My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 6: Seltsame Sitten -------------------------- Die Endstation rückte immer näher. Ich fragte mich bei jeder Haltestelle, ob wir hier aussteigen würden. Wir waren schon längst in der Stadt und die Bahn füllte sich dement­sprechend. Es war schön, wieder mitten im Leben zu sein. Kiyoshi schien das weniger zu gefallen, da er immer mehr in seinem Sitz versank, wenn mehr Leute dazu stiegen. Mein Vater unterhielt sich ganz freundlich mit einer älteren Dame, die neben ihm saß. Er war so anders als meine Mutter. So lieb und nett. Während der lang erscheinenden Bahnfahrt, dachte ich darüber nach, was aus mir geworden wäre, wenn ich bei meinem Vater und meinem Bruder gewohnt hätte. Wahrscheinlich wäre ich jetzt so wie mein Ebenbild. Gut, dass ich bei meiner Mom lebte. Ich konnte mir den blöden Kommentar einfach nicht ver­kneifen: »Magst du Menschenaufläufe nicht so?«, fragte ich ihn hä­misch. Er schwieg einfach und antwortete nicht. Ich zuckte grinsend die Schultern. Das musste ich nicht von ihm wissen, das sah man ihm einfach an. Er schaute nur grimmig in die Menschenmenge hinein und musterte jeden einzelnen.   »Dad? Sag mal, wann müssen wir aussteigen?«, fragte ich meinen Vater beiläufig und drehte mich etwas zu ihm um. Der unterbrach das Gespräch mit dem alten Herrn höflich und drehte sich auch ein wenig um. »Die Station heißt ‚Am alten Rathhaus’. Die müsste gleich kommen. Dann steigen wir aus und gehen sozusagen den weg zurück.« »Den Weg zurück? Wieso?«, fragte ich verwirrt. »Die Einkaufsstraße zurückgehen. Wir durchfahren sie ja grade und wenn wir am Ende sind, brauchen wir nur die Bahn nehmen und müssen nicht noch mal die ganze Stadt durch­fahren.« Na ja. War logisch. Ich nickte kurz und drehte mich wieder um. Kiyoshis Miene wurde immer mehr verärgert und er wollte anscheinend schon wieder zurück. Es war nämlich genau das Gesicht, was ich gezogen hatte, als meine Mutter erzählte, ich sollte doch für eine Woche zu meinem Vater und mich benehmen. Bis jetzt fand ich, tat ich das ganz gut. Die Sache mit dem Benehmen.   Die Ansage für ‚Am alten Rathhaus’ kam schon wenige Minuten danach. Ich stand auf und wollte mich schon durch die Menge quetschen, da ging mein Vater schon vor mir und alle Leute machten Platz. Manche schienen es automatisch zu machen und andere sahen mehr verängstigt aus. Andere wiederum starrten ihn nur ungläubig an. Kiyoshi war direkt hinter mir und ich hatte das Gefühl, er würde mir gleich irgendetwas in den Rücken stechen, so eine böse Aura strahlte er aus. Kaum waren wir ausgestiegen, standen wir vor einem großen Gebäude.   »Ich nehme an, das ist das alte Rathhaus?«, fragte ich meinen Vater der nur grinsend nickte und fragte: »Möchtest du rein?« »Nee, nee. Rathhäuser gibt’s bei uns auch.« Da lachte er und schüttelte leicht den Kopf. Kiyoshi grinste nicht einmal, sondern schaute nur die einzelnen Leute an, die an uns vorbeigingen. Der einzige Gedanke, der mir dazu einfiel war: ‚Der ist ja schlimmer als ich und das ist schon eine Kunst’. Als wir endlich losgingen, ging ich wieder mit meinem Vater zusammen und Kiyoshi schlich schon fast hinter uns her. Mein Vater spürte, dass ich immer wieder hinter mich schaute, um nach Kiyoshi zu sehen. »Kiyoshi. Komm nach vorne und geh nicht immer hinter uns«, sagte er und winkte ihn an seine Seite. Der brummte was vor sich hin und kam dann zu uns.   Es war mir gar nicht aufgefallen, dass mein Vater wieder unter seinem schwarzen Sonnenschirm stand und Kiyoshi immer noch unter seiner Kapuze. Ich genoss die Sonne in vollen Zügen und tanzte schon fast, weil ich so glücklich war wieder bei normalen Menschen zu sein. Ganz normale Familien zogen an uns vorbei und Pärchen, die glücklich Händchen hielten, gingen neben uns her. Die Geschäfte hier sahen aus, wie bei uns im Süden. Kleidungsgeschäfte meiner Art und der Art, die ich weniger mochte. Lebensmittelgeschäfte, gefolgt von Schmuckgeschäften, wiederum gefolgt von Schuhgeschäften und was noch alles folgte, war unbeschreiblich viel. »Warum wohnt ihr eigentlich soweit außerhalb, hier in der Stadt ist es doch schöner?