Götterdämmerung von Mieziliger ================================================================================ Kapitel 8: Königsgambit ----------------------- Yugi schrak auf, als vorwitziges Palmenblatt mit präziser Treffsicherheit auf seinem Gesicht landete. Verwirrt rappelte er sich auf und fuhr sich unkoordiniert durch die wirren Haare. Er war scheinbar doch kurz eingenickt. Wieder traf ihn das Palmenblatt, diesmal direkt in den Nacken und er nahm es zum Anlass aufzustehen. Er ächzte. Es war unerträglich heiß heute. Auch wenn am späten Nachmittag ein starker Wind aufgekommen war, so brachte dieser doch nichts weiter mit sich, als die drückende Hitze der weitläufigen Wüsten. Als ihn das Palmenblatt nun zum dritten Mal traf, maulte Yugi leise und setzte sich im Schneckentempo in Bewegung. Während er ziellos durch den Garten wanderte, musste er sich eingestehen, dass ihm tatsächlich langweilig war. Er hatte nichts mehr von Mana und Joey gehört, Schesemtet war unauffindbar und da das Fest in Theben noch immer tobte, war auch der Palast fast gänzlich ausgestorben. In den ersten Stunden hatte Yugi diesen Umstand genossen. Nach all der Aufregung der vergangenen Zeit hatte ihm diese Ruhe sehr gut getan. Doch nach und nach war in ihm ein Gefühl der Leere entstanden. Er wusste einfach nicht, was er überhaupt tun sollte. Mana und Joey hatten eine Aufgabe, ein greifbares Ziel, das es zu erreichen galt. Aber er? Er hangelte sich vom Frühstück zum Abendessen und tat sonst nicht viel, außer ein Versteckspiel mit dem Pharao zu führen, der von seiner Teilnahme daran rein gar nichts wusste. War es Ironie des Schicksals, dass Yugi sich tatsächlich genauso nutzlos fühlte, wie der Pharao ihn genannt hatte? Seufzend trat Yugi nach einem kleinen Steinchen, verfehlte es deutlich und wandte sich unwillig ab. Eine Bewegung unweit von ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Yugi zuckte leicht zusammen. Es war Pharao Atemu, der dort auf einem aufwändig gewobenen Teppich im Halbschatten eines Perseabaumes saß und gedankenverloren auf eine ausgebreitete Papyrusrolle blickte, die auf seinen Knien lag. Yugis erste Reaktion bestand darin, sich tiefer hinter den Schutz des Busches zu ducken. Doch dann zögerte er. Hatte er sich nicht gerade in Gedanken beschwert, dass er sich nutzlos fühlte? Was tat er also hier? Wenn er dem Pharao weiterhin nur auswich, würde er garantiert nichts erreichen. Mit etwas Mühe schluckte er den schalen Geschmack von Unwohlsein hinunter, straffte die Schultern und nahm den direkten Weg durch das Unterholz. Als Yugi sich mit der Geschmeidigkeit eines hinkenden Flusspferdes durch das störrische Gebüsch wühlte, sah Atemu auf und musterte ihn lange. Yugi zupfte sich schnell ein Blatt aus den Haaren und schenkte seinem Gegenüber ein offenes Lächeln, doch es gefror ihm im Gesicht, als der Pharao nur ein abwertendes: „Sehr elegant.“ von sich gab. Da stand er nun. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Ihm fehlte eindeutig die Übung darin, ein Gespräch mit einem Staatsoberhaupt zu beginnen. Einem nicht allzu gut gelaunten Staatsoberhaupt, um genau zu sein. „Was willst du?“ Atemu klang genervt und Yugi beeilte sich sein Lächeln wieder gerade zu rücken. „Ich habe mich gefragt, ob ihr vielleicht Gesellschaft wünscht“, begann er langsam und suchte nach einer Möglichkeit, diese lahme Ausrede in ein besseres Licht zu rücken. „Es ist… ja doch sehr ruhig momentan im Palast.“ „Dass ich die Gesellschaft eines Gossenkindes wünsche, ist ebenso wahrscheinlich, wie die Sichtung eines weißen Löwen.