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My Dear Brother

The Vampires
von

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Bittere Wahrheit

»Hiro?«, kam die Stimme meines Vaters. Ich wollte nicht aufblicken. Selbst das Schluchzen und Glucksen wollte nicht aufhören. Ich spürte seine großen Hände auf meinen Schultern. »Hiro, ist alles in Ordnung mit dir?«

Er klang besorgt, aber konnte man sich nicht denken, was los war? Als ich keine Antwort gab, spürte ich, wie das Bild von meinem Knie entfernt wurde. Ich hörte ihn etwas stärker ausatmen. Ein Klacken war zu hören und ich spürte das Bild wieder an meinem Bein. Seine linke Hand blieb auf meiner Schulter, während er sich neben mich kniete.

»Hiro, ich weiß was du mitmachst ist nicht einfach für dich. Du vermisst deine Mutter bestimmt so sehr wie sie dich. Aber es war an der Zeit, dass du über deine Familie informiert wirst. Das sah sie ein. Irgendwann würde es dich einholen. Und mal eben erfahren, dass der Vater ein Nachtschattengewächs ist und sich von Blut ernährt, während der bis dahin unbekannte Zwillingsbruder genauso handelt, ist sicher noch schwerer, als es auf diese Weise zu erfahren. Also bitte, beruhige dich, Hiro. Dich will niemand ärgern oder erniedrigen. Die ganze Sache ist aus dem Ruder geraten.«

Seine Stimme klang zwar im ersten Moment beruhigend, doch waren die Worte, die er verwendete spitz und unangenehm in meinem Kopf. Er vermied das Wort Vampir, wollte Kiyoshis Namen ebenfalls nicht nennen und versuchte die Situation als ‚aus dem Ruder geraten’ einzustufen, was sie aber sicher nicht war. Er verstand mich nicht. Er verstand die ganze Sache nicht. Die Sache mit Kiyoshi und mir, die Sache mit meiner Verwand­lung, die Sache mit meiner Mutter und mir. Einfach alles.

»Hiro, bitte beruhige dich. Wenn du mit deiner Mutter sprechen willst, kannst du sie anrufen.«

Ich schüttelte leicht den Kopf. Auf keinen Fall wollte ich jetzt mit ihr sprechen. Sie würde mich fertig machen bezüglich meiner Tat. Vielleicht würde ich sogar ausplaudern, was genau zwischen mir und den Vampiren hier vorgefallen war und dann würde sie sicher nicht mehr so lieb zu mir sein. Sie verachtete die Vampire sicherlich. Kiyoshi erzählte mir immer, wie sie auf ihn zu sprechen war. Das habe ich ja auch gemerkt, wenn ich ihn erwähnt hatte. Würde sie mich dann auch verstoßen wollen? Würde sie mich dann auch nicht mehr lieben? Die Vorstellung alleine schnürte mir noch weiter mein Herz zu. Jeder Gedanke an meine Mutter, an Kiyoshi, an mich selbst zog ein bisschen stärker am Faden.

»Gut … Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst oder wenn du deine Mutter sprechen willst.« Mit den Worten ließ er von mir ab und ging aus meinem Zimmer. Ein leises Klacken der Tür war zu hören. Dann blickte ich auf. Niemand war mehr in meinem Zimmer. Ich hätte am liebsten gefragt, wann Kiyoshi zurückkommen würde, aber da hätte ich wohl schlechte Karten bei meinem Vater gespielt. Klappe halten bezüglich meines Bruders war jetzt angesagt. Damit war jegliches Familienleben zu Nichte gemacht worden. Durch mich und durch Kiyoshi. Ich strich mir kurz übers Gesicht, um die Tränen wegzu­wischen, und stand mit dem Bild in der Hand auf. Vorsichtig stellte ich es auf mein Nachttischschränkchen. Danach ging ich wieder zurück zur Holzkiste und schloss sie. Ich wollte nicht noch weiter nach alten Erinnerungen suchen, die alles nur noch schlimmer machen würden.

Immer noch sichtlich mitgenommen, schlurfte ich aus der Tür auf den Flur. Ich wusste nicht wohin mit mir, aber ich wollte auch nicht in meinem Zimmer bleiben. Es war so still und einsam. Das was ich jetzt brauchte war Gesellschaft. Aber über die Anwesendheit meines Vaters konnte ich verzichten. Auch die von Mamoru, obwohl der mir nichts getan hatte. Jiro wäre jetzt gut oder von mir aus auch Lampe, Hauptsache irgendwer aus meinem alten Leben, der mich aus diesem Sumpf der Depressionen rausziehen konnte.

Mein Blick fiel auf die einsame Tür am anderen Ende des Gangs. Kiyoshi sagte etwas von Studio. Alte Dinge seien in diesem Raum. Ein bisschen rumschnuppern würde sicher nicht schaden, also ging ich schnurstracks zur Tür und öffnete sie. Tatsächlich war sie auch offen und freizugänglich. Noch haschte ich schnell einen Blick hinter mir und vergewisserte mich, dass niemand mich sah. Sofort verschwand ich im Zimmer und schloss leise die Tür.

 

