My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 22: Das Monster ----------------------- Seine Nähe war so angenehm und doch beängstigend anziehend. Ich könnte es jedes Mal denken, jedes verdammte Mal, wenn wir uns berührten. »Hiro …«, flüsterte er sachte meinen Namen, während er mir fest in die Augen sah. Wir durften das nicht tun; würde Vater uns nur noch einmal erwischen, müsste er gehen. Wegen mir. Wegen meiner mangelnden Selbstbeherrschung. Wir legten unsere Stirn aufeinander, versinkend in den Augen des anderen. Diese Augen, die aussahen wie meine, dieses Gesicht, das meinem so ähnelte, diese vampirische Aura, die mich so fesselte.   Das war also Liebe.   Ich wendete meinen Blick abwärts, legte meinen Kopf etwas schräg und näherte mich seinen Lippen. Tatsächlich hielt er still, schloss seine Augen und wartete ab, was ich tat. Das gefiel mir so unglaublich. Unsere Lippen berührten sich kurz. Sachte lagen sie auf­einander, bis ich meine etwas stärker an seine drückte. Mit leichten auf und zu Bewegungen unserer Lippen genossen wir den leidenschaftlichen Kuss. Ich spürte, wie ihm das gefiel, wie sein Kuss energischer wurde. Dabei sollten wir nichts über­stürzen … Wenn er jetzt weitermachen würde, könnte ich vielleicht nicht mehr an mich halten. Vielleicht würde ich dann da weitermachen, wo wir aufgehört hatten. Und das wäre ganz und gar nicht gut gewesen. Wir lösten unsere Hände von­einander. Er schlang seine um meinen Nacken, während ich meine Hände auf seinen Rücken legte. Vorsichtig strich ich über sein schwarzes Hemd. Die Erinnerung an gestern Nacht kam zurück und erweckte in mir große Sehnsüchte. Doch ich durfte nicht. Ich durfte einfach nicht, auch wenn ich danach verlangte. Sanft drückte ich ihn von mir. Er sah mich etwas perplex an, verstand wahrscheinlich nicht, wieso ich ihn abwies. Sofort zog ich ihn wieder an mich, legte aber nur meine Stirn auf seine. »Wir dürfen nicht … Wenn sonst, dann …«, flüsterte ich ihm entgegen. Er nickte nach einigem Zögern. »Ich weiß …«, flüsterte auch er, setzte aber erneut zum Kuss an. Ich wich zurück. »Kiyoshi, ich mein es ernst. Wenn Vater uns erwischt, war’s das mit unserem bisherigen Kontakt.« Sein Blick senkte sich. Dann nickte er erneut, diesmal mit mehr Einsicht. »Okay … Du hast Recht, sorry.« So locker? Meine Art zu Reden färbte wohl genauso auf ihn ab, wie seine auf mich. Wir lösten uns voneinander; nur bedingt damit einverstanden ließen wir uns los. Wir standen uns gegenüber, wie bestellt und nicht abgeholt. Starrten beide auf den Boden und warteten irgendetwas ab. Ich bemerkte, wie Kiyoshi kurz seine Lippen aufeinander drückte. »Ich geh dann lieber mal in mein Zimmer. Ist ja schon spät.« Damit setzte er niedergeschlagen zum Gehen an. Doch ich packte ihn unbewusst wieder am Handgelenk. Er drehte sich zu mir um und wartete ab, was ich tat. Vorsichtig hob ich seine Rückhand an und küsste ihn sachte, sah in seine Augen. Sein Blick weitete sich überrascht. »Gute Nacht, Kiyoshi …«, sagte ich mit einem sanften Lächeln und ließ seine Hand wieder los. Langsam sank sie wieder zu ihm. Er lächelte mich an. Als hätte ich ihm die größte Zuneigung in seinem bisherigen Leben geschenkt. Er sah glücklich aus. So glücklich hatte er noch nie gelächelt. Es schien, als ob er alle Depres­sionen vergessen hatte. Wie mein Herz klopfte, als er mich auf diese Weise anlächelte. »Danke … dir auch«, hauchte er leise. Damit verschwand er endgültig.   Ich hatte zwar keine genaue Ahnung, was ich da grade getan hatte, war aber stolz auf mich, dass ich es geschafft hatte, ihn zum Lächeln zu bringen. Auch noch zu einem solch glücklichen Lächeln. Wie festgewurzelt stand ich am Schreibtisch und starrte auf die geschlossene Tür. Ich seufzte dann kurz, der Euphorie wieder nachblickend. Meine Hand­lungen wurden von Mal zu Mal komplizierter. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Langsam drehte ich mich zum Fenster. Die Sonne stand noch tiefer als vorhin und nur wenige Strahlen kamen in den abgedunkelten Raum. Ich ging zum Band der Rollläden und ließ sie mit einem lauten Aufschlag vollständig herunter­fahren. Ich konnte zwar nicht gut sehen, aber einiges wurde allmählich klarer. Vorsichtig zündete ich die schwarze Kerze mit dem Feuerzeug aus der Schublade an. Ein gedämpftes Licht er­hellte meinen Raum. Ich legte das Stück Plastik wieder zurück in die Schublade und setzte mich wieder auf den Stuhl. Aus Langeweile spielte ich ein wenig mit der Kerze. Ob er die gleichen Gefühle hat? Ob er diese Gefühle für mich empfindet? Immerhin deutete alles darauf hin. Kaum verkenn­bar, dass er es nicht wollte. Eine kleine Hitzewelle durchfuhr mich bei dem Gedanken an letzter Nacht. Diese Bilder wollten mir nicht aus dem Kopf gehen. Mein damaliger Traum wäre beinahe Wirklichkeit geworden. Dieser Tagtraum, der einerseits seinen Reiz hatte, aber andererseits unglaublich widerlich war. Verbunden mit meinem anderen Traum, in dem Kiyoshi und ich auf dem Friedhof waren und Vater unsere Herzen in seinen Händen zerquetschen wollte, dachte ich schon fast, ich könnte Hellsehen. Aber der Gedanke erwies sich als absurd, als ich weitere Träume von mir durchging und keiner von denen in Erfüllung ging. Mit meinem Zeigefinger durch die Flamme gehend, lauschte ich der Stille. Ich musste nur noch einige Stunden warten. Vielleicht sollte ich etwas schlafen? Mein Blick fiel auf mein Bett. Nicht, dass ich verschlafe. »Noch knappe vier Stunden …«, murmelte ich. Ich war weder müde noch wollte ich schlafen gehen. Aber vier Stunden in der Nacht schienen unendlich lange zu dauern. Gerade dann, wenn ich nichts zu tun hatte.   