“ Yugi unterdrückte ein Seufzen. Er sehnte sich nach seinem gewohnten Leben zurück, wo es das Schwierigste gewesen war, mit Seto Kaiba auszukommen. Aber selbst mit Kaiba war es einfacher gewesen, ein Gespräch am Laufen zu halten. Yugi war ratlos. Nach einer Weile des drückenden Schweigens, presste Atemu Daumen und Zeigefinger so fest  auf seine Nasenwurzel, dass auf der Haut weiße Abdrücke sichtbar wurden. „Bei Seths heiligem Andenken… Wenn du schon da bist, dann mach dich wenigstens nützlich!“, stieß er hervor und deutete auf seine Schulter. „Nimm meinen Umhang ab und bring ihn in den Palast.“ Yugis Augenbraue zuckte, aber er verkniff sich jegliche Frage, warum der Pharao den Umhang nicht einfach selbst abnahm, wenn ihm zu warm war. Zögerlich trat er näher. Atemu hatte sich bereits wieder in sein Papyrus vertieft und schien ihn zu ignorieren. Nervös begann Yugi an einer Falte des Umhangs herum zu zupfen. Er nahm einen warmen Geruch wahr, eine Mischung aus Ölen und Blüten, die auf seiner Nasenspitze kribbelte. Yugis Fingerspitzen fuhren fahrig über den schweren Stoff, suchten nach einer Möglichkeit ihn zu lösen und glitten plötzlich über Atemus bronzene Haut. In gleichen Moment, in dem Yugis Fingerspitzen aus Versehen in Atemus Nacken zum Liegen kamen, zuckte der Pharao wie unter einem Schlag zusammen. Er fuhr herum und schlug Yugis Hand so heftig davon, dass dieser durch die Wucht nach hinten kippte. „Was…“, begann Atemu zischend, unterbrach sich dann aber mit einem Keuchen. Seine Hand verkrampfte sich so fest in der Vorderseite seiner Tunika, dass die Adern hervor traten. „Pharao? Verzeihung… Was ist denn passiert? Pharao??“ Entsetzt rappelte Yugi sich auf, doch genauso schnell, wie der Schwächeanfall gekommen war, war er auch schon wieder vergangen. Atemus verkrampfte Muskeln entspannten sich, sein Atem wurde wieder ruhiger. Langsam fuhr er sich mit einer Hand über die Augen, hob dann den Blick und sah Yugi fragend an. „Wann bist du…“ Er zögerte, schüttelte fast unmerklich den Kopf und setzte neu an. „Sag mir Yugi, hast du meinen Diener Mentu gesehen?“ Yugis Unterkiefer klappte nach unten. Atemus Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. „Ist etwas?“ „Nein, es ist…“ …nur das erste Mal, dass du meinen Namen nennst, statt eine Beleidigung zu verwenden. „…gar nichts“, haspelte Yugi. Atemu musterte ihn einen Moment irritiert, schwieg jedoch und erhob sich. Der purpurne Umhang glitt mit einem samtigen Laut von seinen Schultern und begrub Yugi, der unter dem Gewicht des Stoffes ächzte. Als er sich ungelenk daraus hervor wühlte, hörte er einen Laut, der ihn verwundert inne halten ließ. Der Pharao lachte. Es war nur ein leises Lachen, aber es war weich und so warm, dass es Yugi ein Lächeln auf das Gesicht trieb. Verlegen schob er den Umhang beiseite und sah zu Atemu auf. Die kleinen Lachfältchen, die hervor traten, nahmen dem ernsten Gesicht die einschüchternde Strenge und zum ersten Mal fiel Yugi auf, wie jung der Pharao eigentlich war.  Ein leises Rascheln zog Yugis Aufmerksamkeit auf das nebenliegende Gebüsch und obwohl es nicht das erste Aufeinandertreffen war, so erschrak er doch wieder, als plötzlich der breite Löwenkörper Schesemtets auftauchte. Unwillkürlich zog Yugi sich etwas zurück und musterte das Tier misstrauisch. „Keine Angst, Yugi.“ Atemu war einen Schritt nach vorne getreten und streichelte der Raubkatze sanft über den Kopf. „Das ist Schesemtet, meine treueste Gefährtin.“ „Aber… es ist ein Löwe. Ist das nicht … gefährlich?“ Atemu lächelte. „Genau genommen ist es doch nur eine etwas groß gewachsene Katze. Verspielt und eigenwillig, aber auch loyal und anhänglich.“ Yugi warf dem Pharao einen zweifelnden Blick zu. „Gab es die nicht im Taschenformat und etwas weniger … unhandlich?“ Atemus Oberlippe zuckte und wenig später brach er erneut in ein leises Lachen aus. Ein überraschter Laut unterbrach ihn. Als Yugi sich umwandte sah er einen Palastdiener, der wie versteinert da stand und den Pharao mit offenem Mund anstarrte. In der linken Hand trug er eine Karaffe, die er mittlerweile so schief hielt, dass er mit der darin befindlichen Flüssigkeit den Rasen tränkte. „Mentu?