My Dear Brother von ellenchain (The Vampires) ================================================================================ Kapitel 4: Ebenbild ------------------- »Wein? Was für einen Wein meinst du denn?«, fragte mein Vater, sichtlich verwirrt über meine Aussage. Wollte er mich reinlegen? »Na, der, der da steht. In dem Krug«, sagte ich und zeigte mit dem Finger auf das Glasgefäß. Mein Vater schien zu erschrecken und rief nach Mamoru. Der kam ganz schnell ins Zimmer und verbeugte sich vor ihm. »Mamoru, schaffen Sie den Wein weg«, zischte er ihm zu und sah nicht gerade freundlich aus. Ich hätte es mir kaum vor¬stellen können, dass er auch mal böse sein könnte. Aber hier war nun das lebende Beispiel. Mamoru verstand erst nicht ganz. Erst als mein Vater auf den Krug deutete, verstand Mamoru. »Entschuldigen Sie, Herr Kabashi.« Sofort entfernte er den Krug mit dem Wein und ver-schwand aus dem Raum. Etwas verwirrt über den Ausraster meines Vaters, genier-te ich mich noch mehr. »Es war doch nicht so schlimm, dass der Wein hier stand.« Meinem Vater huschte sofort ein Lächeln über das Gesicht. »Natürlich nicht. Aber Mamoru soll lernen, dass du noch ein Kind bist und noch keinen Wein bekommst.« Kind?! Tz, wenn der wüsste, dass ich mit meinen Kum-pels immer Komasaufen veranstalte. Jedes Wochenende. Nur dieses Mal nicht. Heute Abend wäre bestimmt eine riesige Ferienfete gewesen. Aber ich sitze hier in einem Nobelschuppen bei meinem Vater, der sich gerade bei seinem Butler über einen vorhandenen Krug Wein beschwert hat. »Ich weiß, Hiroshi, du siehst das mit dem Alkohol nicht so eng.« Er lächelte und musste sich wohl ein typisches Vater¬lachen unterdrücken. »Klar, ich bin achtzehn. Ich trinke gerne mal ein Schlück-chen«, versuchte ich locker zu klingen und nahm mir ein paar Dinge von den leckeren Sachen, die da so köstlich und verführerisch vor mir lagen. Ich hatte einen Bärenhunger. Während ich aß, saß mein Vater nur da und sah mir zu. Als es mir nach einer Weile zu unangenehm wurde, fragte ich ihn: »Isst du nichts?« »Ich habe keinen Hunger.« »Aber du hast seit dem wir hier sind nichts gegessen.« »Das ist nicht schlimm. Ich esse selten viel.« Ich nickte kurz und widmete mich wieder meinem Essen. Als ich mehr als voll war, legte ich das Besteck auf den Teller und lehnte mich etwas zurück. Mein Vater sah glücklich aus, dass er mich satt bekommen hatte. Wir schwiegen eine Weile, dann ergriff ich das Wort und sprach das Thema an, was mir schon die ganze Zeit auf den Lippen brannte. »Sag mal, warum meldest du dich eigentlich erst nach achtzehn Jahren bei mir?« Mein Vater lächelte immer noch und stützte seinen Kopf auf seine Hände. »Weil ich vorher nicht dazu gekommen bin.« »Was kann denn so wichtig sein, dass du deinen Sohn nicht mal anrufen kannst?«, spottete ich etwas. Entweder er machte große Show, dass ich sein Sohn war oder er hielt es für nicht so wichtig. Aber beides widersprach sich. »Meine Arbeit.« Er klang auf einmal etwas abweisend. »Was arbeitest du denn?« »Ich bin Privatdetektiv.« »Wirklich? Wow!«, sagte ich begeistert und konnte mir nun vorstellen, warum er sich so eine Villa leisten konnte. »Na ja. Deswegen hat mich auch deine Mutter verlassen.« Ich stutzte. »Ich dachte, du hast sie verlassen?« Nun stutzte er und sah mich verwundert hat. Dann lächelte er und fuhr sich langsam durchs Haar. »Typisch deine Mutter. Verdreht alles.« »Na ja, so aus den Fingern gezogen klang es eigentlich nie. Immerhin war sie deine dritte Ehe.« »Schon. Aber meine zwei Ehen vor ihr sind nicht wegen mir zu Bruch gegangen. Die Frauen wollten einfach nicht mehr.