein bisschen – nun, es klang nach Aaron. Innerhalb weniger Sekunden war Ryan auf den Füßen. Er wusste nicht, was oder wer da draußen war, aber wenn es Aaron war, dann musste er ihm helfen. Sie waren verdammt gut befreundet und nach Ryder war Aaron der für ihn sogar vielleicht wichtigste Freund, den er hatte! Er machte also das Erstbeste, was ihm einfiel: er griff den eisernen Schürstab des Kamins, bevor er zur Tür huschte. Er zog nicht mal mehr seine Stiefel an, sondern entriegelte die Tür so schnell es ging und verließ die Hütte. Dennoch ließ er das Holz hinter sich noch schnell ins Schloss fallen, weil er auch nicht wollte, dass seine Großmutter in Gefahr wäre. Nachdem er das gemacht hatte, rannte er los in Richtung des Schreis, den er eben gehört hatte; und als er ihn nochmal hörte, legte er noch seinen Zahn zu. Unter seinen nackten Füßen spürte er, wie Äste brachen und er auf spitze Steine trat, aber er kümmerte sich nicht darum. Er musste zu Aaron, so schnell es ging! Wieder ein Schrei. Nur diesmal nicht von Aaron, aber von einer ebenfalls vertrauen Stimme. Dan. Wenn Ryan jemals ernsthafte Zweifel daran gehabt hätte, dass es sich um Aaron handelte, so waren sie spätestens jetzt verflogen. Er rannte, rannte und rannte, schon mit der Angst, zu spät zu kommen. Aber dann, noch ehe er sich versah, rannte er frontal in Aaron rein. Ein überraschter Aufschrei entfuhr ihm, während sie Beide auf den Boden landeten. Ryan rieb sich über den schmerzenden Kopf, aber er sah, wie kurz darauf Dan erschien und Aaron auf die Füße zog – oder es wenigstens versuchte. „Beeil dich!“, zischte er. Seine Stimme klang erstickt vor… Tränen? Ryan schluckte. „Es macht keinen Sinn“, gab Aaron zurück. Er ließ sich nicht hochheben. „Er ist schneller, Dan, es bringt nichts, zu rennen, Danny… Und es tut so weh, es tut so weh…“ Seine Lippen begannen zu zittern. Dan zog an ihm, aber Aaron ließ sich nur sehr widerwillig und langsam bewegen. Ryan rappelte sich ebenfalls auf und huschte schnell rüber zu Aaron und seinem Bruder. „Was ist los?“, fragte er schnell, den Blick nervös in die Dunkelheit um sie herum gerichtet. „Wir…“ Danny schluckte. „Das Monster, der – der Wolf. Er…“ Ryan nickte. „Die Hütte meiner Großmutter ist in der Nähe“, sagte er. „Kommt mit. Schnell!“ Ryan wollte sich schon in Bewegung setzen, aber Aaron stand immer noch nicht auf. „Hast du das gehört, Aary?“, fragte Dan, seine Stimme immer zittriger. „R-rotkäppchen bringt uns in Sicherheit, Aary, bitte, steh auf, bitte… bitte…“ „Was ist los?“ Ryan schaute verwirrt von Dan zu Aaron, der zwar einen dunklen Umhang auf seine Brust gepresst hatte, aber sonst konnte Ryan in der Dunkelheit nichts erkennen. „E-er… er hat ihn erwischt, dieses… dieses…“ Dan brach plötzlich in Tränen aus. Ryans Herz schlug ihm mittlerweile bis zum Hals, weil er einfach wusste, dass das Monster jeden Moment auftauchen konnte. Sie konnten es sich nicht leisten, hier so viel Drama zu machen! Ryans Kopf dröhnte auch, aber sie mussten hier einfach weg! „Warte. Ich helf‘ dir. Stützen wir ihn!“ Ryan ging in die Knie, wobei er das Schüreisen ablegte. Stattdessen zog er mit beiden Händen an Aarons Schulter. Dan schlug seine Hand vor den Mund und unterdrückte ein Schluchzen, griff sich aber schließlich doch auch Aarons andere Schulter. Aaron ließ sich wie ein nasser Sack Kartoffeln auf die Beine ziehen, aber es funktionierte. Ryan drapierte einen Arm um seine Schultern und Dan machte auf der anderen Seite dasselbe, so, dass sie wenigstens einigermaßen losgehen konnten. Aaron war dabei so gut wie keine Hilfe, aber sie mussten es einfach schaffen! Zum Glück war der Rückweg bei Weitem nicht so lang, wie er Ryan beim Hinweg vorgekommen war. Trotzdem war es ein ganzes Stück, vor allem mit Aaron unterm Arm… und Aaron murmelte die ganze Zeit was vor sich hin, was Ryan unmöglich verstehen konnte. Es waren wahrscheinlich nicht mal Worte. Ganz selten hörte Ryan sowas wie ‚sterben‘ heraus, neigte aber dazu das zu ignorieren. Dann war da noch Dan, der stumm vor sich hin weinte und nicht unbedingt zur allgemeinen Motivation beitrug. Erst, als sie die Hütte tatsächlich erreicht hatten und Ryan die schwere Holztür aufdrücken konnte, meldete sich Dan zu Wort. „Er ist da“, sagte er mit panischer Stimme. „Er ist da, im Holz, oh Gott, Rotkäppchen – “ Aber Ryan drehte sich gar nicht erst um, sondern zog die Zwei einfach schnell in die Hütte. Er schloss die Tür hinter sich mit beiden Händen, wobei er Dan einfach mal zumutete, dass er Aaron kurz alleine tragen konnte. Schlagartig prallte von der anderen Seite etwas gegen die Tür, was Ryan eine weitere Gänsehaut verschaffte. Mit zittrigen Händen schob er den Eisenriegel vor und hängte die Kette ein. Seine Lippen bebten, als nochmal etwas gegen die Tür pochte. Sie hielt, natürlich hielt sie, immerhin war diese Hütte seit mehreren Generationen im Wald und konnte selbst stärkste Kreaturen aushalten. Aber trotzdem hatte Ryan unmenschliche Angst, dass sie genau heute brechen würde... Und bei dem dritten Pochen sah es tatsächlich so aus, als ob das Holz gleich nachgeben würde. Es barst bereits – und beim nächsten Pochen fuhr ein Riss durch die Tür. Ryans Herz blieb stehen, während er wie gebannt auf die Tür schaute. Wieder ein Pochen, gefolgt von einem Scharren diesmal: die Tür bog sich vor Ryans Augen und, bei Gott, er wusste, noch ein einziger Schlag würde reichen und es würde brechen, sie würden alle hier sterben und – Das Scharren und das Pochen hörte schlagartig auf. Ryan meinte noch zu hören, wie Tatzen von dem Ort hier weg rannten, bevor wieder Stille einkehrte. Einige Momente lang schaute Ryan noch auf die Tür, die immer noch aussah, als würde sie jeden Moment einbrechen. Wieso… „Rotkäppchen!“ Dans tränenerstickte, leise Stimme hinter ihm ließ Ryan die Frage erstmal beiseite schieben. „Rotkäppchen, Aaron, er… ich glaub er atmet nicht…“ Ryans Herz blieb ein weiteres Mal stehen, als er sich von dem Anblick der Tür löste und zu Dan drehte. Dan hatte Aaron bis zur Matratze gebracht und darauf gelegt – und er hatte den Umhang von seinem Körper genommen. Erst im Feuerschein des Kamins fiel Ryan auf, wieso er von dem eigentlich weißen Umhang von Aaron angenommen hatte, dass er dunkel war. Er war seit ihrer Begegnung früher am Tag auch tatsächlich dunkel geworden. Genauer, dunkelrot. Er war mit purem Blut durchtränkt. Und jetzt verstand Ryan auch, wieso Aaron nicht mehr hatte gehen können. Ryans Kinnlade sackte nach unten, als er sah, wie schlimm Aaron zugerichtet war. Sein kompletter Brustkorb war aufgerissen; anders konnte man das nicht beschreiben. Er war voller Kratzer und… man konnte nicht mal mehr erkennen, was zum Stoff seiner Kleidung gehörte und was Haut war… Ryan schnappte nach Luft, trat aber an die Matratze mit Aaron. Vor dieser sank er auf die Knie, bevor er sich ganz zu Boden setzte – einfach nur, weil er Angst hatte, dass seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten. „Er atmet nicht mehr“, wiederholte Dan. Mittlerweile war sein ganzes Gesicht verzogen vor Trauer und seelischen Schmerz, der wahrscheinlich so groß war, dass Ryan es sich kaum vorstellen konnte. „Es… tut mir Leid, Dan“, erwiderte Ryan. Er wagte es nicht mal, Aaron anzufassen: ganz im Gegensatz zu Dan, der den Kopf seines kleinen Bruders in seinen Schoß gebettet hatte und ihm durch die Haare fuhr. An Aarons Mund klebte Blut, aber es sah tatsächlich so aus, als würde er nicht mehr atmen. „Aber immerhin sind seine Schmerzen jetzt vorbei…“ Dan schluchzte. „E-er a-atmet nicht“, wiederholte er. „E-er atmet nicht, Rotkäppchen. Er atmet nicht.“ Tränen taten in Ryans Augen. Das mit anzusehen, das – das war fast noch schlimmer als der Schmerz, den er nur wegen Aaron empfinden würde. „Er atmet nicht…“ Dan schluchzte ein weiteres Mal. „A-aary… Aary, du musst…“ Seine Stimme verlor sich. „E-er atmet n-nicht mehr…“ „Und das wird er auch nie mehr, wenn du das einfach nur die ganze Zeit wiederholst, Freundchen.“ Ryan, dem mittlerweile auch schon Tränen über die Wangen gekullert waren, schaute auf. Seine Großmutter war im Dunkel der Nacht aufgestanden, ohne, dass irgendwer was gemerkt hätte. Sie trottete ganz seelenruhig an Dan und Aaron vorbei, zu einem der Tischchen. „Wurde er gebissen?“ Ihre Stimme war so unwirklich ruhig, dass Ryan fast vergaß, weiter zu weinen. Dan schien es ähnlich zu ergehen, auch wenn seine Hand immer noch automatisch damit weiter machte, durch Aarons Haare zu fahren. Ryans Großmutter fing damit an, irgendwelche Kräuter und Pflanzen zusammen zu stampfen. Sie machte das höllisch schnell, schneller, als Ryan überhaupt schauen konnte. „Wurde er gebissen?“, wiederholte sie geduldig, als sie zu den Kräutern noch irgendwelche Flüssigkeiten dazu schüttete. „N-nein“, gab Dan jetzt zurück. „N-nur… zerkratzt…“ „Gut für ihn.“ Seine Großmutter verrührte alles in einem steinernen Krug mit einem Holzlöffel, während sie an Aaron und Dan heran trat. „Sonst hätten wir ihn töten müssen.“ Sie schüttete den Inhalt des Steinkrug in den Kessel, unter dem immer noch glücklich das Feuer loderte. Sie stellte den Krug neben dem Kamin ab, während sie mit dem Holzlöffel die Masse im Kessel rührte. Nach einer Zeit ließ sie davon ab, um sich wieder an Aaron zu wenden. Die geschockten Blicke von Dan und Ryan ignorierte sie, während sie sich über Aaron beugte und anfing, Fetzen von seinem Körper zu beseitigen. „Was wird da- ?!“, fragte Dan schließlich. Er klang wütend, wurde aber unterbrochen, als Ryans Großmutter aufschaute und ihn mit einem durchbohrenden Blick anschaute. „Ich rette deinem Bruder das Leben“, fauchte sie. „Aber das überlege ich mir gleich zweimal, wenn du noch einmal so unartig bist, Jüngelchen.“ Dans Kinnlade sackte nach unten, aber er klappte sie gleich wieder zu. Ryans Großmutter zupfte weiter an Aarons Körper herum und wenig später erkannte Ryan auch, wieso; sie beseitigte die Reste seiner Klamotten, so, dass schließlich sein Oberkörper frei lag. „Was für ein Chaos“, grunzte sie, bevor sie sich wieder drehte und mit dem Holzlöffel etwas von dem Sud aus dem Kessel nahm. Ehe Dan oder Ryan reagieren konnten, hatte sie den brennend heißen Inhalt des Löffels auf Aarons Körper verteilt. Dan schnappte nach Luft. „Das… das tut doch weh…“ Er klang nicht so, als ob er noch groß protestieren konnte. Kein Wunder, er hatte gerade seinen Bruder sterben sehen! „Besser als zu sterben, was?“ Sie gackerte wieder, bevor sie noch ein paar Löffel nahm. Die Masse war grünlich-weiß, ziemlich dickflüssig und war so heiß, dass sogar Rauch von ihr aufstieg. Gott… Nach einer Weile fing Aaron an, zu reagieren. Sein Körper verspannte sich, gerade, als seine Großmutter noch mehr von der heißen Flüssigkeit auf ihn verteilt hatte. Sie schaute nur unbeeindruckt zu ihm nach oben. „Haltet ihn fest“, sagte sie. „Bis wir fertig sind.“ Aber Dan war zu beschäftigt damit, sich zu freuen. „Aary! Oh Gott, Aary, Aary, du lebst! Aary…“ Seine Augen füllten sich wieder mit Tränen, aber diesmal wohl Tränen des Glücks. Er nahm Aarons Gesicht in beide Hände… „Er wird gleich nicht mehr leben, wenn du ihn nicht festhältst“, knurrte Ryans Großmutter. „Also, los jetzt. Ryan, du hältst seine Füße fest.“ Ryan hörte auf seine Großmutter, einfach, weil sie wirklich was von dem was sie hier machte zu verstehen schien. Zu allen anderen Zeitpunkten hätte er gedacht, dass das nur wieder eine verrückte Spinnerei einer alten Frau war, aber gerade war genau das ihre einzige Hoffnung. Er hielt also Ryans Füße fest, während Dan dasselbe mit Aarons Händen machte. Dabei legte er Aarons Kopf sanft auf die Matratze, und setzte sich an den Kopfteil, damit er das besser machen konnte. Während Ryans Großmutter weiter machte, wurde Aaron immer wacher: und jedes Mal verspannte er sich mehr, gefolgt von einem kleinen Wimmern. „Aary, ganz ruhig…“ Dan flüsterte zwar, aber Ryan hörte ihn trotzdem. „Du bist in Sicherheit, Aary, ich bin ja da… hab keine Angst… alles wird gut…“ Und einmal, als es ganz schlimm wurde und Tränen über Aarons Schläfen fuhren, machte Dan noch etwas unerwartetes. Er lehnte sich, kopfüber wie er eben war, über Aaron drüber und vereinigte ihre Lippen miteinander. Und das sogar eine ganze Weile, nicht nur ein kleiner Kuss, sondern ein richtiger, langer Kuss… Lange genug, dass Ryan irgendwann beschämt weg schaute. Aber er spürte, wie Aaron unter seinen Händen ruhiger wurde, also funktionierte es scheinbar wunderbar. Auch seine Großmutter sagte nichts, bis sie schließlich fertig war. Dan hatte Aaron seit diesem einen Mal nicht mehr geküsst, wohl auch, weil Aaron mittlerweile wieder in eine Art Ohnmacht gefallen war. „Er wird wahrscheinlich eine Weile schlafen“, grummelte Ryans Großmutter. „Achte darauf, dass er sich nicht dreht. Er braucht frische Luft auf der Salbe.