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Dunkler als schwarz

Shinichi x Ran
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ach ja – lang ist’s her.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll – ich habe keine Ahnung, ob irgendwer, der diese Geschichte vor ein paar Jahren begonnen hat, hier noch liest.
Ich möchte mich entschuldigen; eigentlich hatte ich nicht vor, jemals wieder so lange Pausen zu lassen, jetzt ist es dennoch wieder passiert. Ich werde versuchen, die Story nun relativ konsequent fertig zu stellen, denn mir läge schon daran, das hier noch zu einem Ende zu bringen…! Ich weiß nur nicht, wie regelmäßig das Laden klappt.
Wer vielleicht mal auf die Daten meiner anderen Geschichten geguckt hat, kann sich denken, ich bin keine 15-Jährige mehr 😉 Was ich damit meine, ist, dass ich neben Mexx auch ein sehr forderndes Leben habe.

Ich hoffe dennoch, euch gefällt das Kapitel – manche werden sich nun in ihrer Theorie bestätigt finden…
Beste Grüße,
über Kommentare freue ich mich stets!

Leira Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Unglaublich aber war - das letzte Kapitel. Entschuldigt die Wartezeit, ich finde, diese Friede-Freude-Eierkuchen-Sachen immer wahnsinnig schwer zu schreiben, wo man irgendwie versucht, das Happy End festzuklopfen und jeden noch irgendwie unterbringen muss, der in der Fic mal gehustet hat.
So- mein Versuch hierzu.
Ich hoffe, euch gefällts, und lass euch jetzt bis zum Nachwort allein - bis denne :) Komplett anzeigen

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Tag 1 - Kapitel 1: Der Status Quo

TAG 1
 

KAPITEL 1 – DER STATUS QUO
 

Es war bereits dunkel, als er heimkam.

Die Nacht war hereingebrochen über London, die Sonne vor etwa zwei Stunden untergegangen, die Luft des überhitzten Tages aber immer noch lauwarm und abgasgeschwängert.

Das Leben in der Großstadt war noch nicht im Geringsten zur Ruhe gekommen; und würde es auch nicht wirklich – selbst in den ganz frühen Morgenstunden, wenn die meisten Einwohner schliefen, rührte sich in irgendwelchen Ecken und Winkeln noch Leben, blinkte das eine oder andere Licht einer Reklame oder eines Nachtclubs. Und dann, wenn die Sperrstunde auch diese Etablissements zur Ruhe zwang, dann standen die Ersten bereits wieder auf und machten sich auf ihren Weg zur Arbeit.

Wie jeden Tag.

Ihn würde das auch heute nicht interessieren, so wie es ihn noch nie interessiert hatte.

Er lebte in dieser Stadt, aber sie lebte neben ihm, an ihm vorbei.
 

Ohne hinzusehen zielte er mit seinem Schlüssel auf sein Auto, sah es aus den Augenwinkeln kurz orangerot aufblinken, das Zeichen, dass die Zentralverriegelung die Türen geschlossen hatte. Er hatte Glück gehabt heute, mit dem Parkplatz. Meistens fand er keinen mehr in der Nähe, wenn er um diese Uhrzeit nach Hause kam.
 

Hinter ihm rauschte der Feierabendverkehr, ein beständig fließender, nie abreißender Strom aus gelblichen, oder auch leicht violetten und grellroten Lichtern.

Ungeduldiges Hupen, das reißende Geräusch des an den Karosserien zerrenden Windes und das Brüllen mehr oder minder störungsfrei arbeitender Automotoren drang an seine Ohren, aber er nahm es gar nicht wahr.

Auch das trommelfellzerfetzende Gekreische einer quietschenden Bremse tangierte ihn nicht.
 

Langsam schritt er den kurzen Weg durch den mickrigen Vorgarten des Appartementhauses im viktorianischen Stil zur Haustür entlang, stieg die drei ausgetretenen Stufen zur Haustür empor, und war mit den Gedanken doch ganz woanders.
 

Heute waren wieder Menschen gestorben.

Einen davon hatte er gesehen.

Er wusste, das Gros der Leute, die jetzt gerade nach Hause fuhren, verschwendete keinen Gedanken daran.

Daran, dass heute jemand gestorben war.
 

Solange es einen nicht persönlich betraf… dachte man nicht daran.

Der Tod war ein Abstraktum, für den normalen Menschen; man schob den Gedanken weg von sich, klammerte ihn aus dem Leben aus und interessierte sich nicht dafür, nicht, bevor man es musste.

Ein Schutzmechanismus, der einen leben ließ, Leben überhaupt erst möglich machte – alles andere würde einen auf die Dauer den Verstand kosten.
 

Er merkte, dass er immer noch schwitzte, unangenehmer, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, in seinem Kopf pochte es, und erst jetzt wurde ihm gewahr, wie schnell sein Puls immer noch ging… und er ahnte, dass er es heute nicht geschafft hatte, seine Arbeit im Büro zu lassen.

Heute nicht.

Sie folgte ihm in seine Wohnung, schlenderte hinter ihm her, ohne Eile, sie wusste, er würde ihr nicht entkommen… der Fall von heute hing an seinen Fersen wie sein Schatten.
 

Er wusste das, als er mit zitternden Fingern die Haustür aufsperrte.

Er fühlte es, als er mit weichen Knien die Treppe nach oben ging, weil sein Herz immer noch viel zu schnell und viel zu heftig gegen seinen Brustkorb hämmerte. Das Haus kam ihm kühl und ablehnend vor, die knarzenden, dunklen Holzstufen, die bei jedem Tritt laut seufzten und ächzten, und das schmiedeeiserne Geländer, die ihm, als er hier eingezogen war, wegen ihres Altbaucharmes noch so zugesagt hatten, schienen ihm wie der Weg in ein Grab; dabei ging es eigentlich bergauf, nicht bergab, im hellgelb gekachelten Treppenhaus mit den fast allgegenwärtigen Arts-and-Crafts Motiven.
 

Und ganz und gar nicht abstreiten konnte er es, als er sich, endlich in seiner Wohnung im zweiten Stock angekommen, seinem eigenen Spiegelbild gegenüberstand.

Blasser Teint, abgespannte Gesichtszüge, unter seinen Augen der erste Anflug dunkler Ringe – und in ihnen ein Ausdruck, der ihn selbst schaudern machte.
 

Verdammt, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.
 

Genau genommen ist aber wohl genau das passiert.
 

Er wischte sich den Film kalten Schweißes von seiner Stirn, fragte sich, was passiert war mit ihm - er konnte sich kaum erklären, warum ihm dieser Fall so zusetzte. Er war es doch gewohnt, diese Dinge prägten seinen Alltag – sein Leben. Der Tod sah ihm fast täglich ins Gesicht, und er schaute zurück, nickte ihm zu, und tat seine Arbeit. Er arbeitete für New Scotland Yard, im Kriminaldezernat, Kapitalverbrechen waren sein Geschäft.

Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung, und eigentlich kam er ganz gut klar damit. Er hatte die nötige Routine, die Erfahrung und die Nerven dafür.

Eigentlich.
 

Gut, er konnte es sich vielleicht in etwa ausmalen, warum es diesmal anders war, aber es war einfach… sinnlos. Es war hirnrissig.

Unlogisch.

Und das waren alles Eigenschaften, die auf ihn nicht im Geringsten zutrafen –

für gewöhnlich.

Nur eine Ausnahme gab es – hatte es immer gegeben.

Mit kalten, tauben Fingern drehte er den Wasserhahn auf, hielt seine Hände darunter und merkte erst jetzt, wie sie zitterten.
 

Aller Logik zum Trotz machte ihn der Gedanke an das, was er heute gesehen und erlebt hatte, gerade seine Existenz zur Qual.

Er konnte dieses Bild nicht vergessen, diese gebrochenen, blauen Augen in diesem porzellanweißen Gesicht, die glänzend dunkelbraunen Haare wie ein Schleier um ihren Kopf gelegt, es sah fast aus, als hätte man jedes Haar einzeln sortiert und platziert, in Szene gesetzt wie für ein Fotoshooting. Ähnlich gestaltet war ihr ganzer Körper; sie trug ein Kleid aus schwarzer Seide, Naturseide, handgenäht. Die Falten waren kunstvoll drapiert, ihre Lippen hatte man rot angemalt, sorgfältig und akkurat - und mit jeder Nuance, die ihr Gesicht durch den Blutverlust weißer geworden war, hatte das Rot wohl mehr geleuchtet.

Ihre Hände waren auf ihrer Brust überkreuzt worden, zwischen ihren Fingern hielt sie ein Stiefmütterchen, neben ihr auf dem Boden lag ein Porträt, ein Ölbild.

Es trug ihre Züge – und auch ihr zweidimensionales Ich hielt in ihren schlanken, weißen Fingern ein gelbviolettes Stiefmütterchen.

Und es war noch frisch, die Farbe noch lange nicht trocken.
 

Ein junges Mädchen in der Blüte ihrer Jahre, schön, makellos.
 

Tot.
 

Und nirgendwo ein Tropfen Blut.
 

Makaber.
 

Sie hatte im Hyde-Park gelegen, unter einem Baum ans Ufer des Serpentine-Lakes gebettet, im Gras. Es war ein idyllisches Plätzchen, halb verborgen vom saftig grünen Laub an den knorrigen Zweigen der Büsche. Der Hund eines Spaziergängers hatte sie gefunden.
 

Dann waren sie gekommen und hatten mit Plastikband großzügig den Fundort abgesperrt und die Spurensicherung in ihren weißen Astronautenanzügen bei ihrer Arbeit beobachtet. Sie war etwa einen Tag lang tot, soviel hatte ihm der Gerichtsmediziner sagen können.

Keine Tatwaffe, keine Spuren, nichts.

Der Tatort war ebenfalls ein anderer, das hatten sie schon angenommen, ja…

Schließlich war sie ja verblutet und hier war kaum ein Tröpfchen zu finden.
 

Der junge Mann seufzte, versuchte Luft zu holen und das Wattegefühl in seinen Ohren zu vertreiben, griff sich an die Stirn, hinter der es zu pochen begann.

Er hatte nichts dagegen tun können. Niemand hatte sie vermisst, bis jetzt, kein Mörder versetzte diese Stadt in Angst und Schrecken- bis jetzt. Er hoffte, dass es ein Einzelfall blieb.

Und dass sie ihn bald dingfest machen konnten.
 

Blinzelnd starrte er ins Deckenlicht der Badezimmerlampe, dann drehte er das Wasser noch weiter auf, fing es mit beiden Händen auf und wusch sich so gründlich das Gesicht, dass er dabei sein Hemd gleich mit durchnässte. Kurzerhand zog er es aus und schleuderte es in eine Ecke, ehe er ein paar Schlucke des eiskalten Leitungswassers trank, um den faden Geschmack aus seinem Mund zu bekommen.

Unwillig starrte er in das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte; er hatte sich weder an den Anblick gewöhnt, noch mochte er die Person, die ihm aus den Tiefen des Spiegels ansah.
 

Er konnte sich selbst nicht ausstehen.
 

Dann drehte er sich um und öffnete das Fenster. Kühle Nachtluft wehte ihm um die Nase.
 

Ein lautloser Seufzer entwich seinen Lippen, dann verließ er das Badezimmer.

Gerade, als er seinen Wohnraum betrat, klingelte das Telefon. Er begann zu fluchen, erwog die Möglichkeit, den Anrufer zu ignorieren; dann trat er einen Schritt zurück in seinen handtuchgroßen Flur und hob doch ab, zog das Gerät am Kabel mit auf das kleine cremefarbene Sofa, dass neben einem Tisch, einem Schreibtisch, drei Stühlen und einem Schrank die Einrichtung seines „Wohnzimmers“ ausmachte.
 

„Kudô?“, seufzte er in den Hörer, hoffte, das Gespräch kurz halten zu können, begrub diese Hoffnung allerdings sofort wieder, als er hörte, wer am anderen Ende der Leitung war.

„Shinichi, wie schön, dass du auch mal wieder einen Anruf entgegennimmst.“

Yukiko Kudô hatte sich ihren genervten Unterton nicht verkneifen können.

„Mama, du weißt, warum…“

Shinichi seufzte erneut, setzte sich in den Schneidersitz, verzog das Gesicht und war froh, dass sie ihn nicht sehen konnte.

Seine Mutter.

Die hatte ihm gerade noch gefehlt.

„Weil du keine Zeit hast, schließlich musst du arbeiten, du vielbeschäftigter Detective – mein Lieber, diese Ausrede lass ich langsam nicht mehr gelten, und…“

Plötzlich hielt sie inne.

„ – du hörst dich erschöpft an.“

Ihre Stimme war binnen Sekundenbruchteilen von genervt zu besorgt geschwankt.

„Geht’s dir nicht gut?“

Sie stand zuhause in ihrer Villa in Los Angeles auf dem Balkon, schaute auf die Stadt, die unter ihr in der Mittagshitze scheinbar bewegungsunfähig, wie paralysiert, ausgebreitet lag und den Atem angehalten zu haben schien. Yusaku trat auf die Terrasse, bemerkte den leicht beunruhigten Gesichtsausdruck auf dem Gesicht seiner Frau, zog fragend eine Augenbraue hoch und bot ihr dann eine von zwei Tassen Kaffee an, die er gerade aufgebrüht hatte. Sie nahm ihm eine Tasse ab, trank jedoch nicht.

Shinichi seufzte, überlegte, ob er ihr sagen wollte, was Sache war, oder besser nicht.

Eigentlich hatte sie ja Recht; er ging wirklich selten ans Telefon, und er kam immer mit seiner Arbeit als Entschuldigung an.

Andererseits stimmte es auch, er hatte wirklich viel zu tun, in seinem fünften Jahr hier in London…
 

Nach allem was passiert war, hatte er nicht lange überlegen müssen, damals… er hatte seine Sachen gepackt, und sich in den Flieger gesetzt, schließlich war nach allem, was passiert war, Tokio für ihn gelaufen. Nachdem er mit Hilfe des FBI die Schwarze Organisation zerschlagen und das Gegengift gegen das Apoptoxin mehr oder minder „gefunden“ hatte, stand ihm nichts mehr im Wege.
 

Er war gegangen, er hatte einfach nicht bleiben können.

Ständig konfrontiert zu werden mit dem, was er erreicht hatte - und was er nicht hatte verhindern können – wäre nicht zu ertragen gewesen.

Er ertrug es jetzt noch kaum, Jahre später und tausende Meilen entfernt.
 

Nein. Er hatte nicht nur nicht bleiben können… er wollte es auch nicht.

Und er würde auch nie zurückkehren.

Nie wieder zurück, nie wieder.

Nie wieder.
 

Er hatte gute Referenzen bekommen, da konnte er wirklich nicht meckern; das FBI hatte ihm ein hervorragendes Empfehlungsschreiben verfasst, auf seine Bitte hin – nachdem er es geschafft hatte, durch extremes Pauken seinen Abschluss noch zu schaffen, hatte er seinen Entschluss gefasst, und durchgezogen.
 

Schließlich war er nach London aufgebrochen, in die Stadt Sherlock Holmes‘ und hatte im Yard angefangen. Seine hervorragenden Englischkenntnisse halfen ihm hier sehr; und auch sein nicht zu verachtendes Vorwissen.

Sein Start war trotzdem kein leichter gewesen; er war neu, und Ausländer, ohne Studium, aber bestrebt, bei der Kriminalpolizei, noch dazu in die Mordkommission, zu arbeiten.

Seine Kontakte hatten ihm zwar diese eine Tür geöffnet, aber den Rest hatte er selber schaffen müssen, und er hatte hart gearbeitet… was hieß, dass ihn auch zuhause massig Arbeit erwartet hatte, in Form von Büchern.

Er hatte sich durchgebissen, sein Kriminalistikstudium neben der Ausbildung im Yard mit Auszeichnung durchgezogen und nach fünf Jahren hatte man ihn als festes Mitglied dieser Einheit angestellt, man hörte ihn an, wenn er sprach.

Man erkannte, was er konnte, und das hatte ihm auch seinen Spitznamen im Yard eingebracht, nachdem seinen Vornamen dort ohnehin keiner aussprechen konnte…
 

Sherlock Holmes.
 

Ein bitteres Lächeln kroch auf seine Lippen.

Sherlock, ja.

So nannten sie ihn.
 

„Shinichi?“

Die Stimme seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken.

„Bist du noch dran?“

„Ja!“, antwortete er schnell, seufzte.

„Es… es geht mir gut, du brauchst dir keine Sorgen machen. Es war nur… ein harter Tag heute. Das ist… das ist alles.“

Yukiko seufzte ins Telefon, was an Shinichis Ohr als lautes Rauschen ankam.

„Denkst du nicht, du mutest dir zu viel zu? Solltest du nicht mal wieder… oder überhaupt mal… Urlaub nehmen?“

„Ich brauch viel zu tun. Und nein. Ich will keinen Urlaub, Mama. Ich brauch keinen. Urlaub bringt mich ins Grab. Mein Kopf braucht Arbeit.“

„Ja, das sagst du immer.“

Sie schaute genervt in ihre Tasse Kaffee.

„Hast du was… ich meine…“

„Nein.“
 

Er seufzte, legte sich dann langsam der Länge nach auf sein Sofa, streckte seine Füße aus.

„Nein, ich hab nichts von ihnen gesehen, die Handvoll, die noch rumläuft, traut sich anscheinend nicht aus ihrem Loch.“
 

Die Schauspielerin warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, als dieser sie an sich zog.

„Shinichi, ich denke wirklich, du solltest…“
 

„Entweder wechseln wir das Thema, Mama, oder ich leg auf. Das ist mein Ernst. Du weißt das.“

Er wusste, er klang harsch, und er konnte sich das wenig begeisterte Gesicht seiner Mutter bildlich vorstellen. Das Problem war, dass er sie ja verstehen konnte; wahrscheinlich hatte sie Recht, und er hätte Urlaub nehmen sollen.

Endlich einmal.

Aber er konnte einfach nicht. Er wollte nicht in die Verlegenheit kommen, Zeit zum Nachdenken zu haben, denn dann würde er, das wusste er, unweigerlich in Erinnerungen und Selbstvorwürfen enden.
 

Er würde in Tokio enden.
 

Und deshalb arbeitete er lieber, blieb geistig bei seinen Fällen, in der Gegenwart, genau hier… er lebte im Augenblick, nicht in der Vergangenheit und auch nicht in der Zukunft.
 

Nie wieder in der Zukunft. Keine Wünsche, keine Hoffnungen, keine Träume, keine Pläne.
 

„Du bist furchtbar.“

Sie seufzte entnervt.

„Kommst du uns wenigstens bald mal besuchen, Shinichi?“

„Ich seh, was ich einrichten kann.“

„Nichts, wie ich dich kenne.“

Yukiko lehnte sich gegen die Balkonbrüstung, seufzte entnervt.

„Du ruinierst dein Leben, Shinichi. Du kannst dir das nicht ewig vorwerfen. Denkst du nicht, fünf Jahre Strafe sind genug, musst du dich wirklich zu lebenslänglicher Einzelhaft verurteilen? Du hast, weiß Gott, genug gelitten, du…“
 

Shinichi schluckte, starrte an die Decke seiner Wohnung, bemerkte eine Spinnwebe in einer Zimmerecke, strich sich gedankenverloren über den Bauch, hielt inne, als seine Finger vernarbtes Gewebe spürten.
 

„Das ist meine Sache, Mama. Und ich sagte, ich leg auf, wenn du das Thema nicht wechselst.“
 

Sie lächelte bitter.

„Du solltest zurückgehen und die Sache in Ordnung bringen. Du weißt, es wird dich nie in Ruhe lassen, du kannst das nicht vergessen… wie willst du in deinem Leben je glücklich werden, wenn…“
 

Langsam setzte er sich auf, starrte missmutig auf das Telefon.
 

„Einen schönen Tag noch, Mama, grüß Vater von mir. Genießt das schöne Wetter, in L.A. sollt ihr ja ne Affenhitze haben...“
 

Er legte auf, um kurz darauf das Telefon neben der Gabel abzulegen, massierte sich die Schläfen. Ihm war bewusst, dass das gemein gewesen war, aber er hatte sie immerhin zweimal gewarnt.

Und er wollte nicht darüber reden. Er wollte einfach nicht über sein Leben, erst recht nicht über sein vergangenes, reden.

Sie würde ihm das verzeihen, das wusste er.

Weil sie es ihm immer verziehen hatte.

Ein kurzes Lächeln huschte über Shinichis Lippen.

Vielleicht sollte er wirklich mal versuchen, zumindest ein verlängertes Wochenende frei zu nehmen.

Sie machte sich ja nur Sorgen… und leider, das musste er gestehen, zu Recht.

Sie hatte mit allen Punkten ihrer Anklage Recht.
 

Er war damals abgehauen, richtiggehend geflohen, nur seine Eltern wussten überhaupt, wo er war.

Niemandem hatte er etwas gesagt und zu keinem pflegte er noch Kontakt. Er hatte sich aus ihrer aller Leben gestrichen; restlos, bewusst, und endgültig.

Er hatte nie gedacht, einmal aus solchen Gründen in die Stadt seines Idols zu gehen… sich vielmehr nach London zu flüchten.
 

Es stimmte, die Schwarze Organisation war besiegt, bis auf eine Handvoll, die sich seinem Zugriff entzogen hatte, vor ungefähr fünf Jahren… leider befanden sich unter dieser Handvoll auch Gin, Bourbon und der Boss.

Man hatte keine Spur von ihnen, und ihm war es, so ehrlich war er sich gegenüber, reichlich egal. Er ging morgens außer Haus, ohne sich hektisch umzusehen und kam abends heim, ohne in den Schatten der Nacht einen ihrer Schatten zu sehen.

Es war ihm schlichtweg gleichgültig.

Wenn sie ihn kriegen sollten, dann war dem wohl so. Seinem Schicksal konnte man nicht entrinnen.
 


 

Yukiko starrte auf den Hörer des schnurlosen Telefons in ihrer Hand, seufzte leise. Sie war sich bewusst gewesen, dass er ernst machen würde, mit seiner Drohung.

Genauso, wie er immer ernst gemacht hatte damit.

Nichtsdestotrotz versuchte sie es immer und immer wieder… schließlich war er ihr Sohn und sein Glück lag ihr am Herzen.

Und dass er seit fünf Jahren unglücklich war, lag auf der Hand, und beschäftigte sie.
 

Yusaku nahm ihr das Telefon ab, legte es auf den Balkontisch. Yukiko warf ihm einen kurzen Blick zu, dann stellte sie ihren Kaffee auf die Balkonbrüstung, presste sie sich Zeige- und Mittelfinger ihrer Hände an ihre Schläfen, atmete gepresst aus, auf ihren Zügen ein höchst missvergnügter, genervter Ausdruck. Sie schloss die Augen und atmete wieder tief ein.
 

Yusaku schlürfte seinen Kaffee, schaute seine Frau konsterniert an.
 

„Yukiko, müssen eure Telefonate immer so enden?“
 

Sie öffnete ihre Augen wieder, schaute ihn anklagend an.

„Was heißt hier, müssen? Warum siehst du mich dabei immer so an? Er legt auf, nicht ich!“

Konzentriert bewegte sie ihre Finger im Kreis, massierte ihre Schläfen, ließ dann ihre Hände langsam sinken.
 

„Er weiß doch, dass er dieses Problem nur verdrängt, Yusaku. Ich meine, was macht er in London? Warum klärt er das nicht ein für alle Mal, und geht nach Hause… geht hin, wo er hingehört… wo seine Freunde sind, wo sein Leben ist… nach Tokio.“

Sie seufzte.

„Er kann doch nicht einfach zulassen, dass dieser eine Fehler damals sein ganzes Leben zerstört… Das kann er doch nicht ernsthaft wollen…!“
 

Sie schaute ihn fragend an, ihre blauen Augen verfolgten aufmerksam jede Regung in seinem Gesicht.
 

„Anscheinend kann er aber genau das, Yukiko. Ich hab… es dir damals gesagt, ich sag es dir heute… ich wüsste nicht, wie ich reagiert hätte, an seiner Stelle…“
 

„Aber er läuft weg!“
 

Sie trat einen Schritt zurück, schaute ihn empört an.

„Manchmal ist wegzulaufen die einzige Wahl, die man hat.“

Der Kriminalromanschriftsteller schaute sie ernst an.

„Er konnte nicht anders. Du weißt, wie es ihm ging, nachdem…“

Yukiko biss sich auf die Lippen, nickte langsam.
 

„Ja, weiß ich… Aber ich bin einfach der Ansicht, dass es eine andere Lösung gegeben hätte, als die, die er gewählt hat. Es hätte einen anderen Weg gegeben, er hätte…“
 

Yusaku seufzte, fuhr sich über sein Gesicht.
 

„Versteh doch, Yukiko. Es gab für ihn keinen anderen Weg, keine andere Wahl. Es ist sein Leben… wenn er denkt, dass er es nur so führen kann, wenn er denkt, dass er allen, die ihm etwas bedeutet haben, nicht mehr unter die Augen treten kann, wenn er der Ansicht ist, dass sie alle besser dran sind ohne ihn, dann… dann muss er tun, was er glaubt, tun zu müssen. Und wenn es… ein Weglaufen vor seinem Schicksal ist. Es ist sein Leben… wir haben nicht das Recht, es ihm vorzuschreiben. Den Weg muss er allein gehen, er ist erwachsen. Und bevor er nicht einsieht, dass er sich irrt, wird er nichts anders machen. Und das weißt du auch, Yukiko. Hör auf, dich mit ihm zu streiten.“
 

Damit ging er zurück ins Haus, zurück zu seinem Manuskript, das auf seinem Schreibtisch ungeduldig auf ihn wartete. Yukiko starrte ihm hinterher, auf ihrem Gesicht war deutlich ihr Unmut und ihre Ablehnung zu sehen.
 

Shinichi, wie kannst du nur… warum tust du dir das an?
 

Sie sah die Sache ganz anders.
 

Zwar musste sie sich eingestehen, dass auch sie seinerzeit alle Kontakte aufgegeben und alle Brücken nach Tokio abgebrochen hatten; allerdings waren sie ohnehin schon seit Jahren mit einem Bein in den Staaten gestanden, und das ziemlich fest.

Nach den Ereignissen war es nicht schwer gewesen, alle anderen Beziehungen einschlafen zu lassen; wenn sie auch zugeben musste, dass sie den Professor vermisste, und sie wusste, Yusaku ging es ebenso. Und auch Eri hätte sie gern dann und wann wieder getroffen, aber das – war gänzlich unmöglich, und das wusste sie.
 

Shinichi hatte sich von allen abgewandt und aus Loyalität zu ihrem Sohn hatten sie diesen Schritt mitvollzogen.

Allerdings, das wusste sie, war es ihm so viel schwerer gefallen als ihnen; Shinichi war in Tokio viel mehr, viel intensiver daheim gewesen als sie es waren, sie, und Yusaku.

Er hatte sich gewehrt, mit Erfolg, als er damals hätte mitkommen sollen – er wollte nicht weg aus Tokio, weg von seiner Schule, vom Professor, von… ihr.
 

Bis zu jenem Tag, als er nach Hause gekommen war, nach diesen Tagen des Schreckens.

Nach diesem Desaster.
 

Du warst nie wieder der Gleiche.

Wie hättest du das auch sein können, nach allem, was du erleben musstest.
 

Yukiko strich sich über die Oberarme, fühlte die kleinen Härchen sich aufstellen; ihre Fingerspitzen kribbelten, ihr Magen wurde flau, als sie die Bilder wieder vor Augen sah, so ungeheuer deutlich.
 

Ihr Sohn in dieser Nacht…

Es war ein Wunder, dass er überhaupt heimgekommen war.
 

In dieser Nacht… als alles endete, und alles anfing.
 

Das Ende der Organisation hatte sich zu seiner persönlichen Katastrophe entwickelt - er hatte sie zwar bezwungen, aber gewonnen hatte er nichts.

Er war kein Sieger gewesen.

Nein.

Ein Verlierer.

Wohl der Größte in diesem Spiel.
 