« »Und warum?« Er holte tief Luft. Mein Herz fing an zu klopfen. »Weil …«, fing er an, brach seinen Satz jedoch wieder ab. »Weil?«, hakte ich nach. Er schüttelte leicht den Kopf. »Weil ich ihnen erzählt hatte, dass ich Privatdetektiv bin und sie das ängstigte. Immerhin hatte ich auch manchmal Morde aufzuklären.« Ich schwieg. So schwer war das doch jetzt nicht. Die Story klang mehr ausgedacht. Welche Frau steht denn nicht auf den Retter, der Privatdetektiv, der seine Arbeit gut macht und so eine Villa besitzt. Wenn ich jedoch an die unheimliche Atmo¬sphäre dachte, durchfuhr mich eine leichte Gänsehaut und ich konnte schlagartig verstehen, warum die Frauen nicht unbe¬dingt hier leben wollten. Auf einmal hörte ich wen die Treppe runtergehen. Das war bestimmt Mamoru. Aber der kam plötzlich zu uns ins Zimmer und holte eine leere Schüssel vom Tisch ab. Die Schritte hörten aber nicht auf. Doch als ich gerade fragen wollte, wessen Schritte das wären, hörten sie schon wieder auf. Ich bekam Angst. Aber gewaltige Angst. »Und, warum meldest du dich jetzt? Wieso sollte ich so plötzlich vorbei kommen?«, fragte ich zur Ablenkung. Mein Vater sah anscheinend die Nervosität in meinen Augen, denn sofort verschwand sein Lächeln. »Ist irgendetwas, Hiroshi?«, fragte er sanft und schien sich Sorgen zu machen. »Alles in Ordnung«, antwortete ich ohne groß Nachzu-denken. »Also?« Er nickte kurz und fing an zu erzählen. »Ich wusste viele Jahre nicht, wo ihr euch aufhieltet. Jetzt, da ich euch gefunden hatte, wollte ich meinen Sohn auch mal sehen.« »Sehr kurze Geschichte, Vater. Du hast wirklich achtzehn Jahre gebraucht, um festzustellen, dass wir im Süden Japans wohnen?« »Nein, natürlich nicht. Aber ich habe auch ganz schön viel Stress mit deiner Mutter gehabt. Hat sie dir nicht erzählt, dass ich öfter mit ihr telefoniert habe?« Ich stutzte. »Nein, hat sie nicht.« »Typisch deine Mutter.« Er schüttelte den Kopf und machte ein trauriges Gesicht. »Wolltest du mich denn nie sprechen?«, fragte ich vor-sichtig. Auf meine Mutter lass ich sicher nicht alles schieben. »Hin und wieder. Aber ich habe meistens sehr spät abends angerufen, da warst du entweder weg oder schon schlafen. So oft habe ich auch nicht angerufen. Vielleicht alle halbe Jahre einmal.« »Und wie hast du Mom dazu bekommen, dass sie mich zu dir lässt?« »Ich habe sie wirklich darum bitten müssen. Und das Argu¬ment, dass es Zeit wird, ihn zu treffen, hat sie auch überzeugt.« »Ihn?«, wiederholte ich und machte ein fragendes Gesicht. »Möchtest du deinen Bruder sehen?« Ich schwieg. Ich glaube, ich hielt sogar den Atem an. »Bruder? Du hast geheiratet?«, fragte ich verwundert. Mein Vater verstand erst nicht ganz, doch dann lachte er. »Aber nicht doch. Ich habe nicht wieder geheiratet. Dein Bruder, dein leiblicher.« Ich zögerte. Dann musste ich vorsichtig grinsen. »Vater, ich habe keinen Bruder.« »Natürlich hast du einen.« »Es gibt kein einziges Foto von ihm bei uns.« »Deine Mutter mochte ihn auch nicht.« »Wie bitte? Wie kann man denn sein eigenes Kind ver-stoßen? Wenn es wirklich noch eins gäbe.« »Dein Bruder war kränklich. Er sollte nicht durchkom-men. Da habe ich ihn zu mir genommen, als wir uns getrennt hatten.« Ich schüttelte langsam den Kopf. Dann sprang ich vom Stuhl auf. »Erzähl doch keinen Mist! Ich habe keinen Bruder! Mom macht zwar viel, aber sie würde nie ihr eigenes Kind verstoßen, nie! Es müsste glaube ich schon ein blutrünsti-ges Monster sein!«, schrie ich und haute auf die Tischplatte. Das Lächeln meines Vaters verflog und er stand auch auf. Als er sogar auf mich zukam, zuckte ich zusammen. »Was … Was willst du?