Vorsichtig drehte ich mich um und sah in einen hell belichteten Raum. Zwei große Fenster ließen die warme Sonne in den Raum fließen. Ein großer schwarzer Flügel stand in der Mitte des Raumes. Er war wunderschön, verziert mit goldenen Verschnörkelungen. Ein kleiner schwarzer Samthocker stand vor dem Flügel. Direkt links neben mir standen Leinwände, abgedeckt mit einem großen weißen Tuch. Direkt daneben stand die Staffelei mit einer großen Leinwand, die noch unbemalt war. An der linken Wand, die zu den Fenstern führte, stand eine Kommode mit vielen Schubladen. Auf ihr lag eine Violine. Sie war genauso verziert wie der Flügel und ebenso schön und edel. Neben der Kommode stapelten sich alte Bücher aufeinander, die durch eine große Lampe gehalten wurden. Die Lampe selbst hatte einen schwarzen Stoffschirm über der goldenen Stange hängen, an deren Ende eine Glüh­birne versteckt war. Lange weiße Vorhänge hingen zusammen­gezogen an den Fenstern. Die Fenster waren so groß, dass sie die Komplette Wand vereinnahmten. Auf der anderen Seite stand ein Regal mit weiteren Büchern und anderen Gegenstän­den. Direkt daneben stand ein Gebilde, verdeckt durch ein großes weißes Tuch. Es sah seltsam aus, erinnerte mich aber an etwas Bekanntes. Nebenan stand noch eine Kommode, doch sie sah anders aus, als die gegenüber. Die links war dunkelbraun, die rechts war cremeweiß und mit schwarzen Verschnörke­lungen und seltsam geformten Griffen für die Schubladen ausgestattet. Auf ihr stand ein großer Kerzen­ständer. Er war schwarz und, kaum nötig zu erwähnen, verschnörkelt. Die Kerzen ebenfalls schwarz und schon ein Stück abgebrannt. Eine Vorliebe für das Schwarze und Düstere war bei der Lebensweise kein Wunder. Doch das Zimmer hatte etwas. Etwas Entspannendes. Ein wirkliches Studio.

Neugierig über die Gemälde, spähte ich kurz unter das Laken. Es waren bestimmt zehn große Leinwände, die alle wunder­schön bemalt waren. Auf der einen war eine Landschaft, auf der anderen Leinwand eine Frau, auf der danach wieder eine andere Landschaft.

Ich hielt kurz inne.

Vorsichtig schob ich das Laken beiseite und zog das Gemälde mit der Frau ein Stück raus.

»Wow …«, murmelte ich, während ich in das lächelnde Gesicht meiner Mutter sah. Sie saß auf einem schönen Hocker, vor ihr eine große Harfe. Sie sah noch jung aus, da ihre Haare ihr fast bis zur Hüfte reichten und noch dunkelblond waren. Ihre Gesichtszüge waren so zart und fein gemalt worden, dass es fast wie eine Fotografie aussah. Die Harfe war golden und glänzte im Licht der Sonne, die durch die großen Fenster kam. Mein Blick fiel hinter mir. Diese großen Fenster in diesem Studio waren hinter meiner Mutter. Ich zog das Bild raus und lief mit der Leinwand im Raum rum, bis ich die Sicht des Malers hatte. Dort wo meine Mutter saß, war nichts, nur ein Stück des Flügels war nun dort. Das seltsame Gebilde unter dem Laken, das rechts an der Wand stand, erhaschte meine Aufmerksamkeit. Es war groß und hatte eine Ähnlichkeit mit dem goldenen Gegenstand meiner Mutter. Vorsichtig zog ich am Laken und entfernte es. Eine riesige goldene Harfe erstrahlte in ihrem Glanz vor mir. Einige Saiten waren zwar etwas dunkel geworden, sahen aber nicht weiter beschädigt aus. Noch einmal sah ich auf das Bild. Die Hände meiner Mutter lagen an den Saiten. Ob sie wirklich Harfe spielen konnte? Vielleicht kann sie es ja immer noch? Neugierig über den Ton einer Harfe, zupfte ich kurz an einer mittleren Saite. Der sanfte Klang summte in meinen Ohren. Er war wirklich schön. Wenn meine Mutter Harfe spielen konnte, dann würde ich sie bitten, einmal für mich etwas zu spielen. Wer das Bild wohl gemalt hatte? Kiyoshi? Ich wusste ja, dass er gut malen konnte, aber so gut? Und woher wusste er, wie Mutter aussah? Okay, von Fotos wahrscheinlich, aber konnte er diese Bilder dann so gut umstellen? Vielleicht gab es auch irgendwo so ein Foto und er hat es abgemalt?

Dann sah ich eine Signatur am Rande des Bildes. Sie war kaum lesbar, trotzdem erkannte ich einzelne Buchstaben.

»Fudo Kabashi …«, flüsterte ich in den stillen Raum. »Mein Vater hat meine Mutter gemalt?« Die künstlerischen Fähig­keiten lagen wohl in der Familie. Ich schätzte, dass das Bild aus der Zeit vor der Geburt von Kiyoshi und mir war. Denn danach, schienen sich beide getrennt zu haben. Ich fühlte mich in dem Moment etwas schuldig. Auch wenn ich natürlich nichts für die Trennung der beiden konnte. Eine gewisse Mitschuld trug ich doch. Kiyoshi sicher auch.

Vorsichtig nahm ich das Laken und legte es wieder über die schöne Harfe. Sie war fast so groß wie ich selbst. Die Vorstel­lung, dass meine kleine Mutter darauf spielen konnte, brachte mir ein kleines Lächeln auf die Lippen. Sanft stellte ich das Gemälde wieder zu den anderen und schob das weiße Tuch darüber. Sowieso sah hier alles sehr gepflegt und ordentlich aus, obwohl der erste Eindruck eher Chaos verschaffte. Immerhin lagen Bücher und Blätter wild verstreut in der Gegend rum.

Trotz allem: Dem Bild entnahm ich, dass meine Mom hier auch mal lebte. Dass sie diesen Raum wenigstens schon einmal betreten haben muss. Vielleicht lebte sie wirklich einige Jahre hier mit meinem Vater, bis sie schwanger wurde und uns gebar. Um ehrlich zu sein, kannte ich meinen Geburtsort gar nicht. Hat mich nie so interessiert. Sowieso war Familie und die ganze Verwandtschaft nicht die Welt für mich. Es war immer ganz nett, wenn meine Tante mütterlicherseits vorbeikam. Oder mein Onkel mir, als ich klein war, kleine Matchboxautos schenkte. Ansonsten war die Vaterfrage nie sonderlich groß gewesen. Ob also der Rest meiner Verwandtschaft aus Vampiren bestand? In gewisser Weise war es eine interessante Vorstellung, auf der anderen eine unangenehme, wenn man bedachte, aus was der Kuchen beim Kaffeeklatsch sein würde.