Du hast alles verloren, Shinichi… alles, wofür du gekämpft hast, wofür du gelebt hast.

Ich bin dir dankbar, dafür, dass du dich nicht gänzlich aufgegeben hast, danach, allerdings fürchte ich, du tatest das nicht für dich… du wolltest nur noch weiteres Leid vermeiden.

Unseres.
 

Yukiko erschauderte unwillkürlich, fing an zu frösteln trotz dieser tropischen Hitze, die herrschte - der Gedanke an seinen Anblick, als er vor der Haustür gestanden hatte, in jener Nacht, war grauenhaft.

Einfach schrecklich, entsetzlich, furchterregend.
 

Und das jetzt noch, trotz der warmen und hellen Umgebung und trotz der fünf Jahre, die seither verstrichen waren.
 

Es war bereits dunkel geworden, die Dämmerung längst hereingebrochen.

Shinichi, oder sollte man sagen, Conan, war seit Tagen verschwunden.

Seit acht langen Tagen, spurlos, wie vom Erdboden verschluckt.

Wir alle hatten erst spät erfahren, worauf du aus gewesen warst – du hast uns erst in deinen Plan eingeweiht, als du musstest, wenige Tage vorher. Als du uns brauchtest, um Dinge in die Wege zu leiten, die außerhalb deines Einflussbereichs lagen.

Du hattest keinen Hinweis hinterlassen, wohin genau du gegangen warst, du wusstest es ja selber nicht – du sagtest nur, du würdest dich schon melden, wenn du Hilfe bräuchtest.

Wir sollten uns um sie kümmern… um Ai, hinter der sie her waren wie der Teufel hinter der unschuldigen Seele, so dicht auf ihren Spuren… so dicht. Du ahntest, dass sie wussten, wer sie war – und du hattest befürchtet, dass auch deine Identität längst kein Geheimnis mehr war.

Und wenn dem so war, dann würden sie nicht nur Ai in ihre Finger bekommen wollen, nein, dann würden sie auch dich endlich umbringen wollen – denn tot solltest du schon längst sein.

Tot, Shinichi.

Auf keinen Fall wolltest du, dass wir dich suchten, dir folgten und dabei in Gefahr gerieten. Du hattest das FBI eingeweiht, hattest Ran und ihren Vater auf eine kurze Urlaubsreise geschickt, Conan damit entschuldigt, dass er mit seinen Verwandten ein paar Tage in Tokio verbringen würde; du hattest mit unserer Hilfe Ai und den Professor nach Sapporo geschafft, alles geregelt und geklärt, bis nur noch du allein übrig warst.
 

Und dann hast du die Bombe platzen lassen, diese Lawine losgetreten, von der du wusstest, dass sie dich mitreißen würde.
 

Shinichi…

Hätte ich gewusst, dass… das dein Plan war, ich…
 

Aber lass mich raten… egal, was ich gesagt oder getan hätte, es hätte dich nicht aufgehalten.
 

Yukiko schluckte, als sie ihren Gedanken nachhing.
 

Du dummer Junge!

Warum hast du das getan… du wusstest doch, worauf du dich einlässt, warum hast du dir nicht helfen lassen?

Warum musstest du versuchen, das allein zu schaffen…

Du kannst nicht alles allein bewältigen, du kannst uns nicht alle beschützen, Shinichi, du bist nur ein Mensch, und du warst damals auch nur ein Mensch…

Ein sehr junger Mensch, noch dazu.

Ein Mensch, der unter unglaublichen Druck stand, und der unfassbare Angst haben musste…
 

Nur hast du uns auch das alles… nie gesagt.
 

Du sagtest, das wäre dein Kampf, das ginge uns nichts an – würdest du ihn verlieren, wolltest du ihn allein verlieren, nicht wahr?

Wenn jemand zu Schaden kommen sollte, dann nur du.
 

Aber so lief das nicht, nicht wahr?

So lief das nicht.

Und das hattest du nicht bedacht, als du…
 

Blicklos ruhten ihre Augen auf der in der Hitze wie tot daliegenden Stadt zu ihren Füßen, als sie die Ereignisse revuepassieren ließ.
 

Shinichi hatte sich gestellt.

Die genauen Hintergründe dieser Tat, das Warum und Wieso und Weshalb hatte er ihnen nie so wirklich erzählt; sie wusste, es hatte etwas mit Shiho zu tun gehabt, sie waren durch ein gewisses Video in Zugzwang geraten. Sie selber hatte mitbekommen dürfen, wie sehr sie hinter der kleinen Chemikerin her gewesen waren, bei der Fahrt mit dem Bell Tree Express. Und das war wohl auch der Moment gewesen, wo er auf ihn aufmerksam geworden war, ihn verstärkt beobachtet hatte.

Bourbon.

Moris seltsamer Lehrling, Toru Amuro. Er hatte ihn unter seiner Nase gehabt, und ihm musste aufgefallen sein, wovor so viele blind ihre Augen verschlossen hatten… Conan Edogawa war kein normaler Junge.

Shinichi musste das bemerkt haben, und er hatte gehandelt, bevor der Boden unter seinen Füßen zu brennen angefangen hatte, und zwar in dem er einfach schnurstracks hineingerannt war, in diese Hölle, mit nichts weiter bewaffnet als einem Becher Wasser, wie es schien.

Von all diesen Dingen hatte er ihnen, ihr und Yusaku, kaum etwas erzählt.

Er hatte ihnen… ohnehin so gut wie nichts erzählt.

Fakt war, eines Nachts hatte er beschlossen, oder beschließen müssen, dass es nicht so weiterging wie bisher. Er hatte die Môris verlassen, sich von Ai das Gegengift besorgt, das sie hatte, hatte sie und den Professor mit ihrer Hilfe außer Landes gebracht und war in den Krieg gezogen.

Was er sich antat damit, hatte er wissen müssen.
 

Du hast den Kampf aufgenommen, gegen die Dämonen deines Lebens, gegen die schwarzen Schatten der Nacht, gegen die, die ihre Kreise langsam immer enger um dich und die, die du liebtest, gezogen hatten. Wir waren blind, wir waren taub… wir haben alle davon nichts bemerkt, aber du… du schon. Du wusstest, auf was du achten musstest, du wusstest die Zeichen richtig zu deuten.

Und als dir der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, die Verantwortung und die Angst um das Leben aller anderen zu groß, da hast du deinen Entschluss gefasst.

Anders kann ich es mir nicht vorstellen; du bist und warst kein Mann, Shinichi, der zu unüberlegten Handlungen tendiert. Du wägst ab, bedenkst, fällst einen Entschluss und handelst.

Es musste einen Grund gegeben haben, warum du deine Deckung fallen ließest, warum du nach ihnen gesucht, sie provoziert hast.
 

Du hast wohl geahnt, dass die Organisation langsam ihre Schlinge um deinen Hals zog, immer enger – und um die Hälse aller, die dir etwas bedeuteten, und deshalb bist du gegangen; hast die Initiative ergriffen, bevor du zu sehr in Zugzwang gerietest, und damit ins Hintertreffen.
 

Was er tatsächlich getan hatte, hatte ihr am nächsten Tag einen Schrei des Entsetzens entlockt – Shinichi hatte eine Email verfasst, hatte haarklein dokumentiert was mit ihm passiert war, wie das Gift wirkte, hatte über Verbrechen erzählt, die auf das Konto der Organisation gingen, und hatte damit angegeben, die Undercover-Agents des FBI und der CIA, Sherrys Aufenthaltsort und die Kontaktdaten des Bosses zu kennen – und die Organisation aufgefordert zu kommen, und ihn zu holen, wenn sie erfahren wollten, was er wirklich wusste.

Dieses Video hatte er dreimal versandt, jedoch nur zweimal waren die Empfänger offen – einer war versteckt.

Einmal an das FBI, an Agent James Black.

Einmal zur Polizei, zu Händen Juzo Megurés.
 

Und einmal an die Email-Adresse des Bosses.
 

… und wenn Sie nicht wollen, Anokata, dass ich Ihre Emailadresse weitergebe und damit ihr schwarzes Antlitz ans Tageslicht ziehe, dann lassen Sie die Finger von Menschen, die Sie nichts angehen und wenden sich vertrauensvoll.. an mich.
 

Mit den freundlichsten Grüßen,

Shinichi Kudô alias Conan Edogawa
 

Er hatte hineingestochen, in dieses Hornissennest, und zwar mitten ins Herz, in die Kammer der Königin.

Und die Hornissen waren zum Angriff ausgeflogen.
 

Sie hatte nur geschrien, als sie, in einem Hotel in Sapporo sitzend, wo sie mit dem Professor und Ai eine Erfindermesse besuchte, ihre Emails las – Meguré hatte Yusaku informiert und sie und ihr Mann benutzten denselben Account. Sie ahnte, was er damit hatte bezwecken wollen, und das hatte auch funktioniert.

Sie waren gekommen, aus ihren Löchern, und hatten ihn geholt.
 

Ihn, den sie für eine lästige Zecke gehalten hatten… und der sich zu einer waschechten Bedrohung gemausert hatte.

Er wusste zu viel, viel mehr, als sie geahnt hatten. Und aufgrund seines Berichtes ahnten Sie, dass er immer noch mehr wusste, als er verlauten ließ. Er provozierte sie, das wussten sie. Und sie waren neugierig geworden, auf diesen Kerl.
 

Yukiko hatte gewusst, dass er es zu Ende bringen hatte wollen. Deshalb hatte er sie ja schließlich um Hilfe gebeten. Dass er es jedoch auf diese Art und Weise machte, hatte sie nicht in ihren kühnsten Träumen geahnt.
 

Shinichi war danach tagelang verschwunden, spurlos.

Und als sie alle dachten, er wäre tot, ermordet worden, da bekamen sie den Hinweis.

Nicht von ihm.

Und nicht sie alle.
 

Es war nur ein kleiner Brief, handgeschrieben, in einem Kuvert ohne Absender, der in Rans Jackentasche gesteckt hatte, eines Tages. Ich hab ihn gesehen, wir alle haben ihn gelesen.
 

Wenn du ihn jemals lebend wiedersehen willst…
 

Ran, die ohnehin aufgelöst vor Sorge war um dich, hatte ihn gelesen und ohne Nachzudenken gehandelt. Ran…

Kogorô hatte den Brief durch Zufall gefunden, als er verzweifelt nach seiner nun ebenfalls verschwundenen Tochter gesucht hatte.

Es war ein hinterhältiger Appell gewesen an ein Mädchen, das verliebt war.

Sie hatten deine Schwachstelle gefunden, und sie ahnten ihre, und sie nutzten das gnadenlos aus.
 

Kogorô war ausgeflippt, und wärst du da gewesen, Shinichi …
 

Sie lächelte bitter.
 

Wir kennen ihn, er liebt seine Tochter, und damals hätte er dir wohl den Hals umgedreht, hätte er dich in die Finger gekriegt. Dein Vater war wütend deswegen, dass Kogorô es wagte, dir für alles die Schuld in die Schuhe zu schieben – schließlich war es ja nicht deine Schuld, dass Ran sich in dich verliebt hat, nicht wahr?

Und außerdem… bist du ja aus dem gleichen Grund in diese Gefahr geraten. Weil du sie schützen wolltest.

Wie konntest du ahnen, dass diese Teufel euch gegeneinander ausspielen würden?

Wie grausam ist das…

Wie entsetzlich muss das für dich gewesen sein…
 

Nun, wie dem auch sei, Yusaku und Kogorô wären wohl auch kurz davor gewesen, sich die Köpfe einzuschlagen, wäre Kommissar Meguré nicht dazwischen gegangen, und auch dieser Mann vom FBI, Mr James Black.
 

Es war auch an diesem Abend, als sie sie endlich bekamen – die Adresse vom Hauptquartier. Du hattest deine Schuldigkeit für das FBI getan, Shinichi. Und sie kamen, um dich zu holen, dich und Ran, zu retten, was noch zu retten war.

Viel war das nicht.
 

Wir warteten daheim, darauf,… dass ihr kommen würdet.

Du, und Ran.
 

Und dann… ist alles so furchtbar schief gelaufen.
 

Yukiko wusste bis heute nicht vollständig, was eigentlich passiert war. Sie erinnerte sich nur an diesen Abend, als er vor ihrer Haustür stand, ihr Sohn. Schlotternd, bleich, vom Regen durchnässt. Als Oberschüler, nicht als Knirps; Conan hatte seine Existenz beendet.

Sie hatte den Blick in seinen Augen gesehen, der ihr durch Mark und Bein gegangen war, dieser Ausdruck namenlosen Entsetzens und unfassbarer, unbändiger Schuld.

Ein Anblick, der sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte – und der ihr noch heute einen Knoten im Hals bescherte.

Sie hätte weinen können, vor Angst, Schmerz, Mitgefühl und Erleichterung ihn zu sehen, aber sie hatte es nicht getan.

Etwas an ihm hielt sie davon ab.

Und bevor sie es gesehen hatte, hatte sie es gerochen – das Blut.

Dieser beißende, ekelhaft metallische Gestank von geronnenem Blut.

Als er dann näher getreten war, hatte sie es auch gesehen – rot waren seine Hände, seine Arme, sein Oberkörper, rot, verklebt, von dunkelrotem, angetrockneten Blut.

Blut, das nicht seins war, denn er – er war unverletzt.
 

Und sie hatte sie gesehen, die feuchten Spuren auf seinen Wangen, die ihre Bahnen durch sein dreckiges Gesicht gezogen hatten.

Shinichi hatte geweint. Absolut lautlos, stumm, aber unaufhörlich.
 

Und spätestens da hatte sie gewusst, dass etwas Entsetzliches passiert war.

Und dass ihr Sohn, obgleich nun körperlich der Alte, nie wieder der sein würde, der er einst gewesen war.
 

Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte, Shinichi. Man sah dir an, du standst unter Schock… dann kam dein Vater, und zog dich in die Eingangshalle, und alles, was im trüben Licht der Eingangstür schon zu sehen gewesen war, wurde hier nur umso deutlicher.
 

„Shinichi, was ist passiert?“

Yusakus Stimme war leise, aber bestimmt. Du sahst ihn nicht an, deine Augen stierten seltsam glasig und unfokussiert auf einen Punkt irgendwo vor ihm in der Luft.

„Shinichi?“

Du gabst keine Antwort, schienst zu keiner Regung fähig.

„Shinichi!“

Yusaku hatte dich an den Schultern gepackt, nicht fest.

Du hast ihn nur angesehen - in deinen Augen namenloser Schmerz.
 

Dann sagtest du diesen einen Satz… nur diesen einen Satz.
 

„Ran ist tot.“
 

Wie sie an jenem Abend gestorben ist, in deinen Armen nämlich, Shinichi… weil sie dir eine Falle stellten…

… wussten wir nur aus den Träumen, die dich quälten Nacht für Nacht, Tage, Wochen, Monate danach. Du hofftest, wir würden es nicht hören. Und du wusstest, wir taten es doch.
 

Du hast nie freiwillig mit uns darüber geredet, herausgefunden, was passiert war, haben wir dennoch. Es war unübersehbar. Und irgendwann musstest du reden, früher, als dir lieb war.

Du hast mit uns am nächsten Tag Japan verlassen, ohne Rückfahrkarte.

Es gab kein Zurück für dich.

Und auch jetzt gibt es immer noch… nach so langer Zeit… kein Zurück für dich.
 

Yukiko seufzte, umklammerte ihren Kaffee mit beiden Händen, spürte die wohlige Wärme an ihren Fingern. Fühlte langsam wieder die Sonne auf ihrer Haut, hatte das Gefühl, wieder warm zu werden, ganz so, als würde sie auftauen.
 

„Shinichi, so kann das nicht weitergehen.“, murmelte sie leise.

„Wüsste Ran, was du veranstaltest, denkst du, sie wäre glücklich darüber?“
 

Unwillig zog sie die Augenbrauen zusammen, dann drehte sie sich brüsk um. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
 

„Yusaku, wir fliegen nach London. Buch uns einen Flug, ich geh packen.“
 

Ihr Mann hob ruckartig den Kopf, konnte ihr nur mehr verwirrt hinterher schauen, als sie die Treppe in den ersten Stock geräuschvoll hochstieg. Dann schüttelte er ergeben den Kopf, rief die Internetbuchungsseite der Airline seines Vertrauens auf und tat, wie ihm geheißen.

Gegen Yukiko kam er in der Sicht ohnehin nicht an. Ein zynisches Grinsen huschte ihm über die Lippen.
 

Freu dich, Sohnemann. Du bekommst Besuch.
 

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Tja, Leute -
 

das wars! Kapitel eins!

Wie immer würde ich mich freuen, wenn ihr einen Kommentar hinterlässt - jeden Autor interessiert schließlich brennend, was seine Leser über sein Werk denken.
 

Geladen wird wöchentlich, wahrscheinlich Donnerstag/Freitag.
 

Ich wünsch euch viel Spaß und viel Freude daran,

die Geschichte ist nicht kurz...
 

Beste Grüße,

Eure Leira

Kapitel 2: Alpträume...

Hallo ihr Lieben!
 

Ich möchte mich an der Stelle sehr herzlich bei euch für die Kommentare zum ersten Kapitel bedanken; ich freu mich sehr, dass ihr, auch wenn ihr momentan nicht so aktiv im Fandom unterwegs seid (was bei der Flaute im Fernsehen und den langen Pausen zwischen den Bänden niemanden wundert)! Es stimmt – Shinichis Situation ist momentan nicht die netteste; und zum Teil auch selbst verschuldet. Allerdings werdet ihr bald erfahren, warum es so kam, wie es gekommen ist. An der Stelle möchte ich auch daraufhinweisen, dass die Tatsache, euch im Vorwort zu sagen, dass Ran doch nicht tot ist, den Grund hatte, keinen hier zu verschrecken. Für den Lauf der Geschichte an sich ist es jedoch essenziell im Kopf zu behalten, dass er es nicht weiß. Wie er damit umgeht, werdet ihr relativ schnell erfahren :)

Ich wünsche euch an dieser Stelle viel Vergnügen mit dem zweiten Kapitel – soweit man von Vergnügen reden kann – und würde mich auch diesmal wieder sehr über Kommentare freuen!
 

Nun denn

Viel Spaß!
 

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KAPITEL 2 – ALPTRÄUME…
 


 

Er hatte sich immerhin aufraffen können, das Telefon wieder in seine Miniaturausgabe von einem Flur zu tragen, allerdings - den Hörer hatte er fein daneben liegen lassen.

Heute wollte er keine Störung mehr, von keinem.
 

Shinichi ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen, fuhr sich müde durch die Haare. Vor seinem Fenster drehte sich, in einiger Entfernung aber durch seine aufwändige Beleuchtung gut erkennbar, das London Eye.

Er stand auf, langsam, trat ans Fenster und lehnte seine Stirn gegen die kühle Scheibe, sah dem großen Rad bei seinen langsamen Umdrehungen zu.

Er war noch nie in einer dieser Kabinen gewesen; dabei musste die Aussicht wahrlich herrlich sein, selbst jetzt noch, nachts. Sicherlich sah man von dort oben ein einziges Lichtermeer und der Anblick war bestimmt atemberaubend. Im nachtschwarzen Wasser der Themse spiegelten sich bestimmt die Lichter der beleuchteten Kabinen, würden tanzen und hüpfen, wenn ein Boot langsam stromabwärts fuhr.

Tatsache war, er hatte sich London nicht als Tourist angesehen, seit er hier war; an keinem Tag in den letzten fünf Jahren hatte er jemals eine Auszeit genommen, um sich all das anzusehen, was ihn an dieser Stadt schon immer fasziniert hatte.

Die ganzen schönen Seiten hatte er ausgeblendet, sich selbst verboten. Er war nur für Vorlesungen und Seminare an der Universität gewesen, sowie im Yard, für seine Ausbildung zum Polizeibeamten – beim Einkaufen im Supermarkt um die Ecke.

Und nicht zu vergessen… an den mittlerweile ungezählten Mordschauplätzen.

Er war nie wieder ins Sherlock-Holmes-Museum gegangen, seit diesem einen Mal, als er mit ihr und Kogorô hier gewesen war; er hatte sich nie die Kronjuwelen im Tower angeschaut. An den Toren von Madame Toussaud’s war er bislang immer vorbei gegangen, genauso wie er nie wieder in einem der Sportstadien gewesen war.

Nur am Big Ben blieb er stehen, so ihn sein Weg schon dahin führte. Er entging den Bildern in seinem Kopf niemals, die ihm seine Erinnerung vorspielte, jedes Mal wenn er auf der Brücke stand, vor den Houses of Parliament. Immer und immer wieder sah Shinichi sie vor sich, diesen anklagenden, fragenden Blick in ihren Augen, ihre Tränen, weil sie es nicht verstand – ihn nicht verstand.

Hörte immer wieder seine Antwort.
 

Wie kann jemand jemals herausfinden, was in dem Herz der Frau vorgeht, die er liebt?!
 

Damals, vor dieser Uhr, hatte er es ihr gesagt – anders, ganz anders, als er es ihr hatte sagen wollen. Anders, als er sich das jemals vorgestellt hatte, und dennoch – so war es passiert.

Und nun… war es egal.

Einzig die Stelle erinnerte ihn beständig daran, dass es dieser Ort und diese Worte gewesen waren, an dem und mit denen er ihr seine Liebe gestanden hatte.

Und mit denen er sie wohl endgültig mit in den Abgrund gerissen hatte, in den er schon so lange fiel - in diesen schwarzen Abgrund.

Deshalb machte er einen Bogen um den Big Ben, wenn es ging. Leider ging das nicht so oft, wie er gern wollte. Er wollte nicht daran denken, nicht daran erinnert werden; aber es gab für ihn sonst keinen Ort auf dieser Welt, wo er sich ein Leben halbwegs vorstellen konnte.

Amerika mochte er nicht, die Art des Lebens und die Arbeitsweise der Polizei dort sagten ihm nicht zu; und nach Japan konnte er nicht zurück. Es blieb nur die Stadt seines Idols, schon allein weil er die Sprache beherrschte und anspruchsvolle Polizeiarbeit tun wollte, die ihn beschäftigte - und er tat alles, um den Aufenthalt und sein Leben hier nicht zu genießen und beschäftigt zu sein.

Er sah nur die Schattenseiten dieser Stadt, und derer gab es viele; alles andere wollte er nicht sehen, denn alles andere hatte er nicht verdient.
 

Langsam wandte er sich ab von der atemberaubenden Skyline und ließ mit einer Hand den Rollladen herab; das Band sauste durch seine Finger, die Reibung verbrannte fast seine Haut. Er spürte die Hitze, den damit verbundenen Schmerz, aber es interessierte ihn nicht.

Nachdenklich ließ er seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Sein Appartement bestand aus drei kleinen Zimmern, einem noch kleineren Bad, den genannten handtuchgroßen Flur und einer winzigen Küche. Eins dieser kleinen Zimmer war das Wohnzimmer, das größte von allen, in dem neben seiner Couch und dem Fernseher ein Regal neben dem anderen stand, weil er seine Bibliothek aus der Besenkammer, die sein Arbeitszimmer war, hatte expandieren lassen müssen. Im Arbeitszimmer befand sich der Rest seiner Bücher sowie seine Fallnotizen, sein Arbeitstisch, sein Computer, ein Stuhl, ein Sessel. Im Schlafzimmer stand einzig und allein ein Bett – Kingsize, das einzige Möbelstück, das schon hier gestanden hatte. Er hatte es übernommen und sich eine neue Matratze dafür gekauft; allerdings passte sonst nichts in das Zimmer, es schien ohnehin schon zu platzen. In der Küche stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und eine Küchenzeile – da er kein passionierter Koch war, reichte sie ihm.

Und so hauste er nun seit fünf Jahren. Und nun stand er da, schaute sich um, und seufzte. Gedankenverloren starrte er in die Deckenlampe, bis sich das Nachbild vor seinen Augen bildete und als dunkler Fleck durch den Raum tanzte.
 

Eigentlich sollte er noch etwas zu Abend essen, aber er hatte keinen Hunger. Der Fall heute lag ihm im Magen, und füllte ihn, so schien es ihm, vollständig aus.

Und wieder flimmerte das Bild vor seinen Augen, das Bild, das ihn so sehr an diese Katastrophe von vor fünf Jahren erinnerte.

Er wurde etwas bleicher, schluckte hart, wischte sich über die Stirn.
 

Damals.
 

Dann verscheuchte er den Gedanken.
 

Genug davon, das ist Vergangenheit…
 

Morgen würde er einen langen Tag vor sich haben, auf der Suche nach diesem Mörder…

Auf der Suche nach seinem Mörder.

Dies war sein erster Fall, seine erster eigener Fall als Detective Superintendent – ein Dienstgrad, den nie vor ihm jemand in so jungen Jahren erlangt hatte. Er hatte ihn seit knapp einer Woche.

Er lächelte bitter.
 

Detective Superintendent… den Dienstgrad bin ich schneller wieder los bin, als ich „Sherlock“ sagen kann, wenn dieser Fall nicht zügig einen Abschluss findet.
 

Also stieg er über einen Stapel Bücher, wankte durch die Tür ins Schlafzimmer und fiel aufs Bett ohne sich auszuziehen oder den Vorhang zuzumachen.

Blicklos starrte er an die Decke, merkte, wie ihn die Erschöpfung langsam übermannte, wie ihn Morpheus in seine Arme zog – und er ließ es geschehen, willenlos, nicht ahnend, wohin ihn der Gott der Träume diesmal führte.
 

Und ehe er es sich versah, fand er sich dort wieder, wo er gerade eben unbedingt nicht hatte sein wollen.
 

In der Vergangenheit.

In seiner Vergangenheit.
 

Die Luft war stickig und heiß, ein aufziehendes Gewitter lag in der Luft, lud sie fast schon statisch auf. Shinichi war gelaufen, raus aus dem Gebäude, die Straße entlang und um die Ecke; der Knall der Explosion dröhnte noch in seinen Ohren, die Hitze des Feuers schien immer noch an seiner Haut zu lecken, und er war sich nicht ganz sicher, ob er sich nicht doch irgendwo verbrannt hatte – oder ob dieser Gestank nur einfach in seiner Nase festsaß.

Er hatte die Beweise, und wenn die Verstärkung der Polizei schnell genug war… wenn sie schnell genug war, dann würden sie sie alle kriegen.

Alle.
 

Atemlos schaute er sich um, sah niemanden. Anscheinend hatte er sie wirklich abgehängt.

Zu schön, um wahr zu sein.
 

Gerade, als er weitereilen wollte, durchzuckte ihn der Schmerz wie ein Blitz. Und wie als ob er darauf gewartet hatte, grollte in der Ferne der erste Donner.

Shinichi erstickte einen Schrei mit seiner Hand, ging kurz in die Knie, keuchte. Unwillig kniff er die Augen zusammen, lehnte sich gegen eine Hauswand, versuchte, ruhig zu atmen.

Erschrocken starrte er den Weg zurück, den er gelaufen war. Sein Herz raste.
 

>Nicht doch… ich dachte, ein wenig Zeit habe ich noch…<
 

Er strich sich mit zitternden Fingern über die Stirn, betrachtete seine Hand, die im Mondlicht feucht schimmerte, schluckte hart.
 

>Das… das darf doch nicht wahr sein…!<
 

Im gleichen Moment fragte er sich, warum es ihn eigentlich noch wunderte. Es hätte ihm klar sein müssen, dass sie ihn übers Ohr hauen würden, dass sie genau kalkuliert hatten, wie weit er kommen würde. Nach allem, was er hinter sich gebracht hatte, in den letzten Tagen… hätte er es wissen müssen. Dennoch… die, die ihm zur Flucht verholfen hatte, war Vermouth gewesen.

Und er hatte geglaubt, eigentlich, dass sie auf seiner Seite stand.
 

>Nicht doch… Sharon, ich dachte wirklich, du…<
 

Er wollte weitergehen, nichtsdestotrotz; wollte er die anderen retten und diese Organisation auffliegen lassen, brauchte die Polizei die Beweise, die er hatte, damit sie sie dingfest machen konnten. Er musste sich einfach zusammennehmen. Und er musste Ran finden.
 