«, fragte ich meinen Vater, dessen glücklichen Blick ich wieder vernahm. »Es ist ruhiger und ich liebe die Natur. Kiyoshi nörgelt mir auch immer die Ohren zu, dass er in der Stadt wohnen möchte«, lachte er und deutete auf Kiyoshi, dessen Miene sich etwas verbessert hatte. Trotz allem sagte er kein Wort. »Wirklich? Ich wohne ja in der Stadt und es ist wirklich toll da. Na ja, manchmal muss man um sein Leben fürchten, wenn einen mal wieder eine Straßenbahn nicht sieht, aber sonst ist es klasse da.« »Das freut mich für dich. Aber die eine Woche bei uns auf dem Land wirst du doch überleben, oder?« »Ja, klar.« Weiß ich noch nicht, wäre eine bessere Antwort gewesen.   Nachdem wir ein Stück gegangen waren, kam ein Kleidungs­geschäft, in dem ich immer mit meinen Kumpels einkaufte. Mein Vater spürte wohl meinen interessierten Blick ins Schaufenster. »Möchtest du da rein?«, fragte er lieb und deutete auf den Eingang des Geschäfts hin. »Oh, also … Schon, gerne, ja«, brachte ich wieder keine richtige Antwort raus. Bei meiner Mutter waren solche Gespräche anders: »Mom, ich will da rein« - »Okay« und damit waren wir im Geschäft. Mein Vater ging aber schon in Richtung Eingang und ich folgte ihm glücklich. Kiyoshi grummelte wieder irgendetwas vor sich hin. Es hörte sich an wie: »Hier will der rein?« Ich gebe zu, das Geschäft ist nicht für jedermann toll. Hier wurde immer rockige Musik gespielt und die meisten Kleidungs­stücke waren schwarz oder zumindest dunkel. Das Geschäft hatte zwei Etagen und unten waren die Frauen, oben die Männer. Ich fand immer, dass die Frauen in solchen Klamotten viel mehr Auswahl hatten, aber was soll’s? Mein Vater und ich rannten schon fast nach oben, während Kiyoshi nur langsam folgte. Ich rannte, weil ich wissen wollte, was es neues gab und mein Vater rannte, weil er wahrscheinlich neugierig war, was ich so trage. Kiyoshi schlich, weil er keinen Bock hatte.   Oben angekommen, erstrahlten meine Augen schon und fielen auf eine Jeans, die schwarz und wunderbar weit war. Ich sah auf den Preis und musste etwas schlucken. Sie war recht teuer und für mich fast unbezahlbar, da meine Mutter mir nicht viel Geld gab. Von was denn ja auch. Trotzdem nahm ich eine vom Bügel und sah sie mir genauer an. Sie hatte viele Taschen und der Bund war unten mit silbernem Garn im Zick-Zack Muster vernäht worden. Mein Nietengürtel würde darauf bestens passen, dachte ich mir beiläufig und ging schon meinen halben Kleiderschrank durch, was passen könnte. Mein Vater stand die ganze Zeit neben mir und musterte die Hose. »Magst du sie?«, fragte er vorsichtig. »Ja! Sie ist schön, aber zu teuer. Ich spare einfach ein bisschen, dann hol ich sie mir«, sagte ich und hing sie glücklich wieder auf den Ständer. »So was ziehst du an?«, hörte ich die grimmige Stimme, die wie meine Klang, aus dem Hintergrund. Ich drehte mich genervt um und blickte in Kiyoshis Augen. »Ja, so was zieh ich an«, gab ich schnippisch zurück. Er nahm seine Kapuze ab und gab sein glänzendes, schon weißes Haar preis. Es hing ihm im Gesicht, als ob er schon seit längerem keinen Friseur mehr besucht hätte. Er kam langsam zu mir herüber und hielt die Hose in der Hand. Ich ging einen kleinen Schritt zur Seite und sah ihm zu, wie er die Hose mitmusterte. »Na ja. Sie passt zu dir«, murmelte er und ließ sie verachtend wieder los. »Würde dir nicht schaden, dich auch mal etwas ‚mehr im Trend’ zu kleiden.« »’Im Trend’ würde ich das nicht nennen«, meinte er rechthaberisch und verschränkte seine Arme. »Und als was würdest du dich bezeichnen, Loser?« » … « Da schwieg er. Ha! Ich hatte ins Schwarze getroffen. »Als einen normalen Menschen, Punk«, meinte er nun frech und verzog ein angriffslustiges Gesicht. »Punk? Ich bin doch kein Punk! Kannst du keinen Rocker von einem Punk unterscheiden?« »Doch kann ich, aber für mich bist du rebellisch unangenehm, deswegen Punk.« »Ich bin aber Rocker, du stinklangweiliger Idiot.« »Du bezeichnest mich als einen Idioten? Für dich müsste dann ja noch eine Bedeutung erfunden werden.« »Ach ja? Und was würdest du für eine Vorschlagen?« » Einfach ein -… « »Schluss jetzt!