Zum Inhalt der Seite

My Dear Brother

The Vampires
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sündhafter Tag

»Hm …«

»Junger Herr Hiroshi, bitte stehen sie doch auf.«

»… Was? … Hä?«, murmelte ich, als ich die bekannte Stimme von Mamoru hörte.

Ich blinzelte kurz und sah in seine besorgten Augen. Dann erkannte ich, in welcher Lage ich mich befand: Mit einem Bein aus dem Bett, mit dem anderen drin und die Bettdecke um meine Taille gewickelt, lag ich halb tot in den weichen Kissen. Die Tagesdecke habe ich in der Nacht wohl rausgeschmissen, denn die hatte Mamoru über dem Arm liegen.

»Es ist schon nach zehn Uhr. Wollen sie denn nicht langsam mal aufstehen?«, fragte er mich und war sichtlich erleichtert, dass ich noch lebte und aufgestanden war.

»Was? Ich denke …«, murmelte ich. Hatte mein Vater nicht erwähnt, dass er mich um sieben weckt? Anscheinend hatte er wohl doch Erbarmen.

»Bitte machen sie sich fertig, Herr Hiroshi. Wir wollen gleich aufbrechen.« Mamoru machte eine Verbeugung und ver¬schwand aus dem Zimmer. Vorher legte er meine Tagesdecke auf den Schreibtisch.

»Aufbrechen? Wohin de-«

Doch da war er schon weg. Ich seufzte kurz und fasste mir dann in meine verstrubbelten Haare. Sie waren ein wenig fettig. Ich wollte ja duschen gehen, dachte ich im nächsten Moment und drückte mich aus dem Bett. Ich saß noch eine Weile stumm auf der Bettkante. Ich hoffte innerlich, der Tag würde besser werden als der gestrige.
 

Seufzend stand ich endgültig auf und zog den Vorhang beiseite. Mich strahlte die Sonne an und die Bäume gaben vereinzelt Schatten. Die Blätter bewegten sich mit dem Wind und man hörte schon vereinzelt Vögel. Vorsichtig drehte ich den Hebel des Fensters um und öffnete es. Eine warme Brise durchfuhr mein Haar und der Anschein des Bösen von gestern schien wie verflogen zu sein. Draußen war es hell und fröhlich. Ein wunderschöner Tag in einer wunderschönen Umgebung.
 

»Na? Genießt du das Wetter?«, kam eine Stimme von hinten. Ich drehte mich langsam um und sah in das Gesicht von meinem Vater.

»Hm, ja. Es ist schön heute«, sagte ich etwas leise und ver¬suchte den Augenkontakt mit ihm zu meiden. Als ob ich versuchen wollte, das gestrige Erlebnis vom Gang zu ver¬tuschen. Es war mir im Moment doch etwas peinlich.

»Ist etwas passiert, Hiroshi?«, fragte er und kam ein Stück näher. Er sah sehr besorgt aus.

»Nein … Nein, es ist nichts passiert«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Plötzlich schien er erleichtert.

»Hast du gut geschlafen?« Sein Grinsen ging ihm über beide Ohren und er kam noch ein Stück näher an mich heran.

»Äh … Ja, doch. Wie ein Stein.« Er musste lachen und nickte kurz.

»Dann bin ich froh. Komm gleich runter zum Essen. Es steht schon auf dem Tisch.«

»Ja, in Ordnung«, flüsterte ich und sah meinem Vater hinter¬her, wie er den Raum verließ.

Schon seltsam.

Er kommt herein, ohne dass ich ihn gehört habe. Dabei war es so still in meinem Raum.

Ich erklärte mir den Vorfall, indem ich mir sagte, dass ich in Gedanken versunken war. Langsam zog ich mir Sachen aus dem Schrank. Ich trottete zur Tür und musste Schlu-cken als der Schlüssel umgedreht in der Tür steckte. Die Tür sollte abge¬schlossen sein, denn der Hebel zum verriegeln stand aus ihr heraus. Ich konnte mich auch erinnern die Tür abgeschlossen zu haben. Wie kam Mamoru hier rein? Vielleicht hatte er einen Ersatzschlüssel? Aber warum schloss er dann die Tür ab, ohne sie an das Schloss anzulehnen? Und dass die Tür nicht richtig zu war, konnte auch nicht sein, denn ich hatte mich ja verge¬wissert, dass sie zu war.

Meine Nackenhaare stellten sich ein wenig auf. War jemand in der Nacht hier? Sehr unwahrscheinlich.
 