“ Als der Pharao ihn ansprach, zuckte der Diener so heftig zusammen, dass er den Krug in einem Schwall zur Gänze leerte. Mit kreidebleichem Gesicht warf er sich auf die Knie und neigte sich nach vorn, bis seine Stirn das Gras berührte. „Verzeiht mir großer Pharao, es war ein Versehen. Ich wollte nicht… will sagen, ich war nur … ich habe Euch…. Was ich meine, ist…“ Atemu hob eine Hand und winkte ab. „Es war nur Wein, Mentu. Nicht der Rede wert. Sag mir, sind die Frontberichte eingetroffen, auf die ich warte?“ Mentu, der allem Anschein nach mit allem gerechnet hatte, aber nicht mit dieser Gleichmütigkeit, nickte mechanisch. Atemu überlegte einen Moment und legte dann eine Hand auf den Rücken seiner Löwin. „ Das ist gut. Komm Schesemtet. Es wird Zeit einen Blick hinein zu werfen. Danke Mentu, du kannst gehen.“ Als der Pharao, flankiert von der großen Raubkatze, zum Palast zurückging, sah Yugi ihm nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte. Erst jetzt spürte er, wie schnell sein Herz in den letzten Augenblicken geschlagen hatte. Hastig wandte er sich um und versuchte die Röte zu ignorieren, die ihm in die Wangen stieg. Er hob den Blick und sah direkt in die aufgerissenen Augen des Dieners, der noch immer wie festgegossen da stand. Yugi zögerte, hob dann eine Hand und berührte den Ägypter vorsichtig an der Schulter. Mentu zuckte zusammen wie unter einem Stromschlag, doch es löste die Anspannung unter der er gestanden hatte. „Er hat gelacht“, murmelte er schleppend. „Bei Osiris! Der… Pharao hat … gelacht?“ Yugi lächelte leicht. „Na und? Darf er das etwa nicht?“ Mentu wandte langsam den Kopf und musterte Yugi, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er ihn für unglaublich weise oder unerträglich beschränkt halten sollte. „Mit jedem Jahr, das seit seiner Thronbesteigung verging, wurde unser großer Pharao ernster“, begann Mentu langsam „Seit fast zwei Jahren hat ihn niemand je wieder zum Lachen gebracht.“ Der Diener schwieg, doch es war Yugi, als könnte er dessen Gedanken hören. Niemand Yugi. Außer du. ~oOo~ Theben war endlich zur Ruhe gekommen. Die Feier war verebbt und die wenigen, die noch in den Straßen unterwegs waren, waren meist noch so betrunken, dass sie nicht ansprechbar waren. Im Schutz der Nacht schlich Mana durch die engen Gassen und Flure des königlichen Palastes. Sie lief schnell und leise, tauchte von einem Schatten in den nächsten und verschmolz mit jedem Vorsprung den die Mauer ihr bot. „Es ist nicht mehr weit“ flüsterte sie leise und obwohl sie sich nicht nach hinten umsah, glaubte sie zu wissen, dass Joey nickte. Vorsichtig bog sie um eine Ecke, quetschte sich durch einen dünnen Mauerspalt – und erschrak bis ins Mark, als plötzlich die hochgewachsene Gestalt Priester Setos vor ihr auftauchte. „Mana. Joey. Dachte ich mir doch, dass ich euch hier antreffen würde.“ Unbeholfen zog das Magiermädchen den Umhang von ihrem Kopf und biss sich nervös auf die Unterlippe, doch bevor sie einen Ton sagen konnte, wurde sie von Joey zur Seite geschoben. Mit wütend blitzenden Augen trat er auf den Hohepriester zu, die Hände demonstrativ zu Fäusten geballt. Seto musterte ihn emotionslos, schüttelte dann den Kopf und seufzte „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“, fragte er gedehnt. „Habt ihr überhaupt irgendeine Ahnung auf was ihr euch da einlasst?“ In einer Bewegung, die Selbstsicherheit ausstrahlen sollte, schließlich aber doch nur trotzig wirkte, verschränkte Mana die Arme vor der Brust. „Hast… Hast du nicht selbst gesagt, dass man das Auge holen müsse?“ „Natürlich. Aber ich habe von einer gut geplanten Expedition gesprochen und nicht von zwei verbohrten Dickschädeln, die wie blinde Nattern in ihr Verderben rennen.