>Also beeile ich mich besser…<
 

Von „beeilien“ konnte allerdings keine Rede sein. Gerade als er den nächsten Schritt machen wollte, sich an der Hausmauer vorwärtstastete, zwang ihn der nächste Krampf zu Boden. Er schrie auf, krallte seine Finger in den Asphalt, spürte, wie die Haut auf seinen Fingerkuppen aufriss.
 

Plötzlich hörte er sie; eine Stimme, die ihm eine Gänsehaut verursachte.
 

„Shinichi?“
 

>Ran!<
 

Shinichi drehte sich herum, dann sah er sie.

Langsam tauchte sie auf, hinter einem Wagen auf dem Parkplatz, wo sie sich offenbar versteckt hatte. Sie stand auf, näherte sich ihm, langsam. Er zog sich hoch, mühsam, hielt sich an einer Regenrinne fest, um nicht in die Knie zu gehen. Er hasste es, dass sie ihn so sah.
 

„Ran, verdammt – warum hast du gewartet? Warum bist du nicht schon längst weg, oder zu einem der Polizisten…?“

Er brach ab, als ihr Blick ihn traf, sie ihm die Antwort auf seine Frage auch ohne Worte gab.
 

>Doofe Frage, Kudô. Sie sucht dich, wen sonst… du wärst doch auch nicht abgehauen, bevor du sie hier wieder gefunden hast. Abgesehen davon, wärst du nicht nochmal rein und hättest nach diesem Phantom gesucht, nach Antworten gefragt, die er dir eh nie gegeben hätte, wärst du mit ihr schon längst über alle Berge… selbst Schuld, Idiot. Du lernst es nie.<
 

Ran schaute ihn an, ihre blauen Augen vor Sorge dunkel. Er schluckte hart, konnte sich ihrem Blick kaum entziehen. Dann riss ein weiterer Donnerschlag aus seiner Paralyse, ließ ihn sich hektisch umblicken.
 

„Wir sollten weg…“

Sie sah ihn nur an, antwortete nicht, in ihren Augen, auf ihrem ganzen Gesicht ein Ausdruck unsäglicher Erleichterung.
 

„Ich… ich dachte, ich seh dich nie mehr wieder! Als du zurückgelaufen bist und dann auf einmal dieser Knall – die Explosion – war das eine Bombe…? Auf einmal…“
 

Sie schluckte schwer, griff sich an den Hals. Er sah, wie ihre Lippen bebten, wie sehr sie sich zusammennahm, um nicht einfach loszuheulen. Dann riss sie plötzlich ihre Augen auf, sah ihn beinah schuldbewusst an.
 

„Sharon hat mir rausgeholfen. Sie meinte, ich soll hier auf dich warten, weil du vielleicht meine Hilfe brauchst...“
 

Ihre Stimme zitterte, ihre Augen huschten über sein Gesicht, seinen Körper, Unruhe lag in ihrem Blick – wohl aber versteckte die Dunkelheit das meiste.

Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und er wusste genau warum. Nicht etwa, weil er gerannt war.
 

„Bist du verletzt? Ich… ich hab dich schreien gehört…“

„Nein.“, beeilte er sich zu sagen.

„Nein, alles in Ordnung. Ich bin gestolpert, hab mir den Fuß…“

Er brach ab, als er den Zweifel in ihrem Gesicht sah.

„Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen musst, Ran.“
 

Langsam trat er einen Schritt näher.

„Überhaupt, was hast du hier gesucht, was meinst du, warum wart du und dein Vater im Urlaub, ich …“

Er keuchte.

Ran hielt ihm den Mund zu, schüttelte den Kopf.

„Idiot. Sie… haben mir geschrieben. Dass du hier bist.“

Er sah, wie sie schluckte.

„Nicht mehr, Ran? Sie schreiben dir, wo ich bin, und du kommst gelaufen… dachtest du, du könntest mir helfen…? Wie…“

Shinichi wand sich frei, schüttelte den Kopf.

„… verzeih mir, Ran, wie… dumm von dir war das, bitte… du hättest tot sein können. Tot…“

„Da redet ja der Richtige.“

Sie schaute ihn aus Halbmondaugen an, hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt.

Er schluckte hart, schaute sie an.

„Und überhaupt, anstatt Kopf und Kragen für mich zu riskieren, sollest du mich doch hassen, ich nehme an, sie haben dir doch gesagt, wer ich war… warum hältst du immer noch zu mir? Ich…“

Sie schüttelte den Kopf.

„Weil ich…“

Shinichi verzog das Gesicht, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie waren deutlich zu spüren, die ersten Ansätze dieser stechenden Schmerzen, wenn dieses Gift ihn in die Knie zwang, sich seinen Körper und seinen Geist untertan machen wollte. Nur mit Mühe hielt er sich aufrecht.

Langsam atmete er aus, holte tief Luft, versuchte, sich zu entspannen.

Er sah auf, sah in Rans Gesicht, die ihn zögernd ansah. Er merkte, wie sie zitterte, wie sie mit sich kämpfte, um die nächsten Worte auszusprechen.
 

„Weil ich dich… liebe. Ich liebe dich.“
 

Ungläubig starrte er sie an.

„Ich sagte doch, du sollst mich hassen, jetzt wo du weißt, wer ich…“

Das Mädchen schüttelte den Kopf, sacht, die Lippen fest aufeinandergepresst, in ihren Augen blanke Entschlossenheit.

„Ich meine das ernst.“

Shinichi seufzte, merkte, wie ihm unbehaglich wurde.

„Du weißt, dass ich Conan war, ich hab dich dreist angelogen, ich…“

„Halt die Klappe, Shinichi.“, unterbrach ihn Ran schlicht, trat dann näher, langsam, streckte ihre Hände aus, berührte seine Wangen. Shinichi schluckte, merkte, wie ihm auf einmal doch wieder heiß wurde, ahnte aber, dass diesmal der Grund dafür ein gänzlich anderer war.

Er hob die Hände, legte sie zögernd um ihre Taille, spürte, wie sie ihren Körper gegen seinen lehnte, zog sie an sich. Als er versuchte zu schlucken, merkte er erst, wie entsetzlich trocken sein Mund auf einmal geworden war. Er seufzte, schaute sie an, sah ihr in die Augen und konnte seinen Blick unmöglich abwenden. Sie lächelte immer noch.

„Du solltest mich wirklich hassen. Ich bin kein guter Mensch…“

„Idiot.“, murmelte sie leise.

„Ich weiß doch, warum du das getan hast… warum du…“

Sie seufzte leise, wandte nun ihrerseits den Blick ab, auf ihrem Gesicht flackerte kurz ein Ausdruck von Kummer und Sorge.

„Ich liebe dich.“, murmelte er leise. Seine Stimme klang heiser und rau, und er schämte sich fast, ihr dieses Geständnis nicht mit festeren Worten machen zu können; ihr jedoch schien das egal zu sein, während er sich kurz irritiert an den Hals fasste.

„Das weiß ich.“

Sie sah wieder auf, lächelte erneut; das Strahlen kehrte in ihre Augen zurück.

„Du sagtest es bereits, in London. Damals war ich etwas…“

„Überrascht?“

„Überfahren, wohl eher.“

Sie lachte leise.

„Aber ich war dir noch die Antwort schuldig…“

Er atmete leise aus, sagte nichts.

„Ich… ich liebe dich auch, Shinichi Kudô. Ich liebe dich. Und ich…“

Was sie noch sagen wollte, sollte er nicht erfahren. Er wollte es auch gar nicht – er hatte eine Hand von ihrer Taille gelöst, und ihr den Finger auf die Lippen gelegt, kurzerhand. Ran lächelte, schloss die Augen, merkte, wie eine wohlige Wärme sich in ihr ausbreitete. Sie löste ihre Hände, legte sie um seinen Nacken, zog ihn noch näher an sich bis seine Stirn die ihre berührte, sein warmer Atem über ihre Wangen strich, und genoss die Nähe, die sie teilten. Shinichi schluckte – nie war er ihr so nah gewesen.

Und nie hatte er geahnt, dass es sich so derart gut anfühlen könnte.
 

„Ich nehm dich jetzt mit nach Hause, Shinichi Kudô… und du kannst vergessen, dass…“, begann sie mit leiser Stimme, ihre Lippen so nah an seinem Mund, das sie ihn schon fast berührte, jagte ihm damit einen wohligen Schauer über den Rücken, der ihn alles andere ausblenden ließ.
 

Doch auch diesen Satz sollte sie nicht beenden.

Gelächter hallte von den Mauern der Häuser wieder.

Ein eisiges, grausames Lachen.
 

Und es verfehlte seine Wirkung nicht.

Shinichi fuhr herum, sah ihn in der Gasse stehen – nie mehr würde er diese Silhouette vergessen.

Er merkte, wie sein Herz aussetzte, einen ganzen Schlag lang, um danach umso heftiger gegen seinen Brustkorb zu hämmern. Schweiß brach ihm aus allen Poren, und diesmal war es kein Gift, das seinen Körper zu dieser Reaktion trieb; es war die nackte Angst.

Unfähig zu irgendeiner Bewegung blickte er ins Gegenlicht der Scheinwerfer eines schwarzen Porsches, vor dem er stand – Gin. Hinter ihm türmten sich die dunklen Gewitterwolken voller Unheil über Tokio auf. Strähnen seines hellen Haars leuchteten auf wie Spinnweben, als der Wind sie streifte, mit ihnen spielte.

Mit seinen langen, schlanken Fingern umgriff er locker den Griff seiner Waffe; kein Gewehr, keine Pistole.

Ein Katana.
 

>Das ist doch das Schmuckstück vom Boss…?

Die ganze Zeit hat er damit angegeben… wie kommt es in deine Hände?

Dennoch. Irgendwie… passend.

Das hätte kein Hollywood-Regisseur besser inszenieren können…<
 

Ran krallte ihre Finger in seine Hand; sie waren von einem Moment auf den anderen schlagartig eiskalt geworden. Er merkte, wie sie zu zittern anfing, stellte sich schützend vor sie, und wusste doch… dass sie keine Chance hatten.
 

>Nein!<
 

Shinichi schluckte hart, überlegte fieberhaft.

„Du musst versuchen, wegzulaufen, Ran. Ich versuch, ihn aufzuhalten.“

Seine Stimme war kaum zu verstehen; er hatte den Kopf nur wenig gedreht, sie aus den Augenwinkeln heraus angesehen. Sie starrte ihn an mit aufgerissenen blauen Augen, unfähig zu sprechen, schüttelte nur den Kopf.

„Bitte!“

Er sah sie flehend an.
 

Jegliche Fluchtpläne wurden im nächsten Moment allerdings ohnehin vereitelt. Der Kies auf dem Asphalt knirschte ein wenig, ein leises Geräusch eigentlich; in der kleinen Gasse hallte es jedoch gespenstisch laut wieder. Shinichi wandte sich um.

Chianti, Bourbon und Wodka waren hinter sie getreten. In Chiantis Hand leuchteten die goldenen Haare einer blonden Perücke; auf ihrer Nase über den rot geschminkten Lippen saß eine Sonnenbrille, verdeckte das markante Tattoo. Shinichi musste nicht fragen, um zu wissen, wer Ran geraten hatte, sich hier zu verstecken.

Ihre Flucht… war von vorneherein eine Falle gewesen.
 

„Du dachtest wohl, du kommst davon, Kudô?“
 

Shinichi sparte sich die Antwort; er überlegte, wie groß ihre Chancen waren, wenn sie einfach loslaufen würden; allerdings war er immer noch etwas angeschlagen, und Ran… stand hinter ihm, ihre Hände mittlerweile um seinen Bauch gekrallt, wie zur Salzsäule erstarrt. Ihr war Chianti ebenfalls aufgefallen und er ahnte, dass sie mit ihren Gedanken gerade wo ganz anders war.
 

Shinichi löste sich von Ran, als Gin das Schwert aus seiner Scheide zog, mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Er griff nach dem nächsten, das er greifen konnte, in diesem Fall eine halbleere kleine Blechmülltone, und warf sie mit voller Wucht gegen den Mann, der sich ihm näherte, mit langsamen Schritten und einem eiskalten, siegessicheren Lächeln auf den Lippen. Gin wich dem Geschoss mühelos aus, wischte es mit einer lässigen Handbewegung zur Seite, lachte.
 

„Na, wer wird denn?“

Die Mülltonne knallte gegen die Wand, fiel mit ohrenbetäubendem Krachen zu Boden, wobei sie ihren Inhalt wild in der Gegend verteilte. Shinichi presste seine Lippen zusammen, merkte, wie seine Kiefer vor Anspannung schmerzten, als Gin keine zwei Meter vor ihnen stehenblieb, versuchte, herauszufinden, wie der Mann seinen Angriff führen würde. Dem ersten Hieb wich er aus und stutzte; er hätte nicht gedacht, dass er auch nur den Hauch einer Chance hatte. Wie recht er damit gehabt hatte, bewies ihm der Tritt in die Magengegend, der ihn im nächsten Moment auf den Asphalt schickte; er prallte hart auf, schlug sich den Kopf am Boden an, sah kurz schwarze Kreise vor seinen Augen tanzen. Gin unterdessen wandte sich Ran zu, versuchte, sie zu fassen zu kriegen. Sie wich ihm aus, so gut sie konnte; zumindest war es das, was er mitbekam, solange sein Schädel noch benebelt war. Dann fiel ihm auf, dass er sie eigentlich gar nicht angriff; er wollte sie festhalten.
 

>Warum? Warum nutzt er die Chance nicht und bringt mich um, wenn er mich schon zu Boden geschickt hat? Und was will er von ihr?<
 

Er wischte sich über die Augen, stemmte sich hoch, nahm all seinen Willen zusammen, sein Denken wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Gerade, als er sich dann soweit aufgerappelt hatte, um sich wieder einzumischen, fühlte er, wie er von hinten gepackt wurde, ihm die Luft wegblieb, als sich ein Unterarm um seinen Hals legte und zudrückte.
 

>Nicht schon wieder…! Ich hab schon wieder nicht aufgepasst, dabei hätte ich doch aus dem ersten Mal lernen können…

Andererseits, sie sind zu viert, wir zu zweit, wahrscheinlich spielt es kaum eine Rolle…<
 

Shinichi würgte, schnappte nach Luft, versuchte sich zu befreien, wand sich, schlug und trat um sich, und merkte doch nur, wie er immer kraftloser wurde, seine Lungen nach Sauerstoff schrien und bettelten, als Vodka eisern mit seiner freien linken Hand den Unterarm seiner rechten gegen Shinichis Kehlkopf drückte.
 

Ran bemerkte es aus den Augenwinkeln – ein Moment der Unachtsamkeit, den Gin ausnutzte.
 

Er packte sie an der Hand, hielt sie eisern fest, als sie sich wand, nach ihm trat, um sich zu befreien. Shinichi, der bis eben noch versucht hatte, sich zu befreien, hielt auf einmal völlig still. Seine Augen starrten auf das rasiermesserscharfe Schwert, das Gin in der Hand hielt, und auf Ran, die keine Chance hatte, sich loszureißen, so sehr sie sich auch wehrte. Dann spürte er, wie Vodka auf einmal fester zudrückte, schrie auf, als sein Kehlkopf schmerzhaft gequetscht wurde. Ran fuhr herum, starrte in Shinichis Gesicht, merkte, wie sie alle Kraft schlagartig verließ. Eine Träne begann ihr über die Wange zu rollen.
 

„Ein Mucks von dir und er bricht ihm den Hals.“

Gins Stimme war leise, aber die Drohung in ihr unüberhörbar.
 

Rans Gesicht verzerrte sich vor Qual. Shinichi starrte sie an, schnappte nach Luft.
 

>Ran…<
 

Gin lächelte sie nur an, beugte sich nach vorn, um ihr ins Ohr zu flüstern.

„Weißt du, es ist wirklich schade um dich. Du bist so ein hübsches, junges Ding...“
 

Sein Gesicht entfernte sich wieder etwas von ihrem; der Blickkontakt jedoch riss jedoch nicht ab.

„Du kannst dich bei ihm dafür bedanken, meine Schöne.“
 

Er hob sein Schwert, setzte es ihr zart an die Kehle. Die scharfe Klinge ritzte einen feinen Strich in ihre Haut. Seine Augen wanderten zu Shinichi, den er endlich da hatte, wo er ihn schon so lange hatte haben wollen.
 

In der Falle.
 

„Na, wie fühlst du dich jetzt, Kudô? Hast du Angst?“

Shinichi antwortete nichts darauf; ihm fehlte schlicht und ergreifend die Luft dazu. Er war blass geworden, bleicher als er es jemals gewesen war, und eine namenlose Kälte hatte von ihm Besitz ergriffen. Sein Herz raste, schlug unglaublich schmerzhaft gegen seinen Brustkorb, als sie ihn langsam übermannte, seine Gedanken vollends zum Stillstand brachte – diese unsägliche Angst um Rans Leben.

Er wusste, dass Gin sie nicht gehen lassen würde.

Unwillig blinzelte er, als seine Augen zu brennen anfingen, als er Ran ins Gesicht sah; Panik und Verzweiflung standen ihr in Großbuchstaben quer übers Gesicht gemalt.
 

„Du hast uns lange genug zum Narren gehalten, es musste dir doch klar sein, dass du am Ende dafür bezahlst…“

Er lachte leise.

Der Oberschüler biss sich auf die Lippen, schmeckte Blut.
 

„Schön, ja, du hast Recht! Ihr habt mich. Also bitte…“, presste er hervor, rang nach Luft.

Erschöpft schloss er die Augen, schluckte hart, schmeckte noch mehr Blut. Er fühlte, wie sein Körper langsam in die Knie ging, sich sein Verstand verabschieden wollte – er wehrte sich mit Händen und Füßen, kämpfte verbissen um die Kontrolle über sich.
 

„…bitte, bitte, lass sie gehen, sie hat dir nichts getan…“
 

Seine Stimme klang erstickt, man sah ihm an, wie mühsam ihm das Sprechen fiel. Ran schauderte, merkte, wie jetzt die Furcht erst so richtig losbrach in ihr; wenn Shinichi zu verhandeln anfing, nicht einmal mehr versuchte, sich zu befreien, musste ihre Situation aussichtslos sein. Gin schien das ähnlich zu sehen; ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. Chianti trat neben ihn, lächelte ebenfalls, nahm ihre Sonnenbrille ab.

„Warum sollten wir, Kudô? Sag mir… warum sollten wir…?“

Er lachte verächtlich.

„Du hast heute Abend unsere Organisation zerstört. Du hast alles kaputt gemacht, wofür wir gearbeitet haben. Du hast uns an die Öffentlichkeit gezerrt, wegen dir kennen die Behörden nun unsere Gesichter und unsere Namen… dafür wirst du bezahlen.“
 

Shinichi war blass geworden.

„Mach doch mit mir, was du willst, aber lass sie gehen…!“

Seine Stimme hallte verhältnismäßig laut von den Wänden. Ran wunderte sich schon fast, woher er die Luft dazu nahm, hielt Wodka ihn doch noch immer fest im Griff.

Gin lachte spöttisch.

„Auf ersteres kannst du dich verlassen.“

Der Blonde starrte ihn triumphierend an; in seinen Augen funkelte ein irrer Glanz, der Shinichi schaudern machte.

„Letzteres ist leider ganz und gar unmöglich, Kudô.“

Sein Lächeln wurde noch einen Tick kälter.

Dann riss er an Rans Hand, zog sie zu sich; Ran, die gerade wie paralysiert in Gins Augen gestarrt hatte, schrie auf, als sie es spürte; in ihren Ohren jedoch hörte sie nicht ihren Schrei, sondern seinen.

Sie hatte ihn nie so schreien gehört.

So markerschütternd, gellend, schmerzerfüllt schreien gehört.
 

„NEIN! Ran, nein!!!“
 

Shinichi ging in die Knie, fiel haltlos auf den Boden, weil ihm seine Beine den Dienst versagten, als Vodka seinen Griff lockerte. Er sah, wie Ran das Gefühl in ihren Gliedmaßen verlor, zusammensackte, und hatte das Gefühl, dass die Welt auf ihn herniederstürzte.

Ran rang um Atem, glaubte, unmöglich wieder einatmen zu können. Schmerz breitete sich von ihrer Taille aus in ihrem Körper aus, benebelte ihr Denken, ließ neben Angst und Panik keine anderen Gefühle mehr zu. Sie fühlte, wie es warm an ihrer Seite hinunter rann, und musste nicht nachsehen, um zu wissen, dass ihr Blut in den Stoff ihres Kleids sickerte. Nur am Rande bekam sie mit, wie Gin ihr Kinn umfasste, ihr einen Kuss auf die Lippen drückte.
 

„Leb wohl,… Ran.“
 

Damit ließ er sie los, zog das Schwert aus ihrem Körper. Ran stöhnte auf, sank leblos zusammen, blieb auf dem Boden liegen, ihre Hand gegen die Wunde in ihrem Bauch gepresst.

Über ihr schienen die Sterne auf einmal zu flackern.
 

„Nein! Ran!“

Shinichi brüllte, seine Stimme überschlug sich, als er näher taumelte, weder Gin noch Vodka, Bourbon oder Chianti Beachtung schenkte.

Vor ihm lag Ran und blutete aus einer Wunde an der Seite. Sie starrte in den Himmel, in ihren Augen stand der Schock.
 

Gin lächelte breit. Shinichi hob den Kopf, starrte ihn an, in seinen Augen eine Mischung aus Wut, Angst, Hass und Verzweiflung.
 

„Nein, Kudô. Du nicht. Es reicht einfach nicht, dich nur umzubringen, weißt du…“
 

Er winkte seinen drei Mitstreitern, bedeutete ihnen, in den Wagen zu steigen, hob die Spitze seines Schwerts an, drückte sie zart unter Shinichis Kinn, zwang ihn, aufzusehen.

„Du wirst leben, mein Freund… bis wir uns wiedersehen. Du wirst leben mit der Schuld, dass dein Mädchen wegen dir sterben musste. Es sei denn, du bist feige genug, um deinem jämmerlichen Dasein selbst ein Ende zu setzen.“

Er zog die Klinge sanft über Shinichis Haut, hinterließ einen dünnen, blutig-roten Strich. Shinichi starrte ihn nur an, in ihm loderten Wut und Hass. Gleichzeitig fühlte er Ran in seinen Armen, spürte ihr Gewicht, das gegen ihn drückte, schwer, reglos. Er schluckte, sagte nichts, wartete, bis Gin in den Wagen gestiegen war und der Porsche mit brüllendem Motor durch die Straßen Tokios raste.
 

Dann hob er Ran hoch, die heiser aufschrie vor Schmerz, trug sie ein paar Meter weiter, nach vorne an die Straße unter eine der Straßenlaternen, zog sein Mobiltelefon, das ihm Sharon während ihrer Flucht in die Hand gedrückt hatte, mit von ihrem Blut klebrigen Fingern aus seiner Jackentasche, wählte die Nummer der Polizei. Er fragte sich nachher immer noch, wie er es geschafft hatte, zu beschreiben, wo er sich befand. Oder die Polizei es geschafft hatte, sie zu finden, aus den Bruchstücken von Information, die zu äußern er imstande gewesen war.
 

Ran sah ihn an, in ihren Augen Furcht und Schmerz – und unendliche Erschöpfung.
 

Er zog sie fester an sich, hielt sie, fühlte, wie ihm immer kälter wurde, als das Entsetzen ihn mit eisigen Klauen packte und ihn nicht mehr losließ– im Gegenteil, immer fester zudrückte, ihm die Luft zum Atmen nahm, schlimmer, fester, endgültiger und entschiedener, als es Vodkas Griff gekonnt hatte – und sein Herz am Schlagen hindern wollte.

Er starrte sie an, als er begriff, was hier passiert war, sah in ihre Augen, die langsam wässrig wurden, sah diese Schmerzen, und Angst, Angst…

Todesangst.

Stur versuchte er ihr gut zuzureden, sie zu beruhigen; versprach ihr, dass alles wieder gut würde und wusste doch, dass er log.

Mit jedem einzelnen Wort, das er ihr sagte, mit jedem Versprechen, das er ihr gab, immer mehr log.
 

>Was hab ich getan…

Ran…<
 

Er fühlte, wie sie starb, flehte sie an, durchzuhalten, als alles beruhigen und gut zureden nichts brachte. Presste sie an sich, wickelte sie in seine Jacke, fühlte, wie sie zitterte, und doch immer ruhiger wurde, sah, wie die Angst aus ihren Augen wich und wusste… wusste, dass das kein gutes Zeichen war.
 

Er wollte schreien, vor Wut, vor Frustration, Verzweiflung… und brachte doch kein Wort über seine Lippen. Er wollte sterben, hier mit ihr, und merkte doch, wie sein Herz immer weiter schlug. Immer und immer weiter schlug, fast mit Gewalt, starrsinnig und schnell, pumpte Blut durch seinen Körper, während ihr Puls immer schwächer wurde – wie als ob es beweisen wolle, dass sich Gins Worte bewahrheiten würden.

Er lebte. Sekunde um Sekunde, Minute um Minute lebte er.

Und Sekunde um Sekunde, Minute um Minute wuchs der Schmerz, brachen Dunkelheit und Kälte über ihn herein.
 

In seinem Kopf hallten seine Worte nach, brannten sich ein in sein Gedächtnis.
 

>… Du wirst leben, mein Freund… bis wir uns wiedersehen. Es sein denn, du bist feige genug, um deinem jämmerlichen Dasein selbst ein Ende zu setzen…<
 

Er fand sich neben seinem Bett liegend, in totaler Finsternis, rappelte sich hoch und schaute sich hektisch um, völlig desorientiert, merkte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte, ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Er räusperte sich, fühlte seinen eigenen, heiseren Schrei noch immer in seiner Kehle kratzen, schauderte.

Von draußen drang leise das Martinshorn eines Krankenwagens ins Zimmer, führte einen einwandfreien Dopplereffekt vor, aber er hörte es gar nicht.
 

Seine Finger waren eiskalt und nass, seine Knie zitterten.

Vor seinen Augen sah er immer noch ihr Gesicht.

Rans Gesicht, ihre Augen kurz davor, zu brechen, Blut, das aus einer Verletzung in ihrem Oberkörper rann.
 

Blut.
 

Ihr Blut.
 

Er ging in die Knie, langsam, keuchte, kniff die Augen zusammen, sackte weiter zusammen, bis er mit seinen Unterarmen auf dem kalten Parkettboden aufstützte, seine Stirn gegen den Boden sank. Die Schuld erschlug ihn fast, wie sie es immer tat, kurz davor, ihn einfach zu zerquetschen wie einen Wurm unter ihrem Schuh – um ihn zertreten, aber noch lebend liegen zu lassen, genauso wie sie es getan hatten.

Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu töten.

Sie hatten sich damit begnügt, sie zu töten und zuzusehen, wie es ihn zugrunde richtete.
 

Warum…?

Und wann kommt ihr, um euer Versprechen endlich warzumachen…?
 

Und wie damals merkte Shinichi nicht, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, wie seine Schultern zu zucken begannen, sich seine Fäuste ballten, so fest, dass sich seine Fingernägel in seine Handballen gruben… eigentlich… merkte er in diesem Moment gar nichts mehr, er sah nur dieses eine Bild, dass sich in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte für die Ewigkeit.
 

Ran, mit einem unendlich müden Lächeln auf den Lippen, halbgeschlossenen, unfokussierten Augen, und so wenig Leben in ihrem Körper.

So ungeheuer wenig Leben.

Und es war aus ihr herausgetröpfelt mit jedem Tropfen Blut, den sie verlor, es war aus ihrem Körper entflohen, mit jedem Atemzug, den sie gemacht hatte, ein wenig mehr.
 

Er hatte ihr die Wunde zugedrückt, die das Katana in ihrer Seite hinterlassen hatte, hatte seine Umwelt total vergessen, hatte zu jedem Gott gebetet, den er kannte, sie nicht zu holen, ihr das Leben zu lassen, als er sie in den Armen hielt, und ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken gelaufen war, weil er es spürte… spürte, wie sie starb.
 

