Götterdämmerung von Mieziliger ================================================================================ Kapitel 17: Totenwache ---------------------- Er hatte nicht gewusst, wie laut Stille sein konnte. Zu Beginn war sie ihm wie eine tröstende Umarmung erschienen, hatte ihm Raum gegeben für Selbstvorwürfe und Trauer. Doch mit jeder Stunde, die verstrich, wurde die Stille dichter. Sie verschlang ihn, nahm ihm den Atem, gab ihm das Gefühl zu ersticken. Und doch ertrug Atemu niemanden in seiner Nähe. Er hatte jeden des Raumes verwiesen. Die Balsamierer, die Priester, die Wachen. Er wollte allein sein. Allein mit der Stille, der Schuld und Yugis Leichnam, der sorgsam aufgebahrt vor ihm lag. Man hatte ihn umgezogen und das Blut fortgewaschen. Wäre Yugis Gesicht nicht so fahl, beinahe blau gewesen, könnte man glauben, er schliefe. Atemu strich vorsichtig eine Haarsträhne aus Yugis Stirn und versuchte zu ignorieren, wie stark seine Fingerspitzen zitterten. Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit er bereits hier verbracht hatte. Die vergangenen Stunden ballten sich in seiner Erinnerung zu einem großen, wirren Knäuel. Er erinnerte sich nur schemenhaft daran, wie Priester versuchten, ihm den Toten aus den Armen zu nehmen, wie Seto auf ihn einredete und wie er Yugi an sich presste, als könne er dadurch verhindern, dass das Leben aus dessen Körper floss. Das Einzige, was Atemu in absoluter Klarheit immer und immer wieder vor sich sah, war Yugis Gesichtsausdruck, als sich der Dolch in seinen Brustkorb bohrte. Er glaubte, noch immer das Geräusch der Klinge hören zu können, die an Yugis Rippen entlang schabte. Atemu schluckte krampfhaft. Seine Kehle war so trocken, dass sie schmerzte, und doch nahm er es kaum wahr. Die Stille würgte ihn, langsam und qualvoll und er hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren. „Pharao Atemu, Ihr könnt nicht länger hier bleiben.“ Setos Stimme ließ ihn erschrocken herumfahren. Er hatte nicht gehört, dass der Hohepriester den Raum betreten hatte, geschweige denn, wie lange Seto schon mit verschränkten Armen dastand und ihn beobachtete. Der Hohepriester trat einen Schritt nach vorn. „Wir müssen den Leichnam ins Haus des Lebens bringen lassen, Pharao. Die Einbalsamierer warten darauf, mit ihrer Arbeit beginnen zu können.“ „Ich habe die Einbalsamierer nicht angewiesen”, antwortete Atemu. Seine Stimme klang rau, das Sprechen bereitete ihm Mühe. „Ich habe auch nicht gestattet, dass Yugi abgeholt wird. Ich will nicht ...“ „Seht doch hin!“ Seto unterbrach ihn harscher, als es angemessen war.  „Ihr könnt nicht weiterhin vor der Realität fliehen. Yugi ist tot! Dort liegt nur noch ein sterblicher Überrest, die Seele dieses Menschen ist schon lange verschwunden. Mit jeder Stunde wird der Körper weiter zerfallen.“ Die Härte in seiner Stimme schwand etwas, als er weitersprach. „Ihr müsst die Mumifizierung zulassen, Pharao. Das ist das Einzige, was Ihr für ihn noch tun könnt.