“ „Aber-“ „Nichts aber, Mana!“ Der schneidende Ton in Setos Stimme mahnte deutlich ihn nicht weiter zu reizen. Im Gegensatz zu Mana, die sofort verstummte, schien Joey sich davon jedoch nicht beeindrucken zu lassen. „Jetzt hör mir mal zu du, Oberpfaffe“, blaffte er los und schüttelte seine Faust. „In der Bonzen-Hütte da hinten spielt mein bester Kumpel Babysitter für einen Kerl, der offenkundig nicht ganz knusprig ist. Yugi hat mich immer rausgeboxt, egal in was für einer Scheiße ich schon gesteckt habe und jetzt sitzt er da oben, wartet auf mich und ich soll mich von so einer Type wie dir aufhalten lassen? Das kannst du echt knicken, Alter. Es ist mir völlig schnurz, wie gefährlich es wird. Ich habe Yugi mein Wort gegeben und werde es halten, selbst ich dabei draufgehe. Ich werde ich jetzt dieses alberne Auge holen und wenn Mana mich begleiten will, dann geht sie gefälligst mit, scheißegal, ob dir das passt oder nicht. Im Gegensatz zu dir tut sie wenigstens was, um eurem Pharao zu helfen, während du in deinem bodenlagen Tütü nur mordsmäßig würdig durch die Flure wandelst und schlaue Reden schwingst. Also sieh zu, dass du Leine ziehst oder es wird ungemütlich, kapiert?“ Mana war so entsetzt, dass sie nichts weiter von sich geben konnte, als ein ersticktes Stöhnen. Tränen schossen ihr in die Augen, als ihr die Konsequenzen von Joeys Unverschämtheit bewusst wurden. Seto hatte wenig Geduld. Er hatte Auspeitschungen schon aufgrund geringerer Vergehen angeordnet. Der Hohepriester straffte sich und Mana spürte, wie ihre Beine nachgaben. Langsam sank sie auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.  „Dein Ton gefällt mir nicht, Straßenbengel.“ Setos schneidend kalte Stimme trieb Mana eine Gänsehaut über den Rücken. „Es wird mir eine Freude sein, dir dafür eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen. Falls ihr lebend zurückkehrt.“ Manas Kopf zuckte so schnell nach oben, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Der Hohepriester musterte sie mit verschränkten Armen. „Ich kann es nicht gut heißen. Ich kann euch auch nicht wissentlich gehen lassen. Aber ich kann davon ausgehen, dass ihr gerade nur einen abendlichen Spaziergang tätigt, was mich nicht zum Handeln zwingt. Sollte aber morgen, nach Sonnenaufgang, auffallen, dass euer Spaziergang länger gedauert hat als beabsichtigt, werden Ishizu und Mahad nach euch suchen lassen. Ich muss und ich werde mich dieser Suche anschließen, es ist meine Pflicht als Untergebener des Pharaos. Wenn ich euch finde, dann werde ich euch in den Palast zurückholen und unter der Anklage des Hochverrats vor Gericht bringen.“ Mana öffnete die Lippen um zu antworten, doch sie brachte keinen Laut hervor. Nach einigen Augenblicken, die sich unter Setos stechendem Blick wie eine Ewigkeit dehnten, fuhr der Hohepriester plötzlich herum und verschwand mit wehendem Umhang in der Dunkelheit. Mana schnappte keuchend nach Luft und wischte sich über das schweißnasse Gesicht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Erleichterung verspürt. „Ich trau dem Kerl nicht.“ drang Joeys Stimme plötzlich durch den Nebel der Euphorie zu ihr hindurch und Mana rappelte sich umständlich vom Boden auf. „Ich weiß nicht, wie der Seto aus deiner Welt ist, Joey. Aber der hiesige steht zu seinem Wort.“ Das Magiermädchen zog den Umhang wieder über ihren Kopf und versuchte, ihre Finger zu beruhigen, die noch immer heftig zitterten. „Hohepriester Seto ist ein enger Vertrauter des Pharao und ich bin mir sicher, dass er sich genauso wie wir alle wünscht, dass Atemu wieder zur Vernunft kommt.“ Joey warf ihr einen schiefen Blick zu. „Hast du mir nicht erzählt, dass er während deinem Gespräch mit Mahad völlig gaga war?