Ich öffnete die Tür und drehte den Schlüssel wieder richtig. Dann ging ich auf den Gang zum Bad. Vorsichtig öffnete ich sie und spähte hinein. Sofort traf mich wieder das Erstaunen:

Ich blickte in ein weißes, marmornes Bad, welches nicht nur mit riesigen Spiegeln sondern auch mit einem Whirl-pool geschmückt war. Die Toilette befand sich an der linken Wand, so wie das Waschbecken mit einem riesigen Spiegel darüber. Direkt geradeaus stand der Whirlpool, der in den Boden eingearbeitet war. In der rechten Ecke war noch eine Dusche platziert. Direkt neben ihr viele kleine weiße Schränkchen, darüber wieder Spiegel. Auf dem Boden befanden sich königsblaue Teppiche, die sehr weich aussahen.

Langsam tastete ich mich auf einen der Teppiche und musste feststellen, dass er so weich war, wie er aussah. Ich warf meine Sachen auf einen der weißen Schränke und zog mir mein T-Shirt aus. Da fiel mir ein, lieber abzuschließen. Zu meiner Enttäuschung fand ich aber weder ein Schlüssel-loch noch irgendetwas anderes, womit man die Tür hätte abschließen können. Verzweifelt suchte ich nach irgendet-was, womit man jemandem hätte zeigen können, dass ich im Bad war.
 

Vorsichtig machte ich die Tür auf und sah mich im Gang um. Kurz blieb mein Blick an der Tür von Kiyoshi stehen. Ob er da war? Vielleicht sollte ich ihn mal fragen, wie man die Tür hier zubekommt.

Ich hätte mich für den Gedanken schlagen können. Na, wer war ich denn? War ich nun locker oder nicht? Ich hatte doch sonst nie Hemmungen einfach jemanden zu fragen.

Vielleicht lag es daran, dass es mein komischer Bruder war. Bruder … Das Wort für mich zu benutzen war wie der Satz »Ich koche«, den ich vor drei Tagen benutzt hatte.
 

Ich ging zu der Tür und klopfte vorsichtig an. Es kam keine Antwort. Sofort sank mein Mut und ich fing wieder an etwas zu zittern. Es fühlte sich an, als ob etwas in diesem Raum war, vor dem ich Angst haben sollte. Mächtige Angst.

Ich klopfte noch einmal an. Doch dann hörte ich plötz-lich ein Klacken und Schritte. Die Tür wurde schlagartig aufgerissen und mein Ebenbild sah mich verärgert an.

»Was ist?«, fragte er genervt, jedoch war er wieder anmu-tig wie gestern. Er sah wirklich nach etwas Besserem aus.

»I-Ich wollte nur fragen, wie das mit dem Bad ist … Kann man das abschließen?«

»Nein.«

Eine sehr kühle und direkte Antwort.

»Und wie mache ich erkennbar, dass ich drin bin?«

»Denk dir was aus«, motzte er mich an und wollte die Tür schon zudrücken.

»Warte!«, rief ich ihm noch dazwischen. Er hielt inne, beließ die Tür aber bei einem Schlitz.

»Was?«

» … «

Sollte ich ihm von gestern Abend erzählen, dass ich etwas gehört hatte?

»Ach, schon gut«, murmelte ich und drehte ihm den Rücken zu. Sofort hörte ich die Tür in das Schloss einrasten.
 

Ich schlurfte wieder zum Bad zurück und beschloss einfach meine Hausschuhe vor die Tür zu stellen. Notfalls konnte ich ja immer noch »Nein« schreien. Ich zog mir nun auch meine Hose und Boxershorts aus.

Vorsichtig stieg ich in die Dusche und versuchte mit dem modernen Duschsystem klar zu werden. Es war ein Hebel, der die Temperatur verstellen konnte, angebracht und ein Dusch¬kopf. Doch wie man das Wasser anmachen konnte, war mir schleierhaft. Ich drehte ein paar Mal am Tempera-turhebel. Da entdeckte ich einen anderen Griff. Unsicher, ob das auch der richtige war, drehte ich dran.

Sofort schoss kochendheißes Wasser aus der Brause, direkt auf meinen Kopf.
 

Ich schrie wie am Spieß und sprang wieder aus der Dusche.

Auf einmal wurde die Badtür aufgerissen und ich sah ge¬schockt in die Augen von Kiyoshi. Der, ebenfalls erschrocken, sah eher Kampfbereit als zur Hilfe kommend aus.