«, schrie ich und lief auf die Gegenüber¬liegende Seite des Tisches. Ich hatte Angst vor meinem Vater. Er hatte seltsame Augen bekommen, wütende Augen. Augen, die einen gleich töten würden. »Hiroshi, bitte. Gib ihm wenigstens eine Chance. Lern ihn erst einmal kennen.« »Wen denn?«, fragte ich verzweifelt. »Deinen Bruder Kiyoshi.« Ich zögerte. Ich hatte also wirklich einen Bruder? Wie alt er wohl sein mag? Er musste auf jeden Fall jünger sein, denn sonst hätte ich es gewusst oder wage Erinnerungen an ihn gehabt. Ich schluckte heftig und merkte, dass ich einen ganz schönen Kloß im Hals hatte. »Und … wo ist er?«, fragte ich leise. »Oben, in seinem Zimmer.« Die Miene von meinem Vater besänftigte sich wieder und meine Muskeln ent-spannten sich. Ich nickte vorsichtig. »Komm, wir gehen zu ihm«, sagte mein Vater und ging aus dem Raum. Erst blieb ich stehen und überlegte. Aber ich würde eine Woche hier bleiben. Spätestens beim nächsten Essen oder durch Zufall auf dem Gang würde ich ihn treffen. Also ging ich langsam mit. Ich folgte meinem Vater nach oben und ging mit ihm durch den langen Gang. Genau an der dritten Tür blieb er stehen. Leise klopfte er drei Mal an. »Kiyoshi? Hiroshi ist hier«, sagte er und wartete eine Antwort ab. Mein Herz klopfte dermaßen vor Aufregung, dass ich glaubte, es spränge mir gleich aus der Brust. Alles kam so plötzlich. Erst sehe ich Dad nach achtzehn Jahren das erste Mal und dann darf ich feststellen, dass er in einer riesigen Villa wohnt und sehr gut als Privatdetektiv verdient. Und dann erfahre ich von meinem Bruder, von dem ich noch nicht einmal wusste, dass er existierte. Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt. Im Raum war es sehr dunkel, aber nicht stockduster. Mein Vater öffnete den Spalt noch ein wenig mehr, sodass ich in das Zimmer sehen konnte. Dort saß ein junger Mann. Er sah aus wie ich. Das gleiche Gesicht. Die gleichen Haare. Die gleichen Augen. Die gleiche Größe. Nur sein Blick war kalt und düster. Er saß auf der Fensterbank und starrte mich an. Seine Augen verformten sich zu Schlitzen und sein Mund zu einer graden Linie. Er trug ein schwarzes Hemd mit einer schwarzen Hose und schwarze Schuhe. Seine weißblonden Haare hingen ihm etwas im Gesicht und seine blau-violetten Augen stachen heraus. Auf dem Schreibtisch stand eine große Kerze, die das einzige Licht im Raum gab. Es herrschte Stille. Niemand sprach ein Wort oder machte Ambitionen dazu. Er sah aus wie ich. Genau wie ich. Beängsti¬gend sein eigenes Gesicht vor einem zu sehen, ohne dabei in einen Spiegel zu blicken. »Hiroshi, das ist dein Zwillingsbruder Kiyoshi«, brach mein Vater die Stille. Ich sah immer noch ziemlich geschockt aus und brachte kein Wort aus meinem eh schon offen stehenden Mund raus. »Schön dich zu sehen, Hiroshi«, sagte mein Ebenbild in einer ähnlichen Stimme, wie sie mir gehörte, nur viel anmutiger und kühler. Er veränderte nicht seinen Ge-sichtsausdruck, nur sein Mund bewegte sich. Starr wie eine Salzsäule saß er da. Und starr wie ein Stein stand ich vor Schock an der Tür. Erst jetzt erkannte ich, dass er ein Buch gelesen hatte, welches er in der Hand hielt. Sein Zimmer sah genauso aus wie das, was mir gegeben wurde, nur dass es zur anderen Seite ging. Seine Vorhänge waren noch zusammen¬gebunden und sein Bett noch frisch gemacht. Nicht nur der Raum an sich, sondern auch er selber tunkte die ganze Situation in eine angespannt-unheimliche Atmosphäre. Ich hatte etwas Angst und die Gänsehaut stand mir auf dem Nacken. Plötzlich lachte mein Vater los. Erschrocken sah ich ihn an. Kiyoshi