«, rief mein Vater dazwischen. Erst jetzt merkte ich, dass wir schon unsere Hände zum Kampf gehoben hatten. »Ihr beide kennt euch grade mal 1 ½ Tage und müsst euch schon die Köpfe einschlagen«, schimpfte unser Vater und schlug uns die Hände runter. Die Leute im Geschäft sahen uns schon interessiert an. Aber ihre Blicke fielen mehr auf Kiyoshi und meinen Vater, weniger auf mich. Wahrscheinlich, weil die so anders aussahen und nicht hierhin passten. »Wenn er meinen Geschmack so runter macht? Das lass ich mir doch nicht gefallen!«, meckerte ich. »Dito!«, meckerte auch Kiyoshi und starrte mich böse an. Ich knirschte schon mit den Zähnen. Jeder andere in meiner Schule wäre schon längst am Boden, wäre er so mit mir herumge­sprungen. Plötzlich knurrte Kiyoshi und zeigte mir seine Zähne.   Ich erschrak zu Tode. Seine Augen funkelten mich böse an und seine Eckzähne schienen viel zu lang zu sein. Es war nur eine Sekunde lang, doch mich durchfuhr ein kalter Schreck. Mein Vater schlug plötzlich zu und klatschte Kiyoshi eine. Aber richtig heftig. Er taumelte leicht zur Seite und hielt sich die Wange mit der linken Hand, um den Schmerz zu lindern. Er sah nicht auf, sondern blickte nur zu Boden und sagte keinen Ton. »Raus! Aber sofort! Und dann wartest du vor dem Geschäft auf uns!«, zischte mein Vater Kiyoshi zu und griff ihn am Oberarm. Er packte richtig feste zu. Das sah man an seiner zusammen geknautschten Jacke. Mein Bruder sagte nichts, sondern ging einfach mit gesenktem Blick nach unten. Noch etwas irritiert, sah ich Kiyoshi hinterher. »Entschuldige. Der Junge hat seine Phasen«, meinte mein Vater kühl, trotzdem versuchte er freundlich zu bleiben. »Nein, ist schon okay. Ich war mit Schuld. Du bist immerhin unser Vater. Du musst das ja tun«, murmelte ich reumütig. Ich ging mit meiner rechten Hand kurz ins Haar und spürte Feuchte an meiner Stirn. Es war kalter Schweiß. Etwas verwirrt und gleichzeitig geschockt, sah ich das Nasse an meiner Hand an. »Möchtest du die Hose nicht anprobieren?«, unterbrach mich mein Vater wieder mit einem Lächeln und deutete auf eine freie Kabine hin. Ich nickte kurz und nahm die Hose vom Ständer. In der Umkleide konnte ich dieses Bild nicht loswerden. Kiyoshi hat mich angeknurrt, wie ein Tier. War es vielleicht nur eine Einbildung? Aber dafür war es viel zu real. Das klang vielleicht dumm oder kindisch, aber ich hätte jetzt gerne meine Mutter hier gehabt. Mit Herzklopfen zog ich die Jeans an und sie passte wie angegossen. Ich betrachtete mich im Spiegel und war begeistert. Es ist schon fast Liebe auf den ersten Blick, spaßte ich innerlich, um mich abzulenken. »Zeig dich doch mal, Hiroshi«, rief mein Vater durch die Umkleide von draußen. Ich zog den Vorhang weg und zeigte mich kurz. Er musterte mich und nickte. »Sie steht dir wirklich gut.« »Dankeschön«, murmelte ich. Als keiner was sagte und mein Vater mich nur musterte, fragte ich ihn: »Sag mal, Dad …« »Ja, Hiroshi?« »Kannst du mich bitte Hiro nennen. Ich mag meinen vollen Namen nicht so gerne.« Als mein Vater mich nur verwundert ansah, bekam ich Herzklopfen, dass ich was Falsches gesagt haben könnte. Doch dann lachte er und nickte verständnisvoll. »Natürlich, Hiro. Ich wusste nicht, ob ich dich so nennen durfte. Kiyoshi mag es nämlich überhaupt nicht, wenn ich ihn nur Kiyo nenne.« »Bei mir sollst du es sogar«, lachte ich und schwor mir schon innerlich, dass ich meinen bescheuerten Bruder am Abend Kiyo nennen würde. Oder Yoshi. Das wäre doch noch süßer. So heißt doch dieser Drache von Super Mario, dachte ich und lachte mich innerlich halb tot. Yoshi, Yoshi, Yoshi! Haha! Nein, war das lustig. »Warum grinst du, Hiro?«, fragte mein Vater verwundert über mein glückliches Erscheinen. »Ach, nur so.« Dann verschwand ich wieder in der Umkleide und freute mich schon auf heute Abend.   Kurz danach kam ich auch schon wieder raus und wollte die Hose wieder zurückbringen, da nahm sie mir mein Vater ab. »Du möchtest sie doch haben, oder?«, fragte er und grinste mich an. »Ja, schon, aber ich habe nicht so viel Geld dabei.« »Ich bezahl das schon.« »Nein, die ist viel zu teuer.« »Du weißt, dass ich das bezahlen kann.