“ „Wenn du das formulierst, klingt das alles immer so negativ“, maulte Mana genervt und stapfte hölzern an Joey vorbei. „Priester Seto steht im Rang theoretisch über Mahad und Ishizu, aber er kann nicht einfach über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Sie können diskutieren, streiten, sich die Köpfe einschlagen – im Endeffekt müssen sie einen Kompromiss schließen. Das hier war seine Art, dem Pharao zu helfen.“ Sie lächelte leicht, auch wenn sie selbst merkte, dass es gequält wirkte. „Komm. Wir haben nur wenig Vorsprung. Die Sonne geht bald auf und bis dahin müssen wir so weit vom Palast weg sein wie nur möglich.“ Joey öffnete schon den Mund um etwas zu erwidern, aber Mana schnitt ihm das Wort mit einer schnellen Handbewegung ab. Sie waren mittlerweile an einer kleinen, künstlichen Bucht angekommen, an der die Schiffe mit den täglich benötigten Waren des Palastes vor Anker gingen. Hastig schlich Mana am Ufer entlang, bis sie zwischen den stolzen Feluken endlich ein kleines Papyrusboot fand, das sanft in den Wellen des Nils schaukelte. Mit geübten Griffen lockerte sie das Seil, mit dem das Boot vertäut war und zog es näher an das Ufer heran. Joey schüttelte ungläubig den Kopf. „Ist das dein Ernst? Auf dieser Nussschale sollen wir los? Wir gehen doch baden, bevor wir aus dem Hafen schippern können!“ Augenrollend gab Mana ihm zu verstehen, dass er weniger reden und mehr mit anpacken sollte und raunte: „Keine Sorge. Die Boote sind stabil. Außerdem sind sie leicht zu verbergen und wir sind sicher vor Krokodilen.“ „K-k-k-kroko-di-dilen?“ „Ja. Sie ignorieren die Boote. Wir dürften also nicht in Gefahr laufen, angegriffen zu werden.“ „G-g-ganz s-sicher?“ „Nein. Aber besser als schwimmen, oder?“ Joey antwortete nicht, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht, zeigte deutlich, was er von Manas Beteuerungen hielt. Mit leicht grüner Gesichtsfarbe saß er wie gemeißelt auf dem kleinen Boot und starrte ins Wasser, als würde er erwarten, sofort von allen Seiten von Krokodilen belagert zu werden. Mana schüttelte leicht den Kopf, stieß das Boot mit einer kräftigen Bewegung ab und zog das Ruder ein, um keine auffälligen Geräusche zu machen. Die Strömung des Nils nahm das kleine Schiff an und trieb es langsam voran. Mit klopfendem Herzen sah Mana zu, wie die Mauern des Palastes an ihr vorbei glitten, wie sich das Ufer immer weiter von ihnen entfernte und wie die Lichter Thebens dunkler zu werden begannen. Ihre Kehle war so trocken, dass es schmerzte. Es gab kein Zurück mehr. Ihre große Reise hatte begonnen und sie hoffte inbrünstig, dass die Götter ihr und Joey beistehen würden. ~oOo~ Der Wind hatte gedreht und als die Sonne am Morgen über Theben aufging, brachte er nicht mehr das Glühen der Wüste mit sich, sondern die angenehme Kühle des Nils. Mahad sog tief die Luft ein und trat in den Vorhof des ersten Palastbezirks. Langsam ließ er seinen Blick über den Platz schweifen und zog irritiert die Augenbrauen zusammen. Irgendetwas schien heute anders zu sein, er konnte es nur nicht ganz greifen. Der Palast erwachte und füllte sich mit Beamten, Dienern, Ärzten und Haremsdamen. Es war ein Tag wie jeder andere und doch hatte Mahad das Gefühl, als ob etwas fehlen würde. Der Hohepriester schüttelte leicht den Kopf und erwiderte dann den Gruß eines vorbeieilenden Hofarztes mit einer leichten Handbewegung. Wahrscheinlich sah er schon Gespenster. Es gab keinen Grund zur Nervosität. Es war ein wunderbar ruhiger Morgen und - Mahad stockte. Es war tatsächlich wunderbar ruhig. Viel zu ruhig! Wo, bei allen Göttern, war Mana? Für gewöhnlich turnte sie um diese Uhrzeit schon quer durch den Palast und rief ihm von weitem ein derartig lautes „Guten Morgen, Mahad!