“ Atemu schwieg. Er sollte wütend sein; er sollte Seto für sein Verhalten zurechtweisen - doch er fand in sich weder Zorn noch Stolz. Die beißende Wut, die er so lang gefühlt hatte, die Gier nach Macht und der schiere Wille zu siegen, waren verschwunden. Alles in ihm schien leer. Sein Blick glitt an Seto entlang zu Boden, folgte den Mustern der Mosaiken ohne sie wahrzunehmen und blieb an seiner eigenen Tunika hängen. Das reine, strahlende Weiß des Stoffes war voll rostfarbener Flecken. Es war so viel Blut gewesen. Überall. Auf dem Boden, auf seiner Kleidung, auf seinen Händen. Er wusste, dass Seto recht hatte. Er hatte es all die Stunden gewusst. Atemu tat einen tiefen Atemzug und schloss einen Moment die Augen, die vor Trockenheit brannten. Dann straffte er sich. „Informiere die Balsamierer, Seto. Der Leichnam kann nun ins Haus des Lebens gebracht werden.” „Du gibst ihn einfach auf?” Erneut schrak Atemu zusammen als eine zweite Stimme ertönte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Seto herumfuhr, als aus den Schatten einer Säule Mana hervortrat. Sie wirkte müde, aber gefasst. Ihr linker Arm steckte in einer Schlinge und war so sorgsam verbunden, wie nur Ishizu Wunden zu verbinden pflegte. Sie schien Schmerzen zu haben und hielt sich doch aufrecht, in einer Würde und Stärke, wie Atemu sie an ihr noch nie gesehen hatte. Was war hinter seinem Rücken nur alles geschehen? „Mana”, Setos Stimme peitschte scharf durch den Raum. „Man hat dir keinen Zutritt gewährt. Sieh zu, dass du verschwindest!” Das Magiermädchen hielt Setos Blick einige Augenblicke stand, dann trat sie unverfroren an ihm vorbei und wandte sich Atemu zu. Seto wurde weiß vor Zorn. „Ich habe dich etwas gefragt, Atemu”, sprach Mana den Pharao erneut an. „Gibst du ihn einfach auf?” Seto schien auffahren zu wollen und Atemu hob in einer etwas kraftlos wirkenden Geste die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er war die Streitereien leid und es brachte ihm ein paar Sekunden Aufschub, bevor er antworten musste. „Ich...”, begann er, zögerte kurz und fuhr sich dann mit der Hand über die Stirn. „Seto hat Recht, Mana. Alles, was ich für ihn noch tun kann, ist ihn auf den Weg in die Duat zu senden.” Seine Stimme wurde leiser. „Er wird das prunkvollste Begräbnis erhalten, das ich ihm geben kann.” „Aha.” Mana klang kühl. „Und das ist alles?” Atemu presste die Lippen zusammen. Mana überspannte den Bogen deutlich, doch selbst wenn sie seine wachsende Anspannung bemerkte, schien sie es zu ignorieren. „Was bringt ihm das prunkvollste Begräbnis, wenn er die Duat dennoch nie unbeschadet durchqueren wird? Was bringen ihm Amulette und Zauberformeln, wenn er sie nicht anwenden kann?” Atemu fühlte, wie seine Anspannung der Hilflosigkeit wich. „Er ist weder aus dieser Welt, noch aus dieser Zeit, Atemu”, sprach Mana unbarmherzig weiter. „Er weiß nicht, wie er vor dem Totengericht bestehen kann. Seine Seele ist nicht vorbereitet, um…” „Das ist mir bewusst Mana!” In Atemus Stimme lag alle Schärfe, die er noch aufbringen konnte, und doch brach sie am Ende des Satzes. Mana schwieg lange. Atemu konnte fühlen, wie sich ihr Blick in seinen Rücken brannte. Als sie wieder sprach, war die Kühle ein wenig aus ihrer Stimme gewichen. „Er hat das alles für dich getan, Atemu. Er hat sein Leben geopfert um deine Seele zu retten. Jetzt ist er ganz allein dort in der Unterwelt, stellt sich ohne Hilfe dem Totengericht. Wenn du ihn jetzt aufgibst, wird er…” „Es ist genug, Mana.” „Aber Atemu...” „Lasst mich jetzt allein.” Atemu tat einen tiefen Atemzug. „Bitte.” Die Müdigkeit in seiner Stimme war wohl der einzige Grund, weshalb Mana