« »Ja, aber -« »Ist schon okay, Hiro«, meinte er und ging schon zur Kasse. Natürlich freute ich mich, dass mein Vater mir eine Hose kaufte, aber für mich war das viel Geld und es ist mir egal ob die jemand kauft, der viel Geld hat oder nicht. Es bleibt beim Preis. Aber das ist so ein Gefühl, das kann er wahrscheinlich nicht verstehen. Er musste sicher noch nie in einem Winter frieren, weil nicht genug Geld da war, um die Heizung anzumachen.   Nachdem mein Vater das viele Geld ausgegeben hatte und ich der glückliche Besitzer einer wunderschönen Jeans war, fuhren wir mit der Rolltreppe wieder runter und sahen Kiyoshi schon unten am Eingang stehen. Er sah nicht glücklich aus, eher reumütig. Wir gingen aus dem Geschäft und stellten uns neben ihn. Der sah uns nicht an und wartete wahrscheinlich nur darauf, dass wir weitergingen. »Du, Kiyoshi. Tut mir Leid wegen grade eben«, murmelte ich ihm zu, sodass mein Vater es nicht hörte. »Das braucht dir nicht Leid tun, ich mag dich halt nicht. Das ist alles«, meinte er schnippisch und sah mich wieder funkelnd an. Sofort kam das Bild von vorhin wieder in meinen Kopf geschossen und mich durchfuhr ein kalter Schauder. Ich hätte gerne gefragt, ob ich das auch wirklich gesehen hatte, aber wie? Die Frage »Du sag mal, hattest du vorhin so komische Augen und Fangzähne und hast du wirklich geknurrt?« klang, als würde ich Matsche in der Birne haben. »Aha«, gab ich kurz zurück. Er mag mich also einfach nicht. Schön für ihn. Ich ihn auch nicht. »Dito«, musste ich einfach noch hinzufügen. Er nickte kurz und wendete sich dann wieder den Geschäften zu. Wir gingen also weiter.   Die Stadt war schön, sie hatte jedenfalls was für sich. Viele Geschäfte waren recht klein und gemütlich. Andere wiederum waren groß und hatten viel Auswahl. Wir gingen auch mal in ein Geschäft für meinen Vater rein. Dieses Geschäft schien irgendwie nur Spießerkleidung zu führen. Polohemden, Anzüge, Krawatten, Hemden, Stoffhosen und handgemachte Lederschuhe. Und natürlich alles sehr teuer. Selbstverständlich für meinen Dad. Kiyoshi schien hier auch öfter zu sein, denn der sah sich auch manche Sachen genauer an. Aber es waren Hemden, die ich vielleicht auch noch anziehen würde. Aber nur zu besonderen Anlässen. Kiyoshi schien sie aber dann öfter anzuziehen. Plötzlich trennten sich Kiyoshi und mein Vater voneinander und jeder ging seine Richtung im Geschäft. Ich wusste nicht ganz wem ich jetzt folgen sollte. Kiyoshi ganz sicher nicht, aber meinem Vater auch nicht gerne. Also ging ich meinen eigenen Weg durch das Labyrinth der Polohemden und Stoffhosen. Ich sah mir vereinzelt Klamotten an, doch das gefiel mir alles irgendwie nicht. Etwas weiter hinten war die Damenabteilung und sie war zu meinem Erstaunen recht klein. Hier würde sich meine Mutter wohl fühlen. Alles nach ihrem langweiligen Geschmack. Aber ihr roter Lippenstift würde auch hierzu nicht passen.   »Ist nicht deine Welt, oder?« Ich drehte mich langsam um und sah Kiyoshi böse an. »Das weißt du ja.« »Nicht ganz, aber ich kann’s mir jedenfalls gut denken.« »Aber es ist deine, oder?« »Nein, auch nicht.« »So?«, fragte ich ungläubig und musterte ihn. »Sieht aber ganz anders aus.« »Unser Vater mag diese Sachen, ich weniger«, gab er schnip­pisch zurück und verschränkte seine Arme. »Dann sag ihm, dass du sie nicht magst. Fertig.« »Er zieht sie mir trotzdem an.« »Weil du sie magst.« »Nein.« »Haha. Ja, doch.« »Nein, Hiroshi.« Oho, jetzt wird die Konversation hart, er hat meinen Namen gesagt. »Dann zeig doch mal, was du unter deiner Jacke trägst«, sagte ich auffordernd und deutete auf ihn. »Ein T-Shirt. Was sonst?« »Was genau für ein T-Shirt?« »Ein schwarzes.« »Schwarz? Das will ich sehen.« »Zu Hause.« »Warum? Ich möchte es jetzt sehen.« »Hiroshi, nein.« »Komm schon, Yoshi.« Seine Augen formten sich zu Schlitzen, die mich böse an­funkelten. Aber es war nicht wie vorhin, jetzt war es etwas lustiger. »Yoshi? Ich heiße Kiyoshi.« Wobei seine Betonung auf dem ‚Ki’ war. »Für mich bist du Yoshi. Und jetzt zeig mir dein T-Shirt!