Es war so ungeheuerlich gewesen, hatte an ihm gerissen und gezerrt - dieses Gefühl, sie zu verlieren, und nichts tun zu können, gar nichts. Der Hauch des Todes war so deutlich gewesen, dass er geglaubt hatte, wenn er den Mut aufgebracht hätte aufzusehen, dann hätte er ihn hinter sich warten gesehen - den Tod.

Er hatte nicht aufgeschaut.

Alles was in seiner Macht gestanden hatte, war, sie festzuhalten, und sie anzuflehen, durchzuhalten. Durchzuhalten, bis der Krankenwagen kam, durchzuhalten, für ihn.

Einfach durchzuhalten.
 

Er hatte umsonst gefleht.
 

Shinichi wusste nicht mehr, was er ihr alles gesagt hatte, in diesen Minuten, bevor der Krankenwagen gekommen war. Aber er wusste genau, was sie gesagt hatte, ihre letzten Worte hatten sich in seinem Kopf verewigt, eingebrannt.
 

Ich liebe dich.
 

Das waren die Worte gewesen, die sie ihm zugeflüstert hatte, bevor sie gestorben war.
 

Verdammt, wie konntest du das zu mir sagen… du starbst wegen mir, und du wusstest das, er hat‘s dir gesagt… aber das letzte, was du zu mir sagtest, ist… dass du mich liebst…

Und du lächeltest dabei…
 

Seither… hasste er diese drei simplen Wörter wie nichts anderes auf der Welt, außer der Organisation.

Seither… lächelte er nicht mehr.

Sie war in seinen Armen gestorben.
 

Ich habe versagt…
 

Dieser Moment verfolgte ihn beständig in seinen Träumen, ließ ihn nicht los, ganz im Gegenteil… es war jedes Mal der realste Teil dieses ohnehin sehr realen Alptraums.
 

Immer wieder fühlte er ihren Körper erschlaffen, gegen seine Brust sinken, merkte, wie er sie fester halten musste, damit sie ihm nicht entglitt, sah, wie der Glanz aus ihren Augen wich, roch diesen ekelhaft metallischen Geruch ihres Blutes, den er immer ertragen hatte, aber von dem ihm heute schlecht wurde, hörte, wie sie leise seufzend ausatmete… und jedes Mal, wenn ihn die Bilder einholten, spürte er, wie etwas in ihm mit ihr starb. Jedes Mal ein Stückchen mehr, und er fragte sich langsam, wie viel noch in ihm war, das sterben konnte.
 

Was Kogorô ihm ins Ohr gebrüllt hatte, der irgendwann hinter ihm erschienen war, wusste er auch nicht mehr, allerdings, das dachte er sich, konnte es wohl nicht so unterschiedlich zu dem gewesen sein, was er sich hinterher noch anhören hatte dürfen, von ihm.

Dann war der Notarzt gekommen und man hatte sie ihm weggenommen, und erst da hatte er gemerkt, dass er weinte.
 

Genauso wie er es jetzt erst merkte.
 

Er ließ sich zur Seite sinken, drehte sich auf den Rücken, starrte in der Dunkelheit an die Decke über sich, wischte sich unwillig mit seinen Fingern über die Wangen. Er spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug, hörte seinen eigenen Atem und wurde sich einmal mehr bewusst, was ihr Tod ihm bedeutete.

Der Verlust war immer noch immens, keinen Deut kleiner geworden, all die Jahre. Die Sehnsucht nach ihr, die Reue, ihr den Tod gebracht zu haben, dieses nicht in Worte zu fassende Gefühl von Schuld schienen jeden Tag eher zu wachsen, als kleiner zu werden.

Er ließ das auch gar nicht zu. Er würde sich nie vergeben.
 

Ran…
 

Automatisch fand seine Hand den Griff der untersten Nachttischschublade, zog sie auf. Er griff blind hinein, ertastete, wonach er suchte, zog es heraus, das Foto.

Ihr Bild.
 

Er biss sich auf die Lippen, merkte, wie sein Brustkorb zusammengequetscht wurde, weil sein Schuldgefühl sich darauf breit- und irrsinnig schwermachte, ihn einmal aus- und nicht mehr einatmen ließ und ihm die Luft zum Atmen raubte… und er fühlte diese unglaublichen Gewissensbisse, wie immer.
 

Und dennoch sah er sie an, konnte kaum seinen Blick von ihrem Gesicht wenden, schluckte schwer.

Sie lächelte, schaute ihn aus blauen Augen wach an, ihre Haare flatterten leicht im Wind, mit einer Hand strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, für das Foto.

Es war das einzige, das er mitgenommen hatte.
 

Ran.

Hör zu, ich…
 

Er seufzte, legte es zurück, schob die Schublade zu.

Seiner Dummheit war er sich durchaus bewusst; Ran war… tot, das wusste er. Und sich dieses Bild immer wieder vor Augen zu halten, tat ihm weder gut, noch änderte es etwas an dieser Tatsache.

Aber jedes Mal, wenn er sie ansah, dann fühlte er es – dieses unglaubliche, kaum in Worte zu fassende Gefühl, dass sie bei ihm wachrief.
 

Ich liebe dich.
 

Jedes Mal, wenn er es spürte, dieses Gefühl, Liebe… auch wenn es nur in Begleitung dieser kaum erträglichen Schuldgefühle kam, dann fühlte er sich etwas… menschlicher. Dann spürte er, dass er noch am Leben war, und bedauerte es manchmal.

Aber es hatte etwas Tröstliches an sich, zu wissen, dass er so noch fühlen konnte. Und dass diese Gefühle immer noch ihr galten.
 

Allerdings, und das musste er sich eingestehen, konnte er nicht mehr leugnen, dass genau das der Grund war, warum dieser Mord an dem Mädchen heute ihn so mitgenommen hatte. Dieses Mädchen heute war ihr so ähnlich gewesen. Sie hatte fast so ausgesehen wie Ran. Und das war er gewesen… der Auslöser.
 

Na wunderbar.
 

Shinichi verzog das Gesicht, zog sich dann an seiner Bettkante hoch, stellte fest, dass er fast noch vollständig angezogen war, und entledigte sich seiner Hose und der Socken, ehe er wieder unter die Decke kroch und mit wachen Augen in die Finsternis stierte.

Und das tat, was er immer tat, wenn er schlecht geträumt hatte.

Tat das, was immer half.

Arbeiten.

Die Erinnerungen waren es, weswegen er die Freizeit so fürchtete und sich in seine Arbeit flüchtete… denn wenn er Zeit zu denken hatte, wenn sein Hirn einen Freiflug machen konnte, dann wusste er, er landete immer in Tokio, immer an jenen Abend, an dem sie gestorben war, in seinen Armen.

Dann kehrte er zurück zu diesem Moment seligen Glücks, den sie geteilt hatten…

Die wenigen Minuten, in denen er sich zu sicher gefühlt und einmal… nein, zum zweiten Mal in seinem Leben nicht aufgepasst hatte.

Sie hatten gewartet, bis er verletzlich war, bis er seine Tarnung aufgegeben hatte, seine Wachsamkeit fahren hatte lassen, blind und taub geworden war für alles andere, berauscht von diesem irren Gefühl, zu wissen, dass sie ihn liebte, so wie er sie, und dass sie ihm verzieh…, als er sie endlich hatte haben dürfen, hatten sie sie ihm weggenommen. Für immer.

Sie hatten sie umgebracht und ihn am Leben gelassen.
 

Shinichi schluckte hart. Sie hatten genau gewusst, was sie ihm damit angetan hatten.

Es war eine Falle gewesen für sie, die sie ihn retten hatte wollen.

Er hätte es wissen müssen.

Allerdings, das ahnte er, hätte ihm all dieses Wissen nichts gebracht.
 

Du hättest mich nicht lieben dürfen, Ran, dann wärst du noch am Leben…
 

Und deshalb… nahm er nie Urlaub, fuhr auch am Wochenende ins Yard, grübelte er über seine Fälle oder Probleme anderer Leute, und wie immer funktionierte es auch heute… der Traum verflog fast vollständig, stattdessen übernahm sein analytischer Geist wieder die Führung.
 

Seine Gedanken drehten sich im Kreis, als er unwillkürlich die Bilder der beiden Fälle miteinander abglich.

Es war einfach die Ähnlichkeit, das war alles… sie sahen sich ähnlich.

Sonst nichts.

Das gleiche Alter, in etwa, die gleiche Frisur, die gleiche Figur, ein frappierend ähnliches Gesicht.

Aber das hier war ein gänzlich anderer Fall.

Ein schlimmes Verbrechen, ein grausamer Mord, aber dahinter steckte irgendein kranker Irrer… keinesfalls sie.
 

Ihr schwarzen Schatten… sagt, wo treibt ihr euch rum? Wo versteckt ihr euch?
 

Und wann kriecht ihr heraus aus euren dunklen Ecken, um euch endlich noch zu holen, was ihr so lange schon begehrt…

Ist es nicht langsam an der Zeit?

Wie lange wollt ihr mir denn noch zusehen?

Wird euch das nicht langweilig, langsam?
 

Ein zynisches Lächeln glitt über seine Lippen.

Es war bestimmt nur Zufall.

Diese Verletzungsart war nicht alltäglich, aber auch nicht ungewöhnlich; erstochen mit einer länglichen, einschneidigen, scharfen Waffe.

Außerdem war sie schon tot gewesen, als man sie fand, ihre Tötung hatte keinen weiteren Zweck… zumindest keinen, der ihn persönlich betraf.

Und dann war da noch die Inszenierung; denn Inszenierung konnte man das durchaus nennen.
 

Shinichi setzte sich auf seine Bettkante, legte eine Hand grübelnd an sein Kinn, stützte sich auf seinen Knien ab und starrte auf das hellbraune Laminat. Der Mond warf einen hellsilbernen Streifen durchs Fenster.
 

Ein junges Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig… etwa ein Meter siebzig groß, etwa sechzig Kilo schwer. Lange, dunkelbraune Haare, blaue Augen, asiatische Gesichtszüge. Ihr Name ist noch unbekannt, sie trug keine Papiere bei sich; solange heißt sie Jane Doe…
 

Jane Doe…
 

Warum musstest du sterben?

Und wo sind deine Kleider? Du kannst unmöglich den ganzen Tag schon dieses Seidenkleid getragen haben, es sieht aus, als wäre es handgenäht.

Ein Einzelstück, ein Unikat, wie auch das Bild von dir.

Ein schönes Bild, das muss man sagen, es war ein Könner, der das gemalt hat. Du hast das Kleid an, das du auch getragen hast, und ein Stiefmütterchen in den Fingern. Es muss ihm das Herz gebrochen haben, es zurückzulassen, noch nass, noch duftend nach Ölfarbe und Farbverdünner…

Er wusste doch, dass Tau es überziehen würde, Wasser in die Fasern der Leinwand dringt. Feuchtigkeit schadet Bildern, auch wenn sie die Farbe nicht abwäscht.
 

Es war ein echter Könner, der das getan hat.
 

Ein Könner, auf jedem Gebiet…

Ein meisterhafter Designer, ein hervorragender Schneider, ein Malerkönig, und ein perfekter Mörder, ein… teuflisches Genie.

Oder war es am Ende gar nicht nur eine Person?

War es eine Gruppe, ein diabolisches Duo? In der Regel sind Designer auch Schneider, aber solche Porträts malen sie nicht.

Also mindestens zwei, wenn entweder Designer und Mörder oder Maler und Mörder eine Person sind. Ansonsten drei, ein Trio.

Oder eine Einzelperson, der die anderen dazu benutzte, ihm seine Requisiten zu liefern?
 

Was treibt ihn an, ihn… oder sie?
 

Und warum wählte er dich?
 

Und wo… wo geschah es?

Wo ließest du dein Leben, Jane Doe...?
 

Und was ist mit der Blume? Warum hält sie auf dem Bild ein Stiefmütterchen…?
 

Er seufzte, versuchte, sein Hirn nun doch leer zu fegen, um wieder einzuschlafen, aber egal was er tat… jedes Mal sobald er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht vor sich, so deutlich, dass er fast glaubte, es anfassen zu können.
 

Der Morgen dämmerte bereits, das London Eye stand schon seit Stunden still, ehe er endlich wieder einschlief.

Tag 2 - Kapitel 3: Mr Sherlock Holmes

KAPITEL 3 – Tag 2: MR. SHERLOCK HOLMES
 

Genau genommen hätte er die Nacht wohl auch durchmachen können; er hätte sich am darauffolgenden Morgen kaum müder fühlen können, als ihn sein Wecker aus einem unruhigen, dämmrigen Schlaf riss. Shinichi fühlte sich wie gerädert, als er nach dem Gerät schlug, um den nervtötenden Ton abzustellen. Mühsam schälte er sich aus seiner Decke und stellte sich unter eine eiskalte Dusche. Eine Rasur später fand er sich am Küchentisch wieder, eine Tasse extra starken Kaffees in den Händen, und fragte sich, wie sein Körper es schaffte, diese Meisterleistung von Aufstehen, Duschen, Rasieren, Zähneputzen, Anziehen und Kaffeekochen in diesem Zustand des Wachkomas, in dem er sich regelmäßig um diese Uhrzeit befand, zu bewerkstelligen – und das ohne größere Schäden, von ein paar kleinen Unglücken beim Rasieren mal abgesehen.

Er fuhr sich gedankenverloren mit den Fingern über sein Kinn, das nach seinem Aftershave roch, stand dann auf, trat ans Balkonfenster, öffnete es und ging hinaus, ließ sich die Luft und den Lärm Londons um die Ohren wehen. Gedankenverloren nippte er an seinem Kaffee, betrachtete die Skyline, die sich ihm, wenn auch ein wenig verstellt von den Gebäuden der gegenüberliegenden Straßenseite, bot.
 

Ist das wirklich alles, was das Leben mir zu geben bereit war?

Tod und Verderben, Trauer und Verzweiflung?

Immer auf der Suche nach der Wahrheit zu sein… und nach dem Grund für all das.
 

Wo steckt ihr, verdammt nochmal?

Ihr strapaziert meine Geduld, so langsam.

Warum bringt ihr es nicht endlich zu Ende… wo ihr mir den Inhalt meines Lebens doch schon genommen habt… warum nehmt ihr mir dann nicht endlich dieses jämmerliche Leben auch noch?
 

Habt ihr mich etwa vergessen?

Oder findet ihr mich nicht?
 

Er atmete tief durch, verfolgte mit den Augen zwei Kinder in ihrer Schuluniform und großen Schultaschen auf dem Rücken, die mit ihren Tretrollern auf dem Gehsteig entlangeilten, wohl auf dem Weg zur Schule. Und beneidete sie fast; was war das Leben doch sorglos als Kind. Er wusste es. Er hatte es noch einmal erleben dürfen.
 

In irgendeinem früheren Leben muss ich wohl grandios was verbockt haben, ich glaube kaum, dass meine Verfehlungen in diesem Leben reichen, um derart hart bestraft zu werden… so unermesslich hart, dass von dieser Strafe nicht nur ich etwas habe.
 

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen, als er den Kaffee auf Ex leerte, die Tasse in der Küche ins Spülbecken stellte und sich seine Aktentasche griff. Auf dem Weg nach unten traf er auf Mrs. Hudson, seine Landlady, die gerade das Treppenhaus feucht wischte. Shinichi stoppte abrupt, als er das nass glänzende, lackierte Holz bemerkte, drückte sich ans Geländer und stieg behutsam und darauf bedacht, so wenig Spuren auf den nassen Stufen wie möglich zu hinterlassen, die Treppe hinab.

„Good morning, Mrs. Hudson! So busy at this time of the day?“

“As you are yourself, Mr. Holmes.”

Shinichi blieb stehen, biss sich auf die Lippen, sah die alte Dame forschend an.

„You know, I don’t like that very much. I’d rather prefer you’d call me Mr. Kudô.”

Die alte Frau lachte ein leise knisterndes Lachen als Antwort auf seine Bitte, ihn bei seinem wirklichen Namen zu nennen. Er hatte oft versucht, ihr Alter zu schätzen, hatte es jedoch recht bald aufgegeben; seine Beobachtungsgabe versagte bei ihr. Einerseits schien sie im Herbst ihres Lebens definitiv angekommen, vor allem äußerlich; ihre Haare waren schlohweiß, ihre blauen Augen wässrig und faltenumsäumt, ihre Haut von der alterstypischen, fast pergamentenem Beschaffenheit, ihre Hände knorrig wie ein alter Ast eines noch älteren Baums und übersät von Altersflecken. Andererseits schien ihr schier nie die Puste auszugehen, wenn sie, wie gerade, das Treppenhaus putzte, oder wenn sie sich mit ihrem Stock die Treppen hochkämpfte, um ihm eine Tasse Tee zu bringen, oder ein Stück Kuchen - Gesten, die er zwar reizend fand, deren Bedeutung er aber immer noch nicht kannte.
 

Vielleicht ist sie einfach nur ein viel zu großer Sherlock Holmes Fan und sieht in mir seine Inkarnation. Wie sie es wohl fast alle tun…
 

Er lächelte bitter.
 

Nun, solange sie mir keinen Dr. Watson einquartiert, soll’s mir Recht sein.
 

Zudem war ihr Verstand scharf wie die japanischen Messer, die der Händler um die Ecke in seinem Laden zur Zubereitung von Sushi verkaufte. Aus ihren Augen, so faltengerändert und wässrig sie auch sein mochten, blitzte ein heller, wachsamer Geist.
 

Shinichi kratzte sich am Hinterkopf.

Irgendetwas war ihm an ihr schon immer seltsam vorgekommen, irgendwie anders; er konnte nur nicht festmachen, was, so sehr er es auch versuchte, seit er sie damals zum ersten Mal getroffen hatte – damals, als er vor ihrer Tür aufgeschlagen war, in der Hand die Zeitung, in der sie in einer Anzeige eine Wohnung offerierte.

Das Appartement in dem vierstöckigen Gebäude, das er bewohnte, war das einzig bezahlbare gewesen, als er vor fünf Jahren eine Bleibe gesucht hatte; seltsamerweise gelegen in einer relativ guten Gegend, Marylebone im Bezirk Westminster, in einem schmalen Haus, das sich zwischen eine Reinigungsfirma und eine Sainsbury-Filiale quetschte.

Noch seltsamerweise lag dieses Haus in der Baker Street.
 

Seltsame Zufälle hält das Leben manchmal bereit.

Wenn man an Zufall glauben mag, heißt das.
 

„But that’s how everyone calls you, Detective Superintendent.”

Ihre leicht heisere, dennoch angenehme Stimme klang an sein Ohr und riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte den Kopf, starrte auf den Boden, wo ihm auf dem steinernen Treppenabsatz, auf dem er stand, sein eigenes Ich entgegenblickte, das genauso schnell verblasste, wie der dünne Wasserfilm trocknete.

Es hatte so gar nichts mit dem Romandetektiven gemein, mit dessen Namen man ihn hier schmückte. Blass, einen Tick zu hager, jung und japanisch, vor allem. Gut, Hager war Sherlock Holmes auch gewesen – allerdings sicher nicht japanisch.

Einzig der scharfe Blick aus seinen Augen mochte sie verbinden – und ihre Arbeit.

Und seine Arbeit war es, die zählte.

Und nur seine Arbeit allein.
 

„That is what you are.“
 

Shinichi verdrehte die Augen, lächelte dann etwas hilflos.

„Well, let’s have a look if these big shoes are really fitting my feet.“
 

Er schüttelte den Kopf, seufzte.

„Anything I could pick up for you on my way home?“

Mrs Hudson lächelte ihn erfreut an.

„I’d hoped, you’d ask, darling. A parcel has arrived for me, if it would be possible…”

“I’ll get it from the post office for you.”

Er nickte ihr zu und nahm den Abholschein entgegen, den sie aus ihrer Kittelschürze zerrte. Diese Sitte hatte sich irgendwann eingebürgert; nachdem sie sich nie etwas für ihre Kuchen und Kekse bezahlen lassen wollte, machte er Besorgungen für sie, die auf seinem Weg lagen.

„I’m going to make scones today. Can I expect you for a late cup of tea?“

Shinichi zog ein bedauerndes Gesicht.

„I cannot promise a visit, I’m sorry, Mrs Hudson. But if possible, I’ll pop in, as I can’t miss your scones, can I?“

„I won’t recommend that.“

Sie lachte erneut. Shinichi hob die Hand zum Gruß und steckte den Abholschein ein, eilte die Treppe hinab, mit den Gedanken bereits halb an seinem Fall arbeitend, als er nach seinem Autoschlüssel kramte, und bemerkte nicht, dass ihm die Augen seiner Vermieterin noch bis zur Haustür folgten.
 

Er sperrte sein Auto auf, warf seine Aktentasche einmal quer durch den Wagen auf den Beifahrersitz, nahm selbst Platz und schaute schon beim Anlassen nach einer Lücke im dichten Verkehr – er fand eine und reihte sich in die Londoner Rushhour ein. Geduldig fädelte er das Fahrzeug durch die Automassen in Richtung New Scotland Yard; er war ein ruhiger und routinierter Autofahrer, der Linksverkehr war ihm aus Tokio bekannt – aber dennoch war er immer noch froh, wenn ohne größere Zwischenfälle oder Staus das sich drehende, dreiseitige Schild von New Scotland Yard am Eingang des Departments der Metropolitan Police am Broadway in Sicht kam. Früher hatte er immer die U-Bahn genutzt, deren Haltestelle sich gegenüber befand; mit seiner neuen Stellung kam das Dienstfahrzeug, um ihm mehr Mobilität zu gewährleisten. Ein Luxus, den er trotz des höllischen Londoner Stadtverkehrs zu schätzen wusste. Er stellte das Auto ab, griff nach seiner Tasche und stieg aus, ließ seine Augen wie fast jeden Tag über die Glas- und Stahlfassade des Baus schweifen, seufzte.
 

Sonderlich ästhetisch war der Bau nicht; ein wenig erinnerte ihn der Glas-Stahlbeton-Skelettbau mit den großen Fensterfassaden an die Tokioter Polizeizentrale. Er streckte einmal kurz die Schultern, zog sein Jackett zurecht und zückte, während er auf den Eingang zuhielt, seine Marke für den Pförtner, der ihn wie jeden Tag freundlich grüßte.
 

Im Gebäude kam ihm zu seiner Überraschung als erstes Dr. McCoy entgegen. Shinichi war gerade dabei gewesen, sich die zweite Tasse Kaffee auf ansonsten nüchternen Magen einzuflößen, die er sich gerade aus der Kantine auf dem Weg zu seinem Büro geholt hatte, als der rüstige, kurz vor seiner Pensionierung stehende Pathologe ihm auf die Schulter klopfte, und ihn so dazu brachte, sich umzudrehen.

Shinichi zog die Augenbrauen fragend hoch, schlürfte leise am brühend heißen Kaffee.

„My dear, I don’t know anyone else who has that gift to ask questions so smartly without speaking out a single word.“ Der Pathologe grinste, wobei sich sein breiter Schnauzer noch mehr in die Breite zog, und ihm zusammen mit seinen buschigen, weißgrauen Augenbrauen den Anblick eines Walrosses gab.

Jedes Mal, wenn Shinichi den alten Pathologen so grinsen sah, fühlte er sich stark an Professor Agasa erinnert.

Und jedes Mal, wenn er an den alten Forscher dachte, der für ihn wie ein Großvater gewesen war, hatte er das unbestimmte Gefühl, in seinem eigentlich leeren Magen mindestens ein Kilo Kieselsteine liegen zu haben.
 

Ach, Professorchen.

Ich will nicht wissen, was sie von mir dachten, als ich einfach abgehauen bin.

Und sie allein gelassen habe… Shiho allein gelassen habe…

Euch alle allein gelassen hab, ohne ein Wort der Erklärung – oder des Abschieds.

Gerade Ihnen gegenüber… wo ich Ihnen doch so viel verdanke.
 

Er holte Luft, dann rang er sich ein höfliches Lächeln ab.

„Please excuse my behaviour doctor, this was impolite of me. I very gladly use some more words to ask my question again – any news that are new to me?“

Der alte Mann grinste noch breiter ob der humorvollen Antwort seines Kollegen, legte ihm dann seine Hand auf die Schulter.

„Well, follow me, my dear friend. You won’t believe my words, if you don’t see it for yourself.“

Ein bitteres Lächeln huschte über Shinichis Lippen, als er der Aufforderung seines Kollegen Folge leistete und ihm durch die Gänge und Treppen hinunter in das Refugium der Forensik folgte.
 

Sie haben ja keine Ahnung, was ich zu glauben bereit bin.
 

Wenige Minuten später waren sie in der Pathologie angekommen; wie immer strömte der Raum eine kühle Sterilität aus; jede einzige der weißen Fliesen schien sie abzustrahlen, vielfach reflektiert von den Wänden. Chrom und Edelstahl blitzte auf, als er den Raum mit langen Schritten durchmaß, dicht hinter McCoy; seine Augen glitten über die Wand, die ihm gegenüberlag, die Wand mit den vielen Schubladen.

Sie jagte ihm immer wieder einen Schauer über den Rücken; er kannte diese Räume, sie sahen überall auf der Welt gleich aus.
 

Hier ruht ihr…

Ihr, die auf Aufklärung wartet. Auf Rache. Auf Antworten… auf Gründe und Motive…

Oder Gerechtigkeit.

Ihr erzählt uns, was ihr erleben musstet und nicht überleben konntet… so viele grausaume Geschichten.

Und zum Dank dafür liegt ihr hier; allein, und kalt, in der Dunkelheit, gestapelt und aufgeräumt auf engstem Raum.
 

Kein Ort für die Lebenden… aber für die Toten eigentlich auch nicht.
 

Shinichi fröstelte kurz; allerdings war das Unbehagen, das hier empfand, nichts im Vergleich zu dem Entsetzen, das ihn packte, als sie den eigentlichen Autopsiebereich betraten.
 

Er stolperte, als er merklich aus dem Tritt kam, als er sie erblickte, ließ seine Tasse fast fallen. Er hatte versucht, während des Weges nach hier unten, seine Nerven zu stärken und sich Mut zuzureden, oder auch Vernunft, wie auch immer man es nennen mochte.

Jetzt, da er sie auf dem Tisch liegen sah, ihre Körpermitte von der Brust bis zur Mitte der Oberschenkel sorgsam mit einem weißen Tuch bedeckt, konnte er kaum den Film stoppen, der ohne Werbung und Vorspann in seinem Kopfkino anlaufen wollte.

Sie sah aus, als würde sie schlafen.
 

Und vor fünf Jahren sahst du auf einem ganz ähnlichen Tisch wie diesem hier sicher ganz ähnlich aus.
 

Shinichi stellte mit ungeheuer gezwungener Geste seine Tasse ab, als der Kaffee darin zu schwappen begann, stopfte seine zitternden Hände in seine Jackentaschen, biss die Kiefer so fest zusammen, wie er konnte, um den Anfall von Schüttelfrost, der ihn gepackt hatte, zu verbergen, einzudämmen, irgendwie seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
 

Guter Gott, reiß dich zusammen, Kudô!

Das ist sie nicht!

Kein Grund, dich so aufzuführen!
 

Dennoch tanzten Kreise vor seinen Augen, als er daran dachte, dass man sie damals wohl auch obduziert hatte.

Mit dem Gedanken hatte er sich bisher nie befasst, doch als er das junge Mädchen, das ihr so unglaublich ähnlich sah, vor sich liegen sah, drängte sich ihm dieser Gedanke, dieses Bild, brutal auf.
 

Elfenbeinerne Haut, ebenholzschwarzes Haar, feine Gesichtszüge… bläulich-weiße Lippen.