“ Dan rutschte wieder auf die Matratze und bettete Aarons Kopf auf seinem Schoß, während er ein weiteres Mal schniefte. „Und er wird überleben?“, fragte er. „Ja“, gab sie zurück. „Ganz sicher. Aber pass auf ihn auf. Er wird dein Gesicht sehen wollen, wenn er aufwacht. Es wird sehr weh tun, also könnte er ein bisschen gute Einstellung ihm gegenüber gut vertragen.“ Sie lächelte sogar nochmal kurz, bevor sie sich wieder aufrichtete und zurück ins Bett ging. „Und jetzt will ich kein Wort mehr bis morgen hören. So viel Drama in einer Nacht…“ Sie machte noch ein ‚ts, ts, ts!‘-Geräusch, bevor sie sich auf ihrer Matratze weg drehte. Ryan setzte sich wieder ein wenig höher an Aaron, sagte aber nichts. Stattdessen schaute er dabei zu, wie Dan wieder durch seine Haare fuhr und abermals Sachen flüsterte, die aber nicht mal Ryan verstehen konnte, so leise waren sie. „Warum wart ihr so spät überhaupt noch im Wald?“, flüsterte Ryan schließlich. An Schlaf war jetzt sowieso nicht zu denken. Dan schaute auf, seine Augen immer noch feucht. „W-wir haben uns verlaufen“, erwiderte er, gefolgt von einem Schnauben. „Jemand hat die Brotkrumen gegessen, wir… wir haben einfach nicht daran gedacht, dass das passieren könnte, normalerweise klappt es…“ Dan schluckte. „U-und es war so finster und bitterkalt, also hab ich – hab ich Aaron meinen Umhang geben wollen, aber er wollte ihn nicht. D-damit mir nicht kalt wird. Er ist so tapfer und so… toll… er ist der tollste Mensch der Welt, Rotkäppchen…“ Ryan räusperte sich kurz. „Und dann?“ Dan schaute nicht auf, aber fing sich scheinbar wieder. „W-wir kamen an ein Häuschen… ganz aus Pfefferkuchen, was echt fein aussah. Wir haben uns gefragt, wer wohl der Herr von dem Häuschen sein mag und dann… w-wir haben da nicht wirklich drüber nachgedacht… wir hatten so Hunger, also haben wir einfach davon genascht…“ Er schluchzte wieder kurz, erzählte dann aber weiter. „Eine Hexe… das Haus… gehörte einer Hexe. Sie hat uns ausgetrickst und – und sie wollte Aaron essen, Rotkäppchen, verstehst du? Ihn kochen und essen… Ich… ich konnte nichts tun. Sie hat mich verzaubert… A-aary wäre fast gestorben, wenn nicht… wenn nicht…“ Dan verstummte. Ryan runzelte seine Stirn leicht. „Wenn nicht was, Dan?“ „… wenn der Wolf nicht gekommen wäre.“ Dan schaute auf zu ihm. „E-er ist einfach in das Haus geplatzt und h-hat die Hexe gefressen, mit Haut und Haar. Vor unseren Augen…“ „Der Wolf?“, fragte Ryan ungläubig. „Der Wolf, der euch angegriffen hat?“ Dan nickte langsam. „Nachdem er sie getötet hat, ist er auf Aaron los gegangen… Er hat – hat seinen Brustkorb – seine Klauen haben sich in ihn gebohrt und…“ „Schon gut.“ Ryan lächelte ganz kurz, „Ich versteh schon… und dann?“ „Er hat einfach aufgehört. A-aary war schon voller Blut, aber bevor er ihn ganz getötet hat… hat er einfach aufgehört… E-er hat ausgeschaut, als würde er mit sich selbst kämpfen und leiden, aber… er hat aufgehört…“ Dan wischte sich mit den Händen über die Augen. „A-also sind wir weg gerannt… und kurz darauf hat er uns doch wieder verfolgt. Und dann kamst du…“ Ryan nickte langsam. Okay, das klang sinnvoll – gleichzeitig aber auch überhaupt nicht. Wieso hatte der Wolf sie gerettet? Und wieso hatte er Aaron und Dan verschont, aber Aaron trotzdem angegriffen? Als Ryan sich schließlich auf seinem Umhang am Boden zusammen kauerte, plagten ihn diese Frage immer noch. Der Schaden an der Hütte war grausam gewesen. Die ganze Tür war voller, tiefer Kratzer gewesen, tiefere Kratzer, als sie ein Mensch oder ein normales Tier jemals hätte graben können. Seine Großmutter hatte darauf bestanden, trotzdem in der Hütte zu bleiben und das selber zu reparieren, aber Ryan hatte ihr nicht so wirklich geglaubt; deshalb war er mit ein paar Männern zusammen wieder in den Wald gegangen. Sie hatten sich um die Tür gekümmert – unter der zeternden Anweisung von Ryans Großmutter, versteht sich. Aarons Zustand verbesserte sich langsam, aber stetig. Es dauerte eine Woche, bis er überhaupt sein Bett verlassen hatte (in das Ryan und Dan ihn mit einer provisorischen Trage gebracht hatten, weil Ryans Großmutter, Zitat, nicht genug Platz für alle gehabt hätte und Dan natürlich nicht von Aarons Seite weichen wollte). Es hatte vier Wochen gedauert, bis er das geschafft hatte, ohne gleich umzufallen. Aber schließlich, nach zwei Monden, schaffte er es sogar wieder mit Dan zusammen zu singen. Nach drei Monden ging es ihm wieder so gut wie eh und je. Ryan selber hatte sich in der Zeit ein wenig… nun, geändert. Er hatte mit seiner Großmutter geredet, weil sie offensichtlich mehr Ahnung von der Kreatur hatte, als er geahnt hätte. Und tatsächlich hatte sie ein altes Buch aus einem Schrank herausgeholt; und Ryan erklärt, dass diese Bücher im Besitz der ganzen Familie Adams‘ immer weitergegeben wurde, von Frau zu Frau. Scheinbar war in der weiblichen Blutlinie der Adams‘ zwar keine Hexen, aber doch die Möglichkeit, mit Kräutern und Elixieren Tränke zu erschaffen. Die Bücher waren Überbleibsel einer mythischen Rasse, den Waldfeen, die in den tiefsten der Wäldern gelebt hatten – und womöglich immer noch lebten, so seine Großmutter. Jedenfalls hatte sie ihm eines dieser Bücher geschenkt. „Hier wirst du Antworten finden“, hatte sie erklärt, aber nicht mehr Auskunft geben wollen. Ryan hatte das Buch gelesen. Nicht alleine, sondern bei Ryder. Immer, wenn der arbeitete und schmiedete, hatte Ryan es ihm vorgelesen. Oder wenn sie zusammen etwas aßen, oder wenn sie zusammen in der Stadt waren und am Springbrunnen saßen… Ryder mochte es, wenn Ryan ihm aus dem Buch vorlas; und Ryan mochte es, dass Ryder dieselben Informationen wie er hatte. Wenn sie zusammen arbeiten würden, würden sie dem Monster vielleicht auf die Schliche kommen! Und er hatte viele Dinge herausgefunden. Erstens, es handelte sich tatsächlich um einen Werwolf. Zweitens, der Mensch war wahrscheinlich ein Bewohner des Dorfes. Drittens, der Werwolf war in Menschengestalt wohl auch viel stärker: also, muskulös, mit mehr Instinkten und einem besseren Gehör und sowas. Und viertens, als Wolf hatte man sich kaum mehr unter Kontrolle. Es gab nur bestimmte Markenzeichen, die den Menschen zurück aus der Bestie bringen konnten. Markenzeichen, die sie mit ihrem Seelenverwandten verbanden. Ein bestimmter Geruch oder eine Kette, die nur ihr Liebster trug oder sonst was. Die letzte Erkenntnis hatte Ryan sich erst heute erschlossen. Es war schwer, aus dem Buch zu lesen, weil alles irgendwie verschlüsselt klang und er hatte es auch gerne mal zur Seite gelegt, wenn Ryder ihn zum Beispiel massiert hatte. Oder wenn er mit Aaron und Dan darüber reden wollte. Nur schienen die gar nicht so interessiert daran zu sein, den Wolf zu finden. Ganz im Gegenteil, sie sagten, er hatte ihr Leben gerettet – und dass sie ja sowieso gestorben wären, wenn er nicht gekommen wäre. Das mit Aaron war also nur ein Unfall gewesen, meinten sie. Ryan glaubte ihnen kein Wort. Und heute hatte er auch endlich einen Grund für sein Misstrauen gefunden, genau in diesem Buch. Er war mit Ryder an einem der Bäume, die etwas vor dem Wald standen. Hier gab es eine alte Schaukel, die von einem der höheren Äste nach unten hängte. Ryan saß mit dem Buch im Schoß auf der Schaukel, während Ryder im Gras saß und an den Baumstamm gelehnt war. „Hast du das gehört?!“ Ryans Herz pochte bis zum Hals. Ryder schaute von dem Gras auf, an dem er gerade gezupft hatte. „Was meinst du?“ „Hier steht, dass ein Merkmal eines Seelenverwandten jemanden zurück in die Menschlichkeit bringen kann“, sagte Ryan und tippte auf die Zeile im Buch. „Ryder! Weißt du, was das heißt?! Ich hab dir doch erzählt, dass der Wolf Aaron nicht ganz getötet hat… sondern ihn verschont hat!“ Oh Gott. Es fügte sich alles zusammen! Ryans Worte überschlugen sich vor lauter Aufregung fast in seinem eigenen Mund. „Das heißt, Aaron ist der Seelenverwandte von dem Wolf, Ryder. Der Seelenverwandte. Und wer glaubst du ist Aarons Seelenverwandter?!“ Ryder schwieg einen Moment lang. „Du willst doch nicht sagen…“ „Ich weiß, es ist ganz schlimm, aber – “ Ryan stockte. „Es erklärt auch, wieso Aaron und Dan nicht darüber reden und den Verantwortlichen finden wollen…“ „Ryan…“ Ryder klang zweifelnd. Aber Ryan schaute nur nochmal ins Buch, las nochmal die Zeilen und ja, daran gab es nichts falsch zu verstehen. Es war ganz eindeutig. Bevor er sich aber weiter darum Sorgen machen konnte, legten sich von hinten Arme um seinen Nacken. Ryder legte seinen Kopf auf Ryans Schulter und lehnte ihn gegen Ryans, während er mit seiner Hand abwesend seine Brust kraulte. „Vielleicht ist das ein wenig voreilig, oder? Nur weil es in diesem Buch steht…“ Ryan seufzte ebenfalls. „Ja, schon, ich weiß… ich will auch niemanden verdächtigen oder so. Aber es würde halt wirklich perfekt passen und ist die einzige Erklärung dafür, wieso er Aaron im Endeffekt doch verschont hat…“ „Hm.“ Ryder fuhr mit seinem Daumen kleine Kreise über Ryans Oberteil, womit er genau Ryans Brustwarze umrandete, die sich darunter befand. Ein sehr, sehr ablenkendes Gefühl, aber Ryan musste trotzdem weiter an die wahre Gestalt des Werwolfs denken. „Das stimmt schon“, lenkte Ryder ein. „Aber wenn es wirklich so ist… denk an all die anderen, die gestorben sind.“ „Vielleicht gibt es ja mehr Wölfe.“ Ryan wurde langsam ungeduldig. Wieso widersprach Ryder ihm überhaupt? „Aber für diesen einen, bestimmten Tag – da macht nur das Sinn, Ryder. Es muss Dan gewesen sein.“ „Ich kann einfach nicht glauben, dass Dan Aaron etwas antun würde… egal in welchem Zustand.“ „Er hat ihn nicht erkannt, Ryder. Das ist der Punkt.“ „Und wieso dann doch plötzlich?“ „Das weiß ich nicht so genau. Er hat irgendwie Aaron erkannt, schätz ich mal. Und dann…“ Ryan zuckte mit seinen Schultern. Ryder schüttelte seinen Kopf leicht. „Du bist dir wirklich sehr sicher, oder?“ „Das bin ich wirklich.“ „Und was machen wir mit der Information?“ Das… war eine wirklich gute Frage. Immerhin war Dan ein wirklich guter Freund von ihnen Beiden, vor allem von Ryder. Ihn sich als blutrünstige Bestie vorzustellen, das – das schien einfach nicht zu passen. Nachdem Ryan eine Weile nichts gesagt hatte, fing Ryder wieder an zu reden. „Und hast du nicht gesagt, die Zwei sind vor etwas geflohen? Vor was denn, wenn Dan der Wolf war? Und wer hat dann gegen die Tür deiner Großmutter gehämmert?“ Ryan verzog sein Gesicht. „Ich bin zuerst nur in Aaron gerannt…“, murmelte er. „Vielleicht ist Aaron vor Dan geflohen, aber dann hat Dan sich zurück verwandelt und ist zurück zu ihm gegangen…“ Okay, das hatte er echt nicht so wirklich durchdacht und er merkte auch, dass die Version jetzt plötzlich nicht mehr so gut klang. „Ich will ja nicht explizit sagen, dass du unrecht hast…“, lenkte Ryder ein. „Aber vielleicht sollten wir uns noch ein paar andere Alternativen durch den Kopf gehen lassen – und ein paar mehr Beweise suchen.“ Ryan drehte seinen Kopf zu Ryder. Das Gesicht des anderen Jungens war jetzt gefährlich nahe an seinem dran; Ryan spürte sogar, wie der Atem des Anderen an seine Lippen schlug. Ryans Herz begann zu klopfen. Seit dem Zeitpunkt, an dem er gesehen hatte, wie Dan Aaron geküsst hatte, war ihm etwas ganz anderes in den Sinn gekommen; etwas, an das er vorher so noch nie gedacht hätte. Er hatte weder mit Ryder noch mit Dan über diesen Kuss geredet, aber trotzdem hatte es in Ryan etwas entfacht – und deshalb sah er Ryder jetzt auch mit anderen Augen. Auch, wenn er das bisher gut verdrängte. „Also hilfst du mir weiter?