Ich streifte mit meinem Zeigefinger auf der Oberfläche der dunkelbraunen Kommode entlang und blieb an der Violine stehen. Hier konnte wohl irgendeiner Violine spielen. Obwohl ich Angst hatte, irgendetwas kaputt zu machen, nahm ich das Holzgestell in die Hand und legte es mit vielem hin und her an meine Schulter. Vorsichtig berührte ich das schwarze Plastik mit dem Kopf. Ich hatte keine Ahnung, ob ich die Violine richtig hielt oder auch nicht. Trotzdem griff ich nach dem Bogen und strich vorsichtig über die vier Saiten. Ein heller Ton durchfuhr den Raum. Er klang nicht sonderlich angenehm in meinen Ohren, trotzdem strich ich weiter über die Violine. Sie hatte etwas für sich. Nach einigen schiefen Tönen, die ich fabriziert hatte, legte ich sie wieder weg. Jemand, der gut Violine spielen konnte, hatte meinen Respekt, insbesondere, weil ich jetzt wusste, dass es nicht leicht war.

Ich ging den Raum weiter entlang und blieb am Haufen der Bücher stehen. Vorsichtig pustete ich den Staub von ihnen. Ich griff direkt nach dem ersten Buch und blätterte ein wenig darin rum. Die Schrift war so verschnörkelt und alt, dass ich sie kaum lesen konnte. Sogar für mich so unlesbar, dass ich noch nicht mal sagen konnte, was ich da für ein Buch in den Händen hielt. Es hätte eine Horrorgeschichte sein können oder ein Lexikon aus alten Zeiten. Seufzend legte ich es wieder zurück. Als ich die Einbände der restlichen Bücher durchging, starb meine Hoffnung auf etwas Lesbares, da selbst die Überschriften so verschnörkelt geschrieben waren.

Plötzlich brannte es an meinen Füßen. Es stach richtig. Sofort stand ich auf und trat einen Schritt nach hinten. Meine Füße lagen für kurze Zeit in der prallen Sonne. Das hatte ich nicht bedacht. Mit gewagten Akrobatiken löste ich die Schleife und zog den halb durchsichtigen Vorhang vors Fenster. Das gleiche tat ich für das andere Fenster. So konnte ich ruhig von der einen Seite zur anderen gehen. Eigentlich traurig. Ich werde wohl nie wieder in die Sonne gehen können. Nie wieder …

Um mich abzulenken, betrachtete ich die verschiedenen Gegenstände, die im Regal standen. Zwischen einigen anderen alten Büchern stand ein komisches Gestell, dass, wenn man es anschubste, zu wackeln begann und auch weiter machte. Es bestand aus zwei metallischen Kreisen, die sich in jeweils entgegen gesetzter Richtung bewegten. Auf den ersten Blick sah es recht seltsam aus, aber mit der Zeit wurde es immer interessanter. Vorsichtig griff ich nach dem Metallgegenstand und nahm es aus dem Regal. Nach mehreren Untersuchungen, von unten und von oben, bemerkte ich einen kleinen Magneten im Inneren der einen Kugel, die am Innenkreis befestigt war, und einem größeren Magneten im Inneren des Sockels, worauf die beiden Stangen befestigt waren. Das ganze funktionierte also mit Magnetismus. Die Pole schienen sich abzustoßen.

Sofort stellte ich das Gestell wieder ins Regal.

»Das hat einen Lerneffekt …«, murmelte ich vor mich hin und betrachtete noch weitere Magnetische Gegenstände. Ein weiteres war das mit den vielen Kugeln, die nebeneinander aufgereiht waren. Das funktionierte zwar nicht mit Magneten, war aber genauso interessant. Wenn man die eine Kugel auf die andere aufprallen ließ, sprang die letzte Kugel auf der anderen Seite ab. Und immer so weiter, bis die Schwingungen aufhörten. Wie ein kleines Kind betrachtete ich die sich bewegenden Gegenstände. Das gefiel mir alles sehr. Es klackte und quietschte zwar etwas, war aber doch auf eine Weise entspan­nend. Langsam ging ich weiter, betrachtete den großen Kerzenständer. Neugierig über das Gewicht, hob ich ihn kurz an.

»Uff!«, prustete ich los, da er aus massivem Edelstahl bestand. Er war richtig schwer und erinnerte mich vom Gewicht her an eine Kiste Wasser. Während ich den Leuchter vorsichtig wieder auf die Kommode stellte, fiel mir eine kleine Schale mit einer Packung auf. Die Schale war weiß und mit rosa Blumen verziert. In ihr lagen ein paar Krümel oder mehr Staub. Ich griff nach der Packung. Ein gewaltiger Geruch von Vanille und Zimt kam mir entgegen, als ich die Schachtel kurz öffnete. Schnell hielt ich die dunkelblaue Packung etwas weiter von mir und zog ein Räucherstäbchen raus. Es war schwarz und roch im ersten Moment nach Zimt. Der Okkultismus war hier also Gang und Gebe? Auf der Rückseite der Packung standen die Düfte. Das was ich in der Hand hielt, sollte angeblich Opium sein. Sofort hielt ich das Stäbchen an meine Nase.

»Opium? Das ist doch kein Opium«, sagte ich enttäuscht. Dann las ich genauer. Natürlich bestanden die Räucherstäbchen nicht aus der Droge, sondern nur aus dem Duftstoff, aus dem Opium gemacht wurde. Wohl etwas enttäuscht packte ich das schwarze Räucherstäbchen wieder in die Packung und legte diese zum Schälchen zurück.

Als ich dachte, dass ich durch den Raum war, wurde ich kurz geblendet. Sofort trat ich einen kleinen Schritt zur Seite und starrte auf den Flügel. Der glänzende, schwarze Lack der Oberfläche reflektierte das Licht wunderschön durch den Raum. Obwohl die Sonne nun ein Feind meinerseits war, faszinierte sie mich mehr denn je. Vielleicht gerade weil sie für mich unzugänglich geworden war.