»Was ist los?«, fragte er mit lauter Stimme, jedoch hörte es noch unter Kontrolle gehalten an.

»Nichts … Das Wasser war … Nur ein wenig zu heiß«, stammelte ich und versuchte mich von der heißen Haut zu beruhigen.
 

»Das Wasser?«, wiederholte er, was ich gesagt hatte und sah wieder etwas genervt aus.

»Ja, ich wusste nicht genau, wie man das Wasser anstellte und da- …«

»Geh dich wieder duschen …«, sagte er recht abweisend und ging wieder aus dem Badezimmer. Erst als ich versuchte zu verstehen, warum er so schnell wieder das Bad verließ, lief ich rot an.

Er hatte mich nackt gesehen; natürlich, ich stand hier ja auch ohne Kleidung! Und das schon beim zweiten Treffen. Na wunderbar.
 

Aber warum sollte mir das wichtig sein? Ich habe Lampe auch das erste Mal gesehen, da leckte sie gerade halb nackt mit einem anderen Mädchen rum. Auch nicht gerade eine tolle Begrüßungs¬szene. Es schien mir aber wichtig zu sein, diesem Kiyoshi zu zeigen, dass ich auch so toll sein kann wie er sich fühlte. Ich fand ihn nicht toll, er kam nur arrogant mit seiner Art rüber.

Trotzdem hatte er was. Das gleiche was auch mein Vater hatte. Diese Anmut und dieser Stolz, der immer sichtbar war. Nicht nur für mich, sondern wahrscheinlich für jeden. Immer¬hin konnten sie aber auch von sich behaupten, etwas Besseres zu sein. Bei der Villa …
 

Ich streckte meinen rechten Arm in die Dusche und drehte den Temperaturhebel auf etwas kühler. Kurz danach begab ich mich wieder zurück hinter das milchige Glas der Duschkabine und fing an mich endlich abzubrausen. Das Duschgel und das Shampoo waren an der Wand befestigt. Es sah sehr originell aus. Wäre eine Idee für meine Mutter gewesen.

Obwohl das Haus sehr alt an manchen Stellen ist, ist es doch modern. Das Bad und auch die Einrichtung sahen sehr neu aus. Was wir heute wohl machen würden?
 

Als ich fertig war, zog ich mich an und rubbelte meine Haare etwas trocken. Leider suchte ich vergebens nach einem Föhn, doch ich wollte Kiyoshi nicht noch mal auf die Nerven gehen.

Mit feuchten Haaren begab ich mich mit meinem Schlaf-anzug im Arm in mein Zimmer zurück. Ich stockte leicht, als die Tür einen Spalt geöffnet war. Vorsichtig stupste ich sie kurz an, damit sie weiter aufging. Aber in meinem Zimmer war niemand. Ich ging einen Schritt hinein, sah mich um und als ich niemanden erblickte, warf ich meinen Schlafanzug auf mein Bett. Schnell begab mich aus dem Zimmer. Vorsichtshalber nahm ich den Schlüssel mit, schloss aber nicht ab.

Unten angekommen, begrüßte mich mein Vater mit einer seiner Unterlagen unter dem Arm.
 

»Hallo, Hiroshi. Bist du fertig?«, fragte er freundlich und wieder mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Äh … Ja, bin ich. Muss nur noch kurz was essen.«

Er nickte und wollte schon weitergehen, da entdeckte er meine nassen Haare.

»Willst du dir deine Haare nicht trocken föhnen?«, fragte er besorgt und wollte schon auf mich zu gehen, da schüttelte ich schon den Kopf.

»Nein, nein. Ich lass die meistens so trocknen.«

Ich musste mich leicht räuspern, als Mamoru hinter meinem Dad stand und grinsen musste. Er schien wohl zu wissen, dass ich den Föhn nicht gefunden hatte.
 

»Dann ist in Ordnung. Aber verkühl dich nicht«, sagte mein Vater und ging seinen Weg weiter in Richtung eines Zimmers, welches von der Haustür aus gesehen links war.

Eine Weile blieb ich an der Treppe stehen. Dann begab ich mich in das Esszimmer von gestern. Der lange Tisch war an einem Ende, wo ich auch gestern gesessen hatte, gedeckt. Leckere Dinge strahlten mich an. Wunderbare Dinge, die es bei meiner Mutter nie gegeben hätte.