“, fragte Ryan leise. „Natürlich.“, erwiderte Ryder. „Immer.“ Sie gingen das ganze Dorf durch. Jeder, der Kontakt zu allen Opfern oder auch nur ein paar der Opfern hatte, wurde genauestens unter die Lupe genommen. Und ihren Hauptverdächtigen, sollte es wirklich nur einen Wolf geben, hatten sie so sehr schnell gefunden: Ryan. Alle Mädchen, die gerissen wurden, waren seine Verlobten gewesen. Und Aaron, nun, mit dem war er auch befreundet. Ryan befürchtete eine Weile tatsächlich, dass er selbst der Wolf war, aber diese Zweifel hatten sie schnell beiseite geräumt. Es würde einfach keinen Sinn machen! Wieso hätte er sie alle töten können? Dann war natürlich naheliegenderweise Judith und sein Vater unter näheren Verdacht gefallen, gefolgt von Ryder. Und es gab irgendwie keine Möglichkeit, wirklich zu widerlegen, dass es sich bei einer bestimmten Person nicht um den Wolf handelte. Außer natürlich, man würde besagte Person an Vollmond beobachten, aber wie oft passierte sowas schon? Gut, natürlich einmal im Monat – aber bei so vielen Verdächtigten würde das doch Ewigkeiten dauern. Ryan hatte sogar überlegt, sich einfach an den Bürgermeister zu wenden, damit sie einfach jeden eine Nacht lang gleichzeitig beobachten würde, aber andererseits war es auch nicht unbedingt klug, alle Leute mit einem potenziellen, riesigen und vor allem unverletzlichen Wolf in einen kleinen Raum zu stecken. Wahrscheinlich war es nicht mal klug, dem Wolf hinterher zu jagen. Aber wenn die Person verletzlich wäre, dann ja wohl in ihrer normalen, menschlichen Gestalt! Nur, wenn es wirklich jemand wäre, der ihm nahe stand… „Das muss nicht unbedingt sein.“ Ryder saß hinter Ryan, in der Badewanne. Er hatte seine Arme um Ryan gelegt, wobei seine Hände aber auf Ryans Bauch ruhten. Der wiederum hatte seine Hände auch auf Ryders gelegt, während er seinen Kopf auf Ryders Schulter gelegt hatte. Sie hatten die Massage schon hinter sich. Manchmal blieben sie dann gerne einfach noch so in der heißen Wanne liegen und redeten. Zum Beispiel jetzt, über den Wolf. „Es sind auch andere Menschen außer deine Verlobten gestorben“, fuhr Ryder fort. „Vielleicht ist es doch einfach nur Zufall.“ „Aber das wäre schon ein harter Zufall…“ Ryan seufzte, seine Augen geschlossen. „Aber vielleicht gibt es ja wirklich mehr Wölfe.“ „Vielleicht.“ Ryan fühlte, wie Ryders Lippen sich auf seinen Hals lagen. Nur ganz leicht, aber direkt an seiner Halsschlagader. Sicher nicht beabsichtigt, aber… trotzdem sehr ablenkend. Sehr, sehr ablenkend. „Ryan… kann ich ganz ehrlich zu dir sein?“, flüsterte er. „Natürlich… was ist los?“ „Ich weiß, dass du wirklich gute Ziele hast… und es ist auch wirklich toll, mit dir darüber zu rätseln, wer der Wolf sein könnte. Aber – “ Er stockte. „Ryan, ich will, dass du damit aufhörst.“ Ryans Augen kniffen sich einen Moment zusammen, bevor er seinen Kopf von Ryders Schulter nahm. Er drehte sich so halb zu ihm, so gut das eben ging, ohne wirklich weg zu rutschen, um ihn anzuschauen. „Wieso?“, fragte er ihn, seine Augenbrauen verwirrt zusammen gezogen. „Ich will nicht…“ Ryder drückte seine Lippen zusammen. „Ich hab Angst, dass es für dich gefährlich werden könnte, Ryan.“ Ryan schwieg einen Moment lang. Ja, logisch, er hatte auch schon irgendwie nachgedacht, dass es wahrscheinlich nicht das klügste war, dem Monster direkt hinterher zu jagen. Aber irgendwer musste es ja wohl tun! „Nicht mal die Soldaten schaffen es, ihm auch nur was anzutun“, fuhr Ryder fort. „Und außer in deinem Buch steht noch irgendwo, wie man sie töten kann…“ „Aber in seiner menschlichen Gestalt…“ „Und wenn er sich dann einfach schnell verwandelt?“ Ryder drückte Ryan ein wenig enger an sich. „Dir soll nur nichts passieren, Ryan.“ Ryan knirschte ein wenig mit seinen Zähnen. „Aber sonst geht es weiter…“ „Irgendwer wird es sicher schaffen, ihn aufzuhalten. Wieso musst dieser jemand unbedingt du sein?“ Ryan seufzte, wusste aber nicht, was er darauf sagen sollte. Also schloss er nur wieder seine Augen und lehnte sich gegen Ryder, während er sich das durch den Kopf gehen ließ. Vielleicht hatte er ja wirklich recht. Vielleicht sollte er es einfach auf sich beruhen lassen, bis wer anders das Problem gelöst hatte. „Joody?!“ Ryan rannte mit pochendem Herzen durch das dichte Gestrüpp des Waldes. „Joody!““, wiederholte er nochmal, lauter. Aber bis auf das Echo seiner eigenen Stimme hörte er absolut nichts. Judith war früher an diesem Tag in den Wald gegangen, um ein paar Kräuter für die Spezial-Brotlaibe zu besorgen, die ihr Vater machen wollte. Normalerweise kam Judith von solchen Aufträgen immer schon mittags wieder zurück – und jetzt war es schon frühe Nacht. Ryan hatte ganz einfach Panik bekommen. Sein Vater hatte gesagt, dass sie Soldaten los schicken würden, aber das war Ryan egal gewesen. Es ging um seine kleine Schwester! Und dass die Soldaten unfähig waren, das hatte er ja schon längst festgestellt. Also war er zu Ryder in die Schmiede gegangen, hatte seinen besten Freund dort aber nirgends getroffen. Trotzdem hatte er sich einfach eines der Schwerter geschnappt, das ganz sicher von Ryder geschmiedet worden war (Ryder würde das sicher nicht schlimm finden), bevor er sich Hals über Kopf in den Wald gestürzt hatte – in die Richtung, aus der seine Schwester eigentlich die Kräuter holen wollte. Natürlich hatten alle versucht ihn aufzuhalten, aber Ryan war eben einfach schneller gewesen; weshalb er jetzt durch das dunkle Dickicht rannte, spürte, wie ihm immer wieder Äste ins Gesicht peitschten und sein Bestes dabei gab, bei den ganzen Geäst sein Schwert und die Orientierung nicht zu verlieren. „Judith!“, wiederholte er ein weiteres Mal. Und da – da war etwas. Ganz, ganz leise, noch viel tiefer im Wald, hörte Ryan einen Ruf, der zurückkam. „Ryan?“ „Joody!“ Ryan fühlte wie Erleichterung über ihn einbrach, aber es war trotzdem noch lange nicht geschafft. „Joody! Ich bin hier! Joody, wo bist du?!“ „Ryan… Ich bin hier!“ Die Stimme war leise, aber Ryan hatte so eine ungefähre Ahnung, aus welcher Richtung sie kam. Er merkte auch, dass seine Schwester alles andere als okay klang, aber darüber durfte er sich jetzt nicht sofort Gedanken machen. „Joody, ich bin gleich da!“, rief er. „Du musst nur weiter rufen!“ „Ryan, schnell! Ich hab Angst!“ „Ich bin jeden Moment da!“ Oh, und wie er rannte! Er stolperte ein paar Mal über Wurzeln, fing sich aber immer relativ schnell wieder. Er bezweifelte, jemals so schnell in seinem Leben gerannt zu sein, aber immerhin ging es hier um das Leben seiner Schwester. Und wenn ihr etwas passieren würde… Ryan wollte gar nicht erst daran denken. Sie riefen sich noch ein paar Mal gegenseitig zu – aber dann plötzlich entfuhr Joody ein schriller, markerschütternder Schrei. „Judith?!“, rief Ryan ein weiteres Mal, bekam diesmal aber keine Antwort. Ryans Herzschlag verwandelte sich in ein immer schnelleres Pochen, das gegen Ryans Kopf hämmerte, je schneller er rannte. Sein Brustkorb rebellierte schon gegen diese körperliche Überforderung, aber das Adrenalin überschüttete dieses Empfinden. Er konnte nur an den Schrei seiner Schwester denken, der immer noch in seinen Ohren nachhallte. Wenn ihr was zugestoßen wäre… „Ryan!“ Das Mädchen kam zwischen den Bäumen angerannt. Ryan hätte sie wegen ihrer dunklen Kleidung fast übersehen, aber er hielt an – und Sekunden später umarmte Judith ihn. Oder eher: klammerte sich an ihn. Ganz selbstverständlich fuhr er mit seiner freien Hand zu ihrem Kopf. Sie standen mitten am Rand einer kleinen Lichtung, die spärlich vom Mondschein beleuchtet wurde. „Judith…“, sagte Ryan schwer atmend, aber unglaublich erleichtert. „R-ryan“, wimmerte Judith. „Er.. R-ryan, es ist… ich…“ „Ganz ruhig, Judith.“ Er streichelte ihr durch die Haare. „Was is…“ Ein kurzes Verschnaufen, „los?“ „D-der Wolf… er… ist hinter mir…“ Und schon wieder waren Ryans Sinne auf 180. Er wusste nicht, ob Judith sich das eingebildet hatte – hier im Dunkeln konnte man sich sicher eine Menge einbilden – aber er musste auf Nummer sicher gehen. Seine Finger schlossen sich enger um den Knauf des Schwertes, von dem er natürlich keine Ahnung hatte, wie man es benutzen musste. „Ganz ruhig, Joody“, murmelte er, behielt aber zeitgleich seine Umgebung konzentriert im Auge. „Er kann dir nichts tun… ich werde dich beschützen.“ Judith klammerte sich an ihn. Ryan wollte gerade vorschlagen, dass sie zurückgehen sollten – aber dann hörte er das Knacken von Ästen. Nein, nicht nur von Ästen – es klang eher nach einer Steinlawine, die sich durch das Unterholz walzte, jedes Mal gefolgt von einem schweren Pochen, sobald die entfernte Figur auf den Boden aufkam. Nicht nur Ryans Gehör, nein, auch sein ganzer Körper spürte, dass da etwas riesiges auf sie zukam. Eine größere Gestalt, als er sie jemals gesehen hatte. Etwas unmenschliches, bestialisches… Es klang genau so wie damals, als Ryan Aaron mit Dan getragen hatte – nur hatte er die Geräusche da kaum wahrgenommen, sie ignoriert. Ryans Nackenhaare stellten sich auf. Die Geräusche wurden viel zu schnell lauter; die Geschwindigkeit der Bestie schien unglaublich zu sein. Wie hatten sie ihr nur jemals entkommen können?! Ryans Atem flachte ab, nur um dann noch viel schneller zu gehen. Es konnte sich nur um Sekunden handeln, seit Judith sich eng an ihn geschlungen hatte, aber die Momente zogen sich zäh und langsam. Als wollte das Schicksal ihnen eine letzte Gelegenheit geben, eine Strategie zurecht zu legen. „Geh hinter mich“, flüsterte Ryan, ohne darüber nachzudenken. „Versteck dich hinter mir.“ Judith protestierte nicht, wie sie es sonst bei ungefähr allem gemacht hätte, was Ryan ihr sagte. Stumm löste sie sich, nur um sich hinter Ryan und seinen großen, roten Umhang zu kauern. Ob sie es auch spürte? Ob sie ihn auch spürte? Ryans Blick war starr in die Dunkelheit gerichtet, aus der die Kreatur unaufhaltsam näher kam. Nur noch wenige Augenblicke trennten sie voneinander; nur noch eine hauchdünne Wand aus Dunkelheit hielt Ryan davon ab, dem Wolf endlich in die Augen schauen zu können. Er richtete sein Schwert aus. Er wusste, dass er keine Chance hatte, dass er ganz sicher sterben würde – aber er würde Judith bis zu seinem letzten Atemzug verteidigen. Und dann erschien die Kreatur tatsächlich. Das erste, was Ryan von ihr sehen konnte, waren die in der Dunkelheit blitzenden, riesigen Augen. Sie waren von einem glänzenden, ruhigen und unglaublich dunklen Braun. Darunter leuchtete wenige Momente später zwei Reihen spitzer, rasiermesserscharfer Zähne auf, deren Anblick alleine Ryans Schwert nur wie einen billigen Zahnstocher aussehen ließ. Die Gestalt hörte auf zu rennen, sobald Ryan sie richtig erkennen konnte. Sie trat mehr in das Licht des Mondes und das auf eine, wie Ryan geschockt feststellen musste, unglaublich anmutige Art und Weise. Die Vordertatzen des Monsters waren zwar jeweils mindestens so groß wie Ryans Kopf, aber es machte kaum ein Geräusch, als sich die Klauen in die Erde bohrten. Das Fell des Tieres war schwarz und zottelig. An manchen Stellen klebte Blut das Fell zusammen, an anderen Plätzen war es Erde – in dem schwachen Licht war der Unterschied schwer zu erkennen. Die Beine der Kreatur waren allesamt unglaublich dick, wahrscheinlich dicker als Ryans kompletter Körperumfang. Ryans Hand mit dem Schwert begann schwer zu werden. Er umklammerte auch mit seiner anderen Hand den Griff, um das zu stabilisieren, während er das Monster fixierte. Und das Monster, es… es fixierte ihn auch. Es wirkte nicht so, als ob er wie ein normales Tier handeln würde. Er schaute nicht normal zu Ryan, nein, er fixierte ihn. Schien zu verstehen, was er da sah und schien es auch verarbeiten zu können… Langsam trat das Tier näher. Ein Grollen kam aus seiner Kehle, ein Grollen, das so tief und eindrucksvoll war, dass es sich anfühlte, als würde die Erde unter Ryan erbeben. Aber er behielt das Schwert in den Händen, auch, als das Tier näher kam. Zwar schaffte er es aus Schock nicht, sich zu bewegen, aber immerhin ließ er es nicht fallen. Das Tier trat wieder näher, auf seine bizarr-grazile Art und Weise. Bevor es Rotkäppchen aber ganz erreichen konnte, überraschte es diesen nochmal komplett: es stellte sich auf seine Hinterläufe, so, als ob das die normalste Tätigkeit der Welt wäre. Ryan erkannte jetzt auch, dass seine Vorderpfoten nicht unbedingt Pfoten waren, sondern fast schon menschliche Züge hatte – auch wenn jeder einzelne ‚Finger‘ in einer Kralle endete. Der Wolf trat noch ein wenig näher. Jetzt, stehend, überragte er Ryan um mindestens die Hälfte seiner eigenen Körpergröße, wahrscheinlich sogar noch ein bisschen mehr. Er trat näher an Ryan, der das Schwert nach wie vor fest in der Hand hielt und auf zu dem Kopf der Kreatur schaute. Die Hand des Monsters streckte sich nach ihm aus. Aber nicht bedrohlich oder in Form eines Angriffs, sondern langsam. Ryan schluckte, umklammerte das Schwert fester und wollte fast schon auf die Hand einschlagen, als die Kreatur die Situation noch bizarrer machte, als sie sowieso schon war. Sie begann etwas zu machen, was Ryan komplett den Boden unter den Füßen wegriss. Sie redete. „Ryan…“ Die Stimme des Monsters war genauso wie das Grollen, tief, kehlig und bedrohlich. Aber Ryan verstand, was er sagte – er verstand seinen Namen. „Nicht… verletzen.