blickte durchdringend zu ihm und schien zu ver¬stehen, warum er lachte. »Ich glaube, wir haben ihn jetzt genug geschockt«, lachte mein Vater und zwinkerte Kiyoshi zu. Der nickte nur und schaltete das Licht an einem Schalter an, der sich neben dem Bett befand. Dann blies er die Kerze aus und legte das Buch weg. »Ich freue mich wirklich dich kennenzulernen, Hiroshi«, sagte Kiyoshi aber immer noch in einem höflichen und anmutigen Ton und reichte mir die Hand. Ich nahm sie zögerlich an und schüttelte sie leicht. Sie war kalt und fast wie aus Porzellan, sodass ich mich kaum traute sie richtig zu drücken. Ich war mehr als geschockt. »Ich … mich auch …«, stammelte ich und ließ dann seine Hand los. »Und wie ist es, sein Ebenbild zu sehen, Hiroshi?«, fragte mich mein Vater und schien etwas zu spotten. »Es ist … als hätte man einen transportablen Spiegel vor sich.« Ich kam immer noch nicht aus dem Staunen heraus. Kiyoshi sah mich nur ausdruckslos an. Das ließ mich noch weiter zögerlich dreinblicken. »Na ja, ich glaube, das reicht für heute, oder Hiroshi?«, fragte mein Vater. »J-Ja.« »Eine gute Nacht, Bruder«, sagte Kiyoshi kühl und blieb wie angewurzelt an der Stelle stehen. »Äh, ja … Gute Nacht …«, stammelte ich, bevor mein Vater die Tür vor ihm zu machte. »Geh jetzt auch besser auf dein Zimmer.« »Was denn? Jetzt schon? Aber es ist doch gerade mal acht Uhr!« »Der Tag beginnt für dich morgen ja auch schon um circa sieben Uhr«, grinste mich mein Vater an. Ich erstarrte. »S-Sieben … Uhr?«, brachte ich noch gerade so raus. »Natürlich. Kiyoshi und du habt euch sicher viel zu erzählen.« Damit ging er den Gang zur Treppe entlang. »Dann dir auch eine gute Nacht, Hiroshi. Das Bad ist die erste Tür«, sagte er und ging um die Ecke die Treppe runter. Doch er kam noch einmal kurz wieder rauf. »Und denk daran abzuschließen. Denk an meine Bitte.« Dann lächelte er sanft, winkte mir kurz zu und ging endgültig. Da stand ich wie angewurzelt und wusste nicht was ich sagen sollte. Ich glaube, ich war noch nie so sprachlos, wie in diesem Moment. Abwesend trottete ich in mein Zimmer. Eigentlich wollte ich noch duschen, aber die Villa war mir in der Nacht nicht ganz geheuer. Ich würde morgen duschen. Nachdem ich meine Zimmertür geschlossen hatte, drehte ich den goldenen Schlüssel in meinem Schloss um und ließ ihn dort stecken. Ich machte das Licht an. Langsam trottete ich auf mein Bett und ließ mich dort fallen. Steif vor Schreck wie ich war, saß ich auf meinem Bett und atmete tief ein und aus. »Einen Zwillingsbruder …«, murmelte ich. Kiyoshi bedeutete so viel wie »Ruhig«. Das war er nach den ersten fünf Minuten wirklich. Viel zu ruhig. Er machte mir Angst. Vielleicht war es sogar ganz gut, das Zimmer abzuschließen. Ich hatte gehofft, dass mein Vater Überraschungen für mich auf Lager hätte, aber solche? Auf solche hätte ich auch verzichten können. Auf einmal gab es ein hohes Geräusch in meinem Zim-mer und ich erschrak. Schnell sprang ich von meinem Bett auf und rannte zur Tür. Dort beruhigte ich mich. Ich zitterte an den Händen und umklammerte feste den Schlüssel. Mein Atem war hektisch und unregelmäßig. Plötzlich huschte mir ein Grinsen übers Gesicht. Ich fing etwas an zu lachen und drehte mich dann langsam um. Es war nichts im Raum. Ich drehte nun völlig durch. Der erste Abend hier, gerade mal die ersten Stunden und ich wurde schon irre. Ich ließ den Schlüssel los und ging in die Raummitte. Plötz¬lich ertönte das helle Geräusch ein zweites Mal. Wieder zuckte ich zusammen, aber ich erkannte es nun. Schnell rannte ich zu meiner Schultasche, die ich in den Schrank gestellt hatte und kramte mein Handy raus. »Zehn verpasste Anrufe von meiner Mom …«, murmelte ich und bemerkte dann, dass das einfach nur der Erinne-rungsalarm von meinem Handy war. Ich wählte aber zuerst Jiros Nummer, ich hatte ihm ja auch versprochen, ihn anzurufen. Und ein Telefonat mit ihm wäre wesentlich kürzer als ein Telefonat mit meiner Mom. Langsam und mit noch immer zittrigen Händen, gab ich seine Nummer ein. Danach wartete ich einen kurzen Moment. »Hey Hero!