Nicht weiter darüber nachdenkend, setzte ich mich auf den Samthocker. Vorsichtig strich ich über den Deckel der Tasten. Ich traute mich kaum einen Blick darunter zu werfen. Als ich darüber spekulierte, ob ich es trotzdem öffnen sollte, erspähte ich einen kleinen Stapel von Blättern und Heften auf dem Flügel. Ich griff nach einigen Blättern und stellte fest, dass es Noten waren. Komplizierte Noten für meinen Geschmack. In meinem Musikunterricht waren da mal der Violinschlüssel und der Bassschlüssel, mehr nicht. Mit ein paar Noten und mit vielleicht einer Oktave war das Thema schon wieder beendet und wir sangen weiter. Ich und singen war zwar auch so eine Sache für sich, trotzdem war es besser als die langweilige Theorie. Zwar wunderte es mich, dass ich mich noch an die dämlichen Fachbegriffe erinnern konnte, nahm es aber im ersten Moment einfach mal hin. Neugierig schlug ich das Heft auf. Es sah schon sehr alt aus. Auf der ersten Seite waren die Tasten erklärt, wie sie heißen und wie man sie spielen konnte. Dreiklänge, Moll und Dur wurde erklärt, sowohl einige Notenschritte. Auf der nächsten Seite standen dann schon einfache Noten, die man wahrscheinlich spielen sollte. Ich grinste in mich rein. Ich und spielen wäre bestimmt eine lustige Kombi.

Also ergriff ich den schweren Deckel und öffnete ihn. Mich strahlten elfenbeinfarbene Tasten an, die im faden Licht etwas glänzten. Sie waren so glatt und weich. Und kalt. Sie erinnerten mich an Kiyoshis Haut. Würde er auf diesen Tasten spielen, würde man seine Hände sicher kaum erkennen. Ich schüttelte kurz den Kopf und legte die Noten auf den ausklappbaren Notenständer. Vorsichtig drückte ich eine Taste runter. Der typische Ton eines Klaviers erfüllte den Raum. Dazu drückte ich noch eine Taste. Es hörte sich eigentlich ganz gut an. Ich versuchte mich an Rokus Klavierkünste zu erinnern. Er spielte vor dem Musikunterricht immer ein kleines Stück. Einmal hatte er versucht Kyo eins beizubringen. ‚Alle meine Entchen’ meinte er, wäre das meist erste Stück aller Klaviereinsteiger. Ich überlegte und überlegte, kam aber nicht auf den ersten Ton. Trotzdem spielte ich eine Taste nach der anderen und überlegte hin und wieder, wie es weiter ging.

 

Ich musste gestehen, es machte mir Spaß am Klavier zu sitzen und mir selber ‚Alle meine Entchen’ beizubringen. Auf die schlaue Idee, eines der Hefte zur Hilfe zu nehmen, kam ich erst nach mehreren Minuten. Dort war das Stück nämlich abge­druckt und mit der Hilfe der ersten Seite, wo alles kleinlich genau erklärt wurde, schaffte ich es sogar nach fast unendlich viel Zeit das Stück fertig zu spielen. Sogar auswendig. Ich war so stolz auf mich selbst; so lange war ich es nicht mehr seit ich im Physiktest die volle Punktzahl hatte (Obwohl ich nicht gelernt hatte, versteht sich).

 Ich spielte noch ein wenig mehr, probierte noch die Pedale aus und war über den Klang überrascht.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Ich erschrak schon fast und drehte mich schlagartig zur ihr um.

»Hiro? Hier bist du?«, hörte ich die besorgte Stimme meines Vaters durch den Türschlitz. »Was machst du denn hier?« Sein Kopf kam durch die Tür und sah mich überrascht an. Er trat in den Raum und betrachtete mich, wie ich am Klavier saß und Notenhefte sowohl auf dem Notenständer, als auch auf meinen Knien aufgeschlagen hatte.

»Du spielst Klavier?«, fragte er immer noch überrascht und tätigte einen Schritt auf mich zu, nachdem ich nichts sagte.

»Äh … Na ja. Ich bringe es mir grade bei«, gab ich zu und kratzte mich am Nacken.

»Das ist aber schön. Gefällt dir Klavierspielen?« Ich sah ihm in die Augen und sah die Vaterfreude, wie sein Kind sich für etwas interessierte, dass ihn wahrscheinlich auch am Herzen lag. Ich nickte erst zögerlich, blickte zum Flügel und nickte dann sicherer.

»Ja, es gefällt mir sehr.«

»Warum nimmst du keinen Unterricht?« Er stellte sich neben mich an den Flügel und legte eine Hand auf ein Notenheft.

»Früher dachte ich, so etwas würden nur Leute spielen, die etwas von sich halten. Und zu denen gehörte ich ja nicht.«

»Aber das ist doch quatsch.«

»Na ja, nicht ganz, oder? Ich meine der Flügel hier war bestimmt nicht  im Discounter im Angebot, oder?«

Er musste wieder laut loslachen. Ich hatte wieder einen meiner urkomischen Witze gerissen, über die ich selber nicht lachen konnte.

»Nein, natürlich nicht. Aber heutzutage gibt es doch Key­boards oder elektronische Klaviere, die sind doch billiger.«

»Immer noch zu teuer für meine Mom.«

Sofort versiegte sein Lächeln. Sein Blick sah fragend aus und nicht ganz verständlich. Als er nichts sagte, sondern mich nur anstarrte, verstand ich, warum er so fragend überrascht war.

»Mom arbeitet als Sozialpädagogin in einer Beratungsstelle, da verdienen wir nicht die Welt. Ein Klavier auszuleihen wäre da undenkbar, geschweige denn eins zu kaufen.«

»Deine Mutter arbeitet in einer Beratungsstelle?«

Er sah ziemlich fertig aus über die Tatsache, dass wir nicht die Menge an Geld hatten. Ich konnte mir die Frage einfach nicht unterdrücken.

»Wusstest du das nicht?«

Er lächelte etwas unsicher und sah zur Seite.

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Im Ernst nicht? Wo dachtest du denn, kommt unser Geld her? Vom Baum? Oder vom Esel, der im Keller steht?« Also ein bisschen Selbstinitiative für das Verständnis der eigenen Familie wäre ja nicht schlecht gewesen.