Er unterdrückte einen Würgereiz, hob seine Kaffeetasse schnell an die Lippen und trank sie auf Ex aus. McCoy, dem die ruckartige Bewegung seines Mitstreiters nicht entgangen war, warf ihm einen fragenden Blick zu, der an seinem Gesicht haften blieb. Shinichi bemerkte es, setzte ein entschuldigendes Lächeln auf, das ihm nicht gelang. Eigentlich konnte er dem Mann auch genauso gut reinen Wein einschenken. Wenn jemand das verstand, dann Dr. McCoy.
 

„She looks… very similar to a friend of mine.“

Bedauern zeichnete sich auf dem Gesicht des alten Pathologen ab, legte es in tiefe Furchen, die ein intensiv gelebtes Leben in seiner Haut verewigt hatte, und die seinem Mienenspiel noch mehr Ausdruck verliehen.

„I’m sorry to hear that… but it must be relieving to see it’s not her, isn’t it…?“

Shinichi sparte sich die Aufklärung. Und anscheinend erkannte auch sein Gegenüber, dass die Tatsache, dass es sich bei ihrem Opfer nicht die eben benannte ähnlich aussehende Freundin handelte, keinesfalls erleichternd für seinen jungen Kollegen war, denn kurz nachdem der Forensiker seinen Satz abgebrochen hatte, spürte er einen leichten Händedruck auf seiner Schulter. Shinichi versuchte, ein gefasstes Gesicht aufzusetzen.
 

Himmel nochmal, Kudô, sie sieht ihr ähnlich, mehr nicht. Und warum zum Henker interessiert es dich überhaupt, sie ist schon lange tot. Du warst dabei.

Sie ist in deinen Armen gestorben.

Und nun reiß dich zusammen…

Reiß dich zusammen!
 

„It’s been five years since then. I should have dealt with it by now. I really don’t want to bother you with my troubles… so, now what’s that urgent thing you wanted to show me?“

„Don’t pretend that this isn’t affecting you. It does. I can see that.“

McCoy ignorierte seine Frage komplett, als er um den Tisch herumtrat.

„The way you have just reacted, the way you look like now, tells me, that it wasn’t anybody you have lost… and as it seems, she, too, has fallen victim to a crime. And as I have respect for you and for your feelings, I’ll stop talking about that matter right now.“

Er seufzte, Mitgefühl klang in seiner Stimme.

„Do tell when it’s getting unbearable for you.“

Shinichi schüttelte stumm den Kopf, nahm dankbar das Taschentuch entgegen, dass der Pathologe ihm anbot und wischte sich die Stirn ab, auf der sich ein dünner Film kalten Schweißes gebildet hatte.

„Please, continue, doctor.“
 

McCoy nickte stumm, griff nach dem oberen Ende des Tuchs und schlug es zurück, entblößte damit den nackten Oberkörper der jungen Frau. Shinichi griff gedankenverloren nach dem Paar OP-Handschuhen, die McCoy im reichte, streifte sie sich über und trat näher. Fast unsichtbar erschien die Wunde an der Seite des Mädchens, die ihr trotz ihrer Unscheinbarkeit den Tod gebracht hatte; der Einstichkanal war schmal, die Ränder glatt, ein kleiner Fleck auf ansonsten makelloser Haut. Die Haut des Mädchens schien weiß wie Porzellan und fast ebenso durchsichtig; dennoch schimmerten kaum Blutgefäße durch, was ihr noch mehr den Eindruck einer Puppe verlieh, zusammen mit ihren dichten, schwarzen Wimpern und den langen, fast schwarzen, glänzenden Haaren, die ihr Gesicht umrahmten. Sie war fast völlig ausgeblutet.

„Almost completely run dry of blood.“, murmelte er leise.

McCoy nickte.

„That’s correct. She was stabbed by a long, thin item, with one sharp and one stump side. The way of the weapon begins here…”, er tippte auf die Wunde und zeichnete in der Luft mit dem behandschuhten Finger eine Linie über ihre Brust, um den Weg der Tatwaffe nachzuverfolgen, „… until here, right into her heart. She bled to death very fast, obviously, and this is curious enough, considering that this is the only opening where the blood could emerge. The murderer must have…“

Shinichi hob die Hand.

„Thanks. I can imagine the rest...“

McCoy warf ihm einen musternden Blick zu, sagte aber nichts. Er verlagerte unruhig sein Gewicht, ließ seinen Blick über ihr Gesicht schweifen, schaute dann an die Wand, wo das Kleid hing.

„As the dress does not show any blood stains and no cut, the murderer must have get her dressed after his deed. From there on he has carried her into the hide park and laid her down at the banks of the Serpentine Sea, under that very tree where the walker and his little Yorkshire terrier have found her yesterday. This, in conclusion, means, that…“

„… the place she lost her life is actually somewhere else.“, murmelte Shinichi den Satz zu Ende, ohne dabei aufzublicken. Das hatten sie schon vermutet, als sie den Fundort untersucht hatten – getötet hatte man sie woanders. Seine Augen ruhten immer noch auf dem Gesicht des Opfers.

McCoy hingegen hatte in seine Routine gefunden, nickte bestätigend.

„That’s it. Jonathan has already examined the dress, but he has not found any helpful traces or hints so far; the same applies to the bits of dust and grime under her fingernails and clinging in her hair. The dress is tailored neatly to fit her shape, so it is no mass production, bought in a shop. Besides my first estimation of the time of her death is still consisting. She was killed about one and a half days ago. This subsequently means, the murderer has killed her at one place, has made her make-up, got her hair done and got her dressed, to pick her up afterwards and put her down on another place, where she should be found. He did it secretly, without anyone’s notice, a fact, that’s a mystery to my eyes, as the Hyde Park is such a busy place, frequently visited by lovers at any time of the day – or of the night…”

Shinichi lächelte traurig. Er konnte sich, im Gegensatz zum alternden Forensiker, sehr gut vorstellen, wie der Täter sein totes Opfer unauffällig an diesen Platz unter dem Baum am See gebracht haben konnte.

„I agree with you in any point. Except the last.“

„Huh? This you will have to explain to me, Sherlock, as I really think, it’s a masterpiece to carry a dead girl between kissing pairs to the shore of that lake…“

Der Forensiker schaute ihn fragend an.

Die Trauer im Gesicht des jungen Superintendents intensivierte sich, das Lächeln jedoch blieb wie festgenagelt auf seinen Lippen.
 

„A young couple, at nighttime, he, a young, good-looking man in his best suit, is carrying her, the love of his life, in his arm to have a rest at the shores of the lake, as her tender feet are aching after the visit of a concert in the Albert Hall and the following way home in this breathtaking shoes with this stunning, though absurd high heels…“

McCoy starrte ihn an, Überraschung blitzte in seinen Augen.

„Of course… he pretended to carry his girl, on their way to a romantic tête à tête at the lake…“

Shinichi nickte ernst; jeglicher Anflug eines Lächelns war aus seinem Gesicht verschwunden.
 

„Besides, the crime scene investigation has not found any traces that would lead to a car, a bike or any cart of any sort… but some remarkable deep traces of a man’s shoe in the grass of the bank. So no greenhorn, and no hasty action. Great news. Anything else??“

McCoy hob ein Glas an, in dem eine braun-gelbe Brühe schwappte.

„The contents of her stomach – Fish and Chips, some fruit, coffee. No poison, no medicaments. The tox-screen was more difficult…“

Ein schiefes Grinsen kroch auf McCoys Lippen, das Shinichi mühsam erwiderte.

„… as we have found almost no blood. But of what we found, we can say, that it does not show any abnormalitys or irregularities.“

Shinichi nickte stumm. Dann streifte er sich die Handschuhe ab.

„Any new facts about the dress?“

„Wild side, coloured, a unique tailor piece. I have set Colleen on that trail, she has researched any tailors and designers last night, but not found any usable facts yet. But she says, that the seams point out the piece as a handmade dress, as well as the design and the way the fabric was coloured do. It’s handmade. The work of a couture tailor.“
 

Shinich nickte. Ja, dass das das Werk eines Modeschneiders war, hatte er sich auch schon gedacht.
 

„Can I have a piece of the fabric when Colleen is done with it?“

„Sure.“

McCoy nickte.

„What are you thinking of?“

Shinichi stopfte sich seine Hände in die Hosentaschen, während McCoy die junge Frau wieder züchtig bedeckte. Er wollte Jenna auf die Stoffprobe ansetzen – sie sollte die Läden abklappern, vielleicht fand man so ja den Käufer des Stoffs – der dann vielleicht sogar ihr Täter war, oder sie zumindest zu ihm führen könnte. Er schaute auf, seufzte leise.

„I want to send Jenna browsing the fabric dealers. Either we are lucky and find the tailor or tailoress directly, or at least the shop that sold him or her his material. He or she must have bought that wild silk somewhere, and it’s more probable, he or she did so in a local shop than in the internet.“

Er seufzte. „The last option would make work much more complicated, but you don’t buy your silk usually at your trusted dealer’s store… at least you Brits do it that way.”
 

Shinichi grinste kurz, drehte sich dann ein Stück weiter, wo das Bild an einem Haken hing.

„What about our Rembrandt-to-be? Do we know something about that painting?“

„Unfortunately we know even less about this than about the dress. It was painted with oil colours which are not yet dry. It’s a common brand, not exclusive but no cheap colour – used by many people. The style does not show signs of a renowned artist, so it’s quite… priceless on the arts market…“

Shinichi lachte leise, McCoy stimmte ein.

„No, honestly, all joking aside – we can’t make much of that picture. Our experts are comparing it to the style of the registered artists in London, but that’s not only incredibly elaborate, as we have no sample of every artist, but have to check their websites and catalogues of their exhibitions; no, apart of that, there is an incredibly high dark figure, to begin with every painter working without licence as a portrait painter on a bridge or place, up to the students of the UAL.“

Shinichi hob fragend eine Augenbraue.

„University of Arts London. It’s located in the neighborhood of the Tate Britain.“

„Well, that fits.“, murmelte Shinichi, wandte sich wieder ihrem Opfer zu.

„And last, but not least – do we have already a proper name for Jane Doe?“

„Besides the fact that she seems to be of the same origin as you are, Japanese, that is, which might have occurred to your mind as well, nothing. The comparison of her fingerprints with our database samples is still running, though the computers work fast – they have not found anything yet. And we only will find something, if she’s registered at all, which means either her fingerprints are stored in her passport or she has become criminal in one way or another. We don’t know why she was here at all; as a tourist, a student in a semester abroad, a foreign worker… illegal immigrated or a born Britishwoman. Face recognition might take even more time, you know that. So no. Unfortunately we have no result yet.“

Shinichi seufzte.

„And this means, no address, no working place… no relatives, friends or colleagues we might visit. The investigation of the dress and the colour is everything that remains… and, by any chance, a missing person report has been filed.“

Er strich sich über die Haare, straffte dann die Schultern. Soweit er wusste, war noch keine Vermisstenanzeige eingegangen.

„Thanks, doctor.“
 

Damit drehte er sich um, verließ die Pathologie und schaffte es nicht, wie erhofft, dieses beklemmende Gefühl loszuwerden – und diesen Gedanken an sie.
 

Er versuchte ihn abzuschütteln, als er in den Aufzug stieg und nach oben fuhr. Er musste seine Partnerin finden, nochmal an den Tatort fahren und versuchen, herauszufinden, woher die Seide stammte, wenn sie schon sonst nichts an der Hand hatten.
 

Gerade, als er ausstieg und sein Handy zücken wollte, sah er sie auch schon den Gang entlang hetzten, wobei sie nicht sehr elegant aussah - Detective Sergeant Jenna Watson. Shinichi lehnte sich gegen die Wand, steckte sein Handy wieder ein und wartete. Er traute sich immer noch wetten, dass man sie ihm nur aufgrund ihres Namens zugewiesen hatte; er hatte seinen Spitznamen aufgrund seines Faibles für Britanniens größten, wenn auch fiktiven Detektiven und seiner ähnlichen Vorgehensweise wie Sherlock Holmes ohnehin innerhalb des ersten halben Jahres hier weggehabt. Seit diesem Jahr hatte Holmes nun auch seinen Watson.

Er seufzte; ihm war es einerlei. Sie war fix im Kopf und sich für nichts zu schade, zuverlässig und loyal, und entsprechend war er mit der Wahl zufrieden gewesen.

Nun hatte sie ihn fast erreicht, auf ihrem Gesicht der pure Stress – der sich in ihrem Fall in zahlreichen roten Flecken auf der Haut der jungen Frau ausdrückte. Sie war ohnehin noch sehr jung, so wie er – nur war er auf der Karriereleiter schon ungleich weiter hoch geklettert als sie. Allerdings schien sie das nicht zu interessieren. Sie war seit diesem Jahr im Yard, und darüber mehr als glücklich. Er hatte sie seinerseits recht schnell zu schätzen gelernt - ihr Auftreten war zwar manchmal etwas unsicher, ihre Stimme eher leise und zögerlich, auch wenn sie oft gute Beiträge machte. Ganz generell war sie ein unscheinbarer Typ, keine Schönheit mit ihrer etwas pickeligen Haut, den braunen Augen, den kurzgeschnittenen rotbraunen Haaren, die sich in krausen Locken um ihren Kopf ballten und ihr an manchen Tagen das Aussehen eines Stromschlagopfers gaben. Sie war nie geschminkt und trug meistens wenig farbenfrohe Kleidung, klassische Schnitte, zweckdienlich und robust – aber der Sache immer angemessen.

Shinichi seufzte, schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab, als sie gerade, nach Atem ringend, zu einer Erklärung ansetzen wollte.

„Jenna, what’s up, that keeps you running this early in the day?“

“AC Montgomery wants to have a word with you, Superintendent.”

Sie blieb stehen, massierte sich die Seite – offenbar hatte sie Seitenstechen.

„Did he tell you why he wants to see me?”

“No.”

Sie schüttelte den Kopf.

„But it could be possibly the press. Somehow some information has leaked out.”

Sie zog eine Kopie des Reporter, einer renommierten Londoner Klatschzeitung, aus ihrer Tasche.
 

YOUNG GIRL MURDERED – NEW CASE FOR SHERLOCK HOLMES?
 

Shinichi hob die Hand an die Stirn, stöhnte auf.

„Bloody hell. Who on earth has…“

„No idea, Sir.“

Jenna zuckte mit den Achseln.

„Probably…“

Shinichi seufzte, schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab, als sie gerade, nach Atem ringend, zu einer Erklärung ansetzen wollte.

„Let me make a guess, Jenna. The Assistant commissioner has likely read the Reporter as well.”
 

„Jap. The press department resembles a flock of agitated hens, to be very clear.“

Jenna atmete schnaufend aus, hielt sich ihre Seite, in der es schmerzhaft pochte.

„Stiches in your side?“

„Jup.“

Ein genervter Gesichtsausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

„What I wanted to say was, there are tons of questions overflowing us, they want you to give a statement, in the internet…“

Shinichi verdrehte die Augen.

„The curse of the social media. Once put in the world wide web, any news spread like wildfire.“

Die junge Polizeibeamtin nickte scharf mit den Kopf; dabei schwang ihr kurzer Bobhaarschnitt mit.

„Unfortunately the PR department has no solution for that problem yet. They are working on a statement for you to provide the press with. You are to calm down the masses. To scare people and paint a colourful picture of a new killer within their ranks would be…“

„… diplomatically expressed, suboptimal.“
 

Scheiße, will man‘s mit der Diplomatie nicht so genau nehmen.
 

„Well then, Sergeant Watson.“

Er lächelte kurz.
 

„Fine. I’ll talk to the AC; and you will speak to Colleen, let her give you the report. Dig into the dress issue, inform yourself about everything, make a list of every tailor shop, tailor school and fabric stores, which you will visit afterwards on your search of the person, who has crafted this dress out of that piece of wild silk.“

Damit seilte er sich ab, ließ die etwas verdutzte Watson hinter sich und eilte zum Büro des Chefs der Abteilung, machte sich innerlich auf eine Standpauke gefasst, die sich gewaschen haben würde. Auch wenn er genau genommen nichts dafür konnte, dass die Leute mit ihren Smartphones und Tablets die Arbeit von Reportern übernahmen.
 

YOUNG GIRL MURDERED – NEW CASE FOR SHERLOCK HOLMES?
 

Die Worte tanzten vor seinen Augen.
 

Shinichi seufzte in seine Kaffeetasse, versetzte damit die letzte Pfütze des kalten Kaffees in konzentrische Wellen und knirschte unwillig mit den Zähnen, als er den Artikel im Gehen überflog. Offenbar hatten ein paar fixe Netzwerker unter den Journalisten Englands die Blogs im Internet im Auge behalten und nichts anbrennen lassen. Er ärgerte sich heute noch mehr als gestern – diese Art von Mord behandelte man mit Vorsicht, der Öffentlichkeit gegenüber, und jetzt wusste es nicht nur der Teil im Internet, der die entsprechenden Seiten anklickte, nein, jetzt wusste es GANZ London. Ein Szenario, dass fast schon an einen Ritualmord erinnerte, behielt man fürs Erste für sich und machte die Pferde nicht scheu.

Ganz genau das war aber passiert.

Der Assistant commissioner würde begeistert sein.
 

Und das bei meinem ersten Fall, wie wunderbar.
 

Unwirsch leerte er seine Kaffeetasse aus, stellte sie in der Spüle der Kaffeeküche ab, zu der er einen kurzen Abstecher auf dem Weg ins Büro Montgomerys gemacht hatte, und ließ Wasser hineinlaufen.
 

Auf in den Kampf.
 

Als er sich endlich erfolgreich durch das immer voller werdende Gebäude gewühlt hatte und die Chefetage erreicht hatte, ahnte er bereits, wie kritisch die Sache wirklich war.

Die Gänge waren ziemlich voll, und es liefen hektisch Leute umher.

Er wusste genau, was das hieß.
 

Jillian McDermitt, die Chefsekretärin, trat ihm vor der Bürotür in den Weg. Sie warf ihm einen mitfühlenden Blick zu.

„Let me make a guess, Jillian. He’s hot like boiling water.“

Er seufzte, lächelte matt.

„That’s a picture which comes very close to the situation, yes. I think, one might say that he is… not in the least amused. Do you have a hint of who might have leaked information…?”

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Regrettably, no.“

Dann straffte er seine Schultern.

„I’ve known for some minutes that it is already in the press at all. But well… let’s make the best of things we can’t make undone.“

Damit klopfte er kurz an die Tür, drückte dann die Klinke hinunter, ohne auf ein „Herein“ gewartet zu haben.

AC Jackson Montgomery hielt sich gerade ein Telefon ans Ohr, als sein Mitarbeiter den Raum betrat. Shinichi war es egal; er schloss die Tür hinter sich, nahm im Sessel gegenüber Platz und wartete.

„Yes. No. Thanks.“

Der Assistant commissioner schnaufte.

„Thank you a lot, yes. No, our press department…“

Der Mann verdrehte die Augen.

„You will get your information, as soon as we are willing to give you information. Have I expressed myself clearly enough, now? Fine.“

Seine Stimme hatte an Schärfe zugenommen, als er endlich mit Gewalt auf das Knöpfchen mit dem roten Hörer drückte, einen missvergnügten Ausdruck auf dem Gesicht.

„What glorious times, as one had the chance to just throw that receiver back on its telephone hook!“, brach es aus ihm hervor.

„At least one could blast those bloodhounds out of the telephone line – and let off some steam, anyway…!“

Er starrte seinem Superintendent ungehalten ins Gesicht. Shinichi grinste leicht. Er hatte das Bild seines Chefs deutlich vor Augen, der zornentbrannt einen Telefonhörer zurück auf die Gabel knallte.

„Better times, I guess. And of course, there’s nothing more satisfying than thumping a receiver back onto its cradle, an experience, that the simple pressing of a thumb on a button cannot compensate. But I’m not here to learn about that, am I?”

Der junge Detektiv schmunzelte.

„No, you’re not.“

Der assistant commissioner schnaufte – sein Zorn verflog ein wenig.

Dann zog er eine Zeitung hervor, legte sie auf den Tisch. Shinichi konnte in ihr sofort den heutigen Reporter erkennen. Er zog die Augenbrauen hoch, seufzte leise.

„Taking in your reaction, I think I am right assuming that you have already seen this.“

Shinichi nickte langsam, lehnte sich zurück.

„Just a couple of minutes ago. And I have to tell you, though this might not exactly cheer you up, that we have hit the time of the internet, the age of communication at its very core. I have not said a word about that case yet, and I have advised everybody in my team to stay quiet as well, until we know more – so what there is to read in that paper is no secured information given out to the public by the police.”

“A wise decision.”

„But there’s nothing more to do, though this will not make us friends, as the press will run in our doors, and it will ask questions. And as long as we cannot provide them with answers, this situation will, as it always does, grow more and more unpleasant for Scotland Yard.”

„Which is why you have to find that answers as soon as possible, Superintendent.“

Montgomery sah seinen Mitarbeiter ernst an. Shinichi war der Schwenk von seinem zuvor eher familiären Tonfall zum förmlichen „Superintendent“ nicht entgangen.

„I know that. And you may well believe, I am…“

„…you’re on track. I know that. And I very well know that you are the best man for the job.“

Montgomery seufzte unwirsch.

„It’s simply uncomfortable and completely useless, to have the attention of the public at this state of the investigation. So, for heaven’s sake, take care, that no more…“

“Got it.“

Jackson Montgomery schüttelte unwillig den Kopf.

„You know what reputation you have to lose,… Sherlock.“

Shinichi fuhr zusammen.

„I never wanted…“

„… to be named after him, I know. But you must confess, that whether you wanted it or not, your success and your methods speak their own language. And you are in his city, you live and work here, you can’t escape the constant comparison with Londons most known, trusted and loved detective. And whoever has played little mouse yesterday and has gathered and posted that information, as you have found the corpse, has seen that you are leading the investigation. London has an eye upon you. And upon the Yard, therefore. It is douptless a gift, to have a popular figure like you, Sherlock, but I don’t have to tell you, that your success is not just your success – and as a logical consequence your mistakes are not your mistakes alone. If you fail, London doubts about us all.“
 

Damit stand er auf.

„So?“

Shinichi erhob sich ebenfalls. In seinem Magen hatte sich ein flaues Gefühl ausgebreitet; anmerken ließ er sich das nicht.

„You are not like any other police officer here, Sherlock. This you should keep in mind.“

Montgomery griff nach dem erneut klingelnden Telefon.

„Go now, do your work. The press department will get into touch with you as soon as they have the press conference set, presumably tomorrow. I would suggest you have gathered information to give to them by then.“
 

Er hob ab, wandte sich ab und bedeutete Shinichi so, dass er sich entfernen konnte. Der junge Detektiv verließ das Büro, sank draußen gegen die Wand. So extrem war er sich seiner Rolle in diesem Verein noch nie bewusst geworden. Und er musste einsehen, dass es nun doch etwas völlig anderes war, der brillante Schülerdetektiv und Sherlock Holmes der Heisei-Ära zu sein, aber frei, ungebunden und eigentlich noch ein Kind, als hier in London im Rang eines Superintendents diesen Ruf weg zu haben.
 

Es stimmte, momentan war er das Gesicht des Yards, ob er es wollte oder nicht.

Ihm gefiel der Gedanke ganz und gar nicht. Und ihm wurde bewusst, seine Karriere hing davon ab, wie schnell dieser Fall gelöst war.
 

Er zermarterte sich den Kopf darüber, als er seinen Bericht über den Fall schrieb. Und die Gedanken verließen ihn auch nicht, als er ins Labor ging, um sich das Bild anzusehen, das man neben der Leiche gefunden hatte.

Er war sich nicht sicher, vielleicht sah er nur Gespenster, und das einfach ein dummer Zufall – er war hier in England, ausländisch aussehende Mädchen waren nichts Ungewöhnliches.

Ein irrer Mörder, der es auf junge Mädchen abgesehen hatte, leider auch nicht.
 

Er lächelte bitter. Spätestens ab morgen würde der Kerl massenhaft Aufmerksamkeit bekommen.

Und einen hübschen Spitznamen wohl auch.

Missvergnügt schüttelte Shinichi den Kopf, strich sich mit den Händen übers Gesicht und damit das bittere Lächeln von den Lippen. Ernst schaute er auf das Schriftstück in seinen Händen.

Jenna brütete oben über den Fakten und versuchte, dem Täter über das Kleid auf die Schliche zu kommen. Also würde er das gleiche machen, und zwar anhand eines Beweisstückes, dem sie noch nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet hatten.
 

Dem Porträt.
 

Er stand auf; es wurde wohl Zeit, sich etwas Kunst zu genehmigen. Irgendeine Botschaft musste dieses Bild schließlich auch haben, und er würde es ihm entlocken.

Er musste.
 

Wenige Minuten später saß er mit einer neuen Tasse Kaffee vor dem Bild im Labor und seufzte lautlos, was den Kaffee in der Tasse dazu brachte, leichte Wellen zu schlagen. Er nippte am Becher, studierte das Gemälde mit aufmerksamem Blick und Sorgfalt – und wünschte sich, ein wenig besser beschlagen zu sein, was Kunstgeschichte und Bildsymbolik betraf.

Das Gemälde zeigte die junge japanisch-stämmige Frau bis knapp zur Hüfte, gewandet in dem Kleid, in dem sie auch aufgefunden worden war. Wie Shinichi wusste, suchte man immer noch nach ihrer Identität; leider bisher noch erfolglos. Sie war ohne Papiere gefunden worden, der Fingerabdruckscan lief noch. Da sie allerdings wohl nicht kriminell war, war sie in den einschlägigen Datenbanken nicht zu finden, und in der Datenbank der Einreisebehörde würde sie nur dann auftauchen, wenn sie bereits einen neuen Reisepass mit Fingerabdruckscan hatte. Wenn das nicht der Fall war, würde man warten müssen, ob die Vermisstenanzeige, die die Polizei aufgegeben und übers Internet verbreitet hatte, ein Ergebnis brachte.

Und das… konnte dauern.

Shinichi nippte an seinem Kaffee, konzentrierte sich wieder auf das, was sie in der Hand hatten. Das Bild.

Der Künstler hatte sich bei seinem Bild viel Mühe gegeben; ihr Teint war zart wie Porzellan, ihre Lippen rot geschminkt, ihre Augen glänzten vor Lebendigkeit. Alles in allem sprach das Werk von großem Können – er kannte die Frau nur in totem Zustand, aber er war sich sicher, dass Bild und reale Person große Ähnlichkeit miteinander hatten. Die Malweise an sich war extrem präzise, die Farbe an sich sehr fein vermalt. Pinselstriche sah man kaum, dafür war die Textur der Oberflächen exakt nachgeahmt. Er schluckte, als er das Flirren des Stoffs bewunderte, die Lichtreflexe in den Haaren streifte, um an ihre leicht feucht schimmernden Augen und den leicht geöffneten Lippen hängen zu bleiben.
 

Du magst noch kein großer Künstler sein, ein Amateur bist du aber auch nicht.
 

Shinichi seufzte, stellte die Tasse ab und griff nach dem Kunstlexikon, das er sich aus der Bibliothek besorgt hatte, sowie seinem Block. Dann fing er an, eine Bildbeschreibung anzufertigen, so wie er es einst in der Schule gelernt hatte – und so, wie er immer noch seine Tatorte dokumentierte. Es half ihm, seine Gedanken zu sortieren, die wesentlichen Dinge zu erfassen – und erleichterte die Suche und Verfolgung der wesentlichen Spuren.
 

Im Vordergrund ist das Brustbild einer jungen Asiatin zu sehen. Sie trägt ein Kleid aus schwarzer Wildseide, das im Brustbereich mit Spitze und Perlstickerei verziert ist. Über die Schultern sind kurze Ärmel drapiert. Bis auf zwei schwarze Perlohrringe trägt sie keinen Schmuck. Das Haar ist glatt nach hinten frisiert und zu einem Zopf gebunden über ihre rechte Schulter gelegt, hängt ihr an keiner Stelle ins Gesicht, das im Halbprofil gezeigt wird. Ihre Haut ist makellos und faltenfrei, ihr Gesicht ist nahezu ungeschminkt.