“ Ryan fühlte, wie sein Mund sich öffnete. Was…?! Hatte die Kreatur da gerade etwa – hatte sie seinen Namen gesagt?! Wie um alles in der Welt…?! Bevor er aber noch etwas sagen konnte, horchte der Werwolf auf. Seine übergroßen Ohren spitzten sich, er schnüffelte ein, zwei Mal mit seiner Schnauze und ließ sich anschließend wieder auf alle Viere fallen. Es sah unglaublich natürlich aus, wie aus den Armen innerhalb weniger Sekunden wieder Beine wurden und er wieder zu rennen anfingen, leiser diesmal. Er verschwand von der Lichtung zwischen den Bäumen und hinterließ sie alleine zurück; Ryan noch immer mit dem Schwert in der Hand, Judith hinter ihm wimmernd. Ryan starrte dem Monster hinterher. Er wusste nicht, ob er hinterher rennen sollte, oder ob er Joody trösten sollte oder was er überhaupt tun sollte, er starrte einfach nur hinterher… Und dann durchbrach wieder jemand das Dickicht, direkt hinter ihnen. Ryan, der offensichtlich viel zu wenig auf sein Gehör geachtet hatte, jagte herum und richtete das Schwert mit zittriger Spitze auf die Gestalt, die da kam. „Ganz ruhig, ‘Käppchen.“ Spellman. Einer der Soldaten des Dorfes; einer der sehr nervigen, idiotischen Soldaten des Dorfes. Spellman drehte sich so halb um und rief hinter sich in den Wald: „Ich hab sie gefunden!“, bevor er sich wieder an Ryan wandte. „Du hast deinem Vater einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Warum lässt du nicht uns die Arbeit machen? Das…“ „Ryan ist ein Held“, warf Judith ein. Ihre Stimme klang noch immer zittrig. „Er hat mich vor dem Wolf gerettet.“ „Vor dem Wolf?“ Spellman lachte. „Mädchen, das ist sicher nicht passiert. Niemand überlebt den Wolf.“ „Ryan…“ „Was auch immer.“ Spellman trat näher und hielt seine offene Handfläche vor Ryan. „Gib mir das Schwert, bevor du dir oder irgendwem damit noch weh tust. Woher hast du das überhaupt? Wenn du es gestohlen hast, dann…“ „Ryder hat es mir geliehen.“ Die Lüge ging Ryan glatt über die Lippen und er wusste, dass Ryder zustimmen würde, wenn Spellman nachfragen würde. Spellman verzog sein Gesicht – offensichtlich gefiel es ihm nicht, dauernd unterbrochen zu werden – aber weil Ryan ganz sicher keinen Streit anfangen wollte, überreichte er ihm das Schwert einfach. „Vernünftig“, kommentierte Spellman noch, bevor auch der Rest der Garde langsam eintraf. Judith und Ryan wurden zurück zum Dorf eskortiert, wobei niemand viel redete. Judith erzählte die Geschichte von dem Wolf kein zweites Mal, einfach weil sie wusste, dass man es ihr nicht glauben würde. Auch später am Tag erzählte sie niemanden mehr von dem Wolf – und auch nicht davon, wie er auf Ryan reagiert hatte. Sie erzählte nur, dass sie sich verlaufen und Ryan sie schließlich gefunden hatte. Ryan selber erzählte natürlich auch nichts. Er wusste ja nicht mal, wie er sich das selbst erklären sollte! Er wollte Ryder davon erzählen, aber der war an diesem Tag gar nicht mehr zu finden. Und erst später, als Ryan schon im Bett lag und wieder den stetigen Atem seiner Schwester hörte, mit der er sich ein Zimmer teilte, fiel ihm auf, dass da noch etwas Seltsames bei der Begegnung gewesen war. Mal ganz abgesehen davon, dass ein Wolf auf zwei Beinen gegangen war und mit ihm geredet hatte. Da war noch etwas gewesen, was Ryan bis jetzt gar nicht wirklich bedacht hatte. Der Wolf war riesig gewesen, mit so dicken Muskeln unter dem zottigen Fell, dass es sicher nur einen Hieb gebraucht hätte, um Ryan auf der Stelle zu töten. Aber – Ryan hatte keine Angst gehabt. Nein, ganz im Gegenteil. Die Gegenwart des Wolfes hatte sich auf eine bizarre Art und Weise vertraut angefühlt. „Wo warst du gestern?“ Ryans Kehle fühlte sich trocken an, als er die Frage stellte. Er klang vorwurfsvoll, viel vorwurfsvoller als er geplant hatte zu klingen. „Was?“ Ryder legte den Hammer nieder, mit dem er gerade eines der Schwerter bearbeitet hatte. „Ryan?“ Er rieb sich über den Nacken, während er sich in all seiner oberkörperfreien, verschwitzten Pracht umdrehte. Nur konnte Ryan das gerade wirklich nicht beachten. „Wo du gestern warst“, fragte er nochmal. „Du warst gestern nicht da. Ich hab dich gesucht.“ „Stimmt, ich hab davon gehört…“ Ryder griff sich einen der Lumpen neben dem Amboss. Damit tupfte er sich die Stirn ab und wischte seine Hände, wodurch seine Stirn ein paar, schwarze Flecken bekam. „Ich wollte dich sofort besuchen kommen, als Spellman mir das Schwert gebracht hat und dabei gleich noch gesagt hat, dass du nachts in den Wald gegangen bist. Was hast du dir dabei nur gedacht?“ „Ich hab mir Joody dabei gedacht“, erwiderte Ryan bissig. „Wo – warst – du?“ „Das ist ja auch mehr als recht“, gab Ryder zurück. „Aber ich hab mir trotzdem Sorgen gemacht…“ „Sorgen.“, wiederholte Ryan. Es fühlte sich gelogen an, sogar, wenn er es nur selbst aussprach. „Und wieso bist du mich dann nicht besuchen gekommen? Wo warst du?“ Ryder verstummte. „Ryan, bist du wütend auf mich?“, fragte er schließlich. Ryan hätte vor Frustration fast aufgeschrien – wie penetrant konnte man eine Frage ignorieren?! Dennoch antwortete er darauf nicht, bis Ryder schließlich den Lumpen wieder ablegte und zu Ryan ging. „Hey, was ist los?“, fragte er. „Hab ich dir was getan? Ich…“ Seine Hand legte sich auf Ryans Schulter. Oder jedenfalls versuchte er es; Ryan zog seine Schulter weg, bevor er sie berühren konnte. „Fass mich nicht an“, zischte Ryan. „Ich weiß, wer du bist. Was du bist.“ Ryders Mimik entglitt ihm. Ryan konnte eine ganze Menge daraus ablesen, über Frustration und Verletzung bis hin zu blankem Schock. „Ryan, was…“ „Ich hab deine Augen erkannt.“ Ryan merkte, wie seine Kehle sich zuschnürte und wie seine Augen feucht wurden, aber er versuchte nicht darauf zu achten. „Und das Gefühl. Verdammt, ich hab’s sogar an diesem schwarzen Fell bemerkt!“ Eigentlich hatte Ryan nur kommen wollen, um mit Ryder darüber zu reden. Vernünftig, ohne gleich Vorwürfe zu machen. Aber ihn zu sehen hatte die Gefühle wieder aufleben lassen und während er sich selbst erklärte, merkte er auch, dass er sich wirklich sicher war. Auch, wenn er es die ganze Zeit nicht wahrhaben wollte. „Du bist der Wolf“, fasste er seine Vermutung zusammen. „Der Werwolf, der alle umgebracht hat.“ Ryder zuckte leicht zusammen. Ryan war sich nicht ganz sicher, ob das wegen seiner harschen Aussprache war, oder weil er ihn entlarvt hatte – aber vermutlich war es Beides. „Ryan… du verstehst das ganz falsch“, fing Ryder an. „Ich…“ „Was soll ich daran falsch verstehen?!“ Er stand jetzt gerade wirklich sehr kurz davor, tatsächlich los zu heulen. „Sag mir einfach, Ryder, warst du das? Warst du der Wolf den ich gestern gesehen habe?“ Einen Moment lang sagte Ryder nichts. „Können wir wenigstens reingehen?“, murmelte er dann. „Dann hört uns niemand…“ „Wozu? Damit du mich drinnen auffressen kannst, weil ich dein Geheimnis rausgefunden habe?!“ „Ryan, das – “ Er stockte. „Ich würde dir nie, niemals etwas antun!“ „Aber Thalia, Rosie, Rachel – denen könntest du allen was antun, ja?!“ Jetzt weinte Ryan tatsächlich. Kein Wunder, er fühlte sich so unendlich verraten und so unendlich dumm, weil er Ryder vertraut hatte… Mehr als nur vertraut… „Das war ich nicht“, erwiderte Ryder verzweifelt. „Bitte, das musst du mir glauben. Ich würde doch nie jemanden etwas antun, der dir wichtig ist…“ „Dann warst du wohl auch nicht der Wolf bei Aaron, was?“ Ryan schluckte, gefolgt von ein paar zittrigen Atemzügen. Ryders Kiefer spannte sich an. „Ich hab sie doch nur beschützen wollen…“ „Und dabei seinen halben Brustkorb rausgerissen, ja?!“ Ryan konnte es kaum fassen. Ryder war doch selbst mit Aaron und Dan befreundet! Ja, mit Aaron kam er vielleicht nicht immer gut aus, aber das war doch kein Grund dafür, so etwas zu tun! „Es ist mit mir durchgegangen, Ryan, aber – ich hab doch aufgehört! Und sonst wäre er gestorben, Ryan, ich hab wirklich alles getan…“ „Und wieso bist du dann nicht gekommen?! Er wäre fast gestorben, wenn meine Großmutter nicht gewesen wäre!“ „Ich war da, Ryan, ich… ich hab zugehört, gewartet, bis es Aaron gut geht…“ Ryder stockte einen Moment lang. „Bitte, Ryan, du kennst mich! Ich würde doch niemals was böses tun! Und – und ich kann dir das beweisen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte er sich Ryans Handgelenk und zog ihn einfach mit sich. Nicht sonderlich sanft und Ryan versuchte auch, sich zu wehren; es klappte nur nicht sonderlich gut. Ryder zog ihn bis in sein eigenes Zimmer, wo er die Tür hinter sich schloss. „Bitte“, sagte er, während er Ryans Handgelenk losließ. „Schau einfach her.“ Ryan wollte nicht zuschauen. Er wollte hier weg, ganz weit weg von Ryder, einfach nur weil er nicht wusste, wie er mit all dem hier umgehen sollte. Aber andererseits wollte er auch unglaublich gerne Ryder glauben können… Also kam er zögerlich ein wenig näher, als Ryder in seinem Nachtschrank kramte, der neben seinem Bett stand. „Hier.“ Er drehte sich um – und Ryan wich gleich einen Schritt zurück, als Ryder einen gezückten, glänzenden Dolch nach oben hielt. Kurz huschte Enttäuschung über Ryders Gesicht. „Du musst keine Angst vor mir haben“, murmelte er. „Der Dolch hier is‘ genauso wie der, den ich dir geschenkt hab. Er ist aus purem Silber, weißt du?“ Er klang nervös, aber er trat näher an Ryan heran, der aber gleichzeitig einen Schritt zurück ging. „Ryan, das ist… die einzige Art einen Werwolf zu töten, weißt du? Und – u-und weißt du, wieso ich so einen genau neben meinem Bett hab? Weißt du das?“ Seine Stimme klang verzweifelt. Ryan schaute von dem Dolch zu dem Gesicht des Schmiede-Lehrlings, seine Unterlippe leicht bebend. „Wieso…?“, fragte er schließlich. „Ich habe mir vorgenommen – dass… sollte ich jemals einen Menschen willentlich töten, während ich verwandelt bin… dass ich mich dann selbst töten werde.“ Er schluckte. „Verstehst du das? Bei Aaron war ich verdammt kurz davor, aber – er hat ja überlebt und…“ Ryan starrte wieder ein paar Sekunden auf das Messer, bevor er leicht seinen Kopf schüttelte. „Wieso sollte ich dir das glauben? Du hast das Messer doch sicher nur zur Verteidigung hier…“ Und natürlich musste man sich auch mal so verteidigen können, wenn man eine zweite Identität als Massenmörder hatte. „M-moment… schau her.“ Ryder nahm noch einen tiefen Atemzug, bevor er mit dem Silbermesser einmal quer über seinen Unterarm schnitt. Eine dünne Blutlinie kam an der Stelle – bevor die Wunde auch tatsächlich zu dampfen anfing, während Ryders Hand sich zur Faust ballte. Sein Körper verspannte sich, er kniff seine Augen zusammen und sein Kopf drehte sich ein bisschen zur Seite. Aus seiner Kehle entfuhr ein tiefes Knurren, während Reißzähne zwischen seinen Lippen entstanden. Und weil Ryan langsam Panik bekam, stolperte er rückwärts zurück. Als er schließlich die Tür im Rücken spürte, drehte er sich rum, drückte die Tür runter und wollte raus rennen; bevor er das aber konnte, wurde die Tür vor ihm wieder mit einer Hand zugeschlagen. „Geh nicht“, schnaufte er. „Ryan…“ „Ryder!