seiner Bitte zögernd nachkam. Auch Seto schien zu hadern, doch schließlich fuhr er auf dem Absatz herum. Die Stille ballte sich wieder um Atemu. Seine Gedanken flossen zäh, drehten sich immer nur im Kreis und brachten doch keine Klarheit. Mit einem verzweifelten Laut sank Atemu neben Yugis aufgebahrtem Leichnam auf die Knie. „Ich weiß es doch…”, murmelte er rau. „Ich weiß es besser, als Mana glaubt. Aber was soll ich tun?” Seine zitternden Finger suchten Yugis kalte Hände und umfassten sie zärtlich. „Sag mir, was ich tun soll, Yugi. Ich kann dir nicht helfen, dort wo du nun bist. Ich mag Pharao sein, aber ich bin doch nur ein Mensch. Ich kann dir nicht in die Duat folgen und ...” Atemu erstarrte. In seinen Gedanken blitzte plötzlich eine Erinnerung auf. Eine Inschrift, ein alter Mythos, den sein Vater ihm einmal gelehrt hatte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann fuhr Atemu hoch und eilte mit weitausgreifenden Schritten aus dem Raum. Seto und Mana hatten im Flur auf ihn gewartet. Nach dem Ausdruck auf ihren Gesichtern, schienen sie miteinander gestritten zu haben. Doch kaum, dass Mana zu Atemu aufsah, verschwand der Trotz aus ihrer Mimik und ihre Augen blitzten. „Wie ist der Plan, Atemu?” Sie fragte nicht, ob er einen Plan hatte. Sie schien nie daran gezweifelt zu haben. Atemu fühlte plötzlich eine leises Schuldgefühl in sich aufsteigen. Wann hatte er damit begonnen, Manas Hilfsbereitschaft und Loyalität zu vergessen? Wann hatte er ihre Freundschaft ignoriert? Ein fragender Blick traf ihn und Atemu zwang sich dazu, diese Gedanken zunächst beiseite zu schieben. „Vielleicht ist die Duat nicht so unerreichbar, wie ich es zunächst gedacht hatte”, begann er langsam. „Es gibt einen Text, eine alte Wandinschrift, um genau zu sein, von der mir mein … Vater einmal erzählt hat. Nicht weit entfernt von Memphis liegt Sechet-Iaru, eine Oase, die das Bindeglied zwischen dem Totenreich und der Welt der Lebenden darstellt.” Ein leises Schnauben von Seto ließ ihn aufsehen. „Es ist nur ein Sinnbild, Pharao. Eine blühende Oase in der tödlichen Wüste als Inbegriff des Elysiums - das einfache Volk glaubt gern an solchen Unfug.” Atemu schüttelte den Kopf. „Nein, Seto. Es ist mehr als ein Sinnbild. Laut der Wandinschrift, verbindet sich die Duat zwischen der fünften und der sechsten Nachtstunde mit Sechet-Iaru und öffnet einen Pfad, auf dem ein Lebender den himmlischen Nil erreichen kann.” Setos Augenbraue zuckte. „Verzeiht, Pharao, aber das erscheint mir doch wie … kompletter Unsinn. Ein Text auf einer Wandinschrift, dessen Wahrheitsgehalt wir nicht validieren können. Es ist eine Legende, nichts weiter.” „Ach”, mischte Mana sich spitz ein. „In etwa so, wie das Auge des Re?” Setos Augen schienen Gift zu sprühen, doch zum ersten Mal erlebte Atemu ihn tatsächlich sprachlos. „Es ist zumindest eine Möglichkeit”, fuhr Mana schließlich an Atemu gewandt fort. „Wen willst du aussenden? Ich gebe die Anweisung sofort weiter.” Ein leichtes Lächeln flog über Atemus Gesicht. „Es kann nur derjenige den Pfad betreten, der den Göttern am nächsten steht. Der, über dem Isis wachende Flügel schweben, so heißt es im Text.” Mana musterte ihn verwirrt. „Das Kind der Götter”, fügte Atemu sanft hinzu. „Der Pharao.” Einen kurzen Moment herrschte tiefes Schweigen. Dann