Heimkehrer von abgemeldet ================================================================================ Am darauffolgenden Montag, also während deiner ersten Schicht, die du alleine bestreiten musst, stellst du fest, dass die Videothek doch Kundschaft anlockt: Die Kinder von der in der Nähe liegenden Grundschule kommen nach Schulschluss vorbei und kaufen sich Süßigkeiten, die ihr an der Kasse anbietet. Du machst dir einen Spaß daraus, ihnen Filme ans Herz zu legen, die ihre Eltern eindeutig mal für sie ausleihen sollten, da hörst du eine dir bekannte Stimme: „Jake!!“ Ein Wuschelkopf inklusive daruntergeklemmter Nerdbrille erscheint zusammen mit einem Freund von ihm in deinem Sichtfeld. Also ist die Grundschule auch diejenige, auf die John geht. „Na, Sportsfreund? Willst du dir ein paar gute Streifen ausleihen?“ „Nee, wir wollen uns nur Gushers kaufen“, grinst er dich an und legt die entsprechende Tüten auf die Theke. Dieses „Nee“ klingt sehr alarmierend für dich. Ob John eher kein Filmfan ist? Wahrscheinlich hat er noch nicht die richtigen gesehen. Du nimmst dir vor, in näherer Zukunft mit John einen Filmabend zu machen. Während John aus dem Laden springt und ihm sein Kumpel hinterher trottet, bist du schon längst in den Gedanken versunken, welche Filme den Kleinen absolut überzeugen könnten. Allerdings kannst du dem nicht besonders lange nachgehen, da sich vor dir eine Unruhe auszubreiten scheint, denn nach John haben sich noch einige andere Kinder vor der Kasse eingereiht. Es ist sehr praktisch, dass kleine Kinder ihre Mittel und Wege kennen, auf sich aufmerksam zu machen und einem danach sofort die Unachtsamkeit verzeihen, ansonsten würde es jetzt wahrscheinlich Beschwerden regnen. Wehmütig lässt du von deinen Gedanken ab und kümmerst dich wieder um die hyperaktive Kundschaft. Als diese jedoch versorgt ist, hält dich nichts mehr von deinen Plänen ab. Du durchstöberst das ziemlich unordentliche Becken mit den kaufbaren, gebrauchten DVDs ohne noch genau zu wissen, mit was du John nun für dich gewinnen möchtest. Etwas mit Action wäre nicht schlecht. Mit Abenteurern vielleicht... Wenn doch nur dieses Becken übersichtlicher gestaltet wäre. Du weißt nach kurzer Zeit nicht mehr, in welchen der Ecken du schon gegraben hast. Also versuchst du erst einmal alles schön aufzureihen. Und das mit Erfolg, denn siehe da! Ein Volltreffer! Genau das, was du haben wolltest: Das Vermächtnis der Tempelritter. Dieser Film ist erst nach dem Start deiner Reise erschienen und du bist seinetwegen extra ins Kino gegangen, obwohl du dich in diesem Moment zwischen dem Film und einem warmen Abendessen entscheiden musstest. Letztendlich hast du es nicht bereut! Disney ist ja wohl genau das Richtige für kleine Kinder wie John und das Thema hätte deiner Meinung nach nicht passender sein können. Du gehst noch einmal sicher, dass diese DVD zum Verkaufsposten und nicht zu den ausleihbaren Stücken gehört, da du eigentlich nicht glauben kannst, dass so ein Schatz für acht Dollar verscherbelt werden soll, aber diese DVD scheint wirklich nicht aus Versehen sondern mit purer Absicht in diesem Pool gelandet zu sein. Du weißt nicht, in wie weit es regelkonform ist, sich DVDs während der Arbeitszeit zu kaufen, also wartest du damit, bis deine Schichte vorbei ist und kaufst sie kurz danach von Bella ab, als sie dich gerade ablöst. Dem Filmabend steht nun nichts mehr im Weg. Außer vielleicht Johns Meinung. Aber nach der dritten Wiederholung deiner Bitte, gibt er nach und lässt von diesem viel zu dicken und somit eindeutig abschreckenden Buch ab, das er doch nicht ernsthaft versucht durchzulesen... Oder etwas doch? Onkel Egbert und Jane gefällt die Idee eines gemeinsamen Filmabends ebenfalls, weswegen noch schnell Popcorn in der Pfanne gebrutzelt wird, bevor ihr euch alle gemeinsam vor den Fernseher werft. Wäre Egbert dein Vater, wäre er so verdammt stolz auf dich. Vielleicht ist er es auch so. Denn du hast bei John mit dem Tempelrittervermächtnis quasi den Jackpot geknackt. Er scheint hellauf begeistert von Benjamin Gates und seinen Abenteuern zu sein und du musst ihm hoch und heilig versprechen, noch mehr solcher Filme zu kaufen. Du weißt, dass es mindestens noch einen weiteren Tempelritterteil gibt, den du wohl in sehr naher Zukunft erwerben solltest, da du nicht glaubst, dass du allzu lange warten kannst ohne