“ Ryan drehte sich um, wobei er jetzt sehen konnte, wie verdammt nahe Ryder ihm war. Er war ein wenig gewachsen und seine Zähne waren immer noch spitz, aber seine Augen… sie waren so groß, glänzten leicht – so verletzlich, traurig… „R-ryder, lass mich gehen…“, brachte Ryan trotzdem raus. „Du… du bist ein Monster.“ Diese Reißzähne und sein Wachstumsschub sprachen ja für sich, oder?! Ryder atmete noch zwei, dreimal tief durch – und dann konnte Ryan dabei zusehen, wie seine Reißzähne sich langsam wieder zurückbildeten. „Ryan, bitte“, sagte er nochmal. „Geh nicht weg… bitte…“ „Ryder – d-du machst mir Angst.“ Ryans Handflächen drückten sich an die Tür. „I-ich verrate es Niemanden, aber… bitte lass mich gehen…“ „Aber – “ Ryder nahm seine Hand tatsächlich von der Tür weg, legte sie aber stattdessen an Ryans Gesicht. Überraschend sanft… und seine Zähne bildeten sich jetzt auch komplett zurück. „Aber i-ich liebe dich, Ryan…“, vollendete er seinen Satz schließlich. Ryans Herz blieb für einen Moment stehen. Das war jetzt langsam einfach zu viel: erst die Sache mit dem Wolf, dann Ryder, der sich direkt vor ihm verwandelte und jetzt – jetzt das. „Was?“ Seine eigene Stimme klang viel zu hoch, viel zu atemlos. „Ich liebe dich, Ryan“, wiederholte Ryder. „Ich liebe dich so sehr und schon so lange, ich… bitte hab keine Angst vor mir, Ryan, ich könnte dir nie, nie was tun…“ Ryan starrte immer noch in Ryders Augen. „Der Mantel“, murmelte Ryan schließlich. „A-aarons Mantel ist durch sein Blut rot geworden… wie meiner. Es hat dich an mich erinnert…“ Ryder nickte langsam. „Es hat mich aus meinem Blutrausch gerissen, ja. Weil… du scheinbar mein Seelenverwandter bist, Ryan.“ Ryan wusste wieder nicht, was er sagen sollte. Er schaute nur in seine Augen, versuchte sich selbst davon zu überzeugen, das er immer noch weg rennen sollte und dass das hier wirklich nicht sicher sein konnte – aber andererseits fühlte er, wie sich langsam doch ein Gefühl des Vertrauens in ihm festsetzte. Aber wie konnte er Ryder auch misstrauen, wenn er sowas sagte?! Schließlich konnte er also nicht mehr verhindern, das auszuprobieren, was er jetzt schon seit einer halben Ewigkeit hatte ausprobieren wollen. Er überwand die Distanz zwischen ihren Lippen, drückte seine auf Ryders und ließ den Kuss für ein, zwei Momente anhalten. Es fühlte sich überhaupt nicht so an, als wäre Ryder ein Monster, ganz im Gegenteil: seine Lippen waren weich, warm und einfach nur unglaublich perfekt. Es dauerte eine Weile, bis Ryan die Motivation dazu aufbringen konnte, den Kuss wieder zu lösen. „Und was ist mit all meinen Verlobten?“, fragte er leise. „Kannst du dich an alles erinnern, was du jemals getan hast?“ Ryder nahm einen zittrigen Atemzug. „Nicht alles, ich… wenn ich in einen Blutrausch falle – oder an Vollmond – dann… vergess‘ ich manchmal, was passiert ist.“ Er klang so unsicher, dass Ryan ihm am Liebsten gleich selber bestätigt hätte, dass es sicher nicht so war. „Aber ich glaube trotzdem nicht, dass ich es war“, schob Ryder dann aber doch selber noch an. „Ich glaube es einfach nicht. Ich glaube… ich wüsste es, wenn ich jemanden getötet hätte.“ Aber wenn Ryder ihm sagte, dass er ihn liebte – es war doch naheliegend, dass er dann Ryans Verlobte im Blutrausch getötet hatte, oder? Und wer um alles in der Welt sollte es denn sonst sein? Aber andererseits war das hier Ryder! Und wenn Ryder sagte, dass er glaubte, dass er niemanden umgebracht hatte… „Ich glaub dir“, murmelte Ryan also schließlich. Ryders Augen leuchteten auf, genauso wie seine Mundwinkel sich ein wenig nach oben zogen. „Danke…“, murmelte er, bevor er ihre Lippen ein weiteres Mal versiegelte. Ryan hatte immer noch Probleme damit, alles, was er eben erlebt hatte, zu verarbeiten. Aber glücklicherweise setzte sein Gehirn sowieso aus, wenn Ryder ihn so küsste. Es war so perfekt. Ryder behandelte ihn so gut, dass Ryan in den meisten Momenten komplett vergessen konnte, was Ryder eigentlich war und was er getan hatte. Die meiste Zeit verbrachten sie in Ryders Zimmer, weil sie hier die meiste Privatsphäre hatten; und dort lagen sie meistens in Ryders Bett, aber ohne jemals irgendetwas Sexuelles zu machen. Ryan mochte das Gefühl, eng an Ryder zu liegen und ihm nur im Arm halten zu können. Und ganz besonders mochte er es natürlich, seine Lippen auf Ryders zu drücken… Wenn sie das aber gerade nicht taten, dann hörte Ryan auch einfach nur gerne den Klang von Ryders Stimme. Sie redeten über eine Menge dir, mehr Dinge, als sie das als bloße Freunde gemacht hatten. Aber natürlich redeten sie niemals über dieses eine Thema, dieses unleidliche Thema mit den Morden. Mussten sie ja auch gar nicht, immerhin starb auch niemand mehr. Und Ryan mochte den Gedanken, dass es an ihm lag. Manchmal verbrachten sie aber auch Zeit mit Judith. Judith hatte Ryder schon immer sehr gerne gemocht, wahrscheinlich, weil Judith so gut wie jeden Kerl mochte, mit dem Ryan Zeit verbrachte. Sie war in ihren jungen Jahren eben sehr, sehr von gutaussehenden Jungs angetan. Und von Ryder eben ganz besonders… Vielleicht hatten sie in der Familie ja den selben Männergeschmack? Einmal statteten sie auch der Taverne einen ziemlich lustigen Besuch ab. Aaron und Dan sangen ihnen ein Ständchen, sie tranken danach noch eine Weile zu viert weiter und Ryder und Ryan erzählten davon, was sie jetzt für eine Beziehung miteinander hatten. Vor Dan und Aaron konnte das ja auch nicht wirklich peinlich sein, schließlich hatten sie ja eine ganz ähnliche, noch viel verwerflichere Beziehung! „Glückwunsch, Rotkäppchen“, war Aarons Kommentar gewesen, gefolgt von einem breiten Grinsen. „Vielleicht musst du ja jetzt…“ „… nicht mehr ständig an den Wolf denken“, vollendete Dan seinen Satz. „Keine Sorge – an mir hat er genug Wölfisches.“ Ryder war offensichtlich schon ziemlich angetrunken gewesen, sonst wäre ihm so ein dümmlicher Kommentar kaum eingefallen. „Aber sowas von“, hatte Ryan grinsend erwidert. Sie hatten sich schnell umgeschaut, bevor Ryan sich rüber gebeugt und Ryder einen sehr wölfischen Kuss auf die Wange gegeben hatte. „Awwww!“, hatten Dan und Aaron gleichzeitig gesagt. „Das ist…“ – „… echt süß!“ Diesmal hatte Aaron den Satz vollendet, wobei sich die zwei Brüder auch gleich einen verliebten Blick zuwarfen. Ryan hatte das zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr komisch gefunden, ganz im Gegenteil, er hatte es Aaron und Dan unglaublich gegönnt. Auch wenn er insgeheim gehofft hatte, dass er niemals den Satz von Ryder vollenden würde. Heute jedenfalls hatte Ryan wieder vorgehabt, seine Großmutter zu besuchen. Ursprünglich alleine, aber er konnte ja auch nicht nein zu Ryder sagen! Und wenn sowohl Ryan als auch Ryder in den Wald gingen, wollte Joody sich natürlich anhängen. Dazu kam natürlich auch noch ein Korb voller Essen und Wein, wie er ihn eben immer für seine Großmutter hatte. Im Endeffekt gingen sie also zu dritt durch den Wald, wobei Judith wie immer an Ryder klebte. So sehr, dass sie sich auch gar nicht daran störte, dass Ryan seine eine Hand mit dem anderen Jungen verschränkte. Aber hey, was Aaron und Dan konnten, konnten sie ja schon lange, oder? An Ryders anderer Hand hängte Judith, aber Ryan störte sich da gar nicht groß dran. Judith erzählte Ryder die meiste Zeit irgendwelche unwichtigen Dinge, bei denen Ryder so tun müsste, als fände er sie unheimlich interessant. Ryan selber machte sich gar nicht erst die Mühe, überhaupt zuzuhören, weil seine Gedanken schon längst bei seiner Großmutter hingen. Hoffentlich würde sie heute nicht so ein Drama machen! Immerhin konnte sie Ryder nicht sonderlich leiden, aber Ryan wäre es irgendwie schon wichtig, wenn seine Großmutter und Ryder sich verstehen würden. Vor allem jetzt, wo Ryan nach und nach die Leute wissen lassen wollte, was er an Ryder fand – ganz egal, ob das jetzt eine gute Idee war oder nicht. „Ryan, alles klar?“ Der Angesprochene blinzelte ein paar Mal, bevor er zu dem älteren Jungen neben sich schaute. „Klar“, erwiderte er. „Alles gut…“ Ryder runzelte seine Stirn, bevor er ihre Hände voneinander löste. Stattdessen legte er einen Arm um Ryans Hüfte und zog ihn an sich ran, was diesem einen zarten Rotschimmer auf die Wangen zauberte. „Ganz sicher?“, fragte Ryder nochmal leiser nach. „Mhm.“ Jetzt erst recht. Ryan legte seinen Arm ebenfalls um Ryders Hüfte, auch wenn sich das vor Judith nicht unbedingt richtig anfühlte. Judith fragte aber erst gar nicht nach, nein, sie beachtete es eigentlich nicht mal groß. Klar, Ryan hatte auch nie an die alleinige Möglichkeit gedacht, dass zwei Jungs überhaupt dazu in der Lage wären, solche Gefühle füreinander zu empfinden… „Du schaust aber nicht so aus“, erwiderte Ryder. „An was denkst du?“ Das Rotkäppchen drehte seinen Kopf ein wenig, bevor er die Stirn runzelte. „Echt nichts. Aber süß, dass du dir so viel Gedanken machst…“ Ryder lächelte auf diese Aussage hin kurz. „Immer doch“, versprach er. Ryan lächelte ihm zu, bevor Judith wieder das Wort ergriff und weiter davon erzählte, wie eine ihrer besten Freundinnen sich total in einen Jungen verliebt hatte, der unglaublich ungehobelt war. Als sie schließlich in die Nähe der Hütte kamen, löste Ryan sich von Ryder. Stattdessen ging er ein bisschen vor, um an die Tür seiner Großmutter zu klopfen. „Grandma? Ich bin’s“, rief er durch die neue, dichte Holztür hindurch. Seine Großmutter öffnete die Tür wieder erstmal nur mit Kette, sah nur ihn und öffnete daraufhin auch schon die Tür ganz. „Hallo, Ryan!“, grüßte sie ihn grinsend. „Du kommst gerade richtig! Ich hab Kekse – “ Ihr Blick wanderte von Ryan zu Ryder. „Oh.“ Sie runzelte ihre Stirn. „Hallo, Grandmaaaa!“, grüßte Joody sie, löste sich jetzt endlich auch mal von Ryder und umarmte ihre Großmutter dann auch schon. „Auch hallo, Kleines“, erwiderte die ältere Frau gackernd, bevor sie ihr über den Kopf streichelte. „Guten Mittag…“, grüßte schließlich auch Ryder, woraufhin die kleine Frau ihn nur wieder abschätzig anschaute. „Hallo“, erwiderte sie trocken. Und dann wieder in Richtung ihrer Enkelkinder: „Kommt doch rein!“ Sie öffnete die Tür ganz und verschwand in der Hütte. Judith folgte ihr, während Ryder neben Ryan trat. „Vielleicht war es doch keine so gute Idee, mitzukommen“, flüsterte er ihm zu. „Wenn du willst, kann ich auch wieder zurückgehen. Wir können uns ja heute Abend treffen…“ „Nein.“ Ryan hatte keine Lust, dass er nur wegen seiner Großmutter weniger Zeit mit seinem quasi-Seelenverwandten verbringen konnte! Deshalb drückte er doch nochmal kurz Ryders Hand, gefolgt von einem Lächeln. „Das wird schon…“ Ryder erwiderte das Lächeln und nickte langsam. „Wenn du das sagst.“ – Natürlich wurde es absolut nichts. Im Verlaufe der nächsten Minuten ließ Ryans Großmutter immer wieder abschätzige Kommentare fallen, die Ryder aber ziemlich gut einsteckte. Ryan war immer wieder positiv überrascht, wie stoisch sein bester Freund sich darüber verhielt – aber wahrscheinlich strengte er sich auch nur wegen Ryan so an. Richtig schlimm wurde es aber erst, als ihre Großmutter vorschlug, was sie zum Abendessen machen konnten. Zuerst war der Vorschlag ganz normal, Pilze mit Gemüse und einer von ihr selbstgemachten Soße… aber dabei konnte sie es natürlich nicht belassen. Sie schaute einmal in die Runde, um Zustimmung für ihren Vorschlag zu finden, ließ ihren Blick aber schließlich an Ryder hängen. „Und für dich Hundekuchen?“, schlug sie vor. „Oder willst du dir dein Essen lieber selber reißen?“ Stille kehrte in die Hütte ein. Judith sagte nichts, weil sie verwirrt war; und Ryan und Ryder waren schlichtweg zu geschockt. „Wieso schaust du denn so, Jüngelchen?“ Sie schnaubte. „Meintest du, es ist nicht offensichtlich genug? Ich wusste ja schon immer, dass du unreine Gedanken mit meinem Enkel hast… aber ich dachte, er wäre klug genug, das richtig einschätzen zu können. Aber jetzt schon seine Freunde anzugreifen? Das ging eindeutig zu weit.