Glücklich setzte ich mich an den Tisch und fing an mich zu bedienen. Erst als ich schon am essen war, fiel mir auf, dass etwas fehlte. Ich saß wirklich ganz alleine am Tisch. Niemand war in diesem riesigen Esszimmer. Und auch der Tisch selber war wirklich nur für mich gedeckt. Ich musste leise schlucken. Andere Himmelsrichtungen, andere Sitten. Anscheinend. Obwohl ich den Norden nun nicht gut kannte.
 

Als ich fertig war, dachte ich kurz nach. Kiyoshi, mein Zwillingsbruder, ist so stur und abweisend. Genau das Gegen¬teil meines Vaters, der sehr nett und schon fast zu freundlich ist. Mamoru ist der seltsame Butler, der Türen auf mysteriöse Weise öffnen kann. Also noch einmal fürs Protokoll: Kiyoshi, mein Zwillingsbruder, ist dauer-unfreundlich und arrogant. Mein Vater ist dauer-freundlich und viel beschäftigt. Mamoru ist der Butler und kann zugesperrte Türen leicht öffnen und sie dann so aussehen lassen, als ob nie etwas passiert wäre. Und alle drei gehen um punkt acht schlafen.

Wo bin ich gelandet?
 

Ich stand auf und schob meinen Stuhl wieder an den Tisch. Langsam schlurfte ich aus der Tür in den Empfangs-saal. Dort stand mein Vater im kompletten Anzug mit meinem Bruder, der ebenfalls zugepackt bis zum Hals an der Tür stand.
 

»Hiroshi! Komm, wir fahren los und zeigen dir die Gegend«, rief mir mein Vater zu und grinste wie immer freundlich.

»Äh … Jetzt?«, fragte ich etwas perplex und konnte nicht ganz verstehen wie man mitten im Sommer mit einem Anzug und einem dicken Mantel rumlaufen konnte.

»Natürlich. Komm, zieh dir die Schuhe an und wir fahren los.«

Verwundert über den plötzlichen Aufbruch ging ich ebenfalls zur Tür. Dann erinnerte ich mich, dass meine Schuhe ja oben in meinem Zimmer standen.

»Ich muss noch mal kurz hoch, da stehen meine Schuhe-«, fing ich an, drehte mich schon halb um und lief fast gegen Mamoru, der mir meine Turnschuhe hinhielt.

»Bitte sehr«, sagte er in einem sehr höflichen Ton und ver¬beugte sich wieder halb, als er mir meine Schuhe hinhielt. Verwirrt nahm ich sie entgegen und zog sie mir an.

»Äh … Danke …«

Er war in meinem Zimmer? Ich hatte ja nicht abgeschlos-sen.
 

»Können wir, Hiroshi?«, fragte mein Vater und öffnete schon die Tür. Ich nickte kurz und ging mit schnellen Schritten auf ihn zu. Kiyoshi stand noch neben mir und starrte mich mit demselben ausdruckslosen Blick an, wie er ihn immer hatte. Seine Haare hingen ihm im Gesicht und seine blauen Augen sahen kalt aus. Wir waren uns so ähnlich, aber irgendwie doch nicht. Ich war der festen Überzeugung anders auszusehen. Und sympathischer zu sein.

Ich ging aus der Tür und genoss die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Es fühlte sich schön an. Als ich aber nichts hörte, drehte ich mich kurz um. Kiyoshi ging auch aus der Tür und zog sich seine Kapuze auf. Die Hände in den Hosentaschen und die Beine in der langen Jeans versteckt, schlurfte er den Weg entlang. Es war heiß und die Sonne knallte auf unsere Köpfe und Kiyoshi lief mit einer dicken Jacke rum. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Er muss das machen. Er ist doch etwas kränklich.«

Ach ja. Mein Vater erwähnte das. Erst jetzt bemerkte ich den Schatten über mir.
 

»Und warum trägst du einen Sonnenschirm mit dir?«, fragte ich meinen Vater und starrte auf den grauen Schirm.

»Nur so.« Er grinste wie immer freundlich, sodass ich meine anderen nervigen Fragen runterschluckte. Langsam ging ich den bepflasterten Weg entlang, der an der Seite mit schönen Blumen geschmückt war. Mein Blick war wohl vielverratend, denn mein Vater sprach mich wieder an:

»Na, gefällt dir der Garten?«

»Ja, er ist mir gestern Abend gar nicht so aufgefallen.« Ich konnte meinen Blick nicht von den Blumen lassen. Meine Mutter liebte Blumen. Vielleicht frage ich meinen Vater mal, ob ich ihr welche mitbringen darf.