Im Hintergrund ist ein Zimmer zu sehen, das zur Hälfte von einem Vorhang verdeckt wird. Der Vorhang scheint aus einem schweren, dunkelroten Stoff zu sein, das Zimmer dahinter liegt in Dunkelheit, weswegen man nur schwer erkennen kann, wie es eingerichtet ist.
 

Shinichi seufzte, ließ seine Augen noch einmal über das Bild und seine Ausführungen schweifen.

Wieder und wieder blieben seine Augen an ihm haften.
 

Dem Stiefmütterchen.
 

In voller Blüte, kräftig gelb und violett leuchtete es aus dem ansonsten sehr monochrom schwarz-weißen Bild. Sie war bis zur Hüfte sitzend dargestellt und mit den Fingerspitzen einer Hand hielt sie es locker fest.
 

Ein Stiefmütterchen.
 

Shinichi zog seine Augenbrauen zusammen, tippte mit seinem Kugelschreiber in sein Notizbuch, bis sich langsam eine kleine Herde blauer Pünktchen ansammelte, die beständig wuchs.
 

So, Kudô, du großer Kunsttheoretiker, jetzt interpretier das mal.
 

Er wusste, das Stiefmütterchen war die Wappenblume Osakas. Was zum Opfer passen würde, schließlich stammte sie aus Japan. Vielleicht sogar aus Osaka?

Aber sollte das schon alles sein, was dahintersteckte?

Ein paar Minuten später verriet ihm sein Kunstlexikon, das er aus der Bibliothek des Yards entliehen hatte, warum das Stiefmütterchen Stiefmütterchen hieß – das große Blatt unten war die Stiefmutter, die beiden darüber die „Töchter“, und die zwei kleinsten Blütenblätter oben, die sich ein Kelchblatt teilen mussten, die „Stieftöchter“; in der Reihung von oben nach unten auf dem Stiel war es genau umgekehrt, die Stiefmutter hatte alle ihre Kinder unter sich – sondern auch, dass es in der Blumensymbolsprache für liebevolle Gedanken und die Erinnerung stand.

Im christlichen Kontext standen die fünf Blüten für die Wunden Christi am Kreuz, die Dreifarbigkeit, die tricolor, war ein Symbol der Dreifaltigkeit – da es sich her jedoch um ein eindeutig asiatisches Opfer handelte, schloss er die Kirche erst einmal aus.

Weiterhin, fand er heraus, galt das Stiefmütterchen als ein Symbol für Beständigkeit und Durchhaltevermögen und hätte auch etwas mit den erwachenden Frühlingsgefühlen zu tun. Denn purpurfarben wäre das Stiefmütterchen eigentlich erst durch den Pfeil des Amors geworden, und zwar laut Shakespeare, den zweiten großen Namen hier in London neben Conan Doyles Sherlock Holmes. Das Stiefmütterchen tauchte gleich in zwei seiner Stücke auf; im „Sommernachtstraum“ und bei „Hamlet.“

Er las die Zeilen aufmerksam… und war hinterher nicht wirklich schlauer. Er notierte alles brav und gewissenhaft in sein Notizbuch, kratzte sich mit dem Ende seines Kugelschreibers an der Schläfe und konnte sich ein ärgerliches Stöhnen, das seinen Lippen entwich, nicht verkneifen. So wirklich weitergebracht hatte ihn das auch nicht. Und ein kurzes Telefonat später wusste er, dass auch Jenna noch nicht merklich weitergekommen war; sie hatte nun eine lange Liste erstellt, immerhin. Was einerseits gut war – immerhin gab es nun einige Optionen. Andererseits könnte genau das auch ein Nachteil sein – viel zu viele Optionen zu haben. Er setzte sich mit ihr zusammen, teilte ihr seine Erkenntnisse mit, sowie sie ihm die ihren erzählte, arbeitete einen Plan für morgen aus, schrieb seinen Bericht zusammen, sah nach den Ergebnissen der Identifizierung der Toten – immer noch ohne Ergebnis – und verließ das Yard mit einem mehr als unguten Gefühl im Bauch. Sie hatten viel zu wenige Anhaltspunkte, kaum Hinweise auf den Täter, den Tathergang, oder das Motiv.
 

Vor ihm lag ein verworrenes Bild, ein Haufen durcheinander geworfener Teile, die zu ordnen ihm schwer fiel ohne die passenden Eckpunkte.
 

Und so fuhr er nach Hause, vergaß fast, Mrs. Hudsons Paket abzuholen, erinnerte sich aber im letzten Moment noch daran – und fiel mehr oder minder in den Hausflur damit, als er es die Treppe hochschleppte.

Etwas erschöpft lehnte er sich an den Klingelknopf, verlagerte das Gewicht des Pakets auf einen Arm und wischte sich mit der anderen über die Stirn. Er war froh, das Präsidium verlassen zu haben, aber ihm graute vor morgen; am meisten graute ihm vor der morgigen Presse. Als er sein Büro verlassen hatte, hatte der Anrufbeantworter hektisch geblinkt; und wie erwartet waren die ersten Presseanfragen bereits eingetrudelt. Shinichi hatte beschlossen, noch kein Statement abzugeben; er hielt es für ratsam, sowieso kein Wort zu sagen, ohne es mit der PR-Abteilung abgesprochen zu haben.
 

Dann ging die Tür auf und er stürzte fast in Mrs. Hudsons Apartment. Die alte Frau lächelte ihn großmütterlich an.

„Ah! Thank you so much for fetching my little parcel!“

Er zog die Augenbraue beim Wort „little“ hoch, sparte sich aber, einen Kommentar abzugeben und stiefelte ihr nach, um das Paket dort abzustellen, wo sie es gerne haben wollte. Als er sich anschickte, die Wohnung wieder zu verlassen, hielt sie ihn auf.

„And what about a cup of tea and scones with clotted cream, Sherlock?”

Shinichi seufzte, zupfte an seinem Sakko. Eigentlich wollte er jetzt nur hoch in seine Wohnung und nachdenken. In Ruhe, mit einer Tasse Kaffee.

„Well, you know, Mrs. Hudson, honestly, I’d…“

Er hielt inne, als er den tadelnden Blick seiner Vermieterin bemerkte, die resolut ihre Hände in ihre Hüften stemmte.

„My dear – if I make myself busy with baking scones, wouldn’t you have some minutes of your precious time to spend with an old lady, making her a little pleasure and drink a cup of tea with her? Besides, Sherlock, you look like you needed one. Desperately.“

Shinichi hörte die Spitze sehr wohl; und ahnte auch, worauf sie anspielte.

„It’s on TV, isn’t it?“

Mrs. Hudson nickte, drehte sich dann um, und zog ihn am Ärmel mit sich, bedeutete ihm, sich in einen ihrer Ohrensessel zu setzen; er tat, wie ihm geheißen, fand es auf einmal ungeheuer entspannend, einfach ins weiche Polster zu sinken und sich eine Tasse Tee in die Hand drücken zu lassen. Tatsächlich konnte er die wirklich gut gebrauchen; und in Mrs. Hudsons antik eingerichteter Wohnung kam ihm die Welt da draußen ohnehin auf einmal sehr weit weg vor. Er atmete aus, langsam, genoss den Duft des Darjeelings, der ihm in die Nase stieg, merkte nach dem ersten kleinen Schluck, dass die alte Frau ihr Handwerk nach wie vor verstand; exzellente Teeblätter, genau richtig aufgebrüht. Er dankte ihr, als sie ihm einen Teller mit einem fertig mit clotted cream und Himbeermarmelade bestrichenen Scone reichte, fühlte, wie der Alltag etwas von ihm abfiel.
 

„It was in the television, yes. They have showed a picture of her. And although it was the face of a dead girl, one could see that she was a very pretty thing, with this long black, shiny hair, the long eyelashes – a Japanese girl, I guess?”

Er hob die Augenbrauen, beobachtete seine Vermieterin, die bedächtig auf einem Stück Gebäck kaute.

„I’m sure, she looked even prettier alive.“

Shinichi nahm einen weiteren Schluck Tee.

„Nice try, Mrs. Hudson. But I’m sure you know that I am not supposed to talk about my case?“

Ein fast schon amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen.

„I heard you don’t know who she is yet. I know, you found her together with a portrait painting, dressed up in a nice silk dress, draped into the grass by the lake as if it was for a photo shooting. She was your age, you and her would have looked…“

Shinichi verschluckte sich, hustete Tee und Scones-Krümel, warf ihr einen entsetzten Blick zu. Sie lachte ihr leises Lachen, schaute ihn sichtlich amüsiert an.

„Did you know her?“

Shinichi starrte sie an.

„No.“

„But someone who looked very much like her?”

“Why do you want…“

„Someone called Ran?“

Shinichi stellte die Tasse ab, stand auf.

„I’ll better leave. I don’t know, how you come to know that name…”

Die alte Dame stand auf, baute sich vor ihm auf.

„Easy enough. You looked dreadful when you came home yesterday…”

„Tell me Mrs Hudson, don’t you have more important things to do the whole day long than spying on me?“

Sie lächelte ihn gütig an, überhörte die Schroffheit in seiner Stimme.

„Ah, my dear. You will forgive an old lady who wants to pep up her young lodger with a piece of fruit cake. But I have opened my door not more than just a bit, when I saw that cake was nothing of your business yesterday, darling. So I preferred to leave you alone.“

Sie seufzte, schaute ihn sorgenvoll an.

„On the other hand I have asked myself, if it would’nt have been better if you had talked about it, to someone. This is the reason why I know that name. You have screamed it, last night, asleep and dreaming, I guess.“
 

Shinichi merkte, wie ihm schlagartig alle Farbe aus dem Gesicht wich, verschluckte sich, schaute sie betroffen an, merkte dann, wie ihm im nächsten Moment schlagartig die Hitze ins Gesicht stieg, sein Puls zu rasen begann und er ahnte, dass seine Stirn im Licht von Mrs Hudsons dämmriger Wohnzimmerlampe unübersehbar rot glühte. Langsam ließ er sich zurück in seinen Stuhl sinken, kraftlos, sein Blick unfokussiert.

„Yes. I heard you. It was impossible not to hear it, Sherlock, you…“

Der junge Detective schüttelte den Kopf, versuchte zu schlucken, scheiterte kläglich.

„I don’t want to talk about that. Und please excuse me, if I have disturbed you in your well deserved sleep…“, begann er mit leicht belegter Stimme, wollte sich räuspern und kam dann doch nicht mehr dazu, weil Mrs. Hudson ihn energisch unterbrach.

„Oh, stop it, silly boy!“

Die alte Dame schaute ihn verärgert an; im nächsten Moment glätteten sich ihre Züge, ihre blauen Augen schauten in mit großmütterlicher Fürsorge milde an.

„You really should talk about it, my dear.“

Er schaute auf, beschämt; dann wandte er den Blick ab, betrachtete seine Daumen, die den eleganten Goldrand der Teetasse nachspürten, lächelte dann traurig.

„That’s none of your business, Mrs. Hudson. I’m not asking you questions about your secrets, do I…?“

Er hielt inne, beobachtete sie über die Tasse hinweg, die nun er mit seinen Fingern in seiner Hand drehte, zog die Pause gekonnt in die Länge. Dann versuchte er ein Grinsen, griff nach einem Scone, hielt ihn in die Höhe.

„… for example, what magic you are doing to make those scones tasting that delicious! They would prevail on the queen’s afternoon tea table, honestly…”

Er biss hinein. Mrs Hudson musterte ihn dabei, lehnte sich zurück.

„Well… a great actress once said it…“
 

“A secret makes a woman woman.”
 

Shinichi murmelte den Satz tonlos, zog dann die Augenbrauen hoch. Mrs Hudson begegnete seinem Blick, sah den scharfen Verstand in den Augen des Detektiven aufblitzen, lächelte vergnügt.

„That’s what you wanted to say, isn’t it?“, hakte er nach.

„Indeed.“

Die alte Frau nickte, kicherte wie ein kleines Mädchen.

„I adored her films. And I was devastated to hear about her death… Sharon Vineyard, heroine of my juvenile days. But, Sherlock… how do you know her? Her films are not exactly what a young guy might find entertaining, I assume…”
 

Shinichi massierte sich die Schläfen.

„She was a colleague and friend of my mother. But as she was a Japanese actress, in contrast to Mrs Vineyard, you won’t have come across her films in Europe. Yukiko Fujimine, later named Kudô, after marrying my father. That’s when her carreer ends as well.“

Er räusperte sich, zog die Augenbrauen tadelnd zusammen.

„However, Mrs. Hudson, you are misleading me. We were discussing something else.“

Shinichi spülte den Scone mit der restlichen Pfütze Tee runter, die noch in seiner Tasse schwappte, es, ihr in die Augen zu sehen, als er sprach.

„I don’t know how you come to know all those details concerning that case, but I hope, you…“

„My baker told me about it. Her son has seen the victim yesterday, while taking his dog for a walk; you were busy to cordon off the crime scene, as you call it. The whole city will know it soon, Sherlock. By tomorrow at least, we both know that. You will have to make a statement, it’s your case. But it’s not very comforting to know that there’s a killer among us.”

Er fuhr sich über die Haare, schüttelte den Kopf.

„No, it’s not, I agree with you. But if it is up to me…“

Gedankenverloren stellte er seine zierliche Teetasse auf den Untersetzer und stand auf.

„… he’ll not be on the loose for long. But something tells me… that this won’t be a case that solves itself in the blink of an eye.“
 

Und das ist es, was mir Angst macht.
 

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Hallo, ihr Lieben!
 

Nun - Shinich ist in London, und die Amstsprache dort ist Englisch. Deshalb dachte ich mir, es wäre nur konsequent, alles was Englisch gesprochen ist, auch Englisch zu schreiben ( ich hoffe, ich hab alles richtig übersetzt).

Da ihr nun aber meine geschätzten Leser seid und ihr das Vergnügen haben sollt, habt ihr nun die Wahl:

- so lassen

- nur leicht verständliche Sätze in Englisch, alles andere Deutsch (was sprachlich gemischte Dialoge zur Folge hätte).
 

Ich werde nicht die deutsche Übersetzung in Klammern dahinter setzen - das bläst a) das Kapitel zusätzlich auf, und b) stört es den Lesefluss. Lasst es mich per ENS oder Kommentar wissen, was ihr bevorzugt. Die Mehrheit entscheidet.

Vielleicht schaff ich es auch, eine Umfrage einzurichten, schaut einfach mal auf meinem Steckbrief nach.
 

Abgesehen davon möchte ich euch daran erinnern - nicht die ganze Geschichte ist Englisch. Die Rahmenhandlung soll immer verständlich sein. Und auch nicht in jedem der kommenden rund 50 Kapitel ist so viel Englisch - in einigen mehr, in anderen weniger, in wieder anderen gar keins. Insofern denke ich, dass das Weiterlesen im Großen und Ganzen dennoch für alle möglich sein wird.
 

Ansonsten - hoffe ich, ihr hattet euren Spaß beim Lesen!
 

Über Kommentare freu ich mich wie immer sehr!
 

Beste Grüße,

eure Leira

Kapitel 4: Seide und Farbe

KAPITEL 4 – SEIDE UND FARBE
 

Es dämmerte bereits, als er aus dem Gebäude der Universität schritt. Seine Tasche wog schwer auf seiner Schulter, der Stiftkasten, der ihn ein kleines Vermögen gekostet hatte, ratterte leicht darin, als die einzelnen Stifte in ihren Lagern ein wenig hin und her gerüttelt wurden. Es war erstaunlich warm für einen Apriltag in London; und obwohl seine Stimmung nicht unbedingt die Beste war, genoss er die Sonnenstrahlen.

Schien die Sonne, erstrahlte die Welt in einem anderen Licht, befand er.

Schien die Sonne, erschien alles gleich nicht mehr so düster.

Das war seine Regel.
 

Für jede Regel gab es eine Ausnahme.
 

Die Sonne brach durch das Laub über ihm, warf wirre Muster auf den Boden, ein Muster, das ständig in Bewegung war, sich treiben und formen ließ vom Wind, der sanft durch die Äste strich. Interessiert beobachtete er das Spiel auf dem Boden, als er am Kiosk vorbeikam und wie jeden Tag seinen Blick über die Warenauslage schweifen ließ, dort stehen blieb, um Schokolade und Zigaretten zu kaufen.

Schokolade für Meredith, die Zigaretten für sich.

Wie immer griff er zielgerichtet nach der Marke seiner Wahl sowie einem Schokoriegel für seine Freundin, als sein Blick über die Titelblätter der Tageszeitungen glitt.

Er spürte die kühle Brise in seinen Haaren, auf seinem Gesicht, und er fror.
 

Aber nicht der Wind war es, der ihn Zittern machte.
 

Die Zigaretten glitten ihm aus den Fingern, als er nach der aktuellen Ausgabe des Reporter griff. Das Papier raschelte, als er seine Finger in die dünnen Papierseiten krampfte, so fest, dass er sie fast zerriss. Seine Hände bebten vor Anspannung, sein Kiefer begann zu schmerzen, so fest biss er die Zähne aufeinander. Wie der Schokoriegel in seiner anderen Hand schmolz, bekam er nicht mehr mit.

Er stand nur da, zitternd, wagte kaum zu atmen und war blind und taub für alles um ihn herum.

Für die langsam zu murren anfangende Schlange an Leseratten, die sich, wie er, an diesem Kiosk vor dem Victory Tower Gardens ihre Tageszeitung für den Weg in die Tube holen wollten, und auch für die langsam immer eindringlicher werdende Stimme des Zeitungsverkäufers.

„Sir! Would you please pay the paper and leave?“

Eduard, oder Eddie, wie man ihn nannte, spürte eine Schweißperle, die langsam unter seinem trotz seines jungen Alters schütter werdenden Haaransatz hervorkroch, langsam seine Schläfe hinabrann. Er starrte nur auf das Foto in der Zeitung, und die Schlagzeile, die darüber prangte, auf Seite eins.

Ihr Foto.

Für alles andere war er blind und taub.

Dann riss ihn doch etwas aus seiner Schockstarre – nämlich die fest zupackende Hand des Kioskverkäufers, die an der Zeitung zog.
 

„SIR! Would you either pay that paper or go without it?! There are other consumers waiting!“

„Sorry! O-oh… p-p-please excuse me…“

Eddie wischte sich die Schweißperlen mit fahrigen Händen aus dem Gesicht. Dem Verkäufer entging sein Zustand nicht, nun, da das Antlitz seines Gegenübers nicht mehr von der Zeitung verdeckt wurde.

„Are you okay, Sir?“

„Yeah, yeah.“, brabbelte der junge Mann lautlos, während er in seinem Portemonnaie die nötige Anzahl an Pennymünzen zusammenscharrte, um für die Zeitung und das, was vom Schokoriegel noch übrig geblieben war, zu bezahlen.

„Please, excuse my behaviour. Have… have a nice day.“

Damit legte er die Münzen auf der Theke ab, griff sich die mitgenommen aussehende Zeitung und verschwand eiligst und mit eingezogenem Kopf in der Menge.
 

YOUNG GIRL MURDERED – NEW CASE FOR SHERLOCK HOLMES?
 

Kein Zweifel, das war sie. Lebendiger, als er sie in Erinnerung hatte, man hatte ihr Bild anhand ihrer Leiche und dem Gemälde rekonstruiert – darunter prangte der Zusatz „Do you know this woman?“- aber das war Ayako.
 

You promised that this won’t become public! You assured that you were only hunting after one special fish…
 

Er musste reden, mit ihnen. Mit diesem seltsamen Duo, auch wenn sie ihm nicht geheuer waren. Auch wenn seine Knie bei dem Gedanken an sie jetzt schon schlotterten und sich wie mit Wackelpudding gefüllt anfühlten.
 

Meredith must not see this, not be bothered by this, that was my only begging…

And you promised! You promised to leave her untouched…
 

Innerlich starb er an die tausend Tode, als er daran dachte, dass die Zeitung schon seit heute Morgen im Umlauf war. Seit dem Morgen!

Wie wahrscheinlich war es, dass seine Freundin die Nachricht noch nicht gehört oder gelesen hatte?

Mit zitternden Fingern fischte er in den Taschen seines zerschlissenen, an vielen Stellen bereits kunstvoll geflickten Mantels (Merry machte das immer für ihn), bis er sein ramponiertes, altes Handy zu fassen bekam. Er schaute auf das Display – kein Anruf, keine Kurznachricht.

Merry hätte sich sicher schon gemeldet, wüsste sie etwas.

Ganz sicher.

Er rollte die Zeitung zusammen, kaute auf seiner Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Diese Sache war jetzt in den Medien, und Merry würde es sehen, und dann… dann hatte er besser eine Erklärung. Merry würde am Boden zerstört sein, dieses zartbesaitete, zauberhafte Wesen, das er seine Freundin nennen durfte.
 

Meredith.
 

Er hielt inne, blieb beim U-Bahn-Aufgang stehen. Auch wenn sich in ihm alles sträubte, es schien sinnvoll, gleich zu gehen. Wer wusste schon, ob er später den Mut noch einmal würde zusammenkratzen können.
 

Never put off till tomorrow what you can do today.
 

Damit straffte er seine mehr als schmalen Schultern und eilte die Treppe zur Tube hinab.
 


 


 

Er saß an seinem Schreibtisch, neben sich eine große Tasse tiefschwarzen Kaffees und lächelte zufrieden, als er seine eisgrauen Augen über die Seiten gleiten ließ.
 

The detective in charge, probably the incarnation of London's most famous fictional detective Sherlock Holmes, has not shown himself yet to provide us with a statement or to confirm his work on this case. It seems though, that Scotland Yard cannot cloak themselves in secrecy for long, not, if there is a cruel murderer among us all, hunting for young women, being a threat to our daughters, sisters and friends…
 

Ohne aufzublicken tastete er nach seinem Zigarettenetui aus gehämmertem Silber und klappte es auf, zog einen Glimmstängel heraus.

Immer noch ohne seine Augen von der Zeitung abzuwenden, steckte er sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an, zog genüsslich daran, ließ den Rauch dann durch seine Nasenflügel entweichen.

Als er es rascheln hörte, sah er auf; in der Tür stand sie, ihr Astralkörper gehüllt in einen Jumpsuit aus schwarzem Leder.
 

Chianti.
 

Soweit er wusste, waren sie beide die letzten, bis auf Bourbon.

Und sie waren nun hier, um ihr Versprechen wahr zu machen. Sie hatten gewartet, bis es schien, als habe er Fuß gefasst. Gewartet, bis er und alle anderen sie fast vergessen hatten.

Es hatte ihn Geduld gekostet, und Nerven.

Aber er wollte es. Er wollte ihm Bröckchen hinwerfen. Ihn zermürben. Ihn auf seine Fährte setzen und wieder davon abbringen, an sich selbst zweifeln lassen, andere an ihm zweifeln lassen, er wollte ihn demontieren, bloßstellen, an den Rand dieses Abgrunds treiben und dann würde er ihn hinunterstoßen und nicht so blöd sein wie dieser Romanbösewicht Moriarty und nicht auf Nummer sicher gehen oder gar selber Fallen.

Nein.

Er wollte dieses Spiel.

Er wollte ihm die Hölle auf Erden machen, ein letztes Mal.

Er wollte dieses letzte Tänzchen mit Kudô, auch wenn es ihn juckte, in den Fingern, und zwar gewaltig.

Er wusste, wo er wohnte, wo er arbeitete, kannte seine tägliche Routine…

Es wäre so leicht.
 

So leicht.
 

Aber er beherrschte sich. Und sie gleich mit, denn auch sie war ein eher impulsives Wesen – Selbstkontrolle war nicht ihre Stärke.

Gin musterte Chianti kühl.

Er konnte diese Frau nicht ausstehen. Ihr affektiertes Gehabe, die Art, wie sie redete, diesen Schmetterling auf ihrem Auge – es gab fast nichts, das er an ihr nicht hasste, aber es gab eines, das er schätzte, an ihr.

Ihre unabdingbare Skrupellosigkeit.

Diese abgrundtief schwarze Seele, die in dieser nicht weniger schwarzen Hülle hauste.

Und ihr nicht abzusprechendes Geschick an der Waffe.
 

Und nun würden sie ihn zurückreißen in diesen schwarzen Alptraum, aus dem er, und dafür würden sie sorgen, nie wieder erwachte.
 

Und die Gelegenheit war nun endlich zum Greifen nah. Nun, da sie ihn aufgespürt hatten.

Nun, da ihr Plan perfekt war.
 

Kudô…
 

„Wir werden bald Besuch bekommen, Gin.“, hörte er sie schließlich sagen. Sie trat näher, so nahe, dass er den Duft ihres ekelhaften Parfums riechen konnte. Sie tippte mit einem Finger auf das Foto in der Zeitung; ihr langer, schwarzer, unechter Fingernagel klapperte auf der Glastischplatte.

„Unser süßer kleiner Maler wird heute heftig die Hosen voll haben, schätze ich.“

Gin pustete eine formvollendete Rauchwolke in die Luft, lehnte sich genüsslich zurück.
 

„Ah,… er soll nur kommen.“
 


 


 

Der Weg ins Loft seiner Auftragsgeber im Nobelstadtteil Kensington zog sich im Feierabendverkehr. Die Zeitung hielt er fest in seiner Hand – so fest, tatsächlich, dass er glaubte, die Druckerschwärze würde nicht nur auf seine Haut abfärben, sondern in sie einziehen, sich in die Poren fressen, so tief – so tief, dass er sie nie wieder abwaschen können würde, diese drei Wörter.
 

Young girl murdered.
 

Er rannte die Treppe aus der U-Bahn nach oben, tauchte auf ins Tageslicht, atmete heftig ein und aus. Er schwitzte und fror gleichzeitig – aber er, Eduard Brady, war immer noch wild entschlossen, sich Antworten zu holen.

Und so ging er mit weit ausholenden Schritten die breite Promenade entlang, sein Blick stur geradeaus gerichtet. Eddie fand das Haus ohne Probleme; ein altes Fabrikgebäude, umgebaut in komfortable Appartements für betuchte Leute.
 

Leidlich atemlos vor Nervosität kam er im Dachgeschossloft an, hämmerte mit beiden Händen an die Tür. Wie erwartet kam er nicht selbst, um ihn hereinzulassen.

Sie war es.

Diese Frau.
 

Eddie erschauderte, als er sie ansah – wie immer.

Und wie immer konnte er kaum den Blick von ihrem Auge wenden – diesem tätowierten Auge. Der Schmetterling flatterte kurz; ein breites Lächeln zog ihre Lippen auseinander, ließ ihre Zähne blitzen. Ein Lächeln, das mehr an ein Zähnefletschen erinnerte als an diese freundlichkeitsverheißende zwischenmenschliche Geste, die es eigentlich darstellen sollte.
 

„He’s awaiting you.“

Ihre Stimme klang amüsiert. Eddie warf ihr einen unsicheren Blick zu und drückte sich an ihr vorbei, ohne sie aus den Augen zu lassen. Dann schritt er durch den offen gehaltenen Wohnbereich, der immer noch sehr an die Fabrik erinnerte, die vorher in diesen Hallen gewesen war. Dicke Betonpfeiler standen im Raum, die Fenster waren groß, viereckig und schlicht, ohne Vorhänge. Überhaupt sah hier alles sehr spartanisch aus – kaum Textilien, kaum Holz, nur Beton, Stein, Glas und Metall soweit das Auge rechte. Eddie schritt durch den Raum, merkte, wie er langsam gegen einen Widerstand zu laufen schien – Kälte umfing ihn, und mit ihr die Angst.
 

Angst vor dem Mann, dem er gleich gegenüberstehen würde.
 

Ohne zu klopfen schob er die Tür auf.
 

„Eduard.“

Die Stimme klang eisig und seltsam hallend durch den Raum. Eddie blieb beim Klang seines Namens wie angewurzelt stehen.

„What a pleasure. What’s on your mind, my friend?“

Der junge Student schluckte, versuchte vergeblich, all seinen Mut zusammenzukratzen. Ihm entging der trockene Spott im Tonfall seines Gegenübers nicht und er fragte sich gerade, was zum Henker ihn geritten hatte, als er sich dazu entschlossen hatte, hierherzukommen. Und Fragen zu stellen.
 