“ entgegen, dass halb Theben von seiner Anwesenheit informiert war. Doch heute hatte er noch nicht einmal den kleinsten Zipfel ihres Gewandes gesehen und das obwohl sie für den frühen Tempeldienst vorgesehen war. Hatte sie es vergessen? Nach einem kurzen Moment des Überlegens entschied er sich dazu Ishizu aufzusuchen. Er wusste, dass Mana viel Zeit bei der Hohepriesterin verbrachte. Nur, wie sollte er Ishizu gegenüber treten? Seit dem Eklat im Priesterrat waren sich die Hohepriester konsequent aus dem Weg gegangen. Noch immer lagen all die Beleidigungen und Vorwürfe in der Luft, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Mit einem kleinlauten Seufzen zog sich Mahad das Tuch zurecht, das ihn vor der Sonne schützte. Er gestattete sich noch ein paar Minuten des Abwartens, die er vor sich damit rechtfertigte, dass Ishizu um diese Zeit sicher noch nicht wach war, doch dann straffte er die Schultern und schlug den Weg in das Priesterviertel ein. Vor Ishizus Tür angekommen, hielt er inne. Durch die geschlossene Tür konnte er leises Gemurmel hören und Mahad war sich nicht gänzlich sicher, ob es sich um Ishizus morgendliches Gebet oder eine Unterhaltung mit einer zweiten Person handelte. Leise neigte der Hohepriester sich vor und brachte sein Ohr näher an das Holz heran. Gerade als er glaubte, aus dem Gemurmel einzelne Worte heraushören zu können, sah er aus den Augenwinkeln einen jungen Medjay, der ihn entgeistert musterte. Mahad fuhr zusammen und bemühte sich einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen, während er heftiger als gewollt an Ishizus Tür klopfte. Der Medjay ging langsam an ihm vorüber, deutlich irritiert, aber zu respektvoll ergeben, um unangenehme Fragen zu stellen. Als die Wache endlich verschwunden war, schlug Mahad sich mit einer Hand an die Stirn. Er hörte jetzt schon das Getuschel unter den Palastangestellten, die sich daran ergötzten, dass er sich vor der Tür einer alleinstehenden Hohepriesterin die Ohren plattgedrückt hatte. Großartig. „Kopfschmerzen, Mahad? Schon wieder zu viele Entscheidungen mit dir selbst ausgefochten?“ Schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit fuhr der Hohepriester heftig zusammen, als Ishizus kühle Stimme zu ihm drang. Im Gegensatz zu sonst, hatte sie die Tür nur einen Spalt geöffnet und sah ihn nicht direkt an, während sie mit ihm sprach. Mahad musste sich eingestehen, dass ihm dieses Verhalten einen Stich versetzte. „Nein. Du weißt, dass ich Entscheidungen für gewöhnlich…“, er unterbrach seinen lahmen Verteidungsversuch und schüttelte den Kopf. „Ishizu, ich hatte nicht wirklich vor, dich aufzusuchen, doch mir bleibt leider keine Wahl. Ich bin auf der Suche nach Mana.“ Noch bevor er Ishizus an sah, wurde Mahad klar, dass er die Sache ganz falsch angefangen hatte. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber der verletzte Ausdruck in ihren Augen traf ihn so tief, dass sein Herz einen Moment aussetze. Ishizu schwieg. Als sie sich abwandte, glaubte Mahad in ihren dichten Wimpern Tränen blitzen zu sehen. Sein Kopf war wie leer gefegt und bevor er realisierte, was er tat, stemmte er bereits die Tür mit einer harschen Handbewegung auf. Kaum, dass er sich seinen Weg in Ishizus Unterkunft gebahnt und die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog er die völlig perplexe Hohepriesterin in seine Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. „Verzeih…“ flüsterte er leise. „Bitte verzeih mir, Ishizu.