verlor Seto die Beherrschung. „Das ist inakzeptabel! Das Land liegt brach, nach einem langen, verlustreichen Krieg auf beiden Seiten. Manche Dörfer sind nur noch Ruinen, Memphis hatte noch keine Zeit sich von der langen Belagerung zu erholen. Die Hinrichtung Neferabus wurde unterbrochen, das ganze Volk ist verunsichert und in Aufruhr. Wir brauchen jetzt einen starken Pharao, der die Ordnung wieder einsetzt und dem Land Ruhe bringt! Ich werde nicht zulassen, dass Ihr einer Sage hinterherrennt! Ägypten ist so instabil, dass es zerfällt, wenn Euch jetzt etwas zustößt! Die Reise ist zu gefährlich, der Ausgang zu ungewiss, ich erlaube nicht, dass Ihr…” „Du … erlaubst es mir nicht?” Trotz der ganzen Umstände fühlte Atemu eine leise Belustigung in sich aufsteigen. Es war lange her, dass Seto es gewagt hatte, eine so offene Kritik zu äußern. Es erinnerte Atemu an vergangene Zeiten. An Zeiten, in der er das Amt des Pharao getragen und nicht erzwungen hatte. Atemus Lächeln nahm einen schmerzlichen Zug an. „Ich verstehe deine Bedenken, Seto”, wandte er sich erneut an den Hohepriester, der mit zusammengepressten Lippen vor ihm stand. „Und ich bin dir dankbar für deine Besorgnis. Dennoch werde ich aufbrechen. Es mag nur eine vage Hoffnung sein, aber es ist eine Hoffnung und ich bin bereit, alles darauf zu setzen.” Er sah über seine Schulter zurück zu der Tür, hinter der Yugis Leichnam lag. „Ohne Yugi hätte Ägypten Schlimmeres gedroht als der Zerfall. Er ist dieses Opfer wert, Seto. Mehr als das.” Der Hohepriester schien etwas sagen zu wollen, verstummte jedoch, als Atemu sich wieder zu ihm umwandte. Mit einer ruhigen Bewegung hob der Pharao die Hände zu seinem Diadem und setzte es ab. Dann trat er auf Seto zu, dessen Augen sich überrascht weiteten. „Bis ich zurückkehre wirst du an meiner Stelle regieren”, sprach Atemu sanft, während er sich streckte, um Seto das Diadem aufsetzen zu können. Es war leichter als erwartet, da der Hohepriester zu einer Statue erstarrt zu sein schien. Selbst seine Gesichtsfarbe hatte eine steinerne Blässe angenommen. „Ich weiß, dass du das Amt gut ausfüllen wirst.” Wahrscheinlich besser, als ich es in den letzten Jahren getan habe. Einen kurzen Moment zögerte er, dann hob Atemu erneut die Hände und streifte das Millenniumspuzzle ab. „Und sollte ich nicht mehr zurückkehren, soll dir dies als Legitimation dienen.” Er lächelte, als er dem Hohepriester den Millenniumsgegenstand in die Hand drückte, der offenkundig immer noch nicht begriff, was gerade geschah. Dann wandte er sich ruckartig um und nickte Mana zu. „Lass mein Pferd satteln. Ich breche sofort auf.” Erst als er den Flur durchquert hatte und die Tür sich bereits hinter ihm schloss, konnte er sehen, wie Seto aus seiner Erstarrung erwachte. Der Gesichtsausdruck des Hohepriesters wechselte von überraschter Bestürzung zu wütender Entschlossenheit. „Pharao Atemu, bleibt stehen! Wagt es nicht durch diese Tür zu gehen! Ihr könnt nicht….!” Der Rest des Satzes wurde von den zufallenden Türen abgeschnitten. Atemu lächelte kurz. Dann trat er in den Hof hinaus und warf einen prüfenden Blick auf die untergehende Sonne. Die Zeit arbeitete gegen ihn. Er musste sich beeilen. ~oOo~ Der Hengst wiehert erschöpft, kaum dass seine Hufen das saftige Gras der weitläufigen Oase berührten. Mehr als