Ask a question! This man!

Good Lord, Eduard, you must be either suicidal… or have lost your senses…!
 

„Did you read the paper today? The girl…“

Seine Stimme bebte sacht, als er es endlich über sich brachte, seinen Mund zu öffnen.

Dann vernahm er etwas, das ihm einen Schauer über den Rücken laufen ließ – genauso, wie beim ersten Mal auch.

Leises Lachen.

Kaum hörbar, aber so kalt, so intensiv, so böse… so unsagbar böse.
 

Und dann fiel sein Blick auf das, was vor diesem Mann auf dem Tisch lag.

Die Zeitung.

Und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen.

Das alles… war geplant. Schon immer gewesen.
 

YOUNG GIRL MURDERED
 

Seine Knie schlotterten.
 

I don’t know, who you are… but I know, what you are…

The devil himself, that’s it. That’s what you are.

And I’ve sold my soul to you, without knowing…

But now it’s too late, I guess…

Too late…
 

Er fürchtete ihn, den Mann, der irgendwo in diesem undurchdringlich, fast greifbar schwarzen Schatten saß. Er sah ihn nicht, er spürte ihn mehr, als er ihn erahnen konnte – seine schemenhafte Gestalt kaum mehr als eine Silhouette im Schatten; hochgewachsen, schlank, der Umriss eines Hutes – mehr konnte er nicht erkennen. Einzig eine silberblonde Haarsträhne, die ihm auf die Brust geglitten war, verriet etwas über sein gegenüber.

Er hatte nie sein Gesicht gesehen; nie in die Augen des Mannes geblickt, der ihn und seine Freundin bezahlte.
 

You are slim, pretty AND looking for easy made money?

CALL US!

WE, that is an arts student in his eight semester and a design student in her seventh, WANT YOU for our project – painting and tailoring united

in a beautiful artistic collaboration.

TAKE PART IN OUR SYNTHESIS OF THE ARTS!


 

Ein bitteres Lächeln huschte ihm über die Lippen.
 

An artistic collaboration, a synthesis of the arts,… sure.
 

Merry dachte tatsächlich, sie machten Kunst. Einen Bildband über ihre Zusammenarbeit, ein Gesamtkunstwerk.

Eine Gemeinschaftswerk – ihre Kleider, getragen von Models, die sie über diese Anzeige suchten, junge hübsche Dinger, die leichtverdientes Geld suchten; und seine Bilder. Vereint zu etwas Großem, Ganzem.

Und er hatte das auch gedacht, auch wenn er ihren Geldgeber etwas dubios gefunden hatte. Aber hey! – wer fragte schon nach, wenn man an so unverschämt viel Geld kommen konnte, mit dem, was man am liebsten tat.

Mit Kunst.

Diese Frau hatte sie getroffen, als sie den Campus verlassen hatten; Merry hatte eine ihrer Kreationen über den Arm geschlungen getragen, einen Traum aus schwarzer Wildseide.

Der ein Vermögen kostete, und eigentlich konnten sie sich den Stoff nicht leisten. Aber Meredith etwas abschlagen?

Nein…

Meredith hatte Talent, und sie brauchte… diese Stoffe, um sich zu entfalten.
 

Nun, die Frau hatte offensichtlich ihre Gesichter gesehen, die wohl nur zu deutlich nach Trübsal, Hoffnungslosigkeit und leerem Portemonnaie ausgesehen hatten, und sie angesprochen; eine Frau in schwarzen, hautengen Klamotten, eine Asiatin, auf ihrem Auge dieses auffällige Tattoo, das sie schnell unter einer großen Sonnenbrille versteckte.

Sie hatte begonnen, Merrys Kleid zu bewundern – und damit offene Türen eingerannt.

Dann hatte sie sich weitere Kreationen zeigen lassen, und schließlich auch seine Gemälde, und am Schluss – hatte sie gelacht, überlegen, triumphierend.
 

„You two are exactly the kind of artist my partner is looking for…“
 

Und dann… hatte sie sie mit ihm bekannt gemacht.
 

Das Geld war ein sehr überzeugendes Argument gewesen; und er musste gestehen, das Mädchen, Ayako, sah traumhaft aus in Merrys Kleid, und sie zu malen war eine Freude gewesen.

Merrys fröhliches Summen, ihr eifriges Arbeiten hatten ihn beflügelt – sie war seine Muse, und wenn es ihr gut ging, dann ging es ihm auch gut.
 

Fristgerecht hatten sie die Arbeiten abgeliefert, er hatte das Mädchen mitgebracht, schließlich wollte der Mann sie treffen.
 

Und dann war es geschehen.

Das Bild stand ihm noch heute deutlich vor Augen.

Ayako, die bewusstlos zu Boden sank.

Ayako, die langsam verblutete, in der Badewanne.
 

Ayako, die er allein nachts in den Hyde-Park gefahren hatte.

Ayako… die nie mehr ihre blauen Augen öffnen würde.
 

Er hatte geholfen, gezwungenermaßen, dieses Mädchen zu töten, aber er hatte sich ausbedungen, dass nichts in die Medien gelangte; das Geld war lang nicht mehr der Köder.

Der Köder, an dem er angebissen hatte, war Merry. Der Grund, warum er zum Komplizen geworden war, warum er noch mitmachte, warum sie immer noch Mädchen suchten, warum er der Polizei nichts gesteckt hatte… war Meredith.
 

„You know, she would look like the princess of your dreams in one of her own dresses…“
 

Er hatte nur gelacht. Und Eduard hatte gewusst, dass er aus der Nummer nicht herauskam, bis diese beiden ihren Fisch gefangen hatten.

Die Jagd war eröffnet worden, auch wenn er nicht wusste, auf wen.
 

Und dann hatte er heute die Zeitung gelesen, das Bild gesehen, von Ayako. Und er wusste, sie waren Tagesgespräch, heute.
 

Ihm war kotzübel geworden, war es immer noch.
 

Und nun - nun stand er hier, bleich und zittrig, ein schmutziges Häuflein Elend, um Antworten zu bekommen.
 

„She is dead!”, brach es schließlich aus ihm heraus, und er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er ließ die Zeitung auf die Tischplatte fallen; auf der ersten Seite prangte deutlich ihr Bild, in Farbe.
 

Das Lachen ebbte leise ab.

„Tragical, indeed.“

Er machte eine Pause, ündete sich eine Zigarette an, zog in aller Ruhe an ihr und ließ den Rauch aus seinem Mund entweichen, als er weitersprach.

„Very sad. But I wonder – why does this fact astonish you? You attended her death. And you helped washing and dressing her, and you alone, my dearest of all friends, have carried her, along with that fabulous picture you painted, to that cosy place underneath the trees at the shores of the Serpentine Lake.“

Edward merkte, wie die Ohnmacht in ihm wuchs. Aus seinem Gesicht wich sämtliche Farbe.

„I – I know.“, hustete er heiser.

„But…“

„But what?“

Eduard schlotterte. Gins Stimme hatte scharf und bissig geklungen, drohend, und nun sah er ihn an, genoss sichtlich die Angst, die er in dem jungen Mann erzeugte.

„That was the deal. You help us – and we help you. And if you are removing your traces carefully, nobody ever will find or suspect you…“

„You told me, that this would not become a public matter! You promised…!”

Gin lachte laut; sein Gelächter hallte von den schmucklosen Wänden wieder, übertönten den Hall von Eduards nervösem Schreien ohne Mühe, fegte über den zitternden Studenten hinweg, ließ ihn schwanken wie ein Halm Weizengras im Wind.
 

„What is it, that you want me to tell you…?“

Gins Stimme klang immer noch ruhig. Stille breitete sich aus, ein unbestimmtes Frösteln ergriff den jungen Kunststudenten.
 

„Wherever dead people emerge, there will be an investigation. The investigation is always led by the police. If you look for information, you are at the wrong address, I’m afraid. Not even you can be foolish enough to believe that a dead girl will not cause further actions.“

Eddie schien wie aus seiner Schockstarre zu erwachen.

„I know. I just thought… Merry does not know anything… und it’ll kill her, if she knew…

„Well, Eduard. Then better go and take care of her ignorance, if this will be weighing so heavily upon her beautifully innocent soul… Or you have to worry about something else that might kill her.“
 

Es war nur ein Hauch – nur ein winziger Hauch von Bedrohlichkeit in seiner Stimme zu hören, als er sprach. Eduard zuckte merklich zusammen. Leises Lachen ertönte aus den Schatten.

„You are not doubting our aims, are you, Eduard? Or don’t you like the results of your work? Or the money you earn with it?“

Wohldosiert hatte Gin seine Stimme lauter werden lassen, ein leises Knurren, eine gewisse Schärfe beigemengt. Er wusste, wie er mit diesem Wicht umzugehen hatte, um ihn wieder gefügig und schweigsam zu machen.
 

„No! Yes! I- I mean…“

Der Kunststudent fuhr hoch, stammelte unkontrolliert, ärgerte sich über seine Unfähigkeit, sich artikulieren zu können, wenn er nervös war… oder sich fürchtete.

Momentan traf beides zu, und das nicht zu knapp.
 

„No… It’s just… I was scared. Freaking out. I am sorry.“

Er schluckte, verabscheute seine Feigheit, seine Angst, sein Zaudern.

Verachtete sich selbst. Und konnte doch nichts ändern.

Er war so.
 

You despicable coward, Eduard. What did you want here?

Justice? Answers?

Ha!

And what now?

Pussing out like little bunny, that’s what you’re doing.

A cucumber shows more backbone than you.
 

„Well, then, my dear friend, I take that our deal is still consisting?“

Der junge Mann nickte eingeschüchtert.

„We meet Erin this afternoon. I’ll send you a note about everything else.“

Er schluckte hart, merkte, dass seine Kehle wie ausgedörrt war.

„You stick to our plan, I hope. You know, we need five of them. And you know about the dates and the places you have to deliver your packages…”

„Sure. I… I’ll hurry up. It – I promise. I’ll take care of everything.“

Dann drehte er sich um und ging – nein, stolperte vielmehr hinaus.

Raus aus diesem Loft, aus diesem Gebäude.
 

Nur weg.
 

Die Zeitung warf er noch auf dem Weg zur U-Bahn in eine Mülltonne an der Straße. In der Tube saß er wie betäubt, hätte fast seine Station verpasst; in ihm herrschten Aufruhr und Ratlosigkeit. Er verabscheute sich, verabscheute sich seit den Minuten, als er damals mit Aya, die Merediths Kleid über den Arm geschlungen trug, um es später anzuziehen, und seinem Gemälde bei Mr. Kurosawa und seiner Partnerin aufgetaucht war. Er war gekommen, um ihnen, wie vereinbart, ihre erste Arbeit vorzustellen – und gegangen war er als Komplize eines Mordes.

In ihm erstarrte alles zu Eis, als er daran dachte. Als er sich an den angsterfüllten Blick Ayako erinnerte, deren Augen starr und aufgerissen vor Angst auf den Degen, oder was auch immer das für eine Waffe in Kurosawas Händen gewesen war, gerichtet gewesen waren.

Ihre Augen waren groß geworden, ihre Hände hatten angefangen zu zittern. Edward war fast zusammengebrochen, als er sie erblickt hatte – die tödliche Waffe, die der Mann locker in der Hand hielt. Und geahnt hatte, dass es ihm nicht darum ging, ein Liebhaberstück seinem eingeschüchterten Publikum zu präsentieren.

Dann war in Ayako Bewegung gekommen, als der Mann auf sie zutrat. Sie hatte geschrien, nach der Vase gegriffen, die neben ihr gestanden hatte und sie mit voller Wucht gegen ihn geworfen, der sich ihr näherte, mit langsamen Schritten und einem eiskalten Lächeln auf den Lippen. Kurosawa war dem Geschoss ausgewichen, das neben ihm auf den Boden zerplatzt und geborsten war, hatte die umherfliegenden Splitter mit einer lässigen Handbewegung zur Seite gewischt und – gelacht.
 

„Na, wer wird denn?“
 

Er hatte sie an der Hand gegriffen, als sie hatte fliehen wollen, hatte sie sie eisern festgehalten, als sie sich wand, nach ihm trat, um sich zu befreien. Er hatte sie nur angelächelt, sich nach vorn gebeugt, um ihr ins Ohr zu flüstern.

„Es ist dein großes Pech, dass du aussiehst wie sie...“
 

Sein Gesicht hatte sich wieder etwas von ihrem entfernt; der Blickkontakt jedoch war nicht abgerissen. Eduard hatte kein Wort verstanden, von dem, was er sagte – er redete japanisch mit dem Mädchen. Aber er konnte sehen, dass seine Worte nicht unbedingt beruhigend auf sie wirkten.
 

„Du siehst ganz und gar bezaubernd aus in diesem Kleid, meine Schöne, ich hab das Foto gesehen – und freue mich darauf, es gleich in natura bewundern zu können. Und es wird ein ganz und gar köstlicher Schock werden für ihn, dich zu finden… die du ihr so ähnlich siehst, seiner… Ran. Du bist der Garant, dass er den Fall übernehmen wird…“

Sein Lächeln wurde noch einen Tick kälter.

„Fühle dich geehrt, Mädchen, du bist der Auftakt zu Sherlock Holmes‘ neustem Fall…“, wisperte er leise in ihr Ohr, seine Stimme scharf und schneidend. Dann riss er an ihrer Hand, zog sie zu sich; Ayako, die wie paralysiert in seine eisblauen Augen gestarrt hatte, hatte aufgeschrien, als sie es spürte. Sie hatte zusehends das Gefühl in ihren Beinen verloren, Schmerz hatte sich von ihrer Taille aus in ihrem Körper ausgebreitet, hatte ihr Denken benebelt. Eduard wollte schreien, als er dabei zugesehen hatte, wie ihr Blut warm an ihrer Seite hinunter geronnen war – und dennoch hatte nicht ein Laut seine Lippen verlassen, nicht einer. Wie paralysiert hatte er einfach nur zugeschaut, wie ihr Teint schlagartig erbleicht war, ihre Augen matt und immer matter geworden waren.

Eduard hatte in diesen Sekunden aufgehört zu atmen. Niemals hatte er etwas derart Entsetzliches gesehen.

Niemals hatte er sich derart schlecht gefühlt, hatte er einen so zwingenden Drang, sich zu übergeben, gespürt.
 

„Leb wohl.“
 

Damit hatte Gin sie losgelassen, das Schwert aus ihrem Körper gezogen. Ayako hatte aufgestöhnt, war haltlos zusammengesackt und auf dem Boden liegengeblieben.

Niemals würde er das vergessen.

Ihren Schrei, die Anklage in ihren blauen Augen, als er zusah, wie sie starb, ihr nicht half…

Keinen Krankenwagen rief, nicht ihre Wunde versorgte, sondern wie paralysiert nur dastand und zusah… wie sie starb.
 

Und selbst glaubte, in diesem Moment zu sterben.
 

Schließlich hatte sie aufgehört zu atmen, war tot vor seinen Füßen gelegen mit glanzlosen Augen, die immer noch voll Unverständnis und Vorwurf in eine Welt jenseits der seinen blickten - und er hatte aufgesehen in Kurosawas eiskaltes Gesicht, dessen Lippen ein hämisches Lächeln kräuselte. Hinter ihn war die Frau getreten.

Und dann hatten sie ihm erklärt, was seine Rolle war, in diesem Spiel.

Er war ihr Handlanger geworden, ihr Komplize, weil er wusste, sie brachten sonst Meredith um. Er brachte ihnen die Bilder und die Mädchen, und er schaffte sie am Ende auch wieder weg.
 

Fünf sollten es werden – und an fünf verschiedenen Orten würden sie deponiert werden, alles Orte, an denen man die Mädchen schnell finden würde.
 

Das alles hatte System, Methode und Plan – denn diese Leute verfolgten ein Ziel.
 

Und er war ihr Komplize in diesem Spiel geworden – sie hatten ihn durch das Beobachten des Mords an Ayako zum Mitwisser gemacht, durch seine Aktion, sie am Fundort zu deponieren, zu ihrem Komplizen.

Und sie erpressten Sie mit dem einen, das ihm im Leben am Wichtigsten war – mit Meredith.
 

Also hatte er Ayako mitten in der Nacht in seiner kleinen Rostlaube in den Hyde-Park gefahren, die Karre am Eingang stehen lassen und sie auf Händen weitergetragen, um sie bei dem Baum am See zu deponieren – und dabei versucht, nicht zu heulen wie ein Schlosshund, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er hatte sich verflucht, dass er ihr dieses Unglück gebracht hatte. Und dachte doch die ganze Zeit an Meredith, die daheim in ihrem Bett lag und selig schlief.

Lebendig.
 

Daneben hatte er das Bild deponiert, gelehnt an den Baumstamm, der seine Äste ins Wasser hängen ließ – das Bild, in das er ein Stiefmütterchen hatte malen sollen.

Ein Stiefmütterchen.

Ayako stammte aus Osaka, das wusste er, und die Wappenblume Osakas war ein Stiefmütterchen.

Allerdings, ob diese Leute soweit dachten, ihr eine solche Ehre zu erweisen, bezweifelte er. Wofür also die Blume?

Aber – er hatte getan, was sie verlangten, und nicht nachgefragt.
 

Und so schwankte er jetzt aus der Tube, fast wie ein Betrunkener, zog seine Oyster-Card nachlässig über die Lesestelle an der Schranke, ließ sich von den Menschen nach oben treiben und machte sich zu Fuß auf den Weg zu seiner Wohnung, den er bewältigte wie ein Schlafwandler.

Als er ankam, wartete eine Überraschung auf ihn; Meredith öffnete ihm, bevor er klingeln konnte, strahlte ihn an. Neben ihm stand, in einem rauchgrauen Traum von einem Kleid, eine junge, rotblonde Europäerin.
 

„Das ist Erin! Sieht sie nicht einfach zauberhaft aus, Eddie? Hast du Zeit, kannst du sie malen?“
 

Er lächelte nur, winkte sie beide ins Atelier, erwiderte pflichtbewusst den Kuss, den Meredith ihm auf die Lippen drückte und starb innerlich seinen tausendsten Tod, als er das Mädchen vor das neue Set drapierte und anfing, sie mit Kohle auf seine Leinwand zu skizzieren, wusste er doch… was sie erwartete.
 

Er fühlte Merrys Wärme, roch ihren Duft, als sie wie üblich, fast zitternd vor Aufregung, neben ihm kauerte, dicht an dicht, und ihm bei der Arbeit zusah, musste sich nicht umwenden, um zu sehen, dass ihre Augen vor Bewunderung glänzten.

So wie sie es immer taten, wenn sie ihn beobachtete. Er schluckte, brach das erste Stückchen Kohle ab, als er zu fest aufdrückte, schüttelte den Kopf.
 

A lie, Merry, just for you.

A big, fat lie.

How would you react, if you knew what I’ve done… what I’ve become?
 

Er hasste sich dafür.

Hasste diese Menschen für das, was sie taten. Sie hatten Merries Kleider für ihre Zwecke benutzt…

Und sie benutzten ihn.

Sie machten aus ihm einen Komplizen ihrer Morde, und sie zerstörten das, was immer sein Lebensinhalt gewesen war, neben seiner Meredith… die Malerei.

Sie besudelten sie mit dem Blut ihrer Opfer, nur um an ihr Ziel zu gelangen.

Beschmutzten alles, was ihm lieb und teuer war.
 

Get a grip, stupid. You’ve begun it, you’ve got to finish it now.

And perhaps, you can… perhaps there is a chance to save her… somehow…
 

Er biss sich auf die Lippen. Dann setzte er neu an, atmete durch. Studierte sein Modell, zeichnete rasch die wichtigsten Linien, ehe er zur Palette griff, die zähen, pastosen Ölfarben aus den Tuben auf das von Farbresten und Lösungsmittel gezeichnete Holz presste, träufelte den Balsamterpentin in ein Näpfchen, das er sich an die Palette klemmte, um mit der ersten Schicht anzufangen.

Er würde langsam malen, diesmal.

Er würde es hinausziehen, bis es nicht mehr ging.

Er würde es zumindest versuchen.

Und langsam merkte er, wie er ruhiger wurde. Klammerte sich an den Gedanken, etwas tun zu können. Hoffte, Erin retten zu können, indem er nur lange genug brauchte. Der Geruch des Terpentins stieg ihm in die Nase, und er merkte, wie er ihm die Sinne leicht benebelte.
 

Tief atmete er ein.

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Hallo, meine verehrten Leser!
 

Ich freue mich ehrlich, dass euch die Englischanteile der Geschichte so gut gefallen haben; die große Mehrheit der Leser war dafür, es beizubehalten und dem komme ich sehr gerne nach. Ich bemühe mich redlich, korrekt zu schreiben und auch die nicht-Englisch-Leser durch die Gedanken der Akteure und die Rahmenhandlung an der Geschichte mit Genuss teilnehmen zu lassen. Abgesehen davon - so viel Englisch wirds auch wiederum nicht werden. Wenn kein englischsprachiger Charakter dabei ist, wird auch nicht englisch geredet.

Wem ein Fehler auffällt, schreibt ihn mir gern als ENS! Ich lern gern dazu – und hoffe für euch auf amüsante Weise diese Sprache ein wenig auffrischen zu können. Englisch ist wichtig, Leute. Ich merks grad selber im „real life“.

So – heute mal die andere Seite der Medaille – „The Artist“ stellt sich vor, und ist wahrscheinlich ganz anders, als ihr dachtet. Ich hoffe, es gefällt euch trotzdem. Die Zusammenhänge sind komplex und werden der Reihe nach entschlüsselt.

Kommentare wie immer sehr erwünscht! Lasst mich wissen, was ihr über meine Geschichte denkt!

In diesem Sinne – schöne Unterhaltung!

Eure Leira

Kapitel 5: Ein zweites Leben

KAPITEL 5 – EIN ZWEITES LEBEN
 

Das Zeichen der Vier.
 

Sherlock Holmes.
 

Starr verharrten ihre Augen auf diesem Namen, der in goldenen Lettern auf dem Buchrücken prangte.
 

Der große Detektiv.
 

Sie streckte die Hand aus, berührte mit den Fingerspitzen den Namen, so zart, dass sie kaum das raue Leinen darunter spürte, schluckte hart. Dann griff sie nach dem Buch, zog es heraus, merkte, wie ein bitteres Lächeln ihre Lippen kräuselte, als sie erkannte, was sie in ihren Händen hielt.

Eine billige Buchattrappe.

Eine Leerhülle.

Ein Platzhalter… eine Fälschung.
 

Fälschung…
 

„Ran, wo bleibst du denn?!“
 

Sonoko war um die Ecke gebogen, starrte ihre Freundin ungeduldig an, trommelte mit ihren Fingern auf die Lenkstange des Einkaufswagens. Neben ihr stand Kazuha, wartete wie die junge Schwerreichentochter darauf, dass Ran sich endlich vom Fleck rührte. Ein unwilliges Grummeln entwich ihrer Kehle, als sie sah, was ihre Freundin so ablenkte.
 

„Ran!“
 

Ran, die gerade an einem Bücherregal hängen geblieben war, schluckte. In den Händen hielt sie immer noch diese billige Buchattrappe, wie man sie so oft in Möbelhäusern fand – normalerweise kein Grund für sie, länger innezuhalten, aber an dieser hier war waren ihre Augen hängengeblieben.

Es war die Attrappe eines Sherlock Holmes Romans.

Kazuha, die ebenfalls mit von der Partie dieses Shoppingtrips war, kam langsam näher.

„Ran.“

Sie nahm ihr die Attrappe ab, stellte sie zurück.

„Willst du das Regal?“

Sie schaute ihre Freundin ernst an, wusste sie doch genau, was in ihr vorging.

Ran schüttelte den Kopf.

„Nein.“, murmelte sie leise, ihre Augen immer noch fest auf die Buchattrappe geheftet. Kazuha seufzte, merkte, wie Sonoko nun neben sie trat. Sie wandte sich dann ihrer Freundin zu und schaute sie ernst an, legte ihr beide Hände auf die Schultern.
 

„Keiner von uns weiß, Ran, was ihn damals geritten hat, als er einfach so sang- und klanglos verschwunden is‘.“
 

Ran hob den Kopf, sah sie an, scheu; dann senkte sie ihren Blick, wandte den Kopf zur Seite. Sonoko konnte sehen, wie sie schluckte.

Ran presste ihre Lippen aufeinander, unwillig. Offenbar konnte man mal wieder in ihr lesen wie in einem Buch – und sie hasste das. Und besonders hasste sie es, wenn die anderen sahen, wer sie so beschäftigte.

Immer, wenn sie an ihn dachte, schien sie für alle um sie herum gläsern zu werden, jeder einzelne ihrer Gedanken, jedes Gefühl sichtbar für alle Welt.

Es war kein gutes Gefühl.
 

Sonoko hingegen trat vor sie, fing ihren Blick und fixierte ihn, blinzelte nicht einmal, als sie sprach.
 

„Ich möchte glauben, dass er ein elender Bastard ist, das weißt du. Und ich werde ihm auch genau das an den Kopf werfen, wenn er mir jemals wieder unter die Augen tritt, auch das weißt du. Ich hasse ihn dafür, was er dir angetan hat. Welches Gefühl er dir damit angehängt hat, als er einfach ging.“

Immer noch schaute sie Ran fest an, hob ihr Kinn mit den Fingern einer Hand an, blickte ihr forschend ins Gesicht. Wie erwartet waren ihre sonst so strahlend kornblumenblauen Augen dunkel von Traurigkeit und Unglück. In den fünf Jahren, in denen er nun weg war, hatte Ran zwar langsam wieder ihre Lebensfreude zurückgewonnen, nachdem sie in den ersten Wochen wie am Boden zertreten gewesen war; niedergeschmettert, ein Häuflein Elend in einem weißen Krankenhausbett, schwer verletzt, müde, einsam und so unsäglich traurig, so voller Liebeskummer.

„Alleingelassen zu werden. Nicht einmal so wichtig zu sein, dass er dir die Gründe erklärt, warum er dich abhakt. Nach all dem, was du wegen ihm hast durchmachen müssen.“
 

Ran blinzelte, seufzte leise, ehe sie den Blick abwandte.
 

Und Sonoko hasste ihn dafür, dass sie sie je hatte so sehen müssen. Dass sie ihre Ran, ihre allerbeste Freundin, je in diesem Zustand hatte erleben müssen.
 

Und manchmal, auch wenn sie in ihr Leben wieder zurückgefunden hatte – aber manchmal, da sah man diese Trauer, diese Einsamkeit immer noch in Rans Augen.

Heute war so ein Tag.

Dieses Erlebnis damals hatte sie geprägt. Sonoko wusste nicht, ob es aus Liebe zu diesem Spinner Kudô oder Angst vor der erneuten Zurückweisung eines anderen Mannes war; Ran hatte sich keinen neuen Freund gesucht.

Nicht einen der vielen Bewerber erhört, die sich um sie bemüht hatten, nicht eine einzige Einladung zu einem Date angenommen, die man ihr gemacht hatte.

Sonoko hatte irgendwann aufgegeben, ihr diesbezüglich Ratschläge erteilen zu wollen.

Es hatte keinen Sinn.
 

„Weiß der Geier, warum er gegangen ist. Wahrscheinlich aus irgendeinem „Das-hätte-nicht-passieren-dürfen“ – Gefühl heraus, meines Erachtens kein Grund, erst Recht nicht, ohne sich zu erklären, oder zu warten, bis es dir wieder gut geht – aber er ist weg, Ran. Er ist selbst dumm genug, dass er dich hat stehen lassen. Etwas Besseres als dich kann kein Mann dieser Welt kriegen. Auch ein Shinichi Kudô nicht. Erst Recht ein Shinichi Kudô nicht.“

Auf ihren Zügen spiegelte sich Unwillen.

„Ehrlich, du solltest diesen Spinner vergessen und begraben. Das ist jetzt fünf Jahre her, es ist nicht deine Schuld, dass er so ein verdammter Idiot ist.“

Rans Kopf fuhr herum.