»Von ihrem Konto?«

»Da muss erst mal Geld draufkommen, oder?«, fragte ich etwas gehässig und wollte ihm damit zeigen, dass Geld nicht auf Bäumen wächst.

»Ich überweise ihr jeden Monat eine gewisse Geldsumme. Sie weiß davon. Willst du mir also sagen, ihr benutzt das Geld nicht?«, sagte er, wobei sich sein Gesichtsausdruck in einen etwas Entsetzten wandelte.

»Was? Im Ernst?«, fragte ich perplex. Wir haben Geld? Wir haben sogar eine Menge Geld? Wir müssen gar nicht in so armen Verhältnissen leben? Okay, wenn ich recht überlegte, hatte ich schon ein gutes Handy, einen iPod, der zwar im Tresor meiner Mutter lag, weil sie dachte ich würde ihn verlieren, doch auch der Plasmabildschirm war sicher nicht billig. Aber wir hatten doch ständig Schulden. Wieso bezahlte sie die nicht mit dem Geld von Vater.

 

Doch ich kannte meine Mutter.

»Sie ist wieder mal zu stur, um es zu benutzen …«, murmelte mein Vater vor sich hin und legte seine Stirn in Falten. Vorsichtig nickte ich. »Das wird’s wohl sein …«

Er seufzte laut auf und grinste mich an.

»Typisch deine Mutter. Will alles alleine Regeln.«

»Bis jetzt klappte es auch irgendwie … schon …«

»Ja, sicher, ich halte deine Mutter für fürsorglich genug, dass sie darauf achtet, dass ihr Sohn ein gutes Leben hat. Doch hätte sie es wesentlich einfacher gehabt, wenn sie das Geld einfach benutzt hätte.«

Er seufzte ein weiteres Mal und war sichtlich mitgenommen darüber, dass meine Mutter das Geld nicht annehmen wollte. Ich nickte vorsichtig. Mein Blick wanderte von meinem Vater zur Tür. Auf dem Gang sah ich Mamoru, wie er einen Korb in Kiyoshis Zimmer brachte. Erst jetzt bemerkte ich den Stand­punkt der Sonne. Sie stand schon tief, was mich darauf schließen ließ, dass es später Nachmittag war.

»Wie viel Uhr ist es eigentlich? Ich hab die Zeit hier total vergessen …«, log ich etwas, obwohl es zum Teil wahr war.

»Es ist halb sechs.«

»Oh, schon so spät?«, wunderte ich mich. Ich hatte wirklich sehr viel Zeit hier verbracht. Vor allen Dingen lief ich immer noch in meinem Joggingoutfit rum.

»Kiyoshi wird gleich von Mamoru abgeholt.« Mit den Worten ging mein Vater aus dem Studio, ließ die Tür aber offen. Der besagte Satz hallte noch klanghaft in meinen Ohren nach.

Trotzdem: Krass, dass meine Mutter arm sein wollte, aus ihrer Sturheit heraus. Ich konnte es einfach nicht fassen. Apropos Mutter …

Ich rannte sofort aus dem Studio und schloss leise die Tür hinter mir. Der matte Gang huschte wie verschwommene Bilder an mir vorbei, als ich wie aus dem Nichts in meinem Zimmer stand. Ich konnte kaum bremsen, als ich stehen bleiben wollte. Schnell griff ich nach meinem Handy, das noch immer auf dem Schreibtisch lag. Vier verpasste Anrufe zeigte mir mein Display an.

»Oh …«, murmelte ich und atmete tief ein. Meine Mutter wollte ja noch mit mir reden. Vier Anrufe waren diesmal aber noch Gütig.

»Junger Herr, sie hatte hier angerufen. Sie bittet Sie, zurückzu­rufen«, hörte ich Mamorus Stimme an meiner Tür. Ich drehte mich langsam um.

»Danke, Mamoru. Werde ich tun.« Ich nickte kurz, dann ging er wieder.

Seufzend setzte ich mich auf den Schreibtischstuhl und wählte ihre Nummer. Im Grunde wollte ich mir ihre Stand­pauke nicht anhören, aber andererseits wollte ich ihre Stimme wieder wahrnehmen.

 

Ein Freizeichen war zu hören. Es tutete. Dann hörte ich ihre besorgte Stimme.

»Hiro? Hiro, bist du das?«

»Hallo Mom, ja ich bin’s«, antwortete ich hörbar ruhig und freundlich.

»Hiro, wo warst du? Wieso bist du nicht an dein Handy gegangen?«

»Ich war im Studio und hatte es noch auf dem Schreibtisch liegen, hier in meinem Zimmer.«

Kurze Stille trat auf der anderen Leitung ein. Als sie jedoch anhielt, ergriff ich wieder das Wort.

»Eine schöne Harfe hattest du, Mama«, sagte ich ruhig und grinste ein wenig.

»Du … Du sollst deine Nase doch nicht in Dinge reinstecken, die dich nichts angehen.«

»Tut mir Leid, Mom.«

» … «

»Mom?«

»Du gibst keine Widerworte?«

»Passiert ist passiert, oder?«

»Hiro, Schatz, was ist mit dir passiert?« Sie klang so aufgeregt. Ich hatte das Thema um Kiyoshi und mir wohl damit abge­würgt.

»Glaub mir, wenn ich wieder da bin, dann bin ich wieder der Alte. Obwohl ich versuchen werde, ein nicht allzu schlechter Sohn mehr für dich zu sein.«

»Was redest du denn da? Du bist doch kein schlechter Sohn für mich! Gut, du bist öfter mal ungezogen und nicht immer nett zu mir, aber daran bin ich oft auch selber Schuld.« Sie klang kurz vor den Tränen.

»Mama …«

»Hiro, du bist ein guter Sohn. Du bist mein Schatz, das weißt du doch …« Dann brach ihre Stimme ab und ein Schluchzen kam durchs Telefon.

»Mama, bitte nicht weinen«, versuchte ich sie zu beruhigen. Sie schluchzte noch einmal und zog kurz die Nase hoch.

»Mama, bitte…«

»Tut mir Leid, mein Schatz … Ich vermisse dich so …«, gluckste sie ins Telefon.