« Als er immer noch den Kopf schüttelte und die Arme vor seiner Brust verschränkte, griff ich nach seinen Armen und versuchte sie wegzudrücken. Dabei lachte ich natürlich, es sollte nur ein Spaß sein. Und, habe ich mich da versehen? Er grinste mich an. Es war zwar ein gemeines Grinsen, aber es war eins. Er versuchte meine Hände von seinen Armen wegzudrücken, aber ich bekam seinen Reißverschluss zu packen und zog ihn nach unten. Er rief etwas wie ‚Nein’ und ich ‚Doch’ und es war mehr eine Rangelei, als ein Kampf. Das schwarze T-Shirt blitzte hervor und ich erkannte eine weiße Schrift darauf. Da stand etwas von ‚Schluss’ und ‚20’. Sah ganz nach einem Abschluss-T-Shirt aus. Plötzlich verlor er den Halt und flog nach hinten über einen kleinen Tisch mit Polohemden. Dabei hatte ich ihn an der Jacke und wollte ihn noch festhalten, da zog er mich trotzdem mit runter und wir flogen auf den dunkelgrauen Teppich.   Man hörte nur schmerzhaftes Gestöhne und ich versuchte mich aufzurichten. Ich rieb mir meinen Kopf und schüttelte ihn etwas. Mir tat der Arm ganz schön weh. Es war der Arm, den ich mir in meiner Hektik am Freitag angeschlagen hatte, als ich über den Koffer gestürzt bin. Vorsichtig sah ich ihn mir an. Er war ganz schön blau und grün geworden. Erst als ich zwei Hände an meinen Knien spürte, die ver­suchten sie hoch zu drücken, sah ich runter. Kiyoshi lag direkt unter mir und blutete etwas am Kopf. Er machte ein schmerz­haftes Gesicht und versuchte meine Knie hoch zu drücken, damit ich von ihm aufstehe. »Oh, tut mir Leid!«, sagte ich und stand sofort auf. Eine Verkäuferin hatte uns wohl gesehen und kam direkt angerannt. »Ist alles in Ordnung bei euch?«, rief sie und schon sah ich unseren Vater mit angelaufen kommen. Ich schluckte heftig. Er hatte nur Stress mit uns. Ich hielt Kiyoshi aufhelfend die Hand hin. Er starrte sie erst an, dann starrte er mich an. »Komm schon, ich helfe dir auf«, sagte ich und deutete noch einmal auf meine Hand. »Danke.« Er nahm meine Hand und erhob sich. Das Blut lief Kiyoshi an der Schläfe runter. »Du blutest da. Ist alles in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig und deutete auf das rote hin. Er packte sich mit dem rechten Zeigefinger hin und starrte die Flüssigkeit an. »Alles in Ordnung«, versicherte er mir und sah zu unserem Vater. »Was habt ihr denn jetzt schon wieder angestellt?« Kiyoshi zeigte auf mich. »Diesmal ist er Schuld«, meinte er kühl. Mein Vater seufzte, dann sah er mich erwartungsvoll an. »Na ja, ich wollte nur sein T-Shirt sehen und er hat sich geweigert. Da wurde ich etwas handgreiflich«, murmelte ich vor mich hin und sah dabei Kiyoshi böse an. Dummer Bruder. »Ihr beiden seid doch keine zehn mehr, wo ich alle paar Minuten nach euch schauen muss, oder? Also benehmt euch doch mal«, seufzte unser Dad und unterhielt sich dann kurz mit der Verkäuferin, die uns zur Hilfe geeilt war. Anscheinend bedankte er sich. Danach ging sie. »Jungs, benehmt euch«, mahnte er uns und sah, dass ich es wohl geschafft hatte, sein T-Shirt zu sehen. Er zog eine Augenbraue hoch und musterte uns.   Kiyoshis Jacke hatte nur noch an seinen Armen halt und sein schwarzes T-Shirt gab einen kleinen Teil seiner Hüfte preis, die, unnötig zu erwähnen, bleichweiß war. Seine Hose war in seine Schuhe gerutscht und seine Haare lagen ihm nun vollkommen im Gesicht. Mein T-Shirt war etwas verschoben, sodass meine eine Seite vom Kragen direkt an meinem Hals und die andere halb über meiner Schulter war. Meine Haare waren verstrubbelt und mein eines Hosenbein war leicht hoch gerutscht. Im Ganzen sahen wir etwas mitgenommen aus. Kiyoshi blutete noch ein wenig. »Dad, Kiyoshi blutet, ich glaube er hat sich heftig den Kopf gestoßen«, meinte ich dann, da niemand etwas zu seiner Verwundung sagte. »Das ist nicht schlimm, Dad«, sagte er dann wieder in seinem desinteressierten Ton. Unser Vater nickte nur und zeigte uns mit einer grimmigen Handbewegung, dass wir das Geschäft nun verlassen würden.   Mir tat das etwas Leid, aber ich glaubte, Kiyoshi weniger. Ich konnte die Augen einfach nicht von seiner Verletzung lassen. Doch da kramte er ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und wischte sich das Blut weg. Er richtete seine Haare und, wie geht das? Es war keine Wunde zu sehen. Jedenfalls nicht, wo ich gedacht hätte, das da eine wäre. Ich schüttelte den Kopf und erklärte mich für heute etwas geisteskrank.   