«, erklang die bekannte Stimme. »Hallo Jiro.« »Na, alles klar bei dir? Wie ist dein Dad so?« Er klang fröhlich. »Ganz okay. Er sieht genauso aus, wie auf dem einen Foto, was ich dir mal gezeigt habe.« »Ist ja cool. Und sonst? Hübsche Wohnung?« »Wohnung? Das hier ist eine Villa!«, lachte ich etwas zögerlich. »Im Ernst? Ist dein Dad reich?« Er klang ziemlich er-staunt. Gut, dass war ich auch. »Ja, richtig reich. Er ist Privatdetektiv.« »Ne, ist ja geil! Dein Dad ist ja mal spitze! Und verträgst du dich auch gut mit ihm? Vielleicht springt da mal was für dich-« »Ich verstehe mich prima mit ihm«, redete ich ihm ins Wort. Eine kurze Schweigeminute brach ein. »Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?«, fragte er vorsich-tig nach. Sollte ich ihm das erzählen? Erzählen, dass ich einen Bruder hatte? »Alles in Ordnung. Wirklich. Ich bin nur was müde vom Flug«, log ich und schwieg danach. »Verstehe. Hey, rufst du mich dann morgen noch mal an? So um die Zeit? Dann kannst du mir ja erzählen wie die Umge¬bung so ist.« Das hätte ich jetzt schon tun können. Sie war waldig und gruselig. Überhaupt waren alle sehr mysteriös hier. »Klar, mach ich. Ansonsten schreib ich dir eine SMS, wenn ich es nicht schaffe, okay?« »Alles klar.« »Gut, bis dann, Jiro.« »Ciao, mach’s gut.« Dann legte er auf. Langsam nahm ich das Handy von meinem Ohr und drückte auf den roten Hörer. Ich seufzte leise und nahm nun meine Mutter in Angriff. Ich musste eine Weile warten, bis sie dran ging. »Hiro? Schatz?«, meldete sie sich. Ihre Stimme klang schon sehr besorgt. »Hey Mom. Alles klar hier«, beruhigte ich sie in einem meiner kühlen Arten. »Wirklich, Schatz? Du kannst mir alles erzählen!«, erbet-telte sie schon fast. Ach ja. Sie weiß ja, dass ich einen Bruder habe. Obwohl ich ihr auch zutrauen würde, dass sie es nicht wissen würde. »Na ja … Ich habe vorhin Kiyoshi kennengelernt.« »… Und?« Die Frage klang mehr, als ob ich erzählen würde, ich wäre in einem Film gewesen und sie möchte wissen, wie er gewesen ist. »Er ist … nett«, gab ich kurz und knapp. »Wirklich?« »Ja, wirklich.« »Und sonst nichts?«, hakte sie noch einmal nach. »… Was soll denn noch sein?« Da fiel mir ein, Vater erwähnte, dass er kränklich war bei seiner Geburt. Ob sie wissen möchte, wie es ihm geht? »Nichts, ich dachte nur. Immerhin habt ihr euch noch nie gesehen«, murmelte sie. Es klang mehr nach einer Lüge. Meine Mutter konnte noch nie gut lügen. »Wir haben auch nicht viel miteinander gesprochen. Vater hat uns vorgestellt, er hat gesagt, dass er sich freut mich zu sehen und das war’s eigentlich auch schon.« Eine kurze Stille trat ein. Als meine Mutter lange nichts mehr sagte, fragte ich nach: »Mom?« »Findest du ihn irgendwie komisch oder beängstigend?« Die Frage ließ mich stutzten. Erst schwieg ich, dann fing ich mich wieder. »Nein, es ist alles in Ordnung. Das Treffen an sich war alles noch etwas versteift, aber ich denke, das gemütliche kommt noch.« Ich erzählte ihr lieber nicht, dass ich fast vor Angst gestorben wäre und mir immer noch die Hände zitterten. »Im Ernst? Ist er ein lieber Junge?« »Ganz lieb, Mama. Ganz lieb.