»Es war ja auch dunkel, da sieht man ja sowieso nicht so viel.«

»Ja, stimmt.«

Dann schwiegen wir wieder und ich bemerkte, dass Kiyoshi einige Meter vor uns herging. Er schien nicht begeistert von unserem Waldspaziergang zu sein.

»Hat er irgendwas?«, fragte ich meinen Vater vorsichtig, der von seinem Verhalten nicht begeistert zu sein schien.

»Er ist halt pubertär, wie ihr Jungs in eurem Alter seid«, sagte er sanft und grinste vor sich hin.

»Das lässt er aber ganz schön raus …«, murmelte ich. Im nächsten Moment versuchte ich den Gedanken loszuwer-den, dass ich meine Laune auch oft und vor allen Dingen gerne an meiner Mutter ausließ.

»Entschuldige ihm das. Es ist für ihn immerhin auch nicht so leicht, seinen Bruder nach so langer Zeit wiederzu-sehen.«

»Aber er wusste wenigstens, dass es mich gibt.«

»Das ist deine Mutter schuld.«

»Ich weiß …«

Und schon wieder schwiegen wir vor uns hin.

Der Weg, den wir entlang gingen war grün und an manchen Stellen sogar bunt bepflanzt. Es war eine schöne Atmosphäre, wobei diese schnell wieder durch Kiyoshis schlechte Lauen zerstört wurde.
 

»Wollten wir nicht ‚fahren’?«, fragte ich nach kurzer Zeit und erinnerte mich an die Worte meines Vaters.

»Wir fahren mit der Straßenbahn in die Stadt. Das ist doch sicher schöner für dich, oder?« Mein Vater lächelte mich an und erwartete eine Antwort wie ‚Ja’.

»Oh, ach so. Ja, natürlich.«

Ich wusste nicht wieso, aber ich stimmte meinem Vater trotz meines Widerspruchs in mir zu. Ich fand Bahnfahrten schon immer langweilig.
 

Mein Vater gab sich danach zu frieden und blickte zu Kiyoshi. Der blieb an einer Kreuzung stehen und wartete anscheinend auf uns. Jedoch zeigte er uns immer noch den Rücken.

»Wo lang?«, fragte er schroff, als wir neben ihm standen.

»Zu Straßenbahn. Wir fahren in die Stadt«, sagte mein Vater sanft und lächelte leicht. Kiyoshi sah ihn noch nicht mal an und ging nach links, wo das riesige Tor von gestern war. In meinen Gedanken spukte der Satz, dass ich mein Kind anschreien würde, wenn es so mit mir herumspringen würde. Mein Vater und ich gingen Kiyoshi einfach hinterher, wobei der Abstand zu dem davor geringer wurde.
 

Sofort, als wir durch das Tor gingen, wurde es schlagartig laut. Wir standen noch auf dem Kiesweg, doch vor uns bildete sich schon ein Betonweg, umringt von Gras. Direkt danach kam eine große Straße mit vielen Autos und LKWs. Das Entsetzen über diesen Umschwung war mir wohl im Gesicht geschrieben, denn mein Vater lachte leise und legte seine Hand auf meine Schulter.

»Der Wald dämpft diese Geräusche gut ab.«

Mich durchfuhr ein kalter Schreck und ich drehte mich ruckartig um, wobei ich seine Hand leicht weg schlug.

Sein Gesicht schien erst überrascht und als ich zur Ent¬schuldigung ansetzen wollte, schüttelte er den Kopf und winkte ab. Dann lächelte er wieder und sagte:

»Schon in Ordnung.«

Ich seufzte leise und hörte mein Herz heftig schlagen. Mich hatte in dem Moment ein kalter Schauer überwältigt.

Als ich mich wieder in Richtung Straße umdrehte, blickte ich in Kiyoshis Augen. Er hat meine Reaktion wohl beobachtet. Ich versuchte zu lächeln, doch meine Mund-winkel wollten sich nicht bewegen. Kurz darauf drehte er sich weg und starrte in eine andere Richtung. Langsam blickte ich mich nun auch um.

»Wo sind wir eigentlich?«, fragte ich murmelnd und blickte meinen Vater fragend an.