Nach mehreren Minuten stand ich auf und ging zu meinem Schrank. Vorsichtig öffnete ich ihn, um jegliches Quietschen zu vermeiden. Mit meinen weißen Händen griff ich in den dunklen Schrank, zog ein weißes Hemd raus und meine schwarze Krawatte. Es wäre mal Zeit, sich umzuziehen, der Jogginganzug war mir langsam zu unordentlich. So wollte ich nicht mit ihm reden. Sachte platzierte ich das Hemd mit der Krawatte auf meinem Bett, ging wieder zum Schrank, zog die neue Jeans mit den vielen Nieten und Taschen raus. Kiyoshi mochte sie nicht, trotzdem passte sie zur Stimmung: finster und obskur. Ich zog mir mein T-Shirt aus, schmiss es zusammengeknüllt auf mein Bett und ging weiter ins Kerzenlicht. Kleinlich betrachtete ich meinen Bauch. Er war zwar stramm und hatte für mich kein Gramm Fett zu viel, trotzdem störte mich etwas an ihm. Waren es die blauen Adern, die nun heraus stachen, oder war es die blasse Haut, die mich so mager erscheinen ließ? »So anders …«, flüsterte ich, während ich über meine Haut strich. »Fühlt sich so anders an …« Ich betrachtete ihn weiter, wanderte mit meinen Augen auf meine Arme. Kleine, weiße Härchen wuchsen auf ihnen, kaum erkennbar, aber im faden Schein der Kerze wie fein gesponnenes Garn. Mit einem leichten Kopfschütteln ließ ich von meinem Körper ab, zog meine Jogginghose aus und knüllte sie zusammen. Ich ergriff die schwarze Hose, zog sie an und erinnerte mich kurz an den menschlichen Moment, wo ich in der Umkleide stand und begeistert an der Hose rumfummelte. Sie passte wie für mich geschneidert und sah in Kombination mit dem Hemd gar nicht so extrem aus. Vorsichtig knöpfte ich das Hemd zu, ließ die ersten zwei Knöpfe aus und band die Krawatte locker um meinen Kragen. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich ihn hochgestellt lassen sollte, klappte ihn aber dann doch um, da ich ein bisschen ‚Hiro’ noch beibehalten wollte. Sachte strich ich mir durch meine Haare. Sie waren schon wieder sehr lang geworden, aber so lang wie Kiyoshis Haare waren sie noch lange nicht. Ob er überhaupt mal beim Friseur war? Wahrscheinlich schnitt er sie sich selbst, so sah es nämlich aus. Aber genau diese zerzauste Mähne stand ihm so unglaublich gut. Nur an ihm sah das klassisch aus. Nur an ihm wurden Haare zu einer sexuellen Ausrichtung. Ich richtete grinsend noch etwas meinen Kragen, zog noch ein wenig am Hemdrand, damit das Stück Kleidung richtig saß.   Plötzlich klopfte es an der Tür. »Ja?«, sagte ich und wartete auf die Reaktion. Vorsichtig und langsam öffnete sich die Tür und mein Vater schaute in mein Zimmer. »Hiro? Ist alles klar bei dir?«, fragte er schon fast besorgt und schloss hinter sich die Tür. »Ja, wieso?« Dabei sah ich mich verwundert um. »Es ist so dunkel hier. Willst du nicht das Deckenlicht an­machen?« »Hm, nee. So ist’s angenehmer für die Augen.« »Sicher.« Er nickte kurz und verfestigte seinen Ausdruck. Seine Lippen bildeten eine strenge Linie, wie Kiyoshi es gerne tat. Trotzdem spürte ich seinen musternden Blick auf mir. »Wozu bist du so angezogen?«, fragte er sicher nicht nur aus reiner Neugier. »Nur so«, log ich und sah an mir runter. »Wollte die neue Hose noch mal anziehen.« Er nickte langsam. Eine Schweigeminute trat ein, während sein Blick durch mein Zimmer wanderte. Doch dann brach er die Stille. »Ich bin hier«, fing er an, »um dir kurz gute Nacht zu sagen und mich zu vergewissern, dass du wirklich abschließt.« Ich musste schlucken. »Wieso sollte ich nicht abschließen?« »Na ja. Darüber müssen wir ja nicht reden.« Er räusperte sich kurz. »Mich würde schon interessieren, wieso ich abschließen muss. Den richtigen Grund hast du mir ja noch nicht genannt.« »Kiyoshi kommt gerne vorbei, wenn Türen offen stehen«, murmelte er schon fast. »Wieso schläft er nicht? Wie jeder andere auch.« »Wir sind normalerweise Nachtaktiv. Das solltest du aus den Filmen und Büchern kennen.« »Na ja, normalerweise. Aber ihr bewegt euch ja Tagsüber wie normale Menschen durch die Gänge.« »Das kommt nur durch Kiyoshis Schule. Ansonsten arbeiten wir alle nachts.« Seine Miene wurde angespannt. Er wollte wahrscheinlich nicht so genau mit mir über diese Dinge sprechen. »Arbeiten? Das heißt du bist nur in der Nacht als Privat­detektiv unterwegs?« »So in der Art.« »Wow.« Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen. »Und was ist jetzt mit Kiyoshi? Wieso dreht er so ab, wenn es nachts ist?« »Das kannst du ihn ja selber fragen.« »Willst du es mir nicht sagen?« »Lieber nicht.« Ich seufzte laut auf. Vater machte gerne Geheimnisse um etwas. »Vater. Ich bin schon halb tot. Bin auf bestem Wege, so zu werden wie ihr. Wäre es dann also nicht langsam mal an der Zeit mir zu sagen, was Sache ist?« Mein genervter Unterton wurde von Wort zu Wort stärker, da ich es kaum mehr unterdrücken konnte. In solchen Dingen regte er mich mit seiner höflichen und zurückhaltenden Art einfach nur auf. »Kiyoshi und du seid euch doch schon so nah gekommen. Dann wird er dir sicherlich auch jede Frage beantworten, die du ihm stellen wirst. Ich weise dich nur auf Gefahren hin, weiter nichts. Der Rest liegt bei dir.