Langsam und etwas reumütig folgte ich den beiden. Natürlich war Kiyoshi wieder vermummt und mein Vater mit seinem tollen Schirm geschützt. Wir durchliefen weiterhin die Stadt und sahen uns Geschäfte an. Der Shoppingtag war nun für mich vorbei. Ich war kaum zwei Tage hier, schon hatte ich Zoff mit meinem Vater und mit meinem Bruder ja sowieso. Ich scheine hier nicht mehr sehr willkommen zu sein. Plötzlich kam ein kleiner Kramladen, vor dem einzelne Stände aufgestellt waren. Kiyoshi lief sofort zu ihnen. Seine Augen funkelten schon fast vor Glück. Neugierig begutachtete er die Holzarmbänder und Holzketten. Es gab sie in ver­schiedenen Farben, Größen und Formen. Langsam ging ich zu ihm hin und schaute mir die Armbänder aus genauster Nähe an. »Magst du solche Armbänder?«, fragte ich leise und versuchte neutral zu scheinen. »Ja. Sie haben was für sich. Irgendetwas gefällt mir immer an diesen Holzarmbändern«, sagte er schon fast flüsternd. Als er meinen neugierigen Blick bemerkte, krempelte er seinen Ärmel etwas hoch. Ich staunte nicht schlecht: Mindestens fünf oder mehr Armbänder schmückten sein Handgelenk. Alle aus Holz und in einem etwas rötlichen Stich. Ich wollte vorsichtig nach seinem Arm greifen, da streifte er den Ärmel wieder über ihn und ließ ihn nach unten fallen. Er mied in dem Moment jeden Augenkontakt. »Bist also so eine Art Fan von den Teilen«, fragte ich mit einem leichten Grinsen auf den Lippen. Er musste auch grinsen und nickte, während er mich wieder ansah. So gefiel er mir viel besser, als wenn er so mürrisch und ungesprächig war.   Auf einmal versagte sein Lächeln und er starrte gradewegs an mir vorbei. Seine Augen wurden größer und sein Blick sah geschockt aus. Schnell drehte ich mich um. Unser Vater stand mit einem anderen Mann auf der Einkaufs­straße und unterhielt sich mit ihm. Der Mann war groß, fast größer als unser Vater, und trug einen schwarzen Mantel. Seine Schuhe waren riesige Klumpen und seine Hose mit vielen Schnallen versehen. Das Hemd, was er trug, wurde mit Bändern in der Mitte zusammengehalten. Er selber hatte lange schwarze Haare, die ihm glatt über seine Schulter fielen. Endlich mal jemand, der meinen Geschmack vertritt. Obwohl ich das schon wieder zu derb fand. »Ist was mit dem Typen? Kennst du den?«, fragte ich Kiyoshi, dessen Miene sich nicht veränderte. Er gab mir keine Antwort. Nur seine Lippen bewegten sich langsam. »Kiyoshi?«, wiederholte ich und winkte ihm vor seinem Gesicht rum. »Nein, kenn ich nicht. Aber Dad. Keine Ahnung, wer das ist«, meinte er nur schnell und drehte sich sofort wieder zu den Armbändern. »Das soll ich dir abkaufen? Du kennst den doch.« »Nein, tue ich nicht.« »Um was wetten wir?« »Wir wetten nicht«, gab er nun kühl zurück und seine alte, arrogante, aber anmutige Art kam wieder zum Vorschein. Ich zuckte leicht zusammen und mich durchfuhr wieder ein kalter Schreck. »Okay, okay.«   Hin und wieder drehte ich mich um und blickte zu unserem Vater, der immer noch mit diesem Mann redete. Sie schienen eine etwas hitzige Diskussion zu haben. Dann sah ich wieder zu Kiyoshi, der in seine Armbänder vertieft war und mehr krampfhaft versuchte, nicht zu unserem Vater zu blicken. »Sollen wir reingehen?«, fragte ich ihn. Er hielt in seiner Bewegung inne und schien zu überlegen. »Ja, lass uns rein gehen«, meinte er trocken und zog mich am Handgelenk mit schnellem Schritte in den Laden. Ich hatte das Gefühl, er wollte gar nicht rein gehen, aber wegen dem ‚Vater-Mann-Grund’ kam ihm das wohl grade Recht. Wir standen in dem kleinen Kramladen, in dem nicht viele Leute waren, aber doch genug, um sich nicht einsam und verlassen zu fühlen. Kiyoshi hatte mich immer noch am Handgelenk und ver­krampfte sich ganz schön. Sein Griff wurde immer fester, während wir durch den kleinen Laden hetzten. Ich war ja keine Memme, aber als wir das Ende des Ladens erreichten, spürte ich einen spitzen Schmerz. »Aua! Kiyoshi, warum drückst du deine Fingernägel so in mich rein?