»Wir sind an der Hauptstraße. Gleich dahinten ist die Halte¬stelle.«

Ich sah in die Richtung, die mein Vater angedeutet hatte und erblickte eine kleine Haltestelle, an der ein paar andere Leute standen. Endlich andere Menschen. Himmel sei Dank, ich bin nicht alleine mit diesen seltsamen Leuten auf der Welt, dachte ich
 

»Hier sind wir aber gestern nicht lang gefahren, oder?«, fragte ich erneut und hoffte meinen Vater nicht mit meinen ständigen Fragen zu nerven.

»Nein, nein. Das hier ist das Südtor. Gestern sind wir durch das Nordtor gekommen.«

»Und wie viele gibt es?«

Die Frage erledigte sich, als mein Vater lachte. Manchmal sollte ich erst denken und dann reden.

Mein Vater und Kiyoshi gingen langsam los und stellten sich brav an eine Ampel. Sie war noch rot. Ich trottete zu ihnen, obwohl ich lieber über rot gegangen wäre. Das tat ich immer, wenn kein Auto zu sehen war. Aber dieses Mal war mein Vater und mein Bruder da. Und beide waren seltsam ordentlich und pflichtbewusst in der Beziehung. Manchmal kam mir der Gedanke, dass Kiyoshi in der Schule ein ganz schöner Loser sein müsste, aber seine feine und grazile Art machte alles Streberhafte wieder wett.
 

Es wurde grün und die beiden stürmten schon fast los. Mein Vater ging in riesigen Schritten über die Straße, während Kiyoshi beinahe über den Boden flog, so schnell ging er. Ich stand noch regungslos an der anderen Seite und realisierte erst einmal, dass die Ampel grün geworden ist. Dann ging auch ich stutzend über die Straße und rannte etwas, da die beiden nicht daran dachten auf mich zu warten. Erst als ich rief, drehte mein Vater sich um und wurde langsamer.

»Halt! Ich bin nicht so schnell!«

»Tut uns Leid, Hiroshi, aber die Straßenbahn wird gleich kommen. Wir müssen uns etwas beeilen«, sagte mein Vater und nahm mich lächelnd am Handgelenk, während ich im Augen¬winkel Kiyoshi weiter rennen sah. Obwohl es weniger ein Rennen war, sondern mehr ein fließendes, schnelles Gehen. Mein Vater riss mich schon fast mit sich und versuchte mit mir an der Hand mit Kiyoshi Schritt zu halten. Und tatsächlich sah ich schon die Straßenbahn, wie sie langsam die grade Straße entlang fuhr. Sie hielt kurz an der Haltestelle und gerade so huschte Kiyoshi rein, um uns die Tür aufzuhalten. Zuletzt huschten mein Vater und ich dazu. Danach schloss die Tür und die Bahn fuhr los.
 

Die Bahn sah neu aus und gemütlich. Graue Sitze und ein grauer Boden verkörperten das Innere und rote Stangen zum Festhalten kamen aus dem Boden und gingen bis zur Decke. Es war sehr leer, nur die Leute, die an der Haltestel-le standen, saßen vereinzelt auf den Sitzen und beschäftigten sich mit Dingen, die sie bei sich hatten.

Kiyoshi ging langsam den schmalen Gang entlang, mein Vater und ich folgten. Dann setzte er sich auf einen Sitz, neben dem noch einer frei war. Ohne eine Mimik starrte er aus dem Fenster. Jedenfalls glaubte ich, dass er das tat, denn unter seiner Kapuze sah man nicht viel von seinem Gesicht.

»Setz dich, Hiroshi«, sagte mein Vater und ging lächelnd an mir vorbei. Danach setzte er sich auf den Sitz, der hinter Kiyoshi war und drehte uns sozusagen den Rücken zu. Ich schluckte etwas und sah dann zu meinem Bruder. Anmutig wie immer, saß er auf dem Sitz und verschränkte leicht die Arme vor seiner Brust. Vorsichtig und ganz langsam setzte ich mich neben ihn, ohne dabei die Augen von ihm zu lassen.

»Gibt es einen Grund, warum du mich so anstarrst?«, fragte er plötzlich in einem kühlen Ton, der mich kurz zusammenfahren ließ.

»Äh … Nein, also … Nein, gibt keinen Grund«, stammel-te ich und wendete meinen Blick von ihm. Er hat mich doch gar nicht angeschaut, woher wusste er, dass ich ihn beobachtete? Vielleicht sah er mich im Fenster. Spiegelbild, so was halt.
 