einmal war das Tier bereits gestrauchelt und Atemu brachte es mit einem sanften Zug an den Zügeln sofort zum Stehen. Er fühlte sich etwas schuldig, dass er sein Pferd so unbarmherzig angetrieben hatte, doch die Erleichterung, rechtzeitig angekommen zu sein, überwog. Langsam rutschte er aus dem Sattel und sah sich um. Die Oase war beeindruckend groß. Dattelpalmen streckten sich in den nächtlichen Himmel und säumten den breiten Wasserlauf, der für das üppige Grün verantwortlich war. Hinter ihm ertönte plötzlich Hufgetrappel und als Atemu sich umwandte, sah er sich Mana gegenüber, die endlich zu ihm aufgeholt hatte. Sie hatte sich geweigert, ihn allein reisen zu lassen, hatte sich seinen Bitten, Anweisungen, selbst seinen Drohungen widersetzt, bis er entschieden hatte, dass es für seinen Zeitplan einfacher war, nachzugeben. Atemu musterte sie durchdringend. Sie war blasser als sonst und schien noch immer große Schmerzen zu haben. Er wusste nicht einmal wirklich, woher die Verletzung an ihrem Arm stammte, sie war Fragen danach bisher stets ausgewichen. Mana schien seinen Blick zu bemerken, denn sie sah auf und zwang ein Lächeln auf ihre Züge. „Wir sind endlich da”, rief sie aufgesetzt fröhlich und rutschte ungelenk aus dem Sattel. „Wie geht es jetzt weiter?” Nach einem kurzen Zögern wandte Atemu den Blick ab und deutete auf die Wasseroberfläche. „Wir folgen dem Fluss zu seiner Quelle”, erklärte er. „Sie soll in einer Höhle liegen und dort ist angeblich der Übergang.” Er zuckte leicht mit den Schultern. „Sofern man der Inschrift glauben kann.” Seinen Worten zum Trotz lag in seiner Stimme kein Zweifel. Er wollte nicht zweifeln. Mana streckte den Rücken durch und nickte dann. „Gut. Dann los”, entgegnete sie und setzte sich in Bewegung. Sie liefen schweigend. Der Weg war nicht weit, aber uneben, und sie achteten aufmerksam darauf, nicht aus Versehen auf Vipern oder Skorpione zu treten, die unangenehm häufig ihren Weg kreuzten. Als sie dem Fluss um eine Biegung gefolgt waren, blieb Atemu plötzlich stehen. Vor ihnen, halb versteckt hinter Palmen, ragte ein pyramidischer Steinhügel hervor. Trotz der unnatürlich wirkenden Form waren die Kanten zu uneben, um von menschlicher Hand behauen zu sein. Eine Ecke der schiefen Pyramide wirkte wie abgebrochen und aus der Dunkelheit dieser natürlichen Kuhle plätscherte klares Wasser und speiste den kleinen Fluss, der die Oase wie ein blauer Faden durchzog. Die Höhle selbst war nicht sehr groß. Sie war gerade hoch genug, um aufrecht stehen zu können, und so schmal, dass man sich mit Mühe an dem Flussbett vorbeidrücken musste. Atemu zögerte. „Geh. Dieser Ort ist der Richtige.” In Manas Stimme lag ein so seltsamer Unterton, dass Atemu sich zu ihr umwandte. Ihr Anblick irritierte ihn. Jede Faser ihres Körpers schien angespannt, und auf ihrem Gesicht lag ein halb furchtsamer, halb entschlossener Ausdruck. Atemu zog die Augenbrauen zusammen, doch gerade, als er etwas sagen wollte, spürte er einen kühlen Luftzug, der aus den Tiefen der Höhle kam. Ein Hauch, geschwängert von Moder und Altertum, staubtrocken und erdrückend. Sie waren am richtigen Ort. Das Gefühl war so deutlich, dass es greifbar schien. Manas Blick zuckte plötzlich nach oben und bohrte sich in Atemus. Ein besorgtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Sei