»Ich dich auch, Mama. Ganz dolle.« Ich wollte einmal ihr kleiner Hiro sein, den sie sich immer so wünschte. Auch wenn ich es im Moment etwas kindisch fand, fiel es mir nicht schwer, so zu sein. Zu meiner eigenen Verwunderung.

»Versprich mir, dass du mir erzählst, wenn dich irgendetwas bedrückt … Ja?« Ich schwieg kurz. Da belasteten mich genau zwei Dinge: Dass ich bald sterben werde und dass ich meinen Bruder liebe. Aber beide Dinge wollte ich ihr um keinen Preis erzählen.

»Mama, ich brauche auch meine Geheimnisse …«

»Die kannst du ja auch haben. Aber wenn dich etwas be­drückt und du dich schlecht fühlst, dann sag’s mir. Und nicht, weil das mein Job ist, sondern weil ich deine Mutter bin.«

»Klar, Mama.«

»Versprichst du es?«

» … « Ich wollte sie nicht anlügen. Und wenn ich es ihr versprechen würde, bräche ich unser Versprechen. Sie merkte wohl meine kleine Nervosität und nutzte die Situation schlag­artig für das tolle Thema aus.

»Hiro … Was ist passiert? Zwischen dir und deinem Bruder?«

»Mama, das …«

»Du weißt, dass ich eigentlich mit dir darüber reden wollte.«

»Ja, aber …«

»Hiro, das ist nicht mehr lustig. Ich hoffe für dich, dass du an dem Abend etwas genommen hast.«

»Was? Mama!«

»Hast du nicht? Du meintest das ernst?«

»Was genau sollte ich deiner Meinung denn ernst gemeint haben?« Unsere Stimmen wurden von Satz zu Satz immer lauter und aggressiver. Dabei wollte ich mich nicht mit ihr Streiten.

»Du hast … Du hast ihn geküsst … Und ihn verführt … Wolltest du etwa Sex mit ihm?«, schrie sie ins Telefon und klang weitaus verzweifelt.

Ja, wollte ich.

»Mama, natürlich nicht …«

»Bist du dir da sicher?«

»Ja, doch! Er ist mein Bruder, das wäre nicht nur Schwul, sondern auch noch Inzest!«

»Warum küsst du ihn dann?«

»Ich …« Mir fiel keine Ausrede ein. »Um ehrlich zu sein, weiß ich das auch nicht ganz. Ist so gekommen …«

»Tz!«, schnaufte sie ins Telefon. »Was ist mit ihm? Wollte er das?«

»Weiß ich nicht …« Meine Stimme senkte sich immer weiter.

»Du weißt es, Hiro. Wenn man sich küsst, merkt man doch, ob dein Gegenüber das ebenfalls möchte.« Wieso hatte meine Mutter so etwas studiert? Wieso fielen ihr solche Argumente immer ein und mir nicht?

»Ja, verdammt, er hat mitgemacht! Na und? Ich habe Jiro auch geküsst und es war kein Drama!«

»Du hast was?«, schrie sie in ihrer drei Oktaven höheren Stimme. Ups …

»Man, das war auf einer Party. Und jetzt war es halt die Müdigkeit oder irgendetwas anders!« Mein Faden war kurz vorm Reißen. Warum konnte sie mich in solchen Situationen nicht einfach das machen lassen, was ich machen wollte.

»Schatz … Wenn du dich für Männer interessierst, dann informiere mich doch -«

»Mama!«, schrie ich ins Telefon und sprang von meinem Stuhl auf. Sofort trat Stille ein. »Ich habe kein Interesse an Männern, noch interessiere ich mich für Kiyoshi. Ich weiß selber nicht ganz, was genau ich da gemacht habe, bin mir aber zu hundert­prozentig sicher, dass Kiyoshi sich genauso wenig was dabei gedacht hat, wie ich mir.«

Das Schweigen blieb erhalten. Ich war wieder laut geworden, schnauzte sie an. Aber was um alles in der Welt sollte das werden? Werden meine seltsamen Handlungen jetzt durch Homosexualität abgestempelt? Okay, wie sollte man es sonst nennen, trotzdem wollte ich mich mit diesem Stempel nicht abfinden.

»Mama, das … das ganze ist eine Sache zwischen mir und Kiyoshi. Ich wäre sehr damit verbunden, wenn du und insbesondere Vater, eure Nasen daraus halten würdet.«

»Ich …«, fing sie an, brach jedoch ab. Sie klang ziemlich fertig. »Ich dachte nur … Ich könnte dir vielleicht helfen in Bezug auf manchen Gefühlschaos in dir. Du warst in letzter Zeit so … seltsam. Und dann erzählte mir dein Vater heute Morgen, was zwischen dir und deinem Bruder passiert war. Ich dachte wirklich nur … es läge eventuell daran.« Sie klang nicht nur fertig, sie war es.

»Mama, wenn es dich beruhigt: Zwischen mir und Kiyoshi sind zwar eine Menge Unklarheiten, aber wir regeln das. Ich rede bald mit ihm und dann werde ich dir sagen, was wir abgemacht haben.«

»Abgemacht haben? Hiro, bei Liebe geht es nicht um Verträge, die man abmacht

»Welcher Idiot hat denn bitte von Liebe gesprochen?«, schrie ich wie aus dem Nichts wieder in mein Handy. Meine Mutter atmete ein, wollte etwas sagen, blieb aber still. Ich fasste mir an die Stirn, atmete tief ein und aus und versuchte meinen Puls ein wenig runterzuschaukeln.

»Mom … Tut mir Leid, aber … Versteh bitte, dass sich niemand etwas dabei gedacht hat. Wirklich nicht. Die einzigen, die in diese Sache zu viel hineininterpretieren seid ihr beiden, du und Vater.«

»Du liebst ihn also nicht?« Sie klang schon fast enttäuscht.