dabei Gefahr zu laufen, dass diese kleine Flamme der Filmbegeisterung in Johns Herzen wieder erlischt. Du lebst dich so langsam ein und fühlst dich schon wie ein richtiger Teil der kleinen Egbert-Familie. Vielleicht solltest du dich in Zukunft als Jake Egbert vorstellen. Jedenfalls scheint dein Onkel ebenfalls davon überzeugt zu sein und hat dich am folgenden Mittwoch, an dem du keine Schicht in der Videothek zugeteilt bekommen hast, fest als Babysitter eingeplant. Er selbst muss an dem Tag nämlich arbeiten und Jane bleibt lange im College, wobei John aber danach gefragt hat, einen Freund mitbringen zu dürfen. Momentan sitzen die beiden im Wohnzimmer und schauen irgendwelche Nachmittagscartoons, wo du dich natürlich gerne dazugesellst. Was man als Babysitter wohl für Fähigkeiten mitbringen muss? Du hast nur leichte Erfahrung bei Kleinkindern. Aber die kann man hochheben, wenn sie wegrennen wollen... Du guckst John und seinen Kumpel namens Dave etwas genauer an. Beide noch weit von der Pubertät entfernt und ziemliche Spargeltarzane, besonders Dave scheint nicht viel Fleisch auf den Rippen zu haben. Hm, ja, doch, im Zweifelsfall wäre es kein Problem, zumindest einen von beiden zu schnappen und ihm das Recht zum Laufen wegzunehmen. Der Andere würde dann wahrscheinlich auch zurückbleiben, um seinen Freund zu retten. Du wirst also wahrscheinlich jede problematische Situation meistern können! Beruhigt lässt du dich wieder ins Sofa fallen. Und tatsächlich scheinen die zwei Kinder reinste Engel zu sein. Brav konsumieren sie das Nachmittagsprogramm und geben kaum einen Mucks von sich. John kichert nur manchmal leise vor sich hin, verstummt aber auch immer wieder relativ schnell. Nach einer Weile stellen sie fest, dass sie in Johns Zimmer gehen wollen, um irgendwas am Computer zu machen. John hat tatsächlich schon einen eigenen Computer. Diese Tatsache begrüßt du sehr. Damit kann man nie früh genug anfangen. Deine Großmutter war auch immer total begeistert, von allen elektronischen Gadgets. Du bleibst noch einen Moment beim Fernseher sitzen. Da die Zimmertüren tagsüber ja immer offen bleiben, dürftest du auch von hier unten hören, wenn oben etwas passiert. Aber da scheint auch alles ruhig zu bleiben. Was für brave Kinder. Aber zumindest einer von ihnen hat ja auch so ein Prachtexemplar eines Dads wie dein Onkel einer ist. Da muss ja was hängen bleiben. Nach einer weiteren Spongebob-Folge, die auch schon vor einem Jahrzehnt einfach nur herrlich war und du immer wieder sehen könntest, entscheidest du dich doch dazu, mal wieder etwas anderes zu machen. Vielleicht nach den Kleinen sehen. Oder etwas zu essen. Oder aufs Klo zu gehen. Du bist dir da noch nicht ganz sicher, was gleich das Rennen machen wird. Durch die Berieselung ganz schläfrig stehst du gähnen auf und als du den ersten Schritt machen willst, scheint sich die Welt plötzlich zu drehen. Und das ziemlich schnell! Denn irgendetwas scheint mit deinen Füßen nicht ganz so richtig zu funktionieren und du gerätst ins Taumeln, was dadurch, dass John seinen Schulranzen in der Nähe deiner Füße vergessen hat, nicht wirklich verbessert wird. Mit einem lauten Rumms und einem Kampfesschrei knallst du vor dir auf den Boden. Im Hintergrund hörst du wieder Johns Gegiggel. Diese Rotzlöffel! Sie müssen dir irgendeinen Streich gespielt haben! Ein Blick in Richtung deiner Füße verrät dir auch was für einen jahrtausendalten Trick sie an dir ausprobiert haben: Deine Schnürsenkel sind fest miteinander verknotet. Kein Wunder also, dass du nicht dein Gleichgewicht finden konntest. Eines deiner eben noch als Engel bezeichneten Kinder steht nun vor deiner Nase. „Boah, bist du blöd, Jake!“, stellt John begeistert fest. Du bist dir nicht ganz sicher, ob dich das nicht doch vielleicht etwas kränkt. Du bist dir bewusst, dass du nicht unbedingt der Hellste bist, aber das eben kann man sicherlich damit begründen, dass du einfach nur aus der Übung und den beiden deswegen auf dem Leim gegangen bist. Normalerweise ist es für dich doch ein Klacks, Ironie und Scherze schon meilenweit gegen den Wind zu riechen! Zu was haben dich Dirk und die damals noch kleine Jane denn sonst erzogen? Das hättest du nicht vergessen sollen, dass es der Familie Egbert im Blut liegt, Streiche und Schabernack zu treiben... Jedenfalls weißt du nicht, was du darauf antworten sollst. Du musst dir zum Glück aber auch gar nichts Schlagfertiges überlegen, da Dave, der noch oben am Treppenansatz steht, das Wort ergreift: „John, ist dir das aufgefallen? All deine Verwandten sind blöd. Deine Mudda ist blöd.