Was wirklich wichtig ist von Marron (Wettbewerbsbeitrag) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Zwei Wochen später bin ich überzeugt, dass Hiromi uns in den Wahnsinn treiben will. Obwohl wir ihr deutlich zu verstehen gegeben haben, dass wir keine weiteren „Events“ mehr besuchen wollen, ist sie immer noch überzeugt, uns dazu bringen zu können. „Komm schon, Kai, wo würdest du am liebsten hin, hm?“ „Ins Tierheim“, murre ich trocken und sehe sie nicht einmal an, beobachte stattdessen eher den Kampf zwischen Ray und Takao. Der Japaner wirkt unkonzentriert und hat gerade mal wieder einen Fehler gemacht. „Takao!“, herrsche ich ihn an, „Konzentrier dich gefälligst!“ „Erst mal können. Hiromi lenkt mich total ab!“ Ach, jetzt auf einmal? „Das hat sie doch noch nie. Entdeckst du jetzt so langsam ihre Reize?“, neckt Makkusu ihn und prompt wird der Blauhaarige rot. „So ein Quatsch! Sie redet zu viel! Wer will schon diese Hexe?“ Daichi lacht und Hiromi flippt aus. Ich hole tief Luft: „Ruhe!“ Sie sind still. Gut so. „Takao, lass dich nicht ablenken! Daichi, du solltest besser den Mund halten, bis du besser geworden bist. Und Hiromi: Halt endlich den Rand!“ Ich schnaufe leicht und sehe sie der Reihe nach an. Takao zieht einen Schmollmund und sieht gekränkt aus, Daichi regt sich auf, dass ich ihn verkennen würde und die Braunhaarige schnappt nach Luft. Müde massiere ich mir die Schläfen. „Macht doch, was ihr wollt!“ Ich drehe mich weg. „Wollen wir mal eine Pause machen?“, fragt Kyoujou und alle stimmen zu. Ich verschwinde ins Haus. Um mich abzuregen will ich allein sein. Dummerweise kommen mir Ray und Makkusu hinterher und ich flüchte in den ersten Stock. Manchmal könnte ich sie alle erwürgen! Ich öffne meine Augen, die ich bei diesem Gedanken geschlossen hatte und stelle fest, dass ich vor Takaos Zimmertüre stehe. Ein paar mal war ich schon hier drin, aber meistens waren wir eher im Dojo. Soll ich, oder soll ich nicht? Das Gelächter unten nimmt mir die Entscheidung ab und ich öffne die Tür, trete ein und schließe hinter mir ab. Falls der Chaot hier rein will, soll er eben warten, ich will jetzt meine Ruhe. Wie nicht anders zu erwarten ist das Zimmer ein einziges Chaos. Überall liegen Bücher oder Zeitschriften herum, Kleidung liegt oder hängt auf oder an verschiedenen Möbelstücken, das Bett ist nicht gemacht. Ich setze mich seufzend an den Schreibtisch, der mit allem Möglichen überladen ist. Die ganze Atmosphäre hier drin ist so unverfälscht Takao, dass ich ruhiger werde und grinsen muss. Irgendwie weiß ich, dass Takao wohl bald Ärger mit seinem Großvater bekommen wird, weil er sein Zimmer aufräumen soll. Darum wird er sich dann solange drücken, bis Ray oder Makkusu sich erbarmen und ihm helfen werden. Das ist schon so oft vorgekommen, dass wir aufgehört haben, zu zählen. Kopfschüttelnd lehne ich mich mit einem Unterarm auf den Schreibtisch und stoße dabei mit meinen Fingern an ein Buch, welches aufgeschlagen da liegt. Hm, seit wann liest der Chaot denn englische Lektüre? Ich nehme den Einband in die Hand und klappe es halb zu, damit ich den Titel lesen kann. Nicht zu fassen, er hat tatsächlich das Buch gekauft, dass vor ein paar Tagen vorgestellt worden war! Nicht nur das, er scheint wirklich darin gelesen zu haben. Ich überfliege die Inhaltsangabe im inneren Buchdeckel: Eine echt kitschig scheinende Liebesgeschichte zwischen einem völlig normalen Jungen und...Moment? Sein großer Schwarm soll ein ältere Junge sein?! Auf sowas steht Hiromi, Takao auch noch? Mir entgleiten die Gesichtszüge, ich habe noch nie darüber nachgedacht, welche sexuelle Ausrichtung meine Freunde haben könnten. Wir sind sechzehn, wir sollten uns darüber noch gar keinen großen Kopf machen. Heißt das, Takao ist...? Okay, ganz ruhig. Wieso sollte es so sein? Weil er zufällig so ein Buch hier liegen hat? Das könnte alles bedeuten, vielleicht ist er auch einfach nur neugierig. Hm, so muss es sein. Wenn Takao schwul wäre, müssten wir doch schon mal was davon gemerkt haben, oder? Dadurch, dass mir kein Hinweis aus der Vergangenheit in diese Richtung einfällt, bin