»Nein, Mama.«

»Gar nicht?«

»Natürlich liebe ich ihn …« Ich musste stocken. »… als Bruder, aber mehr auch nicht.«

»Ich verstehe …«

Nun schwiegen wir. Es war eine peinliche Stille, sie machte mich verrückt. Weil es genau um meine Gefühle ging, bei denen ich meine Mutter anlügen musste. Ich versank richtig in meinem Lügenschlund.

»Kann ich ihn sprechen?«, brach meine Mutter die Stille.

»Wen? Vater?«

»Nein, deinen Bruder.«

Oh, oh.

»Äh, der ist noch in der -«

Wie als hätte er den richtigen Moment abgewartet, öffnete sich die Tür und Kiyoshi trat in mein Zimmer.

Unsere Augen trafen sich. Seit gestern Nacht hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er sah zwar etwas fertig aus, wahr­scheinlich wegen dem langen Schultag, trotzdem zeigte er seine standardmäßige Anmut. Sein Blick verriet im ersten Moment nichts, doch so langsam durchschaute ich seine Mimiken. Seine Augen glänzten ein wenig. Auch er schien sich bei meinem Anblick an gestern Nacht zu erinnern. Und was noch viel wichtiger war: Abstoßend oder angewidert sah er nicht gerade aus. Er strahlte eher das Gegenteilige aus.

 

Ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, kam er auf mich zu.

»Oh, hallo Kiyoshi«, sagte ich erstaunt. Er stellte sich kurz neben mich.

»Hallo, Hiro.« Seine Stimme war so ruhig und sanft in meinen Ohren, fast wie eine Melodie. »Du telefonierst?«

»Ja, Mom ist dran.« Ich hielt das Handy wieder an mein Ohr. »Mom? Kiyoshi ist doch da. Willst du ihn noch haben?«

»Ja, bitte, gib ihn mir.«

Sofort spürte ich seine kalte Hand an meiner, wie er noch an meinem Ohr nach dem Handy greifen wollte. Unsere Blicke trafen sich ein weiteres Mal, ich kam ihm etwas näher. Ein Kuss wäre schön gewesen …

Ich spürte seinen Atem schon auf meiner Haut, seine Nase berührte kurz meine. Er hielt still, wartete wahrscheinlich nur darauf, dass wir uns berührten.

»Hallo?«, kam die Stimme meiner Mutter aus meinem Handy. Sofort ließen wir voneinander ab. Das ‚Hallo’ wiederholte sich noch einmal, dann überließ ich Kiyoshi mein Handy und er ging ran.

»Hallo Mutter«, begrüßte er sie. Ganz anders als ich. So versteift, obwohl ich meinen Vater auch nicht direkt am Anfang ‚Dad’ genannt hatte.

Ich verstand nicht viel vom Gespräch. Sie fragte ihn wohl, wie es ihm ging, ob alles klar sein würde. Dann packte sie das Problem wohl am Schopf. Kiyoshis Miene blieb unergründlich, sagte nichts über seine Emotionen aus. Er sagte nur ‚ja’ und ‚nein’, mehr nicht. Er wich nicht von meiner Seite, blieb genau da stehen, wo er vorher stand. Ich traute mich aber nicht, mein Ohr ans Handy zu legen und zu lauschen, während er telefonierte. Ich wusste zwar worum es ging, doch hatte ich keine Ahnung, wie weit da Privatsphäre drin war.

Plötzlich hörte ich meine Mutter etwas fragen und Kiyoshi schwieg. Sein Blick wanderte sofort nach rechts. Er legte seine Stirn in kleine Falten und bildete mit seinen Lippen eine gerade Linie.

»Ich weiß es nicht …«, murmelte er. Er schien sich etwas von mir wegzudrehen. Ich konnte mir denken, welche Frage das war. Wahrscheinlich die, die ich erst auch mit ‚Ich weiß es nicht’ beantwortet hatte. Obwohl ich mir jetzt sicher war. Und ich bejahte die Frage. Ob er sie innerlich auch bejahen würde? Mein Herz fing heftig an zu schlagen. Mein Puls stieg an und mein Atem wurde abgehackt. Ich war so aufgeregt, wollte wissen, was er wirklich dachte.

Dann setzte er wieder sein ‚ja’ und ‚nein’ fort. Nach wenigen Minuten nickte er kurz und drehte sich wieder zu mir.

»Soll ich dir Hiro noch mal geben?«, fragte er sanft. Sie sagte wohl ‚ja’, denn er verabschiedete sich und reichte mir den Hörer.

»Mom?«

»Ich wollte dir noch eine gute Nacht wünschen, Schatz.«

Ich sah im Augenwinkel, wie Kiyoshi schon gehen wollte. Da packte ich sein Handgelenk und hielt ihn davon ab. Er sah mich verwirrt an, blieb jedoch brav stehen. Sofort kam er wieder auf mich zu, schob sein Handgelenk etwas höher und legte seine Hand in meine.

»Oh klar. Dann … schlaf schön und eine gute Nacht«, mur­melte ich schon fast.

»Danke, dir auch, träum schön. Wir … reden spätestens am Ende der Woche noch mal darüber.«

»Klar …« Hm, gefiel mir jetzt nicht so.

»Tschüss, Schatz.«

»Ciao, Mama.«

Ich nahm das Handy von meinem Ohr und legte auf. Sachte platzierte ich es wieder auf meinem Schreibtisch. Ich spürte Kiyoshis fragenden Blick. Zärtlich umschloss er meine Hand, drückte sie ein wenig. Es tat mir innerlich weh, die Sache anzusprechen, wollte ich ja weder Streit noch ihn wegen irgendeiner misslichen Lage anlügen. Ich wollte ihm sagen, was ich fühlte, wobei ich mit mir selbst noch nicht ganz im Klaren war. Vorsichtig sah ich ihm in die Augen. Seine Miene sah gleichgültig aus, trotzdem schien er auf eine Reaktion meiner­seits zu warten.

»Wir sollten darüber reden …«, sagte ich in einem weniger harten Ton, als er beabsichtigt war. Sofort blickte er auf den Boden. Er schluckte kurz. Suchte er nach Worten?

»Schließe heute Abend einfach dein Zimmer ab«, murmelte er vor sich hin, während er sich eine kleine Strähne aus dem Gesicht strich. Sie fiel wieder zurück.