“ Nach einigen Sekunden der Starre, schlangen sich plötzlich Ishizus schlanke Arme um ihn und vergruben sich in seiner weißen Tunika. Mahad sog den warmen Geruch ihres dunklen Haares ein, seine Hand fuhr in ihren Nacken und zwang sie sanft zu ihm aufzusehen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Zeit still zu stehen, als sich die Lippen der Priester zu einem zarten Kuss trafen. Mahads Fingerspitzen glitten ohne sein Zutun über Ishizus Rücken, er fühlte das sanfte Beben ihres Körpers, das er trotz der dichten Tunika spüren konnte. Ein leiser Laut entkam der Hohepriesterin – und katapultierte Mahad zurück in die Realität. Mit einem Keuchen zuckte er zurück und löste sich von Ishizu, die sich erschrocken die Hand auf den Mund legte. Mit einem leisen Fluch fuhr Mahad herum, stützte sich am Fensterbrett ab und schloss die Augen, um sich zu sammeln. Ein tiefes Schweigen begann den Raum auszufüllen. Er hörte das Rascheln von Ishizus Tunika, als sich die Hohepriesterin bewegte, zuckte aber dennoch zusammen, als er ihre Hand plötzlich auf seinem Schulterblatt fühlte. „Mahad“, Ishizus Stimme klang belegt. „Was eben geschehen ist… Also ich meine…“ Sie atmete tief ein und Mahad konnte hören, wie sie um Selbstsicherheit rang. „Ich denke, ich kann deine Entschuldigung annehmen. Ja.“ Irritiert sah Mahad über seine Schulter. In Ishizus Augen lag noch immer eine große Unsicherheit, aber sie bemühte sich einen gespielt ernsthaften Gesichtsausdruck aufzusetzen. Mahad lächelte leicht und tat es Ishizu gleich, indem er die vergangene Situation mit einer aufgesetzten Leichtigkeit überspielte. Er räusperte sich. „Nun… ich habe dich eigentlich aufgesucht, um nachzusehen ob Mana hier ist. Aber wie ich sehe, ist das nicht der Fall.“ Ishizus trat einen Schritt zurück. „Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit du sie geschickt hattest, um Landkarten von Unterägypten zu holen. Ehrlich gesagt, war ich sehr verwundert, dass du…“ „Moment. Was habe ich?“ Mahads Ton war schärfer als gewollt und Ishizus Augenbrauen zogen sich irritiert zusammen. „Nun, Mana sagte, du würdest Karten benötigen für…“ sie unterbrach sich und zog erschrocken die Luft ein. „Mahad, sag mir nicht, dass sie allein nach Gizeh aufgebrochen ist!?“ Der Hohepriester rieb sich die Schläfen, als er plötzlich alles verstand. „Sie ist nicht allein.“ „Was? Aber wer-“ „Sag mir, Ishizu, wann hast du Joey zuletzt gesehen?“ Ishizu antwortete nicht. Es war auch nicht nötig. „Ishizu, ich werde sofort ein paar meiner Medjay aussenden, geh du und unterrichte Seto. Seine berittenen Söldner sind schnell, vielleicht können sie die beiden noch einholen.“ Die Hohepriesterin nickte zögerlich und murmelte leise: „Bitte Mahad, lass es uns diskret behandeln. Der Pharao darf nichts davon erfahren. Lass sie uns zurückholen, ohne sie als Verräter zu brandmarken. Versprichst du mir das?“ Mahad musterte die Priesterin lange und versucht das sanfte Kribbeln zu ignorieren, das sich auf seine Lippen schlich. „Ich kann es dir nicht garantieren“, entgegnete er rau, „aber ich werde alles daran setzen, was in meiner Macht steht.“  Er hob eine Hand, doch kurz bevor seine Fingerspitzen Ishizus Kinn berührten, hielt er inne. Hastig zog er sich zurück und fuhr herum, um in den weitläufigen Fluren des Palastes zu verschwinden. Keine Stunde später schwärmten die ersten Eingeweihten der Hohepriester aus dem Palast aus. Seto stand an einem Nebentor des Palastes und ließ seinen Blick über die einberufenen Söldner schweifen. Er hatte den anderen Hohepriestern nichts davon gesagt, dass er die beiden Ausreißer in der Nacht zuvor noch gesehen hatte. Er verstand sie. Und er hatte in Joeys Augen lesen können wie ernst es diesem gewesen war. Er mochte diesen selbsternannten Wanderprediger nicht, aber er respektierte einen eisernen Willen und Loyalität – und beides hatte Joey gestern bewiesen. Ob das allerdings ausreichen würde, würde man sehen. Seto schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein, ehe er seinen Männern den Befehl gab die Nilufer zu durchkämmen. Die Jagd war eröffnet. Es war das erste Mal, dass Seto die Hoffnung hegte, dass seine Söldner erfolglos zurückkehren würden.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)