« Hm. Der Part mit Kiyoshi war hart sarkastisch. »Okay, jetzt habe ich die Gefahr kennen gelernt. Schlauer bin ich trotzdem nicht.« »Schließ einfach ab.« Damit ging er zur Tür und öffnete sie. »Gute Nacht, Hiro. Du bleibst morgen selbstverständlich auch zu Hause.« Dann ging er. Sachte wurde die Tür hinter mir verschlossen. Um ihn glücklich zu machen, ging ich zum Schloss und drehte den besagten goldenen Schlüssel um. Das Gefühl, dass er noch hinter der Tür stand, verschwand in Kürze. Ich seufzte kurz auf. Unglaublich dieser Mann. Ein Wunder, dass meine Mom sich für ihn interessierte. Oder interessiert hatte. Mein Problem war aber nicht er, sondern der Schlüssel. Ich zog ihn aus dem Schlüsselloch und überlegte, wie ich ihn ohne große Umstände auf den Türrahmen bekommen sollte. Natürlich der Türrahmen auf der anderen Seite. Ich überlegte kurz und kam zu dem Entschluss die Tür ohne den Schlüssel irgendwie abzuschließen. Das Schloss sah nach einem einfachen Kegel­schloss aus. Ich hatte so meine Erfahrungen mit Türen in Schulgebäuden. Unsere Schule war nämlich auch nicht mehr die Jüngste und wenn auf die Schnelle kein Lehrer kam, um uns die Tür aufzuschließen, haben wir sie eben selber aufgemacht. Da war nie irgendeine Petze, die den Lehrern gesagt hat, wie böse der Hiro war und die Tür mit einer Haarnadel von Lampe geöffnet hatte. Für andere Dinge habe ich meine Kenntnisse natürlich noch nie verwendet ... Nein. Ich würde niemals in ein Freibad einbrechen. Oder bei Jiro, um ihn zu erschrecken. Nein, nein. Also schloss ich meine Tür wieder auf, sah kurz in den Gang und als ich niemanden entdeckte, legte ich den Schlüssel oben auf den Türrahmen. Sofort verschwand ich wieder in meinem Zimmer und schloss die Tür. Hastig suchte ich nach einer Haarnadel, natürlich besaß ich keine. Dann fiel mein Blick auf den Schreibtisch. Ich rannte zu ihm, öffnete die letzte Schub­lade und entkleidete den Tacker, um an seine Heftklammern zu kommen. Mit viel Gefummel hatte ich das kleine Stück Metall in eine Nadel geformt. Am Ende knickte ich sie etwas, ging zurück zur Tür und steckte die funkelnde Nadel in das Zylinderloch. Es war eine ziemliche Fummelarbeit, aber irgendwann machte es ‚Klack’. Ich drehte noch einmal, um die Nadel wieder aus dem Schloss zu bekommen. Mit einer prüfenden Handbewegung drückte ich die Klinke runter. Die Tür war verschlossen. Das war so krank, so absurd. Ich schloss mich selber in meinem Zimmer ein ohne den Schlüssel bei mir zu haben. Was ich nicht alles tat, nur damit wir in Ruhe irgendwo sein konnten. Ungestörtes Reden oder Handeln war in diesem Haus wirklich undenkbar. Ständig war irgendwer in der Nähe. Das war noch schlimmer als bei meiner Mutter und mir in der kleinen Wohnung. Selbst dort hatte ich mehr Freiheit um die Hüften. Seufzend schmiss ich mich wieder auf den Stuhl und tätigte einen prüfenden Blick auf meine Handyuhr. Kurz nach halb neun war nicht sonderlich spät. Und mir war jetzt schon langweilig. Ich starrte auf den Berg Schmutzwäsche auf meinem Bett. Vor Langeweile stand ich auf und entfernte ihn, schmiss ihn neben meinen Schrank. Legte ihn doch lieber auf meinen Stuhl, aber da wollte ich sitzen, also schmiss ich ihn in den Schrank. Doch da war meine saubere Wäsche, also platzierte ich ihn neben mein Nachttischschränkchen; da sah das ganze Zimmer mit eiem Mal sehr schlampig aus. Ich legte den Schmutzhaufen endgültig auf die Holzkiste und dort würde er auch bleiben. Da stand ich nun. Nichts tuend. Wieder strich ich mir durch die Haare. Mir fiel dieser leichte Fettfilm auf den Fingern auf. Mist, ich hatte tatsächlich vergessen, dass ich noch duschen musste. Da konnte man mal sehen, wo ich im Moment mit meinen Gedanken war. Ich wollte mir schon mein Hemd ausziehen, ließ es aber doch lieber an, da ich noch einen freizu­gänglichen Gang betreten musste. Also knöpfte ich es nur auf, schnappte mir eine Boxershorts und wollte aus dem Zimmer gehen. Erst wunderte ich mich, wieso die Tür abgeschlossen war. Dann riss ich am Türgriff. Ich suchte verzweifelt den Schlüssel. Erst, als ich die kleine Nadel auf meinem Schreibtisch sah, erinnerte ich mich, was ich getan hatte. Etwas genervt griff ich die Nadel und öffnete mit viel Gefummel wieder die Tür. Kurz lauschte ich, ob jemand auf dem Gang war. Als niemand zu hören oder wahrzunehmen war, betrat ich ihn vorsichtig. Hinter mir schloss ich leise die Tür und so schnell ich konnte, rannte ich ins Bad. Da jedes Mal, wenn ich duschen wollte, niemand im Bad war, öffnete ich einfach die Tür. Und schon hörte ich das Wasser rauschen. Sofort drehte ich mich zur Dusche um. In ihr stand er. Splitternackt, unter der Brause, kaum erkennbar durch das Milchglas. Doch es war definitiv er. So viele Leute, die mir so ähnlich sahen, gab es in diesem Haus nicht. Mein Herz klopfte unglaublich. Es machte bis zu seinem Stillstand noch eine ganz schöne Menge mit. So viel Herzklopfen wie in letzter Zeit, hatte ich selten. Beziehungsweise noch nie. Erst als ich meine Boxershorts auf einem der weißen Schränke ablegte und näher zur Duschkabine vortrat, schien er zu bemerken, dass jemand weiteres im Bad war. Sofort steckte er seinen nassen Kopf durch die Duschwand. »Hiro? Was machst du hier?