vorsichtig”, murmelte sie leise. „Sei bitte, bitte vorsichtig. Ich … würde dich so gern begleiten, Atemu. Ich würde dich so gern beschützen. Ich…” Mit einem schnellen Schritt trat Atemu nach vorn und zog Mana in eine vorsichtige Umarmung. Einerseits, weil er Angst hatte, ihr Schmerzen zuzufügen und andererseits, weil er sich so ungelenk fühlte, als wenn er Umarmungen erst wieder erlernen müsse. „Hab keine Angst, Mana”, antwortete er ruhiger als er in Wirklichkeit war. „Mir wird nichts geschehen.” Er zögerte einen Moment, dann fügte er leise hinzu: „Danke, dass du mich hierher begleitet hast und immer bei mir warst.” Mana schniefte. Als sie aufsah bemerkte er Tränen in ihren Augen. „Natürlich begleite ich dich”, erwiderte sie zittrig. „Du bist nie alleine gewesen. Ishizu, Seto, Mahad… wir waren immer für dich da und werden es auch immer sein. Du bist mein bester Freund und daran wird sich nichts ändern.” Sie schniefte erneut und grinste dann. „Merk dir das, Pharao Atemu, höchster königlicher Dummkopf des Reiches.” Ein vertrautes Gefühl der Wärme stieg in Atemu auf und trieb ein Lächeln auf seine Lippen. Einen Moment drückte er Mana noch an sich, dann ließ er sie abrupt los und wandte sich um. Seine Schritte verklangen in der steinernen Enge der Höhle. Das Wasser, das träge neben ihm floss, wurde undurchsichtiger, bis er irgendwann den Grund nicht mehr erkennen konnte. Das Mondlicht, das die Höhle bisher nur spärlich erleuchtet hatte, war einem diffusen, grünlichen Glühen gewichen. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus blieb Atemu stehen und sah sich noch einmal um. Weit entfernt konnte er Manas schmale Silhouette ausmachen, die sich nur leicht vom nächtlichen Hintergrund abhob. Es war ein beruhigender Gedanke, zu wissen, dass es dort draußen noch jemanden gab, der auf ihn wartete. Atemu ballte eine Hand zur Faust und wandte sich wieder um. Dann verschwand er in der düsteren Unwirklichkeit. ~oOo~ Er wusste nicht, wann sich die Unruhe eingenistet hatte oder was der Auslöser war, doch Atemu wurde bewusst, dass er immer häufiger über seine Schulter sah, je länger der Weg dauerte. Das Gefühl verfolgt, oder gar gejagt zu werden, lastete mittlerweile so stark auf ihm, dass ihm jeder Schritt schwerfiel. Sein Blick zuckte hektisch durch die Schummrigkeit und flog doch nur über Stein und Geröll. Atemu blieb stehen, schloss einen Moment die Augen und zwang sich dazu, ruhig zu atmen. Er durfte der Angst nicht nachgeben. Er musste einen klaren Kopf bewahren und sich nicht von Trugbildern jagen lassen. Ein tiefer Atemzug folgte dem nächsten und langsam begann er zu spüren, dass das unablässige Zittern seiner Fingerspitzen aufhörte. Atemu ballte die Hände zu Fäusten und öffnete die Augen. Seine Gedanken waren wieder ruhiger. Die Oberfläche des Flusses lag glatt und dunkel vor ihm wie flüssiges Blei. Erst jetzt bemerkte Atemu, was ihn im Unterbewusstsein die ganze Zeit so beunruhigt hatte: Die Stille. Nicht nur, dass seine eigenen Schritte kein Geräusch hinterließen – auch das Wasser floß lautlos. Atemu keuchte leise und erschauderte, als die Dunkelheit auch diesen Laut schluckte. Angestrengt zwang er sich dazu weiterzugehen. Es fiel ihm plötzlich schwer einen Fuß vor den anderen zu setzen, jeder Schritt war eine erneute