ich doch etwas beruhigt. Der Gedanke daran, dass der Japaner sich verlieben könnte, ist mir irgendwie unangenehm, ich will nicht daran denken. Also schlage ich das Buch wieder an der Stelle auf, die vorher da war und will mich schon etwas anderem zuwenden, als es mir ins Auge fällt. Dort unten, in einer Ecke der Seite, glänzt mir dunkelblau etwas entgegen, das da nicht hingehört. Zeichnungen, offensichtlich mit Kugelschreiber hineingekrizelt. Takao! Du krakelst in Bücher rein?, denke ich halb erbost, halb amüsiert. Er ist trotz allem wohl doch noch ein halbes Kind. Andernfalls wüsste er seit der zweiten Klasse, dass man das nicht macht. Neugierig geworden beuge ich mich darüber und inspiziere die Kleckse. Das erste Gesicht kann man schnell zuordnen, es kann nur Takao selbst sein. Sein Mund ist zu einer Kurve nach unten verzogen und seine Mimik soll wohl genervt wirken. Daneben bin ich, wie immer wütend und wohl gerade dabei, ihn zurecht zu stutzen. Ein Stich durchfährt mich, ich kann darüber nicht lächeln. So sieht er mich? Der ewig Meckernde? Meine Augen weichen dem unschönen Bild aus und blicken über die Seite, welche so verschandelt wurde. In derselben Farbe hat er einen Satz unterstrichen, gleich mehrfach. Even if you hate me, I can't take my eyes off of you. Eine meiner Augenbrauen wandert nach oben. Sollen Satz und Zeichnung etwa zusammengehören? Durch das leicht geöffnete Fenster fährt ein Windstoß hinein, blättert die Seiten um und offenbart mir ungewollt noch mehr von Takaos kleinem Geheimnis. Auf der jetzt aufgeschlagenen Seite bin ich, wie ich an der Wand lehne und mit einem Lächeln zu irgendetwas hinübersehe, was nur als Farbklecks angedeutet wurde. You fascinate me. Every time you smile, I'm breathless. Ein ungutes Gefühl macht sich in meinem Magen breit, wie ein Stück Eis, das da nicht hingehört. Auf meinen Armen stellen sich die Haare auf. Eine Seite weiter ein neues Bild. Ich drehe dem Betrachter den Rücken zu und gehe wohl gerade davon. Beinahe direkt daneben der Satz: You leave me and I'll lose it. Die Tinte, welche mittlerweile wohl benutzt wurde, ist an einigen Stellen leicht verwischt, als ob Tropfen darauf gefallen und dann weggewischt wurden. Meine Finger werden kalt und mein Blut rauscht mir in den Ohren. Ich kann mich nicht bewegen, starre verdattert auf diese Seite. Was heißt das? Wieso bin ich hier zu sehen? Stammen die Zeichnungen wirklich von Takao? Ist er in mich...? Oder verstehe ich das alles falsch? Was gibt es daran falsch zu verstehen? Wie zum Geier soll ich mich denn jetzt verhalten?! „Kai? Wo bist du? Wir wollen weiter trainieren!“ Takaos Stimme von unten lässt mich auffahren, als hätte ich mich verbrannt. Der Stuhl kippt um und bleibt liegen, während ich auf das Buch sehe, welches immer noch scheinbar völlig unschuldig da liegt. Ich muss mich zusammenreißen!, denke ich, Ich habe das hier nie gesehen, ich weiß von gar nichts. Aber mein Magen ist ein heißer Knoten, das Blut rauscht immer noch durch meinen Kopf und meine Gedanken sind ein einziger Turm aus Fragen und Unsicherheit. Trotzdem versteinert mein Gesicht zu der bekannten Maske, als ich die Tür öffne und nach unten gehe. „Ich bin hier“, sage ich schlicht und gehe an ihm vorbei, ohne zu ihm zu sehen. Ein fröhliches Glucksen von seiner Seite. „Trittst du gegen mich an?“ „Meinetwegen.“ Bei seinem Lachen werden meine Hände schwitzig. Ruhig Blut, sei ganz wie immer. Nur wie war ich denn bis jetzt? Ablehnend? Freundlich? Soll ich genauso weiter mit ihm umgehen? Ich kann ihn doch nicht darauf ansprechen, das geht nicht. Erst, als ich Dranzer starte, sind all diese Gedanken vergessen, nur der Kampf zählt noch. Hier und jetzt stehen wir uns gegenüber und ich kann loslassen, mich völlig darauf konzentrieren, ihn zu besiegen. Meine Bewegungen sind exakt und kraftvoll, genau wie seine. Ich sehe auf, direkt in seine braunen Augen – und bin nicht darauf vorbereitet, was für Gefühle mich erwischen. Seine zu einem Grinsen verzogenen Lippen, das dunkelblaue Haar, das Funkeln in seinen Augen, das fröhliche Gelächter...ich fühle mich neben der Spur, mein Konzentration verschwindet, verflüchtigt sich einfach. Zurück bleibt ein verheißungsvollen Kribbeln, dass sich von meinem Magen aus bis in die Fingerspitzen erstreckt. Ich hole Luft, verschlucke mich beinahe an der Intensität, die mich zu überwältigen droht. Dranzer eiert herum und fällt schließlich mitten in die Bowl. Nach einer gebannten Stille wird das freundliche Grinsen zu einem Ausdruck von Sorge und Überraschung. Alle sind verdattert, das weiß ich, aber ich kann meinen Blick nicht abwenden. Was passiert hier mit mir? „Alles klar, Kai?