Dann schwiegen wir wieder und ich wusste gar nicht wo ich hinschauen sollte. Also sah ich mir die anderen Menschen in der Bahn genauer an. Vor uns saßen zwei Frauen. Eine auf der linken Seite, die andere auf der rechten Seite. Beide circa auf selber Höhe. Die auf der linken Seite war blond, lockig und hörte Musik. Sie schien genau den Musikstil zu hören, den ich nicht mochte. Dagegen die andere auf der rechten Seite, sah mehr nach Lampe aus. Jedoch hatte diese Dame pechschwarze Haare und trug auch sonst nur schwarz. Offen und glatt lagen ihre Haare auf ihren Schultern, während sie ein Buch las. Wer hinter uns saß, konnte ich nicht erkennen, doch ich wusste, dass da noch ein älterer Mann, eine Oma und eine Mutter mit einem kleinen Kind waren.
 

Sofort trat wieder die Langeweile ein. Ich sah auch aus dem Fenster und merkte, dass wir über ein Feld fuhren. Auf der anderen Seite war auch nur Feld. Vor uns erkannte ich leicht die andere Stadt, zu der wir wohl fuhren. Hinter uns war demnach die Stadt, in der ich für eine Woche wohnen würde. Sowohl mein Bruder als auch mein Vater waren seltsam. Von Mamoru keine Rede, der war auch nicht normal. Das ganze Anwesen war mehr ein Spukhaus, als ein gemütliches Zuhause. Und jetzt erfahre ich auch noch, dass unser kleines Städtchen sich in einer Einöde befindet. Wohlmöglich fährt diese dumme Straßenbahn auch nur einmal am Tag und in eine Richtung, dachte ich vor mich in und wendete meinen Blick wieder zu Kiyoshi.

»Ist dir nicht warm?«, fragte ich Kiyoshi vorsichtig und versuchte seine Augen zu suchen.

»Nein.«

Wieder kühl und abweisend, aber immer noch anmutig. Ich zuckte kurz mit den Schultern und beließ es dabei. Wenn er nicht mit mir reden wollte, dann nicht. So was hab ich nicht nötig, dachte ich mir beiläufig.

Er wendete seinen Blick nicht vom Fenster und verharrte Minutenlang in seiner Position. Ich musterte ihn etwas genauer, auch wenn er mich wahrscheinlich wieder anmaulen würde.
 

Seine Jacke war schwarz und nicht dick, aber schon aus festerem Stoff. Seine Kapuze war ihm etwas zu groß und hing ihm schon fast auf der Nase. Er trug eine gräuliche Jeans, die etwas eng anlag, aber noch nicht so, dass es unmöglich aussah. Aber bei mir mussten Hosen auch extrem weit geschnitten sein, weswegen mir seine Hose vielleicht etwas zu eng vorkam. Unter der Hose blitzten schwarze Turnschuhe heraus, die mich an meine erinnerten. Meine Mutter wusste die Marke, ich merkte mir so was ja nicht. Irgendwas mit Converse … Oder so.

Erst jetzt fielen mir seine Hände auf, die aus der langen Jacke herausstrahlten. Sie waren schneeweiß und seine Venen stachen blaugrün aus seiner Haut. Hätte ich noch genauer geschaut, hätte ich wahrscheinlich sein Blut fließen gesehen. Einen derartig blassen Mann hatte ich noch nie gesehen. Im Gegensatz zu ihm war ich ja braun gebrannt. Und ich war schon sehr blass …
 

Auch wenn ich ihn nicht besonders gut leiden konnte, ich musste mich einfach in dem Moment unterhalten, sonst wäre ich vor Langeweile eingegangen.

»Auf was für eine Schule gehst du eigentlich?«

Er schwieg und zeigte keinerlei Reaktion. Erst als ich den Mund öffnete, um mich zu erkunden, ob er mich auch verstanden hatte, sprach er.

»Auf eine Privatschule«, bemerkte er knapp. Wieso war mir das klar? Papa hat viel Geld und klein Söhnchen darf auf die Privatschule nebenan gehen. Wohlmöglich ist er auch noch hyperintelligent und schreibt Glänznoten.

»Verstehe. Wie ist es da so? Ich bin ja auf einer Staatli-chen Schule.« Es interessierte mich zwar nicht, aber ich interessierte mich für seine arrogante Redeart. Immer wenn er sprach, durchfuhr mich so ein seltsames Gefühl. Es war ein Gefühl der Angst, aber auch der Anziehung. Ich drehe schon am Rad, dachte ich genervt und wartete seine Antwort ab.