“ „Großmutter…“, versuchte Ryan einzulenken. „Misch dich da nicht ein.“ Sie blitzte ihn kurz an, bevor sie wieder zu Ryder schaute. „Und? Willst du es bestreiten?“ Ryders blick huschte für einen Moment panisch zu Judith. „Nein, Ma’am“, sagte er schließlich mit zittriger Stimme. „Aber ich habe niemanden was getan…“ „Dann hast du keine unreinen Gedanke mit meinem Enkel gehabt?“ Jetzt schaute Ryder panisch zu Ryan. Der glaubte sogar zu spüren, wie das Herz seines besten Freundes klopfte, aber er wusste nicht, was er tun sollte – er war selber wie gelähmt. „Und du warst nicht eifersüchtig auf seine Verlobungen, ja?“ Ryders Atem flachte ab. „Ich…“ „Eifersucht ist ein starker Auslöser.“ Ryans Großmutter schnaubte abermals. Sie richtete ihren Blick auf ihren Enkel, ihre Stirn gerunzelt. „Was hat er dir erzählt? Dass er es nicht war? Dass er unschuldig ist? Oh, ich dachte du wärst klüger, Ryan…“ Sie schüttelte mit einem abwertenden ‚ts, ts, ts‘ ihren Kopf. „Ma’am, ich bin mir sicher…“, fing Ryder aber trotzdem wieder an. „Dass du der Wolf bist?“ Sie grunzte. „Ja, das mag ich dir wohl glauben. Du hast schon immer so nach Hundefell gestunken.“ Wieder sagte niemand etwas. Ryder, der mittlerweile fassungslos auf einem der Stühle Platz genommen hatte, wirkte komplett zerstört – und Ryan sah wahrscheinlich nicht besser aus. „Was?“, war alles, was Judith dazu sagte, aber niemand beachtete sie groß. Ryans Großmutter handelte schneller, als Ryan es für möglich gehalten hätte. Innerhalb weniger Sekunden schnappte sie sich ein Messer von den Tresen und drückte einen ihrer Gehstöcke an Ryders Hals. „Ist es nicht so?“, fauchte sie. Ryder sagte wieder nichts, aber natürlich brauchte die Frau auch gar keine Bestätigung mehr. Sie schnitt einmal mit dem Messer über die Seite von Ryders Hals – und als es dampfte und Ryder ein grauenvolles Grollen ausstieß, schaute ihre Großmutter zu Judith. „Siehst du das?“, fragte sie, bevor sie zu Ryan schaute. „Wie konntest du so ein Monster nur in die Nähe deiner Schwester lassen?“ Ryans Handflächen wurden schwitzig. Er…. Er wusste ja, dass es nicht richtig gewesen war, dass Ryder nicht gut war – aber er hatte ihm doch so sehr vertrauen wollen! „Zum Glück bin ich nicht so schwach.“, redete sie weiter. Ryder reagierte immer noch nicht richtig, als diese alte, unscheinbare Frau mit dem Messer ausholte. Sie schien ihm die Luft abzuschnüren und Gott, sie würde gleich zustechen, sie würde Ryder töten… Ryans Körper reagierte schneller, als sein Verstand die Situation eigentlich verarbeitet hatte. Mit voller Körperwucht stieß er seine Großmutter von Ryder herunter, bevor er dem Jungen auf die Beine half. „Ryan!“ Seine Großmutter rappelte sich schnell wieder auf. Sie stellte sich zwischen Ryan und die Tür, das Messer in der Hand. „Wieso verteidigst du ihn? Hast du nicht gelesen, was ich dir gegeben habe? Er ist ein Monster, er manipuliert dich!“ Ryan schluckte schwer. „Großmutter, geh uns aus dem Weg“, kommandierte er mit überraschend fester Stimme. „Du wirst Ryder kein Haar krümmen. Er ist kein Monster!“ „Natürlich ist er das! Sieh doch seine Zähne an!“ Ryan schaute rüber zu Ryder. Ja, natürlich, seine Zähne hatten sich noch nicht zurück gebildet, aber… nein – nein, Ryder war kein Monster. „Lass uns durch“, sagte er also nochmal, seine Stimme immer noch fest. Seine Großmutter schüttelte ihren Kopf abwertend. „Versuch doch an mir vorbei zu kommen, Bestie.“ Das ging zwar (offensichtlich) an Ryder, aber das war Ryan egal. Er ging zu seiner Großmutter – sollte sie ihn doch angreifen! – und baute sich vor ihr auf. „Willst du dich wirklich nochmal gegen deine Großmutter stellen?“ Sie verengte ihre Augen, als sie zu ihm aufschaute. „Ich will nicht. Aber wenn du Ryder nicht gehen lässt…“ „Ryan, ich – das ist schon gut…“ Ryder kam jetzt doch von hinten, um eine Hand auf Ryans Schulter zu legen. Aber wie konnte er finden, dass hier an dieser Situation auch nur irgendwas gut fand?! Nichts war gut! Das war grausam! Seine Großmutter war grausam ungerecht zu Ryder! „Ich sag es noch ein letztes Mal“, warnte Ryan also. „Geh jetzt aus dem Weg oder ich werde dich dazu zwingen müssen!“ Seine Großmutter knirschte mit den Zähnen, aber sie ging tatsächlich aus dem Weg. „Du machst einen riesigen Fehler, Ryan“, sagte sie. „Er war es. Auch wenn er sagt, er erinnert sich nicht, er war es. Wölfe haben sich nie unter Kontrolle!“ Aber Ryan hörte ihr gar nicht mehr zu. Er öffnete die Tür und stellte sich zwischen Ryder und seine Großmutter, damit die gar nicht auf falsche Gedanken kommen würde. Ihn würde sie sicher nicht angreifen. „Geh raus, Ryder… und du auch, Joody.“ Ryan behielt seine Großmutter im Blick, bis die Zwei auch verschwunden waren. Seine Großmutter schnaubte, kam dann am Ende aber doch nochmal näher. „Wenn du jemals zu Verstand kommen solltest“, sagte sie, „Dann nimm wenigstens das hier.“ Sie drückte ihm den Dolch in die Hand. Ryan starrte den Dolch ein paar Sekunden fassungslos an, legte ihn dann aber weg. „Tschüss, Großmutter“, sagte er, bevor er die kleine Hütte verließ. Er könnte Ryder nicht umbringen. Niemals. Sie legten ihren Heimweg rennend zurück. Erst, nachdem sie eine sichere Distanz erreicht hatten (auch wenn Ryan sowieso bezweifelte, dass seine Großmutter ihnen folgte) wurden sie ein wenig langsamer. „Joody“, wies Ryan seine kleine Schwester dann noch an, „Du darfst niemals jemanden sagen, was da drinnen passiert ist. Okay? Vor allem nicht, was du bei Ryder gesehen hast.“ Seine Schwester drückte ihre Lippen zusammen, nickte aber. „Großmutter wird Ryder doch nichts tun?“, fragte sie leise. „Natürlich nicht.“ Ryan glaubte da zwar selber nicht hundertprozentig dran, aber wenigstens seiner kleinen Schwester konnte er das ja wohl erzählen. „Okay.“, erwiderte sie nur – und klang überhaupt nicht so, als ob sie ihm auch nur im Entferntesten glauben würde. Auch von Ryder erntete Ryan einen skeptischen Blick, den Judith nicht sehen konnte. Aber was sollte Ryan denn dagegen tun? Kaum, dass sie Judith bei sich daheim abgesetzt hatten und zu Ryder gegangen waren, fing Ryder auch schon an, zu reden. „Ich muss weg gehen“, waren seine erste Worte. Ryan hatte sowas schon erwartet, aber… „Meine Großmutter wird es niemanden sagen“, versicherte Ryan. „Sie war das letzte Mal vor einer halben Ewigkeit im Dorf, da kann ich mich nicht mal dran erinnern. Ich bin mir sicher, dass nichts passieren wird…“ „Ryan – ich wünschte, das wäre die Wahrheit.“ Er warf ihm noch ein verzweifeltes Lächeln zu, aber dann ging er auch schon los in die Richtung seines Zimmers. Ryan folgte ihm, noch während Ryder redete. „Sie wird es irgendwem sagen, oder Judith wird es irgendwem sagen. Sie werden mich ergreifen und sie werden mich töten und – wahrscheinlich haben sie alles recht dazu. Ich bin schließlich ein Monster…“ „Du bist kein Monster!“ Wieso glaubte Ryder das denn jetzt schon selber?! „Nur weil dich irgendein Viech gebissen hat bist du noch lange kein Monster, Ryder, okay!? Du kannst nichts dafür. Du hast dich unter Kontrolle!“ „Ich kann mich nicht an alles erinnern“, erwiderte sein bester Freund. „Okay? Es kann sein, dass ich deine Verlobten umgebracht hab. Ich war eifersüchtig, Ryan, ich war verdammt eifersüchtig, aber ich hab dir das Glück auch gegönnt… aber was, wenn das der Wolf in mir nicht getan hat?!“ Ryan wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Wenn jetzt sogar Ryder glaubte, dass er es gewesen war – dann gab es wirklich nichts mehr, was Ryan an seine Unschuld glauben ließ. Aber er würde es so gerne glauben können, er wäre so gerne glücklich mit Ryder… „Ich gehe mit dir.“ Die Worte verließen ihn schneller, als er darüber überhaupt nachgedacht hatte. „Ich lass dich nicht alleine weg gehen“, wiederholte er nochmal, fester. „Wenn dann verlasse ich das Dorf mit dir.“ Ein paar Momente lang hielt Ryder in der Bewegung inne – aber dann drehte er sich doch zu ihm, überwand die kurze Distanz und legte seine Hände an Ryans Gesicht, um ihm einen Kuss zu geben. „Ich liebe dich so sehr, Ryan“, flüsterte er. „Ich liebe dich auch…“ – Und auch, wenn Ryan das jetzt das erste Mal sagte, wusste er, dass es stimmte. Ryder fuhr mit seinem Daumen nochmal über Ryans Wange, bevor er sich wieder löste. „Wir dürfen nur das Nötigste mitnehmen. Du hast doch sowieso nicht so viel, oder? Und vielleicht zwei Schwerter, um uns zu verteidigen…“ „Ryder, warte mal.“ Ryan ging zu Ryder rüber, der schon voller Tatendrang sein Zeug aufs Bett schmiss. „Vielleicht sollten wir wenigstens nochmal kurz darüber nachdenken…“ „Wir sollten keine Zeit verlieren, Ryan.“ Er schaute kurz über seine Schulter. „Was gibt es da zu überlegen?“ „Vielleicht sollte ich nochmal mit meiner Großmutter reden.“ Als Ryder wieder ganz ungehemmt Sachen auf sein Bett schmiss, packte Ryan ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich um, damit er ihm auch mal wirklich zuhörte. „Ryder – du hast auch mich überzeugt, okay? Gib mir wenigstens die Möglichkeit, zu versuchen, meine Großmutter zu überzeugen. In aller Ruhe.“ „Ich glaub nicht, dass du jetzt nochmal ruhig mit ihr reden kannst…“ „Dann eben nicht jetzt, sondern morgen! Aber gib mir wenigstens noch die Möglichkeit, bevor wir Hals über Kopf abhauen, okay? Sie wird heute nichts mehr machen, es ist schon dunkel, sie wäre wahnsinnig jetzt noch durch den Wald zu gehen…“ Ryder schaute ein paar Momente noch zweifelnd zu ihm, ließ dann aber seine Schultern hängen. „Okay…“, murmelte er. „Aber wenn es nicht klappt, verschwinden wir, ja?“ „Versprochen.“ Ryan atmete erleichtert auf. „Aber heute beruhigst du dich erstmal.“ Ryders Mundwinkel zuckten kurz nach oben, gefolgt von einem Nicken. „Okay…“ Er rieb sich über den Nacken. „Wollen wir dann schlafen gehen? Auch wenn ich nicht glaub, dass ich schlafen kann, aber ich will…“ „Mit mir kuscheln?“ Ryan grinste. „Verdammt gerne.“ „Mhm.“ Ryder lächelte nochmal, schob dann aber das Zeug auf seinem Bett zur Seite und zog ihn zu sich. Ryan ließ sich nur allzu gerne aufs Bett ziehen; genauso wie er sich allzu gerne in Ryders Arme ziehen ließ. Ah, es fühlte sich einfach sooo gut und so schön ablenkend an! Aber dann ging Ryder noch ein bisschen weiter. Er drückte seine Lippen auf Ryans, erstmal ganz, ganz sanft. Ryan erwiderte den Kuss, während er seine Arme um Ryder legte und ihn an sich drückte. Es fühlte sich gut an, so nahe am Körper von dem anderen Jungen zu liegen und irgendwie machte es den Kuss noch ein wenig intensiver. Noch intensiver machte den Kuss allerdings, als Ryder anfing, seinen Mund leicht gegen Ryans zu bewegen. Dadurch öffnete sich Ryans Mund, schließlich weit genug, dass Ryders Zunge gegen seine stupste. Das hatten sie bisher nicht oft gemacht, aber Ryan ließ sich gerne von seinem besten Freund leiten. Zwar hatte der bisher noch viel weniger Erfahrung als Ryan, immerhin war er nie verlobt gewesen, aber trotzdem schien er genau zu wissen, was Ryan gefiel. Und ja, es gefiel ihm gerade wirklich gut, wie Ryder seinen Körper gegen seinen rieb, wie er es durch seine Berührungen schaffte, dass Ryans ganzer Körper sich heiß anfühlte. Er mochte es auch, wie die sonst so sanften Hände von Ryder ihn fast schon ein wenig grob enger drückten, wie er durch seine Haare fuhr und dadurch ein ganz leichtes Ziehen verursachte… Ryan wollte nicht, dass er damit wieder aufhörte. Aber schließlich tat er es doch, jedenfalls für wenige Sekunden, indem er mitten in den Kuss herein redete. „Ryan…“, brachte er hervor, küsste ihn nochmal – löste sich dann aber doch ein wenig mehr, damit er ihn sehen konnte. „Ryan, ich weiß nicht, ob wir noch viel Zeit füreinander haben…“ Ryans Hände krallten sich automatisch in das Hemd von Ryder. „Sag sowas nicht…“ „Aber wir haben ganz sicher diese Nacht, egal, was passiert. Und vielleicht werden wir auch lange nicht mehr so eine private, gemütliche Liegemöglichkeit haben…“ Ryan konnte sehen, wie der Adamsapfel des Schmiede-Lehrlings leicht hüpfte. „Und, Ryan, ich will dich wirklich nicht überfordern oder sonst was, aber denkst du wir könnten… heute Nacht…“ Ryan zog verwirrt seine Augenbrauen zusammen. „Was?