»Willst du nicht darüber reden …?« Enttäuschung stieg in mir auf.

»Was willst du bereden? Egal wie es von uns gewollt war, oder dementsprechend nicht, es wird in keinem Fall noch einmal vorkommen. Da können wir wenig machen.« Sein Blick sah traurig aus, sagend, dass er keine Hoffnung für irgendetwas hatte. Aber das war nun mal mein Bruder. Hoffnungsloser Fall bezüglich des Lebens und des Lebens Freuden.

»Vielleicht wenig, aber immerhin etwas …«, flüsterte ich ihm entgegen, als ich näher auf ihn zukam. Fünf Zentimeter trennten vielleicht unsere Gesichter voneinander. Er blickte auf, sah sofort in meine Augen und schien erst nicht ganz zu verstehen was ich meinte. Ich schloss meine Augen, drehte mich zum Fenster und wendete meinen Blick wieder zu ihm. Seine Augen weiteten sich etwas, sahen ebenfalls aus dem Fenster. Er schien kurz zu überlegen, was ich meinte, dann lächelte er. Wie schön er war, wenn er lächelte. Meine Wangen erröteten leicht, als er seine Augen wieder gen Boden senkte.

»Dann …«, fing er an und kam auf mich zu. Mein Herz klopfte so wahnsinnig, als er mir in mein Ohr flüsterte, während er meine Hand drückte. »… leg den Schlüssel auf den Türrahmen ohne, dass Vater es merkt. Dann komme ich dich um Mitternacht abholen.«

Ich nickte wie benebelt. Unsere Finger der jeweils anderen Hand berührten sich kurz, dann umschlossen wir auch dort die Finger. Ich spürte seinen Atmen in meinem Hals, seine Nähe an meinem Körper. Sollten wir wirklich wieder …? Hier und jetzt? Ist es das Risiko wert, dass wir wieder erwischt werden?

Die Sonne schien noch fade durch die Löcher der Rollläden …


Nachwort zu diesem Kapitel:
... bald ist es soweit, hehehe (〃 ̄ω ̄〃) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Tomanto
2015-07-04T08:46:09+00:00 04.07.2015 10:46
Ich habe meiner Schwester beschrieben, was alles so im Studio ist (das sind alles Sachen, die sie liebt) und sie meinte stumpf: >>Ok, ich ziehe da hin!<< .
Ich nur: >>Naja, ich lieber nicht so...<< .
Von: abgemeldet
2015-06-28T10:58:50+00:00 28.06.2015 12:58
Hi,^^
Schön, dass sie doch eine Möglichkeit haben sich zu Lieben. ^^
Ok hört sich jetzt zweideutig an! XD

Dieses Kapitel hat mir sehr gut gefallen, war zwar ein bisschen bei dem Studio zu viel beschrieben (Für meinem Geschmack) war aber ok so. ^^

Freue mich schon auf das nächste Kapitel.^^

Lg^^
Von:  Roxi_13
2015-06-27T20:27:37+00:00 27.06.2015 22:27
Jetzt werd ich wirklich langsam hipelich
Frei mich schon wenn es weiter geht

LG
Roxi_13
Von:  Annemi91
2015-06-27T19:11:13+00:00 27.06.2015 21:11
Jetzt bin ich aber aufgeregt... :D Der Satz:"Dann komme ich dich um Mitternacht abholen.", ist soooo süß und hat mich sehr zum lächeln (und quieken) gebracht. :D

Wieder mal ein sehr schönes Kapitel (und ich war froh, das nur Hiros Vater nach ihm rief und nicht noch jemand in sein Leben trat, der es ihm schwerer machen wollte). Hiro hat etwas gefunden was ihm Spaß macht und wobei er Zeit "totschlagen" kann. Endlich mal etwas Abwechlung. :)
Dass der Vater wirklich mit der Mutter über die Beziehung zwischen den Brüdern sprach, hätte ich nicht gedacht. Ich dachte, er hätte ihr irgend eine andere Geschichte aufgetischt.
Auf jeden Fall hat man in diesem Kapitel auch das Gefühl, das zwischen den Eltern wirklich mal große Liebe dagewesen ist. Schön zu lesen, das er sich immer kümmerte. :) Das ihr Stolz im Weg war und ist, finde ich gut. So hast du sie immer dargestellt und hätte sie das Geld immer bedingungslos angenommen, wäre es komisch geworden. Was ich mich frage: die Trennung passierte aufgrund des Vampirseins oder hat es noch andere Gründe? Gehst du darauf noch näher ein?

Auf jeden Fall bin ich jetzt schon total aufgeregt und freue mich riesig darauf, wenn das nächste Kapitel da ist *hibbelig hin und her läuft* :)
Antwort von:  ellenchain
27.06.2015 23:10
Hihihi, vielen, vielen Dank für den langen Kommentar! (natürlich Danke an dieser Stelle für so viele Kommentare, auch von den anderen fleißigen Leserchen!)
Und auf deine Frage hin: Ich gehe leider nicht mehr darauf ein. Im Grunde hatte ich damals einen zweiten Teil geplant, wo ich nochmal auf all die Sachen eingehe, die hier so unbeantwortet im Raum stehen: Was macht der Vater eigentlich genau als Beruf? Wieso sind die Eltern getrennt? Wieso ist Kiyoshi depressiv? Wieso darf Hiro erst mit 18 zu seinem Bruder? ... Ja und so viele andere Sachen... waren eigentlich für einen zweiten Teil gedacht!
Ich bin ehrlich: Wenn ich wieder die Zeit finde, werde ich natürlich am zweiten Teil schreiben und alles beantworten, da ich aber nicht weiß ob und wann ich das schaffe... Ist die Frage, ob ich das alles am Ende aufkläre, oder eben nicht.
Warten wir mal ab, bis ich fertig hochgeladen habe, dann frage ich nochmal, ist das okay? :D
Antwort von:  Annemi91
28.06.2015 00:40
In der Hoffnung einen zweiten Teil zu lesen, werd ich ganz geduldig warten. ;)


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