»Ganz … lustig.«

»Klingt ja nicht grade umwerfend.«

»Es ist halt Schule.«

» … « Tatsächlich hatte er Recht. Es war halt Schule. Ich habe wohl erwartet, dass er seine Schule, wie ein normaler Streber halt auch, sein zweites Zuhause nannte. Verwunde-rung durchfuhr wohl mein Gesicht, denn er sah mich endlich an. Ich er¬kannte seine Augen, die wie meine aussahen, aber doch ganz anders waren.

»Magst du Schule etwa?«, fragte er monoton, als ob es ihn überhaupt nicht interessieren würde.

»Natürlich nicht. Ich scheiß auf Schule«, meinte ich locker und ließ mich im Sitz sinken.

»Ach so.«

Ich zog meine linke Augenbraue hoch und sah ihn von der Seite aus an.

»’Ach so?’ Hast du jetzt eine Erleuchtung bekommen, oder warum klang das grade etwas verarschend?«

»Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht so gut in der Schule bist …«, sagte er und grinste schon fast, »… aber dass du auch noch so ignorant der Schule gegenüber trittst, hätte ich nicht von dir erwartet.«

Angewidert sah ich ihn an.

»Wenn du streit mit mir suchst, dann sag’s. Wenn nicht, dann halt die Klappe, so was hab ich nicht nötig. Du redest wie meine Mom.«

»Unsere Mutter«, korrigierte er.

»Bin ich mir nicht sicher. Wir sehen zwar gleich aus, aber du bist vollkommen anders als ich.«

»Wäre ja auch eine ziemliche Schande so zu sein wie du.«
 

Ich riss die Augen auf und positionierte mich aus meiner lockeren Sitzstellung in eine Angespannte.

»Bitte was?«, fragte ich gereizt und kochte innerlich schon.

Er zuckte nur mit den Schultern und starrte wieder aus dem Fenster.

Ich wollte schon nach seiner dummen Jacke greifen und ihn mir vorknöpfen, da riss mir mein Vater die Hand weg.

»Lass gut sein, Hiroshi«, sagte er sanft.

»Aber Dad! Er hat gesagt, dass …«

»Ich hab’s gehört. Kiyoshi, darüber reden wir noch. Und jetzt entschuldige dich bei Hiroshi.«

Als mein dämlicher Bruder keine Reaktion zeigte, mahnte mein Vater ihn erneut.

»Kiyoshi. Sofort.«

»Sorry.«, murmelte er in seine Jacke, wendete seinen Blick aber nicht vom Fenster ab.

Mein Vater schüttelte nur den Kopf und versuchte mir zuzulächeln, doch es sah gekränkt aus. Kiyoshi schien doch kein so lieber Junge zu sein, wie er schien. Danach drehte mein Vater sich wieder um und es herrschte wieder Stille …


Nachwort zu diesem Kapitel:
Noch nicht mal in der Stadt angekommen und schon gibt's nur Ärger... ;-) Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  LeeAnn
2015-08-24T18:13:52+00:00 24.08.2015 20:13
Tolles Kapitel
Zum Schluss mega funny
^_^
Von:  Tomanto
2015-06-29T20:45:03+00:00 29.06.2015 22:45
Mamoru ist ja eh der Geilste! Kann einfach so Türen knacken! xD

Aber dieses 'Gefühl der Angst, aber auch der Anziehung' hat mich ein wenig stutzig gemacht.
Ich merke schon, da ist Poesie mit im Spiel! xD
Von: abgemeldet
2015-06-24T15:13:22+00:00 24.06.2015 17:13
Tolles Kapitel.^^
Irgendwie hoffe ich gerade das Zwischen denn Zwillinge noch mehr nette Streitereien kommen.^^
Ist lustig.^^

Hat mir sehr gut gefallen das Kapitel^^

LG ^_^
Von: abgemeldet
2015-06-09T17:41:28+00:00 09.06.2015 19:41
Hahaha, "OH MEIN GOTT, mein ZWILLING hat mich NACKT gesehen!!"
Da musste ich schon schmunzeln...Hiro sei doch ned so gschamig, bei deim Brüderle wirds ned sehr viel anderscht unterum aussehe :D
Ich bin echt gespannt, wie es weiter geht ♥
Antwort von:  ellenchain
09.06.2015 20:01
Hahaha, die Pein nackt zu sein ist einfach da :D
... vielleicht sind sie ja doch nicht so eineiig :D ♥


Zurück