“ Ryder nahm einen tiefen Atemzug. „Miteinander schlafen?“ Okaaay? Äh… „Was?“ Und vor allem: „Wie?“ Ryder blinzelte ein paar Mal verblüfft. „Kannst du dir nicht vorstellen, wie?“ „Uh…“ Nein, wenn er ehrlich war nicht. Aber jetzt kam es ihm irgendwie blöd vor, dass er da bisher noch gar nicht richtig drüber nachgedacht hatte. „Wenn du willst, dann – dann kann ich dir das zeigen, okay?“ ‚Aber wir sind doch nicht verheiratet!‘ – Die Worte lagen ihm auf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus. Ryder und er waren noch so viel mehr nicht, was eine Voraussetzung für das konforme, normale miteinander schlafen wäre, also wen kümmerte es? Und wenn es helfen würde, diesen unbändigen Druck in seiner Hose zu verarbeiten, und das auch noch auf eine wahrscheinlich unheimlich schöne Art und Weise, dann war Ryan mehr als bereit das zu tun. „Okay.“, erwiderte er also am Ende schließlich nur, vielleicht auch ein wenig zögerlich. Er mochte zwar den Gedanken daran nicht, dass Ryder dachte das hier wäre ihre womöglich letzte wirkliche Möglichkeit dazu, aber er wollte es trotzdem. Also warum nicht? „Sicher?“ Ryders Wangen waren vor Aufregung schon ganz rot. „Sicher!“ Ryan lächelte nochmal kurz. Ryder überwand wieder die Distanz zwischen ihnen, um ihn kurz zu küssen. „Dann… müssen wir uns zuerst ausziehen. Ganz.“ Ja, das machte wirklich Sinn. Ryan wollte gerade nach seinem Umhang griffen, doch Ryders Hände waren ihm voraus und lösten den Konten genauso schnell und geschickt, wie Ryans Hände das getan hätte. „Kann ich dich ausziehen?“, fragte Ryder leise. „Das wollte ich schon immer machen.“ Ryan fühlte sein Herz pochen, aber er nickte schnell. Mit großen Augen sah er Ryders Händen dabei zu, wie sie erst unter den roten Mantel schlüpften und schließlich so sanft über seine Schulter fuhren, um den Mantel darüber zu ziehen. Das klappte aber nur an einer Seite wirklich gut, sodass Ryan und Ryder sich schließlich im Bett aufsetzen mussten, bevor Ryder weiter machen konnte. Den Mantel faltete Ryder schließlich sorgsam zusammen, bevor er ihn über die Bettkante legte – und sich anschließend vorbeugte, um Ryans Hals zu küssen. „Ich glaube, ich hab dir zu selten gesagt, wie unglaublich gut du aussiehst“, murmelte Ryder gegen Ryans Hals, während seine Hände an dessen Seiten herab wanderten und sich unter den Stoff des Hemdes schlichen. So eine Aussage hörte Ryan nicht zum ersten Mal, immerhin hatte es schon einen Grund, wieso er so viele Verlobte gehabt hatte. Aber das von Ryder zu hören bedeutete ihm viel mehr, aus irgendeinem Grund heraus. Genauso wie sich sicher noch nie Lippen so gut angefühlte hatten, die einfach nur seinen Hals küssten… Ryders Hände fuhren an Ryans nackter Seite entlang, unter dem Hemd. Sie wanderten zu seinem Rücken, den Ryan alleine wegen dieser Berührung und vor Erregung leicht durch drückte. Ryder hinderte das aber nicht daran, seine Handflächen nach oben wandern zu lassen, wobei seine Fingerspitzen über Ryans Wirbelsäule strichen. Schließlich waren Ryders Hände so weit oben, dass Ryan seine Arme nur noch leicht hoch nehmen musste, damit er ihm das Hemd über den Kopf ziehen konnte. Das machte er auch, küsste aber gleich wieder seinen Hals, nachdem er auch das Hemd über die Bettkante gelegt hatte. „Deine Lippen sind so…“ – Ryan vollendete den Satz nicht, weil sein Vokabular nicht umfangreich genug war um zu beschreiben, wie sich Ryders Lippen anfühlten. Ryder erwiderte nichts – aber er musste auch gar nichts mehr sagen. Sie brauchten keine Worte mehr, um weiter zu machen; es reichte, sich einfach darauf einzulassen. Ryder ließ sich neben Ryan ins Bett fallen, zog ihn aber gleich in seine Arme. Er lachte, auch wenn man das unter dem schweren Atmen kaum hören konnte. Auch Ryan grinste zufrieden, während er den warmen Körper seines besten Freundes (und wahrscheinlich mehr, jia) an sich zog. Hätte er gewusst, dass das hier möglich war, dann hätte Ryan das schon bei der ersten Massage vorgeschlagen. Als er am nächsten Morgen aufwachte, lag er alleine im Bett. Verwirrt und noch etwas schlaftrunken richtete er sich auf, während er mit seinen Händen die Müdigkeit aus seinen Augen rieb. Die Erinnerungen an den gestrigen Abend kamen sehr schnell wieder und zauberten ihn auch ein Grinsen auf die Lippen, aber trotzdem fragte er sich auch, wo Ryder denn jetzt war. Die Frage beantwortete sich dann aber doch ziemlich schnell, als die Tür zu Ryders Zimmer aufging. „Oh… du bist wach“, stellte Ryder (der übrigens bloß in Unterwäsche war…) fest. „Schau, ich hab hier ein bisschen Brot aus eurer Bäckerei für dich… mit ein bisschen Käse.“ Er hielt einen Holzteller hoch, bevor er zu Ryan ans Bett ging und sich neben ihm setzte. Er küsste ihn auch schnell, wobei er den Holzteller neben Ryan aufs Bett legte. „Danke“, erwiderte Ryan, immer noch grinsend als er nach dem Teller griff und auch gleich anfing, das noch warme Brot zu essen. Mh, köstlich! Die einzige Beschwerde, die Ryan jetzt noch hatte war, dass sein Hintern weh tat, aber damit konnte er ehrlich gesagt gerade echt gut leben. „Kein Problem…“ Ryder fuhr mit seiner Hand nachdenklich über Ryans nacktes Knie, während der das Brot ganz gemächlich verschlang. Nachdem er alles vertilgt hatte, was auf dem Teller war, beugte er sich nochmal zu Ryder rüber, um ihn einen Kuss auf die Wange zu hauchen. „Mit dir zu leben wird das Beste, was mir je passiert ist.“ Das hier jeden Tag zu haben wäre jedenfalls ganz sicher die Erfüllung all seiner Träume. „Das kann ich nur zurückgeben…“ Ryder lächelte. „Aber bevor du das machst…“ „Ja – ja, ich sollte zu Großmutter.“ Ryan seufzte, rutschte aber vom Bett und klaubte auch schnell die Klamotten auf, von denen Ryder mittlerweile auch die Restlichen sorgsam über die Bettkante gelegt hatte. „Auch wenn ich gerade nichts dagegen hätte, sofort mit dir weg zu rennen…“ „Vielleicht müssen wir das ja auch gar nicht“, lenkte Ryder ein. „Aber dann würde ich trotzdem wollen, dass du bei mir einziehst.“ Ryan lächelte breit. „Unbedingt.“ Konnte das Leben überhaupt noch perfekter werden? Egal was heute passieren würde, er würde seine restliche Zeit des Lebens mit Ryder verbringen können. Nichts konnte das jetzt noch verhindern, wirklich gar nichts. „Packst du dann schon mal unser Zeug zusammen? Damit wir dann direkt abhauen können?“, fragte Ryan nach, als er sich gerade sein Hemd überwarf. „Aber ich weiß nicht, ob ich dich alleine gehen lassen will…“ Ryder seufzte. „Ich mein, natürlich würde deine Großmutter dir nie was tun, aber – “ „Genau. Es wird nichts passieren, Ryder, okay? Kümmer‘ du dich einfach um unser Zeug. Du kannst einfach bei uns reingehen, du weißt ja sicher, was ich alles mitnehmen will, richtig?“ Ryder nickte langsam. Natürlich wusste er es, er war immerhin sein bester Freund! Und es war zugegeben nicht ihr erstes Mal der Plan, weg zu rennen, auch wenn sie es wohl nie so ernst wie jetzt gemeint hatten. „Vielleicht sollten wir aber auch gleich gehen. Ich meine, deine Großmutter…“ „Nein, bitte. Ich muss es wenigstens versuchen.“ Ryder schien von der Tatsache wirklich nicht begeistert zu sein. Um ihn zu beruhigen, küsste Ryan ihn auch gleich nochmal, bevor er ihm ein Lächeln schenkte. „Danach können wir sofort verschwinden.“ „Ich weiß nicht…“ Ryder zuckte leicht mit seinen Schultern. „Ich hab das Gefühl, dass es nicht gut endet, wenn du jetzt noch zu deiner Großmutter gehst…“ „Dann hör mal auf mein Gefühl, denn das sagt mir, dass wir heute Abend das von letzter Nacht wiederholen werden.“ Er grinste, beugte sich nochmal vor und gab Ryder einen weiteren Kuss. „Verstanden?“ Ryder erwiderte seinen Blick. Er sah immer noch nicht 100%ig überzeugt aus, aber er nickte schließlich doch langsam. „Okay…“ „Gut. Dann bis später.“ Ryan lächelte nochmal, bevor er sich auch seinen Mantel schnappte, um seine Schultern warf und das Zimmer verließ. Es widerstrebte ihm ehrlich gesagt auch, sich jetzt überhaupt nochmal von Ryder zu trennen, aber es war ja auch nicht für lange. Er würde schließlich sehr bald zurückkommen. Ryders Eltern saßen schon am Esstisch (daher hatte Ryder das Brot also!) und schauten auf, als Ryan das Zimmer verließ. „Guten Morgen, Ryan“, grüßte sein Vater ihn. In seiner Stimme lag ein unverhohlenes Amüsement. „Hast du gut… geschlafen?“ Oh, wow. Okay, sie waren ja gestern auch nicht gerade leise gewesen. Aber… oh, das war jetzt schon ziemlich peinlich. „Mhm.“ Ryan merkte, wie er rot anlief. „Ich… muss zu meiner Großmutter. Auf Wiedersehen…“ Und dann hatte Ryan auch so schnell es ging die Hütte verlassen, bevor es noch peinlicher werden würde. Also dann – auf zu seiner Großmutter! Auf dem Weg überlegte Ryan sich schon, was er alles genau sagen würde. Er tendierte zu einer Standpauke, aber er wollte seine Großmutter auch nicht unbedingt aufregen; das wäre sicher nicht förderlich. Aber ganz nett konnte er auch nicht sein… und er wusste, dass seine Großmutter unheimlich stur sein konnte… Trotzdem hatte er sich doch ziemlich festgelegt, als er die Hütte schon fast erreicht hatte. Er würde sie für gestern schimpfen, aber er würde auch gleichzeitig auf die Tränendrüse drücken müssen, um ihr zu erklären, wie unglaublich wichtig ihm Ryder war. War er ja auch! Er musste es nur irgendwie klar machen und wie funktionierte das bei alten Menschen besser als ein bisschen zu weinen? Wahrscheinlich würde es trotzdem nicht klappen, aber den Gedanken mit Ryder weg zu rennen fand Ryan auch überhaupt nicht mehr schlimm. Ryder konnte ihn ja auch beschützen, so in seiner Wolfsgestalt, richtig? Aber zu Ende konnte er das alles dann doch nicht mehr richtig denken. Denn kaum, dass er die Hütte seiner Großmutter erreicht hatte, merkte er, dass hier irgendwas gewaltig schief lief. Die Tür der Hütte war aus ihren Angeln gerissen – was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war, wenn man bedachte, wie geschützt diese Tür war. „Großmutter?“, fragte Ryan. Seine Stimme klang panisch, das merkte er selber. Plötzlich waren all die vorwurfsvollen Gedanken wie weggewischt, als er zu dem Türrahmen rannte, sich rein stellte… und bei dem Anblick, der sich ihm bot, fast in Ohnmacht fiel. Überall war Blut. Wirklich überall, selbst auf einem vergessenen Blech voller Kekse, das auf dem Ofen stand. Aber auch auf dem Esstisch, an der Feuerstelle, auf den sorgsam aufgestellten Kräutern… und da, auf dem Boden, direkt vor dem Kamin, an der Stelle an der vor noch ein paar Monden Aaron gelegen hatte; da lag seine Großmutter. Oder eher das, was von ihr übrig geblieben war. Ihr ganzer Körper war zerfetzt, ihr Kopf davon abgetrennt. Oder eher abgerissen, wenn man sich ansah, wie viele Reste noch daran waren. Der Anblick war nicht nur unglaublich schockierend, sondern natürlich auch dementsprechend ekelerregend: Ryan schaffte es gerade noch bis vor die Tür, bis ihm das Brötchen vom Morgen wieder hochkam. Anschließend an das Erbrechen kamen Tränen. Das, was er da gerade gesehen hatte, das… konnte nur ein bestimmtes Wesen gemacht haben. Und zwar ganz sicher kein Mensch… Und natürlich, seine Großmutter war eine Bedrohung gewesen, sie hatte gestern versucht, Ryder umzubringen… und Ryder war heute Morgen nicht neben ihm aufgewacht… er hatte nicht mal gewollt, dass Ryan zu seiner Großmutter ging… Ihm wurde fast wieder schlecht. Seine Großmutter war tot und, schlimmer noch, Ryder hatte sie umgebracht. All die Euphorie, die er eben noch gespürt hatte, die Visionen vom perfekten Leben waren sofort wie weg gewischt. Er konnte nicht mit Ryder weg rennen, das hatte er nie gekonnt. Ryder war ein Mörder, seine Großmutter hatte recht gehabt. Nur weil Ryan so verdammt stur gewesen war, war sie jetzt tot. Er war schuld an dem Tod seiner eigenen Großmutter; nur, weil er Ryder hatte vertrauen wollen! Er kam sich so nutzlos vor. So nutzlos und verloren… was sollte er denn jetzt tun? Natürlich, er konnte Ryder das nicht durchgehen lassen. Er hatte ihn sowieso viel zu viel durchgehen lassen. Wenn er auch das mit seinen Verlobten gewesen war, wenn er all diese Menschen getötet hatte – und wer sonst wenn nicht er