« »Das freut mich …«, sie klang erleichtert. Wie eine richtige Mutter. »Mom, ich geh jetzt schlafen.« »Wirklich? Jetzt schon?« Sie klang ziemlich erstaunt. Es war auch erst halb neun. »Ja, ich bin ziemlich müde, vom Flug auch. Und die ganze Aufregung mit Dad und Kiyoshi …« »Dann ist gut. Schlaf schön mein Schatz, wir telefonieren morgen noch mal, okay?« »Ja, okay.« »Ich hab dich lieb und vermisse dich.« Kurz schwieg ich. Ob sie Kiyoshi auch manchmal ver-misst hat? »Ich dich auch, Mom.« Dann legten wir auf. Ich seufzte in mich hinein. Dann starrte ich mein Handy an. Plötzlich hörte ich ein Knarren. Es kam von draußen. Direkt vor meiner Tür. Ich sprang von meinem Bett auf, ging zur Tür und drehte mit weichen Knien und zittrigen Fingern den Schlüssel um. Als das öffnende Geräusch kam, hielt ich kurz inne. Ich atmete einmal tief ein und aus. Dann riss ich die Tür auf und hielt den Schlüssel fest in meinen Händen, um ihn notfalls zur Wehr einzusetzen. Doch auf dem Gang war niemand. Es war dunkel und still. Niemand war zu sehen, nichts war zu hören. Langsam ging ich aus meinem Zimmer. Vorsichtig und leise schloss ich die Tür und begab mich auf den Flur. Aufmerksam und mit starkem Herzklopfen schlich ich den Gang entlang. Es war so still, dass ich meinen abgehackten Atem hören konnte. Und wenn ich die Luft für einen kleinen Moment lang anhielt, hörte ich sogar meinen Herzschlag. Die gedämpften Lichter von vorhin waren nun ausge-schaltet, sodass es selbst unten im Empfangssaal stockduster war. Niemand machte einen Mucks. War denn niemand mehr wach? Gingen die wirklich so früh schlafen? Ganz sachte näherte ich mich der Treppe. Langsam fuhr ich mit den Fingern am Geländer entlang. Das Haus war gruselig. Und nicht nur das Haus, auch die Bewohner. Aber als selbst nach wenigen Minuten nichts geschah, beruhigte ich mich wieder und schlurfte zurück in mein Zimmer. Kurz davor rannte ich aber hinein. Sobald ich im Raum angekommen war, schmiss ich die Tür zu und schloss energisch ab, bis es nicht mehr ging. Ich vergewisserte mich, dass die Tür zu war und ließ dann langsam von ihr ab. Vorsichtig drehte ich mich um und sah mich im Zimmer um. Alles war noch an seinem Platz. Mein Herz schlug noch immer. So langsam fragte ich mich, wie ich überhaupt nachher schlafen wollte. Vorsichtig zog ich meine Schuluniform aus. Ich lockerte meine Krawatte und legte sie über die Lehne des Stuhls. Dann zog ich meine Jacke aus und legte sie ebenfalls über die Lehne des Stuhls. Mit dem Blick zur Tür, knöpfte ich mein Hemd auf. Ich hing es ordentlich in den Schrank, kurz darauf auch meine Hose. Die Schuhe stellte ich neben dem Schreibtisch ab. Der Teppichboden war wirklich sehr weich. Trotzdem kramte ich meine Hausschuhe raus und zog mir meine Schlafanzughose über, gefolgt von meinem Hemd. Ich hatte die Tagesdecke auf dem Bett gelassen, je mehr drauf war, desto mehr Schutz. Immer noch mit den Nerven am Ende und den zitternden Gliedmaßen, legte ich mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Als ich es nicht konnte, merkte ich, dass das Licht noch an war. Ich hatte Angst es auszumachen. Jedoch war niemand in meinem Zimmer. Die Tür war verschlossen und das Fenster auch. Niemand würde hineinkommen. Also legte ich langsam meine Hand auf den Lichtschalter. Noch einmal ging ich mein Zimmer mit den Augen entlang. Dann drückte ich den Lichtschalter um und vergrub mich innerhalb weniger Augenblicke in die Decke. Ein ebenso spannender wie grauenhafter Tag … Und ich war froh, dass er vorbei war. Jedoch war es nicht der Letzte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)