Überwindung. Immer öfter glitten seine Gedanken in die Vergangenheit, egal wie sehr er versuchte sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Wie viele tote Seelen waren vor ihm hier gewesen? Wie viele davon waren für ihn und sein Land gestorben? Atemu presste die Lippen zusammen, als er bemerkte, dass er stehengeblieben war. Er musste weiter. Irgendwann würde er sich seiner Schuld stellen, aber nicht jetzt und nicht hier. Yugi brauchte ihn. Mit den Fingerspitzen fuhr er an den Wänden entlang. Das Gefühl des rauen Untergrundes beruhigte ihn, es war etwas Reales an das er sich klammern konnte. Ob Djedefre im Exil überhaupt überleben konnte? Der plötzlich auftauchende Gedanke ließ Atemu mitten im Schritt erstarren. Er sah Djedefres entsetzten Gesichtsausdruck vor sich. Und er sah sich selbst, wie er immer und immer wieder auf den am Boden liegenden einschlug. Er konnte die Raserei nicht mehr begreifen, aber er konnte sie noch immer fühlen. Was hatte er nur getan? Atemu presste sich gegen die kalten Steinmauern. Sein Atem ging flach. Hätte er Djedefre tatsächlich umgebracht? Er spürte die Antwort auf diese Frage mit jeder Faser seines Körpers. Ein bitterer Geschmack legte sich auf seine Zunge. Er hätte Djedefre eigenhändig getötet, wenn nicht Yugi… „Yugi…“ Seine eigene, raue Stimme riss Atemu aus der Starre. Weiter. Er musste weiter. Schritt um Schritt zog er sich vorwärts. Sein Brustkorb war wie zugeschnürt, das Atmen wurde ihm zur Qual. Wie viele Menschen waren unter seiner Regentschaft gestorben? Wie viele Existenzen hatte er mit einem einzigen Befehl ruiniert? Mit verkrampften Fingern zerrte er an seinem Umhang, bis er von seinen Schultern glitt. Dennoch bekam Atemu kaum Luft. Ein Strom an Erinnerungen zog durch seine Gedanken, ohne dass er sie kontrollieren konnte. Tote Soldaten, über die er mit seinem Streitwagen hinwegfuhr, die ihm den Weg säumten und die ihn aus offenen, leblosen Augen anstarrten. Manche Gesichter kannte er. Alte Kämpfer, die bereits Pharao Aknamkanon zur Seite gestanden und die nun für Atemu ihr Leben gelassen hatten. Aber auch junge Männer, keine Kinder mehr und doch nicht alt genug um je wirklich gelebt zu haben. Wann hatte er aufgehört an einen anderen Weg zu glauben? Wann hatte er sich selbst eingeredet, dass der Krieg sein müsse? Wann hatte er damit begonnen, diesen Krieg zu wollen? Atemu bemerkte nur beiläufig, dass er auf die Knie fiel. Verzweifelt rang er nach Luft und versuchte, sich vorwärts zu ziehen, doch seine kraftlosen Hände fanden auf dem staubigen Grund keinen Halt mehr. Er hatte versagt. Nicht nur als Pharao, sondern als Mensch. Er würde Yugi nicht mehr helfen können. Die Götter würden einer schuldbelasteten Seele wie der seinen keine Zugeständnisse machen. Sie würden weder ihm, noch Yugi, gestatten, die Duat je wieder zu verlassen. Über Atemus Lippen zog ein bitteres Lächeln. Seto hatte recht gehabt. Wie immer. Das Land würde zu Grunde gehen und er würde – Steh auf, Atemu. Atemu zuckte zusammen. Der Ring um seinen Brustkorb schien sich etwas zu lockern und erlaubte ihm, in einer kraftlosen Geste den Kopf zu heben. Sein Blick irrte durch die Düsternis, doch er erkannte nichts, außer Geröll und Schatten. Steh auf und sieh an dir hinab, Atemu. Lass sie nicht siegen. Er konnte die Stimme nicht