«, motzte ich ihn an und versuchte loszukommen. Er schreckte, wie aus einem Trauma, auf und entriss sofort seine kalte, leblose Hand. Mein Handgelenk war rot und an der Stelle, wo er seine Nägel in meine Haut gedrückt hatte, fing es leicht an zu bluten. »Sag mal, geht’s dir noch gut? Warum bist du denn jetzt so seltsam-« Ich stockte. Sein Blick war auf mein Handgelenk gebannt. Er ließ es gar nicht mehr aus den Augen. Ich wechselte kurz den Blick zwischen meinem blutigen Handgelenk und Kiyoshi. Es war nur ein kleiner Bluttropfen, aber der schien ihn mehr als alles andere zu faszinieren. »Zeig mal«, sagte er monoton und nahm mein Handgelenk in seine Hände. Er führte es zu sich, ganz langsam, als ob es eine zerbrechliche Vase wäre. Sein starrer Blick fixierte wirklich nur diesen einen Tropfen. Er senkte seinen Kopf und sein Gesicht verschwand schon fast unter seinen langen Haaren. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich versah oder ob er wirklich seine Zunge rausstreckte. Er führte mein Handgelenk zu seinem Gesicht. Ich wollte schon zur Frage ansetzen, was er da überhaupt mache, da spürte ich schon eine andere Hand, die Kiyoshi und mich voneinander drückte.   »Vater …«, murmelte ich, als er mich plötzlich schützend in seinem Arm hielt. Er sah besorgt aus. »Ist alles in Ordnung mit dir, Hiro?« »J-Ja … Ja? Ja, wieso sollte nicht-« »Dann ist gut.« Mein Blick verriet, dass mein Innerstes verwirrt und ver­zweifelt zu gleich war. Was ist heute eigentlich los? Mein Vater benimmt sich seltsam und mein Bruder wird auch immer verrückter. Oder werde ich verrückt? Drehe ich am Rad? Oder gibt es wirklich schon Außerirdische, die vom Mars kommen und sich als mein Bruder und Vater tarnen? Ich drehe wirklich am Rad … Mein Vater drückte mich sanft zur Seite und ging zu Kiyoshi, der seine Hände vor sein Gesicht hielt. Er sah verzweifelt aus. Aber was habe ich denn getan? Er wurde von Vater kurz in den Arm genommen. Er sagte irgendetwas zu ihm und dann nickte Kiyoshi. Er löste seine Hände von seinem Gesicht und sah mich ausdruckslos an. So wie … immer. »Tut mir Leid, Hiroshi. Ich wollte dich nicht so verwirren.« Seine Sätze klangen wie auswendig gelernt. »Ist schon in Ordnung, aber was war denn überhaupt los?« Er sah zu Boden, dann zu Vater. »Wunder dich nicht, Hiro. Das hat mit seiner Krankheit zu tun, dass er manchmal nicht Herr über seinen Körper ist«, sagte dann mein Vater und versuchte zu lächeln. Die ganze Situation war aber zu drückend, als dass er genussvoll lächeln konnte. Ich versuchte zurückzulächeln und nickte nur. Danach verließen wir den Laden. Die Leute schienen nichts mitbekommen zu haben, denn niemand starrte uns blöd an oder derartiges. Trotz allem war wieder dieses unbewusste Platz machen da. Die Leute sahen meinen Vater gar nicht, machten aber trotzdem einen Schritt zur Seite oder nach hinten. Genau das gleiche, wie in der Bahn.   Wir gingen auf die Straße zurück. Die Sonne stand hell am Himmel und Kiyoshi nahm immer noch nicht seine Kapuze ab. Mein Vater spannte seinen Schirm wieder auf und ich versuchte noch wenigstens die Sonne zu genießen. Der Ausflug war ein glatter Reinfall. Mehr Abklatsch und Chaos, als Spaß und Entspannung. Und das sollte nun eine Woche lang so gehen? Herr Gott, ich will nach Hause, zu meiner Mom. Wortwörtlich, ausnahmsweise. Die Schritte von uns allen wurden schneller und ehe ich mich versah standen wir an einer Haltestelle. Die Einkaufsstraße ging noch ein ganz schön langes Stückchen weiter, aber ich hielt meinen Mund, denn ich wusste, dass Vater nach Hause wollte. Kiyoshi schien es nach der Ladensache auch nicht so gut zu gehen.   Es dauerte nicht lange, da kam schon die Straßenbahn und wir stiegen ein. Sie war recht voll, doch sobald wir einstiegen, hatten wir Platz. Aber wirklich viel Platz. Alle Menschen um uns herum hielten Abstand. Aber es sah nicht gewollt, sondern wieder ungewollt und unbewusst aus. Dieses Mal war es aber ganz angenehm. Ich stand neben Kiyoshi und hielt mich an einer Stange fest. Er behielt seine Hände in den Hosentaschen. »Kiyoshi? Du solltest dich festhalten«, sagte ich zu ihm und versuchte nicht gegen seine Kapuze zu reden. »Nicht nötig.« »Sicher?« »Ja.