«, fragte er sichtlich überrascht über meinen Besuch; konnte mich sicherlich kaum sehen, da seine langen Haare ihm nass im Gesicht hingen. »Äh … Oh … Ich …«, stotterte ich los und wusste nicht ganz wo ich anfangen sollte. Immerhin stand er nur wenige Meter von mir entfernt, nackig noch dazu und klatschnass. Meine Wangen färbten sich leicht rosa, als mich auch noch seine Augen trafen und nicht loslassen wollten. »Wolltest du auch duschen?«, fragte er erneut, wesentlich entspannter, als ich es war. »Äh, ja. Ja, eigentlich schon, aber wenn du ja grade am duschen bist, dann komm ich gleich noch mal wieder.« Für diesen dämlichen Satz hätte ich mich schlagen können. War es denn nicht der perfekte Moment? Er schien kurz zu überlegen, da er seinen Blick von mir abwendete und auf die Fliesen starrte. Doch auf einmal sah er mich wieder entschlossen an. Mein Herz klopfte noch stärker als vorher. »Ja, ist … besser so, denke ich.« Er nickte kurz und ver­schwand dann wieder in der Dusche. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich meinen Atem angehalten hatte. Langsam ließ ich die aufgestaute Luft wieder raus. Etwas enttäuscht drehte ich mich schon um und ergriff die Türklinke. Noch wartete ich kurz ab. Doch als nichts Weiteres kam, drückte ich die Klinke runter und ging aus dem Raum. Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir. Mit dem Rücken zur Wand wartete ich ab, bis er fertig war. Stumm und starr blickte ich zu Boden und spielte mit dem Gedanken, einfach wieder ins Bad zu stürmen und ihn nieder zu küssen. Immerhin war er schon mal nackt, da würde ich mir einiges sparen. Doch ich fasste mir nur an die Stirn und rieb heftig. »Idiot, Idiot, Idiot …«, flüsterte ich zu mir, während ich meinen Kopf in meine Hände legte. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür einen Spalt. »Also von mir aus, kannst du jetzt wieder reinkommen«, flüsterte Kiyoshi durch den Türspalt. Ich lauschte auf. Es schien, als würde Vater uns wieder abhören. »Okay, danke.« Mit einem leichten Lächeln betrat ich wieder das Bad; bemüht um mehr Selbstbewusstsein. Er stand in nur einem Handtuch um die Hüften vor dem Spiegel und kämmte sich die Haare. Ich konnte gar nicht meinen Blick von seinem Körper abwenden. Es war das erste Mal, dass ich ihn so bei Licht sah. Seinen freien Oberkörper einfach so ansehen konnte. Er war dünn und bleich, ein paar Sehnen stachen heraus. Von den unzähligen Adern mal abzusehen. Ich fühlte mich schon fast dick, als ich seinen schmalen Körper so betrachtete. Aber wenn ich mich direkt neben ihn ihm Spiegel betrachtete, fühlte ich mich gleichzeitig auch muskulöser. Stärker. Dominanter. Ich schüttelte leicht den Kopf und spürte, wie heiß mein Kopf wurde. Kiyoshi, nur in einem Handtuch, stand wenige Meter von mir. Und das aller Beste: Ich zog mich auch aus. Fürs Duschen sollte ich nackt sein. Erst ließ ich das Hemd fallen und faltete es ordentlich neben meiner Boxershorts auf dem weißen Schrank, dann fing ich an meine Hose aufzuknöpfen. Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, da ich ihm meinen Rücken zudrehte, konnte ich seine Blicke spüren. Er beobachtete mich durch den Spiegel hindurch. Wahrschein­lich ging es nicht nur mir so benebelt. Als ich auch meine Hose ordentlich neben meinem Hemd faltete, verharrte ich kurz in meiner Bewegung. Ich überlegte, was ich vom Waschbecken gebrauchen könnte, als Vorwand zu ihm zu gehen. Leise hörte ich das Klacken der Bürste, wie sie wieder auf die Marmorplatte gelegt wurde. Ich überlegte und überlegte, doch mir wollte nichts einfallen. Sofort brach ich den Gedanken ab und fasste mir an meinen Boxershortsbund. Ich wollte duschen gehen, musste dafür diese Hose noch ausziehen. Kiyoshi ist schon so gut wie nackt, ich wäre es dann auch noch. Ich hörte seine Schritte, wie er zum Whirlpool ging. Vor­sichtig drehte ich mich um. Mein Blut schoss mir sofort in den Kopf. Er hatte sein Handtuch weggelegt, hing es um eine der weißen Stangen an der Wand und griff langsam nach seinen Sachen. Ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Das war der Körper, den ich so begehrte. Dieser Körper, der in meinen Fantasien herumspukte, stand vor mir, einfach so, unmittelbar von mir entfernt.   Schnell zog ich meine Boxershorts aus und sprang in die noch offene Duschkabine. Leider vergaß ich, dass der Boden von Kiyoshis Duschgang noch nass war und rutschte mit hoch­rotem Kopf aus. Ein Gepolter der feinsten Art. Ein schmerz­haftes Stöhnen entglitt mir. Ich hörte seine schnellen Schritte näher kommen. Dann lugte er in die Dusche. »Ist alles klar, Hiro?«, fragte er etwas besorgt, den monotonen Unterton nicht ausblendend. Doch versah ich mich? Seine Gesichtsfarbe wurde zartrosa, als er mich splitter­nackt in der Dusche hocken sah. Zum Glück konnte er nichts Wesentliches von mir sehen, da ich auf allen Vieren hockte. Ich blickte zu ihm auf und Grinste. »Alles klar!« Mir war das fürchterlich peinlich, obwohl ich schon schlim­mere Situationen gewöhnt war. Immerhin kannten wir dieses Spiel schon zu gut von damals, wo ich das Duschsystem nicht kapiert hatte. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten, doch Kiyoshi schien keine Anstalten zu machen, sich von der Dusche zu entfernen. Eine kleine Stille trat ein. Kiyoshi hing wie ein kleiner Junge am Rande des Milchglas und starrte auf den Boden. Ich stand genau vor ihm, er hätte nur aufschauen müssen. Aber was hätte ich schon zu verbergen gehabt. Als niemand etwas sagte, räusperte ich mich kurz. »Kiyoshi? Ich … will dich ja nicht von der Dusche scheuchen, aber …«, murmelte ich vor mich hin. »Klar, tut mir Leid.« Mit den leisen Worten löste er sich vom Milchglas und ging zurück zu seinen Sachen. Sachte schloss ich die Tür der Duschkabine und schaltete das Wasser an. Irgendwann, Kiyoshi. Irgendwann duschen wir zusammen.   Das Wasser prasselte auf mein Gesicht, die kleinen Wassertropfen massierten sachte meine Haut. Mit beiden Händen strich ich mir durch die Haare. Ich fühlte mich gut. Ich war weder erschöpft noch übermüdet, keine Kopfschmerzen oder sonstige Beschwerden. Ich spiegelte mich etwas an der glatten Oberfläche der Wand. Meine Augen versanken richtig in ihren schwarzen Kuhlen, während die Wassertropfen über meine kahle Haut flossen, ihre Bahn über meine fast weißen Lippen fortsetzten, um dann von meinem Kinn zu tropfen. Vorsichtig betrachtete ich meine Hände. Es verging so wenig Zeit und ich sah schon so verändert aus. Was wohl in meinem Körper gerade vorging? Mom würde mich nicht wieder­erkennen. Sie würde es merken. Sicherlich. Ich hörte ganz leise im Hintergrund Schritte, bis sich eine Tür öffnete und wieder schloss. Danach trat Stille in den Raum, ausgenommen das Wassergeplätscher. Wir würden uns gleich sehen. Uns treffen. Außerhalb dieses Hauses. Ich war noch nie außerhalb dieser vier Wände mitten in der Nacht. Wenn er sich wieder nicht unter Kontrolle hat? Mir egal. Hauptsache, ich hatte ihn bei mir. Ich musste grinsen. »Wahnsinn, bin ich schwul …«, flüsterte ich in den Wasserstrahl der Brause. Wenn meine Ex über so etwas damals redete, ekelte ich mich. ‚Bedingungslose Liebe’ und ‚Für immer und Ewig’ hieß es da immer. Das waren Horrorvorstellungen für mich. Weswegen ich meinen Exfreundinnen dann auch nach spätestens drei Monaten den Laufpass gegeben hatte. Aber jetzt ... es gab keine schönere Vorstellung in meinem Kopf, als noch viele weitere Tage, Wochen oder Jahre mit Kiyoshi zu verbringen. Als hätte ich ihn endlich nach so langer Zeit gefunden. Meinen Seelenpartner. Sanft massierte ich das Shampoo in meine Haare ein, spülte es wieder ab und cremte mich mit Duschgel ein. Mein Körper war dünn geworden. Als hätte ich fünf Kilo abgenommen. Be­stimmt hatte ich die auch, immerhin aß ich nichts mehr. Außer diese Tabletten; und die hatten bestimmt keine Kalorien oder Fettanteile. Wovon sollten sich meine Muskeln dann auch ernähren ... Als ich meinen Duschgang endlich beendet hatte, stieg ich aus der Kabine und trocknete mich mit meinem Handtuch ab. Schnell zog ich mich wieder an, kämmte meine Haare und legte das Handtuch wieder über den Ständer. Ich wollte jegliche Blicke in den Spiegel vermeiden, so hatte ich schon genug heute ausgetauscht. Ausnahmsweise war mir mal nicht nach depressiven Blicken eines Monsters, welches sich nur selbst bemitleidet und aus Verzweiflung mit sich selber sprach. Den noch immer verschollenen Föhn wollte ich auch nicht mehr suchen. Ich glaubte langsam, dass es hier überhaupt keinen gab. Ich zog wieder meine Hose und mein Hemd an, band die Krawatte um den Kragen und schnappte mir meine Schmutz­wäsche, die eigentlich nur aus meiner Boxershorts bestand. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Der Gang war still und wieder einmal nur matt beleuchtet. Die verschnörkelten Lichter an den Wänden des Ganges tauchten ihn in eine finstere Stimmung. Doch wie so alles wurde auch das nach einer Zeit langweilig. Also ließ ich mich nicht weiter von der Stimmung stören und tätigte meinen Weg weiter in mein Zimmer. Kurz lauschte ich an Kiyoshis Tür. Natürlich hörte ich nichts. Manchmal fragte ich mich, was es alles für Aktivitäten gab, bei denen man kein einziges Geräusch von sich geben würde. Lesen, schlafen, nur rum sitzen oder einfach gerade dann, wenn ich vorbeikam, nichts machen. Der letzte Punkt klang etwas absurd, wobei ich die anderen Aspekte auch nicht als wirklich Realitätsgetreu für mehrere Stunden Aktivität hielt. An meinem Zimmer angekommen, öffnete ich zwar die Tür, vergewisserte mich aber mit einem kurzen Blick auf den Türrahmen, ob mein Schlüssel noch dort lag. Anschließend ging ich rein. Mit einer Handbewegung schmiss ich meine Boxershorts auf den schon vorhandenen Schmutzhaufen auf meiner Holzkiste und griff nach der Nadel. Es brauchte seine Zeit, bis es wieder Klack machte und die Tür verschlossen war. Nach getanem Werk, seufzte ich kurz und platzierte die Nadel wieder auf dem Schreibtisch. Ein kurzer Blick auf die Handyuhr würde wohl nicht schaden, dachte ich mir und starrte aufs Display. Es waren noch immer knappe drei Stunden zu warten. Die Zeit wollte nicht vergehen, jedenfalls fühlte es sich so an.   