zuordnen, nichtsdestotrotz reagierte er darauf. Langsam stemmte er sich hoch; seine Beine trugen sein Gewicht nur schwer. Er sah an sich hinab, doch außer einer staubbedeckten Tunika sah er nichts. Sieh genauer hin. Atemu tat einen zittrigen Atemzug und schloss einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, begann das Bild klarer zu werden. Er sah Schemen, gerade so sichtbar, dass er sie mit jedem Wimpernschlag wieder verlor. Sie nahmen mehr und mehr Gestalt an, formten sich zu langen, gestreckten Leibern, deren fratzenhafte Gesichter zu ihm aufstarrten. Atemu entfuhr ein entsetzter Laut, als ihm bewusst wurde, dass sich die Dämonen der Verstorben, die diese Etappe der Reise nicht überstanden hatten, um seinen Körper wickelten. Als wäre diese Erkenntnis der Auslöser, zog sich die wabernden Masse wie ein eiserner Kokon um ihn zusammen und presste ihm die wenige, noch verbliebene Luft aus den Lungenflügeln. Atemu taumelte. Erneut brach er auf die Knie, versuchte mit den Händen die lebenden Fesseln zu zerreißen und griff doch nur ins Leere. Er öffnete den Mund, versuchte zu schreien, aber ihm entkam kein Laut mehr. Sein Kopf pochte. Sein Sichtfeld wurde schmaler, vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Denke daran weshalb du hier bist, Atemu. Denke daran, was du suchst. Was … er suchte? Atemu schloss die Augen, während er kraftlos nach vorne kippte. Staub legte sich auf seine Lippen, als er zum Liegen kam. Alles in ihm schrie danach der Ohnmacht nachzugeben und sich fallenzulassen. Und doch gab es einen kleinen Teil in ihm, eine leise und doch eindringliche Stimme, die ihm immer wieder einen Namen zurief. Yugi. Er war hier, um Yugi zu finden. Er war hier, um Yugi aus der Unterwelt zu holen. Er war hier, um ihn um Vergebung zu bitten. Atemus Fingernägel brachen, als er sie plötzlich in den steinernen Untergrund grub und sich vorwärts zog. Er konnte hier nicht scheitern, er durfte es nicht. Nicht hier. Er würde Yugis Seele einholen, selbst wenn es ihn seine eigene kostete. Und er würde nicht hier scheitern. Niemals. Der Druck um seinen Körper zerbarst. Seine Lungenflügel füllten sich so gierig mit Luft, dass es ihn zum Husten brachte. Noch immer versuchte die Ohnmacht nach ihm zu greifen, doch Atemu kämpfte sie in verzweifelter Entschlossenheit nieder. Nur langsam lichteten sich die Schlieren vor seinen Augen. Die schemenhaften Dämonen waren verschwunden. Nur der Staub auf seiner Tunika war geblieben. Atemu sah sich um, während er einige, zögernde Schritte vorwärts ging. Woher war diese Stimme gekommen? Sie war ihm so bekannt vorgekommen. Er hatte sie früher oft gehört. Ein leises Kribbeln zog über seinen Nacken. War sein Vater … ? Ein scharrender Laut ließ Atemu herumfahren. Er hatte nicht gemerkt, dass sich die Umgebung verändert hatte. Der Fluss hatte sich zu einem breiten Gewässer gewandelt und spannte sich bis zum Horizont. Und an dessen Ufer, direkt vor Atemu, lag eine einfache Barke vor Anker. Atemu zuckte zusammen, als sein Blick auf den Fährmann fiel, der mit dem Rücken zu ihm am Heck stand, das Ruder in der ausgestreckten Hand. Nur die Toten haben das Recht hier zu verweilen. Atemu erstarrte, als Anubis sich zu ihm umwandte. Kehre um, Pharao Atemu. Deine Reise endet hier. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)