“ John wirbelt entsetzt zu Dave herum: „Dude! Deine Mudda ist blöd!“ „Da ist keine Mudda, die blöd sein kann“, kontert Dave. „Bei mir ja auch nicht!“ „Naja, bei deinem Vater bin ich mir da nicht so sicher. So oft wie der backt und kocht. Sicher, dass der da nicht heimlich die pinke Schürze herauskramt und Soaps im Hintergrund laufen lässt?“ „Ey! Mein Vater macht so was nicht! Vielleicht dein Bruder??? Der spielt mit Puppen. Das hab ich letztens gesehen, als ich bei dir war.“ „Das ist Ironie, John.“ „Nein, Dave, das tut mir leid, aber das ist eigentlich nur peinlich. Dave, du tust mir leid“, schließt John. Du musst währenddessen an Dirk denken. Dirk... Der hat auch immer mit Puppen gespielt. Allerdings auf keine Art und Weise wie kleine Mädchen oder laut John anscheinend auch Mütter das tun würden, oh nein... Das war auf einer ganz anderen Ebene. Und mit unglaublich beunruhigend sexuell geladenen Puppen. Du bist von deinen Gedanken ganz schön ausgecreept und schämst dich ein wenig, über solche Themen nachzudenken, während sich Zehnjährige im selben Raum befinden. Zum Glück können die meisten Menschen nicht die Gedanken anderer lesen. Außer wenn... Nein, du hast doch nicht laut gedacht, oder? Du bist dir gerade nicht mehr sicher, vor allem da John und Dave seit Johns letztem Statement nichts mehr gesagt haben. Um ganz sicher zu gehen und heute Nacht beruhigt schlafen zu können, fragst du nochmal nach: „Hab ich grade laut gedacht?“ Daraufhin starren dich die Kinder beide leicht enttäuscht an und Dave kommentiert: „Ich hab’s dir gesagt, John.“ Dave kommt tatsächlich häufiger vorbei. Sie versuchen auch noch ein paar Mal dich reinzulegen, aber da musst du ihnen die meiste Zeit über leider einen Strich durch die Rechnung machen! So blöd bist du dann doch nicht. Glaubst du. Zumindest hast du einen Vorsprung von 16 Jahren, das sollte genügen. Du versuchst auch Dave in deinen Filmbann zu ziehen. Zwar findest du in der Wühlkiste, die mittlerweile perfekt nach Genre und Untergenre sortiert ist, keine johngeeigneten Filme mehr, steigst daraufhin aber einfach dazu um, alle zwei bis drei Tage Filme auszuleihen. Dass du damit der gewinnbringenste Kunde deiner Videothek bist, fällt dir nicht auf. Für dich klingt das alles nur sehr praktisch: Du hast nicht nur einen Job, der dir Spaß bereitet (Dank dir gibt es dort nun endlich einen Fachkundigen, der Leuten von Filmen abraten und ihnen andere ans Herz legen kann! Wobei ersteres nicht sehr häufig passiert. Hat doch jeder Film irgendwie seine Höhepunkte...) du ziehst auch noch einen Nutzen daraus! Leider scheint Dave kein besonders großer Fan dieser Streifen zu sein. Dafür schafft es John, stets auf deiner Seite zu bleiben und die Filme Dave gegenüber zu verteidigen, was dich ziemlich rührt. Also bleibst du dabei, die Filme mit John alleine zu gucken. Alleine, da dein Onkel und Jane ab dem zweiten Film nämlich auch nicht mehr mit von der Partie gewesen sind. Da du abends weiterhin den Laptop ausleihen darfst und mit der Videothek an der Quelle der neuerschienenen DVDs bist, kannst du die Jakeziklopädie der Filme bald wieder als topaktuell einstufen. Eine tolle Familie, der beste Job der Welt, wunderbar viel Freizeit: Dein Leben könnte nicht besser sein! Wenn man ignoriert, dass das mit dem Schicksal noch nicht ganz so richtig funktioniert hat. Ja, doch, das hast du noch nicht vergessen. Wie auch? Vielleicht hättest du dich damals vor mittlerweile über einem Monat nach einem Musikladen umsehen sollen, stellst du fest, während du über Dirks Vorlieben nachdenkst. Auf der anderen Seite kannst du dich nicht daran erinnern, irgendwo einen Musikladen gesehen zu haben, also was bringt es darüber nachzudenken. Wenn das Schicksal auf deiner Seite gewesen wäre, hätte Dirk schon einen Grund gehabt, die Videothek zu besuchen. Aber anscheinend ist das Schicksal momentan nicht auf deiner Seite. Macht nichts. Musst du ihm eben noch mehr unter die Arme greifen. Du nimmst dir vor an deinem nächsten freien Nachmittag in Richtung Striderbude aufzubrechen, in der Hoffnung, dass er dort noch wohnt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)