soll das gewesen sein? – dann hätte Ryan wirklich schon längst handeln müssen. Und das… das würde er jetzt tun. Er wusste zwar, dass er auch das Silbermesser aus der Hütte seiner Großmutter holen könnte, aber er wusste auch, dass er nicht nochmal dieses Massaker anschauen konnte. Wirklich alles, nur nicht das. Stattdessen versuchte er erstmal vor der Hütte, all seine Sinne zu sammeln. Er brauchte eine ganze Weile, aber schließlich schaffte er es doch, sich wieder aufzurappeln. Okay, dann musste er jetzt wohl zurückgehen und – und tun, was getan werden musste. Irgendwie. Auch wenn er nicht wusste, wie er das schaffen sollte, aber es musste jetzt passieren. Immer noch wie gelähmt trottete Ryan langsam zurück, über den Weg, der ihm jetzt ungefähr zehn Mal so lang vorkam wie normalerweise. Wahrscheinlich brauchte er auch zehn Mal so lange, aber sein ganzer Körper und all seine Gefühle fühlten sich sowieso taub an. Doch auch das änderte sich wieder, als er in die Nähe des Dorfs kam. Schon aus der Ferne waren Schreie zu hören, Schreie, die viel zu lange in Ryans Ohren widerhallten. Panische Schreie. Wie von alleine wurden Ryans Schritte schneller, bis er schließlich über den Waldboden huschte, zwischen den Bäumen hervor rannte… und dann erstmal ein paar Sekunden brauchte, um das Bild zu verarbeiten. Ja, dort mitten auf dem Platz war Ryder. Und ja, er war verwandelt; und Ryan erkannte auch sofort den Grund, wieso er noch nicht weg gerannt war. Er war umzingelt von Leuten, die ihn mit Schwertern, Fackeln und sogar Heugabeln angriffen. Ein wenig entfernt lagen zwei Leichen, von denen Ryan sich nicht sicher war, ob sie von dem wütenden Mob um Ryder kamen, oder ob es tatsächlich Ryder gewesen war. Ein paar der Hütten um Ryder standen in Flammen, aber jedenfalls das musste an der Unvorsichtigkeit der Bürger liegen. Als Ryan sich aber ein bisschen näher voran arbeitete, erkannte er, dass Ryder noch einen Grund hatte wieso er noch nicht geflohen war. Seine ganze Seite war zerfetzt und blutig. Das Fell des Wolfes war an der Seite de facto nicht mehr da, es war, als hätte jemand ihm ganz einfach den halben Körper rausgerissen. Aber wie?! Und wer?! Keine menschliche Waffe konnte ihm etwas anhaben! Selbst wenn, wie sollte ein Silbermesser so einen animalischen, riesigen Schaden anrichten? Ryder war schwach. Er kämpfte nicht, er jaulte nur dann und wann schmerzerfüllt auf. Das Bild sah im Schein der Flammen noch viel grausamer aus und Ryan merkte, wie sich sein Herz zum zweiten Mal an diesem Tag zusammenzog. Ja, er hatte selber entschlossen, Ryder zu töten, aber Ryder tatsächlich so zu sehen, zu sehen, wie der wütende Mob ihn zurichtete: es war zu viel, viel zu viel. Er musste etwas tun. Und er wusste auch so ziemlich genau, was. Ohne Rücksicht auf die spitzen Gegenstände und Fackeln schlug er sich durch die Leute durch, die sich nur schwer bewegen ließen. Ein paar versuchten ihn zurückzuhalten und ihm zuzuschreien, dass das hier kein Ort für ihn wäre, aber natürlich ignorierte er das. Weiter mittig kamen mehr Soldaten, an denen Ryan sich aber auch achtlos vorbei arbeitete. Er hatte nur ein Ziel vor Augen und wenn er das nicht mehr rechtzeitig erreichte, wäre es vielleicht zu spät. Zu spät für alle Umstehenden, aber vor allem zu spät für Ryder. Aber er schaffte es. An dem letzten, innersten Kreis kämpfte er sich noch mit einiger Mühe vorbei, bevor er in eine nähere Fläche kam. So nah traute sich doch niemand an den Wolf, hier vertrauten sie nur dem kühlen Eisen und Fackeln, die sie aber jedenfalls auf Ryans Seite wegzogen, als er so nahe ging. „Geh zurück, Rotkäppchen!“, hörte Ryan ein paar Leute grölen, gefolgt von „Er wird dich töten!“ Doch Ryan wusste, dass er das nicht tun würde. Jetzt, aus der Nähe, konnte er die Verletzung des riesigen Wolfes noch viel besser erkannte. Die Risse waren tief, viel zu tief. Da, wo die Risse noch nicht genug ausgemacht hatten, waren Schnittwunden mitten in der schon blutenden, offenen Stelle. Offensichtlich waren die inneren Organe von Ryder nicht ganz so geschützt, wenn die beschützende Haut ihm abgerissen wurde. „Ryder…“ – Es war mehr ein atemloses Wort als dass er es wirklich aussprach und es ging sowieso in dem Gejohle der Menschenmenge unter. Aber Ryders Werwolfsinne schienen es trotzdem zu hören, denn seine Ohren zuckten schwach nach oben, als er sich so halb drehte, um zu Ryan zu schauen. Seine großen, braunen Augen richteten sich auf Ryan. Er ging mittlerweile schon auf allen vieren, wahrscheinlich, weil zwei Beine seinen verletzten Körper nicht halten konnten. So war er fast sogar ein bisschen kleiner als Ryan, aber sie waren fast auf Augenhöhe; und so konnte Ryan jetzt auch seine Hand ausstrecken, um seine Hand an Ryders Gesicht zu legen, so, wie er es bei ihm so oft gemacht hatte. „Ryder…“, flüsterte Ryan nochmal. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er die Augen seines besten Freundes sah. Natürlich, er hatte die Wunden gesehen, aber nichts auf der Welt hätte ihn auf den Schmerz in Ryders Augen vorbereiten können. Wie hatten die Leute nur immer weiter machen können!? Wie hatte irgendwer es wagen können, dieser armen Kreatur weiter Schmerzen zuzufügen…? „Oh, Ryder…“ Mittlerweile hatten die Leute aufgehört, auf Ryder einzustechen, aber Ryan bemerkte das gar nicht. Er schlang seine Arme um den Wolfskopf seines besten Freundes, ungeachtet dessen großer Zähne, ungeachtet seiner furchteinflößenden Gestalt. Er schluchzte in das Fell des Wolfes, wobei seine Hände sich in das dichte Fell gruben. „E-es tut mir so Leid, Ryder“, schniefte er. „Ich hätte dich nie… n-nie alleine lassen dürfen…“ Das ganze Dorf schien verstummt zu sein. Das einzige, was man im ganzen Ort hören konnte, war das Flackern der Feuer, das schmerzerfüllte Winseln des riesigen Wolfes und das Schluchzen von dem Rotkäppchen, das um eben diesen Wolf weinte. Schließlich spürte Ryan, wie das Fell unter seinen Fingern sich zurückbildete. Er presste seine Augen zusammen, als der Wolf kleiner wurde und Ryan dementsprechend in die Knie ging, weil er ihn ganz sicher nicht loslassen wollte. Schließlich schaffte es der Wolf – oder mittlerweile eher der Mensch – seine Arme ebenfalls um Ryan zu legen, wenn auch viel schwächer als Ryan das tat. Wahrscheinlich machten die Umstehenden in dem Moment ein paar erschrockene Geräusche, aber Ryan blendete das aus. Für ihn zählte nur noch Ryder, der jetzt nochmal in seinen Armen liegen konnte. Durch den Tränenschleier hindurch konnte Ryan zwar nicht viel erkennen, aber genug um zu sehen, dass die Wunde in der menschlichen Gestalt noch viel schlimmer aussahen als eben noch. Nicht nur, dass Ryders halbe Seite aus ihm heraus gerissen wurde, sondern auch an seinem restlichen Körper waren überall Kampfspuren. Kratzer, vielleicht von den Heugabeln und Schwertern. Ryder konnte nicht mal mehr richtig atmen. Er hustete dauernd, wobei sein ganzer Körper mit erbebte. „R-ryan…“ Seine Stimme klang noch schwächer. Ryan drückte ihn enger und fuhr mit seiner Hand über Ryders Nacken, wobei seine eigene Hand auch zitterte. „Sssh…“, gab Ryan zittrig zurück. „E-es ist gut… Alles ist gut…“ „I-ich…“ Er hustete wieder, wobei er sich ein wenig enger an Ryan krallte. Nur hatte er keine Kraft mehr, man fühlte es kaum – und verglichen damit, wie viel Kraft er davor gehabt hatte, war das nur noch viel trauriger. „… w-war’s nicht. H-hab… n-niemanden…“ Er hustete wieder, scheinbar unfähig, den Satz zu vollenden. „D-du hast niemanden getötet“, vollendete Ryan den Satz für ihn. „Ich glaube dir. Du bist kein Monster, Ryder… I-ich…. Ich liebe dich…“ Ryder schluckte. „Ich… liebe…“ Seine Stimme wurde immer schwächer. Noch bevor er den Satz vollenden konnte, erstarb sie ganz; genauso wie auch das Zittern von Ryders Körper erstarb, von einem Schlag auf den Anderen. Ryan wusste, was das bedeutete. Sein eigenes Schluchzen wurde heftiger, während er den Körper des jetzt toten Jungens an sich drückte. Um ihn herum begannen die Leute was zu sagen, einer, vielleicht Ryders Vater, schrie sogar nach seinem Sohn. Viele begannen durcheinander zu reden, darüber, was sie gerade gesehen hatten und überschlugen sich mit ihren eigenen Erzählungen. Für Ryan fühlten sich diese ganze Stimmen aber nur wie ein weit entferntes Rauschen an. Es gab für ihn nur sich selbst und den leblosen Körper, den er stumm schluchzend an sich drückte, während er seinen Oberkörper leicht vor und zurück wippte. Er konnte sich nicht daran erinnern, Ryder jemals losgelassen zu haben. Trotzdem lag er jetzt hier, alleine und zusammengekauert in seinem Bett. Tage vergingen, ohne dass Ryan viel essen oder trinken würde. Die Leute wunderten sich über ihn, aber er sagte zu niemanden mehr auch nur ein Wort. Nicht zu seiner Familie, nicht zu seinen Freunden, nicht zu den Ärzten, die ihn besuchen kamen. Er wurde krank, entweder vor Trauer oder weil er so wenig Nahrung in sich aufnahm. Wahrscheinlich war es Beides. Aus den Tagen wurden Wochen, aus den Wochen wurden Monate. Die Leute begannen ihn wieder zu vergessen, begannen wieder, Ryder zu vergessen. Ryan wurde zu nichts mehr als einem Pflegefall, der ein traumatisches Erlebnis gehabt hatte. Erst Monate später sollten wieder Schreie durch das Dorf jagen. Ryan, der nur monoton im Bett gelegen hatte, schaute auf. Diese Klänge erinnerten ihn zu sehr an diese eine Nacht. Viel zu sehr… Ryan stand sogar alleine vom Bett auf, etwas, wofür ihn sein Vater wahrscheinlich gelobt hätte. Barfuß tapste er bis zu dem Fenster seines Zimmers. Vom Bett aus her hatte er eben noch gedacht, dass es Tag war. Jetzt, am Fenster, konnte er erkennen dass es eigentlich tiefste Nacht war und lediglich einige Hütten so lichterloh brannten, dass sie ihre Umgebung in furchteinflößendes Licht einhüllten. Alarmiert band er sich seinen Umhang um. Das erinnerte ihn noch mehr an diese eine Nacht – und es machte ihn noch viel nervöser. Er verließ schnell seine Hütte. Die Leute rannten panisch durcheinander, wobei ein paar zu Ryan schauten und geschockt wirkten, dass er überhaupt auf den Füßen war. Auf dem Boden lagen einige, zerfetzte Leichen, die Ryan nicht weiter beachtete. Er wollte nicht noch mehr bekannte, tote Gesichter sehen. Je länger Ryan durch das verwüstete Dorf ging, desto mehr Leichen fand er, die meisten bis zur Unkenntlichkeit zerrissen. Ein paar Leute kamen ihm entgegen und riefen ihm zu, dass er in die andere Richtung gehen sollte, aber Ryan hatte in den letzten Monaten gelernt, Menschen einfach zu ignorieren. Schließlich fand Ryan das, was er gesucht hatte. Ein riesiger Wolf, der auf zwei Beinen ging. Auf offener Straße zerriss er den Brustkorb eines Menschen, während er mit seinem riesigen Kiefer den Kopf der Person abriss. Ryan erstarrte bei dem Anblick, merkte aber sofort, dass das nicht Ryder war. Dieser Wolf hatte braunes Fell, dieser Wolf wirkte noch größer. Als der Wolf zu ihm schaute, schaute Ryan immer noch taub zu ihm. Langsam schlich sich der Wolf näher, ließ sich dabei auf alle Viere fallen und zeigte die gleiche Anmut, die auch Ryder in seiner Wolfsgestalt immer gezeigt hatte. Er kam näher, kein bisschen bedrohlich. Ryan fühlte sich auch nicht bedroht, nein, auch wenn er wusste, das von dem Wolf eine Gefahr anging. Zwar fühlte es sich ähnlich wie bei Ryder damals vertraut in seiner Gegenwart an, aber trotzdem wusste Ryan, dass er in Lebensgefahr war. Denn als Ryan in die Augen des Wolfs schaute, waren sie nicht braun. Ryan musste an seine Schwester denken. Judith, die immer eifersüchtig auf Ryans Verlobte gewesen war. Judith, die Ryder aus irgendeinem Grund in Wolfsgestalt verfolgt hatte. Judith, die Ryder so sehr gemocht hatte. Judith, die gesehen hatte, wie ihre Großmutter Ryder bedroht hatte. Judith, die Ryder an dem Tag getroffen hatte, nachdem Ryan auch mit ihm geschlafen hatte – an dem Tag, an dem Ryder angegriffen worden war. Judith, seine kleine, unschuldige Schwester, die nicht mal einem Schmetterling etwas tun könnte. Judith, dessen kristallklaren, blauen Augen ihn jetzt fixierten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)