Ungeduldig saß ich auf dem Stuhl, ließ meine Fingerkuppen immer wieder auf die Oberfläche des Schreibtisches trommeln und starrte genervt auf die dunkelgrauen Rollläden, während die Flamme der Kerze immer wieder aufflackerte. Mir war langweilig, ich hatte nichts zu tun. Und wenn mir langweilig war, ausgerechnet auch noch abends, dann wurde ich müde. Das war gerade das Gefühl, was ich nicht gebrauchen konnte. Immer wieder klopfte ich mir mit meiner linken Hand auf die Wangen, während meine recht schön weiter trommelte. Irgendwann taten mir jedoch die Finger weh und ich stützte genervt meinen Kopf auf. Jetzt starrte ich auf die weiße Wand, die vor mir lag. Das waren wohl die Aktivitäten, die keine Geräusche machten. »Toll …«, murmelte ich. Angepisst war kein Ausdruck. Könnte er nicht jetzt schon vorbeikommen? Ich könnte die Zeit bis zu Mitternacht mit ihm besser überbrücken, als ohne ihn. Aber da das nicht der Fall war, musste eine andere Beschäftigung her. Ich schnappte mir einen Stift aus dem Stiftbecher und griff aus der zweiten Schublade ein Stück Papier. Mit einer schnellen Handbewegung schloss ich die Schublade wieder und nahm eine Zeichnung in Angriff. Ich wusste nicht genau, was ich zeichnen wollte, aber mir war nach irgendetwas. Mit der linken Hand stützte ich gelangweilt meinen Kopf auf, während ich mit der rechten versuchte einen Baum zu zeichnen. Ich sah auf meine Hand, wie sie sich bewegte und ließ meine Gedanken spielen, bis ich auf Kiyoshi kam. Er war Linkshänder. Prompt nahm ich den Stift in die linke Hand und versuchte zu zeichnen. Doch jeder Strich misslang und ging in eine ganz andere Richtung, als beabsichtigt. Ich lachte ein wenig, konnte mir kaum vorstellen, wie jemand so schreiben konnte, geschweige denn zeichnen. Was der für tolle Bilder hinbekam, bekomme ich noch nicht mal mit der rechten Hand hin. Nach wenigen Sekunden nahm ich den Stift wieder für mich normal. Ein müdes Lächeln blieb mir auf den Lippen. »Er ist so perfekt … Ein richtiger Vampir …«, murmelte ich in meine Hand, die meinen Kopf hielt. »Was kann er eigentlich nicht?« Ich musste kurz auflachen. Er konnte eigentlich alles. Alles, außer das typische ‚Lieb und Nett’ sein. Aber das würde schon noch kommen. Sicherlich konnte er nett sein. Wenn es seine "nette" Art war, Menschen zu zeigen, dass er sie gernhat, indem er sie ausnahmsweise mal nicht wie Abschaum ansah, sollte es halt so sein. Damit kann ich mich abfinden, dachte ich bei mir, während ich den Stift über das Papier kreisen ließ.   Gelangweilt kritzelte ich Bäume und Pflanzen. Meine Augen wurden immer schwerer. Ich hielt mich mit Fantasien wach, die von Vorsätzen handelten, wie ich die Sache im Wald angehen würde. Darunter waren Dinge wie: ‚Ich werde ihn an einen Baum drücken, ihn küssen, ihm unter sein Hemd fahren und seine Reaktion abwarten’ oder ‚Ich rede mit ihm über die wichtigsten Dinge, sind wahrscheinlich nicht so viele; wir werden uns küssen und ich streichle ihn, während unseres Kusses, am Nacken’. Dinge wie ‚Wir reden nur’ oder ‚Wir gehen kurz raus und gehen wieder rein’ war schon von Anfang an nicht drin. Sowieso liefen meine ganzen Vorhaben auf die Tätigkeit von gestern Nacht zu. Störte mein Gewissen in irgendeiner Weise, meinen Körper weniger. Ich wusste nicht ganz, was passierte, ich schloss nur auf einmal meine Augen, während ich den Stift sachte auf den Schreibtisch legte. Ich murmelte noch etwas von ‚Ich darf nicht ein­schlafen’ und dann war ich auch schon weg, mit dem Kopf auf der Tischplatte. Ich benötigte wohl schlaf. Früher war das eigentlich kein Problem gewesen, einfach mal eine Nacht durchzumachen und jetzt schaffte ich es noch nicht mal bis Mitternacht …   Etwas strich über meinen Nacken, liebkoste mein Ohr und meine Wange Als ich keinen Mucks von mir gab, weil ich es zu sehr genoss, kniff es mich ins Gesicht. »Mh!«, gab ich von mir. Sofort hörte das Streicheln auf. Vor­sichtig öffnete ich meine Augen und starrte auf zarte Finger, aus denen spitz zulaufende Fingernägel wuchsen. Meine Augen weiteten sich von Sekunde zu Sekunde. Der Blick wanderte von der Hand zum Arm, ein schwarzes Hemd, darüber eine schwarze Jacke, mehr ein Mantel; zur Schulter, der Hemd­kragen, locker geöffnet; der weiße Hals mit den Adern … Das Gesicht, überflossen mit Äderchen, die roten Augen, die im Kerzenlicht erstrahlten, die weißen Haare, die schon fast mit seiner Hautfarbe konkurrierten. »K-Kiyoshi …«, murmelte ich mehr vor Schreck, als vor Erleichterung. Er war wieder in dieses Monster verwandelt. Hatte er seine Kontrolle oder würde er gleich sofort auf mich losspringen? Als ich jedoch den goldenen Schlüssel in seiner anderen Hand sah, atmete ich auf. Er hatte sein Bewusstsein. Die letzten Male, wo ich abgeschlossen hatte, kam er nämlich nicht einfach so rein, jedenfalls riet ich das in dem Moment. »Komm«, sagte er monoton, strich mit seiner Hand von meinem Arm über meine Schulter und öffnete leise die Rollläden meines Fensters. Mein Blick huschte beim Aufstehen kurz zur Tür. Sie war verschlossen und wahrscheinlich auch abgesperrt. So konnte Vater erst einmal nichts merken. Schnell zog ich mir meine Turnschuhe an, beließ meinen Bruder im Auge. Vorsichtig folgte ich Kiyoshi und trat zu ihm ans Fenster, welches er leise öffnete. »Wir sollen aus dem ersten Stock springen?« Wobei das noch nicht mal ein normaler erster Stock war, da die Decken viel höher waren, als bei normalen Häusern. »Was sonst?«, flüsterte er zurück und starrte mich mit seinen ausdrucksstarken Augen an. Ich schluckte kurz, setzte aber trotzdem einen Fuß auf das Fenstersims. »Du bist ja ein vollständiger Vampir. Ich nicht …« Ein zögerliches Lächeln durchzog meine Lippen, während ich versuchte Kiyoshi von meinem Belangen nicht zu springen zu überzeugen. »Das wirst du überleben. Und jetzt spring.