« »Okay …« Ich musste leicht seufzen und beendete damit das Gespräch. Mein Vater hielt sich schön brav an einer der oberen Deckenstangen fest und hatte wieder ein Dauerlächeln auf den Lippen. Obwohl dieses Lächeln nicht mehr so aufrichtig aussah, wie bei der Hinfahrt. Kiyoshis Zustand schien sich zu ver­schlechtern, denn er atmete schwer. Selbst durch die Laute Bahn und das Gerede der Menschen um uns, hörte ich jeden Atemzug von ihm. Mein Vater schien nichts mitzubekommen, denn er beachtete uns beide gar nicht. Sein Blick galt ganz der Welt jenseits des Fensters der Bahn. Plötzlich bremste sie. Viele Menschen schrien oder lachten, weil sie zur Seite fielen. Kiyoshi konnte sich nirgends festhalten und fiel gegen mich. Er krallte sich an meinem T-Shirt fest und seine Kapuze rutschte ihm dabei runter. Als die Bahn zum Stillsand gekommen war, tuschelten alle und versuchten einen Blick zu erhaschen, warum die Bahn so plötzlich hielt. Mir gefiel Kiyoshis Anblick ganz und gar nicht. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich leise, kaum hörbar. »Ja …«, flüsterte er zurück und versuchte sich aufzurichten. Vater schien Kiyoshis Fallen mitbekommen zu haben und sah mich an. Sein Blick verriet nicht was er dachte. Er war starr und ausdruckslos. Wie manchmal Kiyoshi schaute. Es machte mir etwas Angst, aber die Lage von meinem Bruder beschäftigte mich mehr. »Wirklich? Du atmest doch so schwer.« »Was? Das hörst du?«, fragte er verwundert und sah mich mit kugelrunden Augen an. Sie funkelten etwas violett. »Das ist aber auch laut …«, versicherte ich ihm, dass ich nicht zu einem Luchs mutiert war. Sein Blick fiel zu Vater, der wieder in eine andere Richtung schaute. »Mir geht es nicht so gut«, murmelte er und setzte sich seine Kapuze wieder auf. Seine Stirn glänzte etwas und unter seinen Augen bildeten sich schwarze Ringe. »Dann setz dich lieber hin«, sagte ich und suchte schon nach einer sitzenden Person, die ich nach dem Platz fragen würde, da hielt mich Kiyoshi fest. An der Stelle, wo er mir auch wehgetan hatte. In der Zwischenzeit hatte sich über meine Wunde eine Kruste gebildet. Ich erstarrte schon fast, als seine kalte Hand wieder nach meinem Handgelenk griff. Aber diesmal war der Griff sanft und fast wie ein Tuch, glitten seine Finger über meine noch rötliche Haut. Mein Blick fiel von der Stelle in sein Gesicht. Er sah mich durch seine Haare unter seiner Kapuze mit einem gierigen Blick an. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken und meine Knie fingen an zu zittern. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Seine Augen glühten wieder. Sie stachen in meine Augen. Sie bannten mich. Meine Augen weiteten sich und sein sanfter Griff führte mein Handgelenk zu ihm. Plötzlich sah ich im Augenwinkel die Türen aufgehen und Leute stiegen hinzu. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir wieder gefahren waren. Es stiegen so viele Leute dazu, dass unser Vater weggedrängt wurde, auch wenn die Menschen ihren gewissen Abstand hielten. Er war auf einmal aus meinem Blickfeld verschwunden und ich fühlte mich, als wäre ich mit Kiyoshi alleine. Ganz alleine. Wir wurden so sehr aneinander gedrängt, dass unsere Nasen­spitzen sich fast berührten. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Sein Blick fesselte mich. Die Bahn fuhr weiter.   Ich spürte einen Schmerz. Er hatte mit seinem Nagel meine Kruste abgerissen. Ich merkte, wie er mit seinem Finger in meiner kleinen Wunde spielte. Es tat mir weh, trotzdem sagte ich nichts. Auch jegliche Fluchtversuche unterließ ich. Nur unsere Blicke trafen sich. Ich spürte im Nachhinein seinen restlichen Körper an mir. Um uns herum waren so viele Menschen. Sie lachten, hörten Musik, unterhielten sich und beschäftigten sich mit anderen Dingen. Nur nicht, dass ich schreckliche Angst hatte. Angst vor meinem Bruder. Angst, er würde etwas tun, was für mich grauenhaft enden könnte. Angst, er könnte mir wehtun. Angst, dass er es mit vollem Bewusstsein tun würde. Er führte mein Handgelenk zu seinem Gesicht. Er wendete seinen Blick von mir ab und starrte mein Blutverschmiertes Handgelenk an. Sein Finger, mit dem er die Kruste entfernte und in meiner Wunde spielte, war ebenfalls voller Blut.   Ich sah nur noch, wie er mein Handgelenk zu seinem Mund führte und seine Zunge gierig das Blut ableckte.   Dann wurde es dunkel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)