“, fragt er und sieht abwechselnd zu meinem Beyblade und dann zu mir, „Was ist denn plötzlich los?“ Als er eine Hand nach mir ausstreckt, erwachen meine erstarrten Muskeln und ich schnappe blind nach meinem Blade. Dann drehe ich mich um und verschwinde so schnell ich kann aus dem Garten, fort von diesem Haus, von den Augen, die ich nie wieder so sehen werde wie früher. Ein Satz fliegt durch meinen Kopf, immer und immer wieder: Das kann nicht wahr sein. Das kann nicht wahr sein. Meine Füße tragen mich zum Park. Das ist schon in Ordnung, ich muss nur kurz Luft holen. Was ist vorhin passiert? Wo kamen diese Gefühle bloß her? Konfus setze ich mich unter das Blätterdach eines Baumes ins Gras und denke nach. Ich bin nicht verliebt, das kann nicht sein. Das ist meine erste Feststellung. Ich wurde nur durcheinander gebracht von diesem dummen Buch und meiner eigenen Fantasie. Zweite Feststellung. Ich schüttele den Kopf und seufze. Ich bin nicht verliebt und Takao ist nicht schwul. Das ist die einzige Möglichkeit, die mein Kopf akzeptieren kann. Trotzdem habe ich mich wohl ziemlich dämlich benommen, deshalb gehe ich auch nicht zurück. Ray kommt mir allerdings hinterher: „Hier bist du.“ Ich nicke nur und er setzt sich neben mich. „Was war los?“ Ich seufze schwer. „Musste nur mal da raus.“ „Ah“, macht er leise und sagt nichts mehr. Die darauf folgende Stille ist sogar ganz angenehm und ich bin ihm dankbar, dass er mich nicht ausfragt, dass er mir meine Freiheiten lässt und einfach mit seiner ruhigen Art da ist. „Ray?“, frage ich und sehe ihn nicht an, spüre aber seinen Blick auf mir. „Hm?“ „Denkst du, ich bin...liebenswert?“, frage ich und meine Stimme zittert beim letzten Wort minimal. Sein Blick wird fragend und überrascht, das sehe ich aus dem Augenwinkel. Er denkt darüber nach, was er antworten soll. „ich würde sagen: Ja, na klar. Aber man muss wissen, wie man mit dir umgehen muss. Und du musst es wollen, sonst scheitert alles.“ Ich lache hohl. „Meinst du wirklich, es gibt jemanden, der mich lieben kann?“ „Ja“, sagt er ohne zu zögern, „Du weißt es vielleicht nicht, aber du hast jede Menge fans da draußen, besonders Frauen. Die wollen alle was von dir.“ Ich muss grinsen, für unsere Groupies hatte ich noch nie was übrig. „Mhm“, mache ich vage und nicke. „Kai“, murrt Ray, „Wer immer dieser Jemand ist, der dich mag, sollte erst einmal selbst entscheiden, ob es Schwärmerei oder eben doch Liebe ist, oder nicht? Und du solltest entscheiden, ob du diese Person lieben könntest.“ „Das ist mein Problem, Ray. Ich weiß es nicht.“ „Jemand, den du kennst?“ „Ja“, nicke ich. „Jemand, der dich kennt?“ Wieder nicke ich – wenn mich einer kennt, dann ist es Takao. Ray klopft mir auf die Schulter. „“Dann wird das schon. Vielleicht braucht es nur noch ein Ereignis, damit du's weißt.“ „Ein Ereignis?“, frage ich und sehe dabei zu, wie er aufsteht. „Ja. Ich wollte dir nur sagen, dass Takao die Idee eines Spezialtrainings hatte. Er will uns Morgen zeigen, was er damit meint. Das wollte ich dir nur sagen.“ „Verstanden. Mal sehen, was er wieder will.“ Ray geht und ich sehe in den blauen Himmel. Noch eine Feststellung: Ich mag Takao. Ich will nicht, dass er eine Freundin bekommt. Oder einen Freund. Ist das schon Liebe? Oder bin ich einfach nur besitzergreifend? Ich schüttele erneut den Kopf – wieso sollte die Erkenntnis mich jetzt befallen? Für heute bin ich fertig mit Erklärungen und will allein sein. Ich stehe auf, klopfe meine Kleidung ab und gehe nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)