«   Ich spürte nur seine Hände, wie sie mich am Rücken kurz abschubsten und ich aus dem Fenster fiel. Der Luftzug durchströmte meine Haare, peitschte mir mit einem Mal in mein Gesicht. Ich wollte schreien, doch dazu kam ich nicht, alles ging viel zu schnell. Ich sah den Boden auf mich zu­kommen, er kam immer näher. Zweifelnd an weiteren Lebens­sekunden, hoffte ich, wenigstens auf meinen Füßen aufzu­kommen. Mit einem lauten, aber dumpfen Schlag kam ich unten auf. Als ich meine Augen wieder öffnete, kniete ich mit einem Bein auf dem Boden und stützte mich mit einer Hand ab. Vorsichtig stand ich auf, wartete auf den kommenden Schmerz. Als jedoch nichts kam, betrachtete ich wieder meine Hände. Voller Staunen riss ich meine Augen auf. »Ich bin Superman geworden …«   »Ist alles klar bei dir?«, kam eine laut geflüsterte Stimme von meinem Fenster. Sofort sah ich nach oben und nickte. Kiyoshi stand auf dem Fenstervorsprung und schloss sachte das Fenster hinter sich. Dann sprang auch er ab. Doch das sah gleich viel schöner und eleganter aus. Er glitt quasi durch die Luft, mit leicht ausgestreckten Armen versuchte er wahrscheinlich seine gerade Position zu halten. Als er aufkam, war kaum ein Geräusch zu hören; nur wie einige Steinchen vom Sand beiseite ge­drückt wurden. Er kniete kurz, um den Druck des Falls abzulassen und erhob sich elegant. Auch wenn es dunkel war und ich nur erraten konnte, was für ein Gesicht er zog, erstrahlte seine vampirische Aura in vollsten Zügen. Mit geradem Gang, kam er auf mich zu, ging jedoch an mir vorbei. In Richtung Wald. »Du willst in den Wald?«, fragte ich vorsichtig, noch immer flüsternd. »Wo wolltest du denn hin?«, stellte er eine Gegenfrage und drehte sich demonstrativ arrogant um. »Irgendwohin, wo ich auch weiß, wie ich wieder zurück­komme?« Mein sarkastischer Unterton ließ in seiner Miene eine Spur von Gereiztheit. »Schlag was vor«, kam die schroffe Aufforderung. Er war wieder so, wie ich ihn kennengelernt hatte. Wie schnell er ungezogen werden konnte. Dabei hatte ich ihn als letztes mit einem derart warmherzigen Lächeln gesehen, dass ich ihn fast vor Freude abgeknutscht hätte. Und jetzt: Nicht mal eine Spur von Freundlichkeit wurde mir da entgegengebracht. Das konnte ja noch was werden. Diskutieren mit einem Vampir, juchhu. »Hier in der Nähe bleiben?«, fragte ich vorsichtig, während ich langsam auf Kiyoshi zuging. »Man, mach keinen Stress«, motzte er auf einmal rum und packte mein Handgelenk. Dieser kleine Schock, als er mich berührte, ließ mich zusammenfahren. Mein Körper hatte immer noch Angst vor diesen Wesen, obwohl ich das auch einerseits verstehen konnte. Grob zog er mich in den Wald und schleifte mich quasi hinter sich her. Der Teil, in den wir hineingingen, war nicht derart zugewachsen, aber eine Lichtung war es auch nicht. Leise gingen wir durch das Gras, welches an einigen Stellen in Moos überging. Im Grunde hörte ich nur meine Schritte und hätte ich ihn nicht vor mir gesehen, wüsste ich gar nicht, dass er da war. Die Nacht war so still. Kaum ein Geräusch war zu hören. Als wir an einer kleinen Lichtung vorbeikamen, schien das fade Mondlicht auf uns herab. Kiyoshi blieb stehen, mir immer noch den Rücken zudrehend. Weder ließ er mich los, noch machte er Anstalten sich zu mir umzudrehen. Meine Gedanken über­schlugen sich schon fast. Ich war zwar schon oft mit meinen Kumpels auf Friedhöfe gegangen, aber dort waren weder Vampire noch andere Kreaturen, vor denen ich hätte Angst haben müsste. Zudem kam noch, dass wir immer mindestens vier Leute waren. Zu zweit, von denen einer ein mutierter Vampir war, in einem dunklen Wald auf einer Lichtung mitten in der Nacht zu stehen, war nicht gerade angenehm. Wobei ich keine richtige Angst verspürte, sondern mehr die Aufregung, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte oder wie ich hätte anfangen können. Kiyoshi blieb noch immer still, lockerte aber langsam seinen Griff um meinen Arm. »Kiyoshi …«, flüsterte ich etwas monoton in die Stille des Waldes. Er drehte leicht den Kopf zu mir um. »Willst du dich nicht zu mir umdrehen?« Er schwieg. Eine leichte Brise fuhr durch seinen Mantel und bewegte ihn etwas in meine Richtung. Dieser lange schwarze Mantel, mit vielen Verschlüssen versehen, passte einerseits überhaupt nicht zu Kiyoshi, andererseits aber in das obskure Getue von ihm. Meine Augen fuhren über seinen Körper, erkannten nur wenige Dinge, da er vollkommen in schwarz gekleidet war. Als er mir immer noch keine Antwort gab, hatte ich die Faxen dicke. Ich drehte meinen Arm nach außen, er musste loslassen. Sofort griff ich nach seiner Schulter und drehte ihn zu mir um. Die roten Augen stachen aus der Dunkelheit und sahen mich hungrig an. Doch das waren nur Sekunden. »Nein!«, schrie er und wendete sich von mir ab. Sofort legte er seine Hände auf sein Gesicht und ging ein paar Schritte von mir weg. »Was? Aber …«, brachte ich noch grade so raus, verwirrt über seine Reaktion. »Sieh mich nicht an …«, murmelte er, als er langsam in die Knie ging. Seine Stimme klang schmerzverzerrt und unter­drückt. »Was ist hier überhaupt los?«, fragte ich ihn aufgebracht. Mein Herz klopfte unglaublich stark vor Aufregung. »… Ich bin ein Monster …«, sagte er mit zittriger Stimme, während ich ein kleines Glucksen hörte. Ich hielt kurz den Atem an. Weinte er? Ist das wieder eine depressive Phase von ihm? »Kiyoshi … Du bist kein Monster …«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. Indirekt war er es ja schon. Ich war immer derjenige, der ihn so genannt hatte. Ich war es, der ihn mit diesen Worten beschimpft und verachtet hatte. Und jetzt behauptete ich einfach mal so das Gegenteil. »Hörst du? Du bist kein Monster. Du bist einfach ein Vampir, das ist eine Klasse für sich …« Das sagte er Richtige, der selber voll Schiss vor seinem eigenen Tod hatte und sich am liebsten vor der Verwandlung erhängen würde. »Nein …« Ich verstand ihn kaum. Mit langsamen Schritten ging ich auf ihn zu. Vorsichtig hielt ich den Atem an, immer mit angespannten Muskeln, da ich nicht wusste, was er tun wollte. Er schluchzte kurz auf. »K-«, fing ich an, doch er unterbrach mich. »Sieh mich doch an!«, schrie er verzweifelt und drehte sich zu mir um. Da er sich so schnell und plötzlich wieder erhob und einen Schritt auf mich zukam, zuckte ich heftig zusammen. Sein ganzes Abbild verschaffte meiner Angst noch einen zusätz­lichen Schub. »Sieh mich an! Ich bin ein Monster. Ich trinke Blut, wie ein Verrückter, habe keine Kontrolle über mich selbst, verlange immer mehr, tue sogar den Menschen weh, die mir etwas bedeuten! Als was würdest du mich bezeichnen, wenn wir uns nicht kennen würden? Als ein Dämon, ein Teufel, wie frisch aus der Hölle gestiegen!« Seine Stimme blieb bebend in meinem Kopf, während seine Augen langsam feucht wurden. Dieser Verzweifelte Blick von ihm, der mich durchbohrte. Hin und wieder öffnete ich meinen Mund, wollte etwas sagen, doch ich konnte nicht. »Ich darf … nie den Verstand verlieren. Nie. Ich muss wach­sam bleiben, bevor ich meinen Instinkten folge …«, sagte er mit zittriger Stimme, die hin und wieder wegbrach. »Ich darf mich nie gehen lassen, nie ausruhen … Sonst würde mein Körper überhand nehmen …« Langsam senkte er sich wieder gen Boden und legte seine Hände wieder auf sein Gesicht. Ich wollte ihm helfen, aber wie? Ich hatte doch keine Ahnung von so etwas. Ich wusste ja nicht mal, was er da meinte ... »Was genau … passiert denn mit dir? Wenn du so bist …?«, fragte ich vorsichtig, hoffend, er würde mir antworten können. Eine kurze Pause trat ein, dann sah er mich vom Boden aus an. »Jede Nacht … des zunehmenden Mondes, kocht mein Blut in mir. Das ist eine Fehlbildung der D.N.S. mit dem Vampirblut wurde mir gesagt. Mein Körper dürstet dann immer nach Blut, braucht mehr, da er kein eigenes produziert. Manchmal kann ich es unterdrücken, manchmal nicht …« Dann senkte er wieder den Blick. »Das heißt, du hast fünfzehn Nächte Ruhe und fünfzehn Nächte diese Verwandlung?« »Ja …« Eine weitere Brise durchfuhr uns, wehte ein wenig in den Bäumen. Eine Fehlbildung der D.N.S. klang nicht gut. »Hat das … mit deinem Reinblütlerblut zu tun?« Er nickte kurz. »Vater ist ein Reinblütler, Mutter ein Mensch. Häufig ent­stehen unter solchen Umständen nur Menschen. Selten ein Reinblütler, da diese sich oft nur unter sich fortpflanzen.« »Das heißt ja … du bist richtig was Besonderes …«, sagte ich leise und versuchte es von der positiven Seite zu sehen. »Ja... richtig besonders... dumm…« Er stützte seinen Kopf auf seine Hände und grub seine Finger in seine Haare. »Aber ich verstehe nicht ganz … Wieso du dich von abge­schlossenen Türen aufhalten lässt. Außerdem war meine Tür ja einmal dermaßen demoliert …«, murmelte ich vor mich hin, seinen schlechtmachenden Satz einfach ignorierend. »Tiere sind halt dumm, die öffnen keine Türen mit Steck­nadeln«, sagte er leicht grinsend. Obwohl es mehr ein ver­zweifeltes Grinsen war. »Und die Tür, die du zerstört hattest?« »Das war kurz bevor ich dich geweckt hatte.« »Du hattest also dein Bewusstsein?« »Ja.« Ich nickte. Wir redeten über eine Distanz von mindestens drei Metern, das war mir etwas unangenehm. Ihm wohl gerade Recht, er wollte ja nicht, dass ich ihn in dieser Form ansah. »Warum kannst du dich jetzt beherrschen?«, fragte ich prompt. Er hob etwas den Kopf, sah aber noch weiter auf den Boden. Dann lächelte er verzweifelt, obwohl es ein schönes Lächeln war. »Ich beherrsche mich?«, stellte er eine Gegenfrage und konnte meine Meinung wohl nicht ganz teilen, hielt sich die zittrigen Hände vor die Brust. »Du unterhältst dich mit mir, ganz normal. Du siehst halt … nur anders aus …« »Normal?« Er vergrub sein Gesicht wieder in seinen Händen.   Ich wusste nicht ganz was genau geschah, es waren Sekunden, nein, Bruchteile von Sekunden. Er verschwand, tauchte wie aus dem Nichts wieder vor mir auf und drückte mich mit voller Wucht gegen einen Baum. Einige Blätter fielen von der Krone. Ich riss vor Schreck meine Augen auf, spürte einen leichten, dumpfen Schmerz in meinem Rücken. Seine blutroten Augen starrten mich hungrig an, während er seine langen Reißzähne aus den Lippen fuhr. Die Adern stachen heraus, pochten unter seiner Haut und durchzogen das Augenweiß in ein blutiges rot. »Nennst du das etwa normal?«, knurrte er mir zu. Seine Stimme wurde noch kratziger als vorher, dunkler und Angst einflößender. Wie ein … richtiges Tier. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)