„Er ist kein…!“

„Doch, ist er.“, unterbrach sie Sonoko unwirsch. „Und jeder, den du fragst, wird dir das bestätigen. Und jetzt schlag ihn dir aus dem Kopf, und such dir neue Möbel für deine erste eigene Wohnung aus, Süße, wenn du dir schon keine neuen Mann aussuchen willst.“

Sie grinste unverschämt.

„Sonoko!“ Entrüstung spiegelte sich auf Rans Zügen, ehe sie sich schließlich doch von dem Regal abwandte.
 

Wahrscheinlich hast du ja Recht…
 

„Aber irgendwie kann ich mich nicht entscheiden.“

Ran seufzte, sah sich zweifelnd um.

„So wirklich sagt mir hier nichts zu.“

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass du Urlaub brauchst. Du bist überarbeitet, meine Liebe…“

Ran trat ans Fenster des Möbelladens, schaute gedankenverloren hinaus.

„Meint ihr?“

„Herzchen, du hast die letzten Wochen nur geackert! Gelernt, Prüfungen geschrieben, gelernt. Gelernt, Prüfungen geschrieben. Gelernt. Prüfungen geschrieben. Du bist ausgepowert. Mach Urlaub, die Wohnung hast du sicher, und das Einrichten eilt ja nicht! Dein Dad wirft dich doch nicht gleich raus, oder?“

„Nein.“

Ran lachte leise.

„Ich glaub, dem fällt richtig schwer, dass ich jetzt ausziehe…“

„Das glaub ich aufs Wort.“, lachte Kazuha.

„War bei meinen Eltern ähnlich, als Heiji und ich zusammengezogen sin‘.“

„Apropos Heiji – was treibt der Herr Kommissar denn momentan?“, hakte Ran ein, als ein zischendes Geräusch sie ihre Freundin verwundert anschauen ließ.

Kazuha holte tief Luft, lachte dann laut auf. Ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus.

„Das ist überhaupt DIE Idee!!!“

Sonoko und Ran sahen sie verständnislos an.

„Heiji muss beruflich nach London, fliegt heute - was denkt ihr, Mädels, wollen wir da auch hin?“

Kazuha grinste immer noch von einem Ohr bis zum anderen.

„Dann kann Ran mal mit Holmes abrechnen und wir machen eine schöne Shoppingtour.“

„Und nebenher kannst du aufpassen, dass Heiji sich nicht anderweitig umsieht, was?“, neckte Sonoko sie.

Kazuha verzog das Gesicht, stieß Sonoko ihren Ellenbogen in die Seite, während Ran nachdenklich auf das Schild starrte. Erinnerte sich an jenen Tag, als sie erwacht war.
 

Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Ob sie überhaupt geschlafen hatte.

Aber heute war es warm in ihrem Gesicht, und das fühlte sich gut an. Der Stoff unter ihren Fingern fühlte sich weich an, und er roch frisch gewaschen; ein Duft, der sich mit einem leichten Parfum mischte.

Rosen.

Und Sandelholz.

Ein bekannter Duft.

Wohlgefühl breitete sich in ihr aus.
 

Sie hörte leise Stimmen an ihrem Ohr, wusste, draußen war es hell, weil ihre Lider rot schimmerten.
 

„Sie wacht auf!“

Leises Weinen drang an ihr Ohr, gebot dem aufkommenden Gefühl von Wohlbefinden und Entspannung abrupt Einhalt.

„Ran? Süße? Kannst du mich hören?“

„Mausebein? Bist du da?“
 

>Klar, Paps. Wo soll ich sonst sein?<
 

Verwirrt öffnete sie die Augen. Dann sah sie in die besorgten, und gleichzeitig freudestrahlenden Gesichter ihrer Eltern.
 

>Himmel, seid ihr blass. Und ihr freut euch so sehr… man könnte meinen, ich sei gerade auf die Welt gekommen.<
 

Sie fühlte eine kühle Hand an ihrer Stirn, die Hand ihrer Mutter, die ihr übers Haar streichelte. Jetzt wusste sie auch, woher der Duft nach Rosen und Sandelholz kam – es war das Parfum ihrer Mutter.
 

Mühsam kämpfte sie sich etwas hoch.

„Was…“

Sie hielt irritiert inne, räusperte sich. Dankbar nahm sie das Glas Wasser entgegen, das ihr fast aus den zitternden Fingern fiel, ein Fakt, der sie noch mehr irritierte.

Was war passiert?
 

Sie nahm einen Schluck, blickte um sich.

>Krankenhaus. Ich bin im Krankenhaus. Warum bin ich…<
 

Dann riss sie die Augen auf. Erstaunlich ruckartig schob sie die Bettdecke weg, zog ihr Nachthemd hoch. Und fand einen Verband auf ihrer Seite. Vorsichtig betastete sie die Stelle.

Sie kniff die Augen zusammen, als die Erinnerung an das Schwert, den Schmerz zurückkam. Kraftlos sank sie zurück, als die Bilder und Töne zurück in ihren Kopf strömten.

Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn gesucht hatte, fühlte, wie er sie in den Arm genommen hatte, sie festgehalten hatte, als die Welt um sie in Schmerz und Schwärze versank.

Sie hörte ihn reden, flehend, bittend, verstand die Worte kaum, aber sehr wohl verstand sie die Sprache, die sein Tonfall sprach – und die seiner Augen.

Sie sah sein Gesicht, sah in seinen Augen so viel Angst.
 

>Shinichi.

Ich hab dich nie so angsterfüllt gesehen…<
 

Dann hatte sie gelächelt.

>Aber es ist ja alles gut gegangen. Es geht mir gut, auch wenn… das Ganze wohl ziemlich schlimm aussah… <
 

Sie hatte sich wieder ihren Eltern zugewandt, die sie abwartend angeschaut hatten. Hinter ihnen stand Sonoko, neben ihr Heiji; sie hatte die beiden zuerst gar nicht bemerkt.

Ihre Augen jedoch suchten nach einem anderen Gesicht.

Und fanden es nicht.
 

>Shinichi?<
 

Verwirrt schaute sie Heiji an, der langsam ans Bett trat. Offenbar ahnte er ihre Frage, denn er setzte sich auf ihr Bett, griff ihre Hand.

Neben ihn trat Sonoko, während ihre Eltern etwas beiseite gingen.

„Er ist nicht hier, Ran. Shinichi… ist nicht hier.“

Ran merkte, wie ihr kalt wurde; ihr Herz begann gegen ihren Brustkorb zu klopfen, aufgeregt und schnell.

„Aber… wieso? Wo…?“

Sie riss die Augen auf. Sie kannte eigentlich nur einen Grund, warum er nicht hier sein sollte, nach allem, was er ihr gesagt hatte.

Nach allem, was sie durchgemacht hatten.

Nun, wo doch…
 

„Ihm ist doch nichts passiert? Heiji?“

Panik klang in ihrer Stimme, ließ sie eine Oktave höher schwingen und ein leises Zittern mitschwingen. Er fing an, ihre Hand zu streicheln, lächelte beruhigend.

„Nein, keine Angst, ihm is‘ nix passiert. Soweit wir wissen, heißt das. Er ist… nur nich‘ hier, das ist alles. Er ist… gegangen, an dem Tag, als du verletzt wurdest. Er is‘ verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, hat niemandem gesagt…“

Sie hörte die nur mit Mühe verhohlene Wut in seiner Stimme.

„… wohin er gegangen is‘, hat sich von keinem verabschiedet. Seine Eltern sind auch fort, und nich‘ zu erreichen. Offenbar… wollt‘ er alle Brücken abbrechen. Keiner weiß wohin oder warum. Wobei…“

Heiji schluckte, sah sie ernst an.

„Für’s warum kann ich nen Tipp abgeben. Ich schätz‘, dass du fast gestorben bist wegen dem Mist, den er gebaut hat, war zu viel für ihn. Eine Grenze, die nie hätte überschritten werden dürfn. Wahrscheinlich denkt er, du bist besser dran ohne ihn.“

Er sah sie an, merkte, wie ihre Augen zu glänzen anfingen, biss sich auf die Lippen.

Sie tat ihm jetzt schon Leid, sah er doch, wie ihre Welt gerade in Stücke brach, wie sie nach einer Erklärung suchte, wie Enttäuschung und Traurigkeit ihre Seele trübten.

Und er fragte sich selber, wieso Kudô das jetzt zuließ, nach allem, was er für sie durchgemacht hatte.

Er konnte es sich selbst nicht erklären.
 

„Aber…“, begann sie, riss ihn aus seinen Gedanken. Ihre Stimme klang weinerlich, jammernd, kündigte die Flut an Tränen an, die bald losbrechen würde.

„Aber es ist doch… alles gut gegangen! Mir geht’s doch gut!“

Verständnislosigkeit stand in ihren Augen.

„Warum kommt er nicht wenigstens und sagt auf Wiedersehen, wenn er schon denkt, dass er damit nicht klarkommen kann, wir das nicht bewältigen können, zusammen? Warum lässt er mich allein? Ich werde verletzt und er haut ab, das… das…“
 

>…passt doch gar nicht zu dir, Shinichi…<
 

Sie schnappte nach Luft, hustete kurz, verschluckte sich fast an ihrem Wasser, als sie versuchte, einen Schluck zu trinken.

„Ihr müsst doch irgendetwas wissen? Er kann doch nicht einfach gegangen sein? Und kein Wort… hinterlassen haben? Ich dachte…“

Tränen rannen nun über ihr Gesicht, hinterließen rosa Flecken auf ihrer blassen Haut.

Sonoko trat vor, nahm Ran in die Arme, streichelte ihr über den Rücken.

„Schhhh, Süße. Schhhh. Glaub mir, das isses nicht wert. Er ist ein Feigling, das hat nichts mit dir zu tun. Denk nicht mehr nach. Wir sind da…“

Ran schluchzte, merkte, wie in ihr etwas in Stücke zersprang, einfach so kaputt ging. Sie klammerte sich an ihre beste Freundin und heulte, als sie den Glauben an ihn verlor, und damit an die Liebe. Sie verstand, dass er Angst hatte, um sie. Dass er das nicht gewollt hatte.

Aber dass er sie allein ließ, wenn sie ihn brauchte, das verstand sie nicht.

Denn das hatte er noch nie.

Bei aller Angst um ihr Leben, er hatte sie nie allein gelassen.

Erst Recht nicht ohne Erklärung.
 

Und dieses Gefühl von Alleingelassenwerden war schlimmer als das, das sie am Tag der Trennung ihrer Eltern verspürt hatte.
 

>Warum bist du nicht da? Shinichi, warum bist du nicht da, warum…! Ich dachte…
 

Ich dachte…
 

… du liebst mich…<
 

„Kriegen wir denn so kurzfristig noch einen Flug? Und ein Hotel?“, murmelte Ran langsam. Der Blick, den sie Sonoko zuwarf, war zögernd. Sie wusste selbst nicht, ob es sie nach London zog oder nicht; einerseits konnte sie Urlaub gut gebrauchen; andererseits weckte diese Stadt in ihr Erinnerungen.

Erinnerungen ganz bestimmter Art.

Erinnerungen, die sie eigentlich hatte vergessen wollen; und die sie genauso magnetisch an diesen Ort anzogen, wie sie sie von dort wegstießen.

Unwillkürlich verknotete sie ihre Finger um den Griff des leeren Einkaufswagens. Kazuha schaute sie prüfend an; sie ahnte, wo ihre Freundin mit ihren Gedanken gewesen war.
 

Du liebst ihn immer noch. Und verstehst heute genauso wenig wie damals, warum er dich verlassen hat.

Und um ehrlich zu sein… ich versteh’s auch nich.

Es kann doch nich‘… wir haben doch gesehen, wie sehr er dich liebt.

Er wäre nie von deiner Seite gewichen, auch wenn er sich ewig schuldig gefühlt hätte, dafür, dass du verletzt wurdest, seinetwegen.

Ich dacht‘, er wär eher der Typ, der den Rest seines Lebens versucht, es wieder gut zu machen…

Und auch wenn er Angst davor hatte, dass noch welche von ihnen rumlaufen und dir nochmal wehtun könn’tn…

Zumindest bis du wieder gesund gewesen wärst, wäre er geblieben… das dacht‘ ich zumindest.

Wir konnt‘n uns doch nich‘ alle so in ihm getäuscht haben?
 

Sonoko tippte und wischte bereits eifrig auf ihrem Smartphone.

„Sehen wir gleich, sehen wir gleich…“

Ran schluckte. Ihre Augen huschten noch einmal über den Buchrücken des Sherlock Holmes-Romans.
 

London…
 

„Alles klar! Morgen Abend fliegen wir!“

Damit riss Sonoko sie aus ihren Gedanken.

„Wie cool ist das! Ein Mädelsurlaub!“

„Was, morgen? Haste sie noch alle? Könnteste uns auch mal…“

Kazuha starrte sie entgeistert an.

„Jetzt reg dich doch nicht so auf! Erstens wars deine Idee, und es is doch klar, dass wir bald fliegen müssen, gerade wenn du Heiji-…“, konterte Sonoko, schaute die Osakanerin genervt an.

„Außerdem was hast du? Du hast Urlaub, und den verbringst du bei Ran. Deine Sachen sind eh schon gepackt!“

Kazuha schnappte nach Luft – und schließlich gab sie auf. Auch wenn sie immer noch überrumpelt schien, waren die Argumente Sonokos nicht von der Hand zu weisen.

Ran sah sie an, ihr Blick wanderte von einer zur anderen. Sie fühlte sich irgendwie überfahren, ähnlich wie Kazuha eben – allerdings schien es tatsächlich irrelevant, was sie dachte, und so war auch jede Diskussion überflüssig. Der Urlaub war gebucht.

Und an und für sich – konnte sie wohl wirklich ein paar Tage Luftveränderung gebrauchen. Schließlich warf sie Ihre Gedanken über Bord, seufzte ergeben.

„Gut, machen wir das.“, murmelte sie langsam.

„Fliegen wir nach London.“
 

Die Blondine jubelte, steckte ihr Smartphone wieder ein.

„Perfekt! Und du, Kazuha, sagst Heiji nicht, dass wir auch kommen. Wir wolln den Herrn mal fein überraschen. Aber jetzt…“

Sie griff Ran und Kazuha unter den Armen und hakte sich ein.

„… gehen wir erstmal Klamotten shoppen für London!“

„Wie?“, murmelte Ran, zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Ich dachte, du wolltest in London einkaufen gehen?“

„Na, da auch! Aber da kaufen wir Klamotten für Tokio. Jetzt brauchen wir erstmal was für London. Klar?“

Sonoko strahlte sie an.

Ran sah sie konsterniert an.

„Hab ich eine Wahl?“, meinte sie schließlich so leise, dass keine sie hörte und ließ sich aus dem Möbelhaus ziehen. Mit ihren Gedanken war sie ohnehin nicht mehr bei der Sache.
 

Also London.
 

Die Stadt, in der du mir sagtest, was du für mich fühlst.

Irgendwie hab ich das Gefühl, diese Stadt ist noch nicht fertig mit mir.

Ich bins wohl auch nicht mit ihr…
 

Der Gedanke ließ sie auch nach der ausgedehnten Shoppingtour nicht los. Sie hatte die U-Bahn genommen, um nach Hause zu gelangen, ließ sich von den frühabendlichen Berufspendlern die Treppen nach oben treiben. Als sie oben angekommen war, seufzte sie leise. Der laue Sommerwind wehte ihr um die Nase, trug den Duft heißer Tage mit sich, spielte mit ihren kakaobraunen Haaren, die sie lang und offen trug, wie immer; die tiefstehende Sonne streichelte ihr Gesicht mit warmen Fingern. Sie stieg die letzten Stufen der Haltestelle Beika hoch, blieb stehen, genoss die Wärme auf ihrer Haut noch einen Moment länger, schloss die Augen, kurz. Dann schlenderte sie weiter, die Straße entlang… und merkte erst spät, dass sie unbewusst den gleichen Weg gewählt hatte, wie sie ihn damals immer zur Schule gelaufen war, anstatt den Umweg über die Hauptstraße zu gehen.

Den Umweg, den sie immer genommen hatte, seit diesem Tag.

Seit dem Tag, an dem er verschwunden war… weil sie es kaum ertrug, an seinem Haus vorbeizugehen, und sich dort immer wieder die gleiche Frage zu stellen.
 

Warum?
 

Auch wenn sie Shiho traf, so kam die meistens zu ihr, oder sie verabredeten sich in der Stadt.

Und nun stand sie da, vor dieser großen, schönen Villa, die seit Jahren kein Mensch mehr betreten hatte. Sie sah immer noch gut aus; wahrscheinlich bezahlten die Kudôs eine Reinigungsfirma, die sich dann und wann um die Räume und den Garten kümmerte.

Leer stand sie dennoch.

Sie merkte, wie dieses wohlige Gefühl von Wärme verflog, als ihr Blick zu einem Fenster im ersten Stock hinaufwanderte.

Shinichis Zimmer.
 

Und sie verstand es immer noch nicht, warum er sie damals allein gelassen hatte.
 

„Das war doch nicht typisch für dich.“

Ihre Stimme war kaum lauter als ein Wispern.

Sie schluckte, stellte ihre Taschen ab, fasste nach dem Türschild, unwillkürlich, auf dem der Name der Eigentümer verewigt war; ließ ihre Fingerkuppen über den Klingelknopf streifen, ohne ihn zu drücken.

„Zu gehen, ohne etwas zu sagen, ist nicht typisch für dich… dich nie zu melden ist nicht deine Art. Mir zu sagen…“

Sie schluckte, merkte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß bildete, als sie an jenen Tag zurückdachte… an diesen schönen, kurzen Moment vor dem schrecklichsten Erlebnis ihres jungen Lebens.

„… dass er dich liebt und dann alleine lässt, ist nicht typisch für ihn.“

Eine melancholische Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Ran drehte sich erschrocken um, bemerkte Shiho, die sie mit blaugrünen Augen nachdenklich ansah, und hinter ihr Professor Agasa, der sie bedrückt anschaute.

„Das ist es doch, was du sagen wolltest, nicht wahr?“

Die rotblonde Forscherin schaute sie fest an. Ran nickte unwillig.

„Ja.“

Shiho seufzte, schulterte ihre Einkaufstasche, aus der Karottengrün ragte.

„Ist es auch nicht. So sehr, wie er dich…“

Sie brach ab, biss sich auf die Lippen, als sie Rans schnelles Kopfschütteln bemerkte, lächelte bitter.

„Denkst du immer noch an ihn?“

Ran zögerte kurz.

„Ja. M-manchmal.“

Sie versuchte, Shihos Blick standzuhalten, schaffte es nicht. Die junge Frau lächelte spitzbübisch.

„Manchmal, soso.“

Agasa gab ihr einen leichten Rempler.

„Shiho. Sei nicht so gemein. Und tu nicht so, als würdest du nicht an ihn denken.“

Sie warf ihm einen schrägen, fast warnenden Blick zu, dem der alte Mann geschickt auswich, indem er sich an Ran wandte.

„Wir alle tun das, Ran. Nicht auf die gleiche Weise wie du, wohl.“

Er lächelte sie großväterlich an.

„Aber es war nicht typisch für ihn. Und ich mache mir Sorgen, wie es ihm geht. Er sah nicht gut aus, an dem Tag. Und ich denke, wo immer er auch ist, richtig gut gehen kann es ihm nicht… nicht nach diesem Desaster. Nicht mit dem Gedanken, dass er Schuld an deinen Verletzungen war, und dem Wissen, dass sie immer noch da sind. Und sie werden ihn suchen, irgendwann. Sie wollten dich in seinen Arme sterben lassen, Ran. Das hat einen Grund – und eine Konsequenz.“
 

Ran warf ihm einen sorgenvollen Blick zu. Das milde, gütige Lächeln war von seinen Zügen verschwunden.

„Ihn einfach nur zu töten war ihnen nicht Strafe genug. Deshalb ließen sie ihn sein Versagen erleben, als sie dich angriffen. Und damit diese Tat ihre Wirkung ordentlich entfalten konnte, haben sie ihn nicht gleich nach dir umgebracht. Das wäre wohl fast einer Erlösung gleichkommen – zumindest für ihn, in dieser Situation. Also, was passiert? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihn laufen lassen, welcher Rest auch immer noch übrig ist von ihnen. sie werden ihn finden. Und ihn jagen, wenn es soweit ist. Wer weiß, ob…“

Der alte Professor schluckte hart. Shiho fing an zu frösteln, schlang sich ihre Arme um den Oberkörper, krallte ihre Finger in den weichen Tweed ihres Dufflecoats. Ran musterte sie eindringlich; ihr war die Angst in ihren Augen nicht entgangen, als das Gespräch auf die Organisation gekommen war.

Shiho hingegen schluckte, ihre Augen fest auf das Haus gerichtet. Dann schüttelte sie den Kopf, lächelte zynisch.

„Ich fürchte, es wird dem Dummkopf egal sein, wenn er es nicht gleich herausfordert, dass sie ihn vor seiner Haustür abknallen.“

Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

„Wenngleich mich wundert, dass sie sich die Zeit nehmen und dieses Risiko eingehen wollen, um ihn zu vernichten. Normalerweise sind sie nicht so geduldig – andererseits hat er die Organisation zerstört, all ihre Namen und Gesichter öffentlich gemacht, sie werden weltweit gesucht. Da nimmt man sich wohl gerne die Zeit, um etwas ordentlich zu machen…“

Sie lächelte bitter, schlang ihre schlanken Arme um ihren Oberkörper, grub ihre Finger in die großen Maschen der Strickweste, die sie trug.

„Aber ich wüsste doch gerne… wo er ist. Was er macht.“
 

Dann drehte sie sich zum Professor um, nahm ihm eine der Einkaufstüten aus der Hand.

„Nun denn, Ran, es ist kühl; möchtest du mit reinkommen und mit uns essen?“

Ran schaute sie an, überlegte kurz, ehe sie dankend ablehnte.

„Nein… ich hab Paps versprochen, heute für ihn zu kochen. Aber Danke für das Angebot! Ich wünsche euch beiden einen schönen Abend…“

Sie griff ebenfalls nach ihrer Einkaufstüte, wandte sich zum Gehen, als ihr ein Gedanke kam.“

„Shiho?“

Die rotblonde Forscherin hob eine Augenbraue.

„Hm?“

„Hör zu, ich weiß, das kommt plötzlich… aber wir fliegen nach London. Ah… morgen. Hast du Zeit? Wir hätten noch einen Platz im Zimmer, Sonoko und Kazuha fliegen auch mit. Nur den Flug für dich müssen wir noch buchen.“

Shiho starrte sie an, erstaunt ob des abrupten Themawechsels.

„Was?“

„Hast du Lust? Sonoko hat uns heute damit überfallen. Sie meinte, ich bräuchte Urlaub. Und wenn ich dich so ansehe… könntest du den auch brauchen.“, fing Ran wieder an.

Shiho schaute sie an – Ran konnte die Unentschlossenheit in ihren Augen deutlich erkennen.

„Überlegs dir einfach und ruf‘ mich bald an. Wir fliegen ja schon morgen abend.“

Sie lächelte freundlich. Shiho schaute sie an, merkte, wie ihr bei diesem Lächeln bitter aufstieß; nickte dann nur, und verfolgte Ran, die ihnen zuwinkte und sich dann umdrehte, um nach Hause zu gehen, stumm mit ihren Augen. Agasa neben ihr sah sie ernst an, schüttelte den Kopf.
 

„Wann willst du ihr denn sagen, in welchem Zustand er vor seiner Abreise aus Tokio wirklich war…?“

Shiho schluckte hart, zuckte ertappt zusammen, vermied es jedoch, dem alten Mann in die Augen zu sehen.

„Gar nicht. Ich weiß selbst nicht, wo er ist, das wissen Sie, seine Eltern sagen nichts, gehen nicht mal ans Telefon, wenn sie Ihre oder meine Nummer sehen. Ich würde ihr nie solche Angst machen wollen, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, herauszufinden, wie viel dran ist…“
 

Ihre Stimme versagte.

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging ins Haus. Agasa folgte ihr stumm.
 


 

Wenige Minuten später stand Ran vor ihrer eigenen Haustür; zumindest war sie das für lange Jahre gewesen. Ihre Augen schweiften über die Fensterreihe der ehemaligen Detektei; als Shinichi gegangen war, war sehr schnell klar geworden, wer die Fälle ihres Vaters wirklich gelöst hatte. Die Detektei hatte keine vier Wochen überlebt; etwas, das ihren Vater auf die Palme gebracht hatte, und seinen Hass auf ihren ehemaligen besten Freund noch mehr geschürt hatte. Sie hatte es ihm nicht mal übel nehmen können; die Sache mit dem „Schlafenden Kogorô“ war wirklich mehr als dreist.

Er hatte sich nicht einmal dafür entschuldigt.

Sie seufzte leise, als sie die Taschen kurz abstellte, um nach ihrem Schlüssel zu fischen.

„Ach, Shinichi…“

Ihr Vater arbeitete mittlerweile wieder bei der Polizei, der Mythos des schlafenden Meisterdetektivs war eingeschlafen, heimlich, still und leise.

Sie schüttelte den Kopf, lächelte bitter.

„Allein dafür würde er dir den Kopf abreißen, wärst du in seiner Reichweite.“

Als sie schließlich in der Wohnung ankam, wartete eine Überraschung auf sie; ihre Mutter war da.

Ran zog eine Augenbraue hoch, als sie die Schuhe ihrer Mama sowie wie ihre Jacke in der Garderobe fand; und so schloss sie erst einmal leise die Tür. Allerdings nicht leise genug; kaum war die Tür mit leisem Klacken ins Schloss gefallen, trat ihre Mutter auch schon aus dem Wohnzimmer in den Flur.

„Ran!“

Sie ging ihr entgegen, umarmte ihre Tochter.

„Auf dich hab ich gewartet, künftige Juniorpartnerin.“

Eri lächelte breit.

„Dein Vater hat mir erzählt, Sonoko, du und Kazuha wärt einkaufen gewesen für die Wohnung. Habt ihr was gefunden?“

Ran lächelte sie an, schüttelte den Kopf.

„Nein, noch nicht so richtig. Dafür… haben wir etwas anderes geplant.“

Sie folgte ihrer Mutter in die Küche, wo ihr Vater gerade Kaffee kochte.

„Hallo, Mausebein.“

Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Was habt ihr geplant?“, fragte skeptisch. Er kannte Sonokos Pläne, und selten fanden sie seinen Gefallen.

„Wir machen Urlaub in Europa. Morgen fliegen wir nach London.“

Ran schaute von ihrer Mutter zu ihrem Vater.

„Sehr gute Idee.“

Eri nickte zustimmend, nahm wieder auf einem der Stühle Platz, schlug ihre langen Beine elegant übereinander.

„Du kannst ein wenig Erholung gebrauchen. Aber wie kommt ihr ausgerechnet auf London?“

„Ja.“, murmelte Kogorô mürrisch.

„Wäre ne andere Stadt nicht besser zum Erholen als die erklärte Lieblingsstadt dieses Westentaschensherlockholmes?“

Ran, die sich gerade eine Tasse aus dem Schrank nehmen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne, ließ ihre Hände sinken.

„London ist eine Stadt wie jede andere.“

Ihre Stimme klang ernster, als sie es beabsichtigt hatte.

„Sicher, Ran, aber…“

„Außerdem ist schon alles gebucht. Bestimmt wird es prima. Im Übrigen arbeitet Heiji da drüben an einem Fall, deshalb fliegen wir auch hin. Kazuha…“

„…will ihren Romeo anscheinend beschatten…“, grinste Kogorô säuerlich.

„…will Heiji da drüben besuchen. Eine Überraschung.“, fuhr Ran unbeirrt fort, tat so, als hätte sie ihren Vater nicht gehört.

Eri warf Kogorô einen strengen Blick zu.

„London ist eine schöne Stadt, Ran, lass dir von deinem Vater nicht die Laune verderben.“

Sie warf ihrer Tochter einen fragenden Blick zu.

„Also fühlst du dich fit…?“

„Um im September anzufangen bei dir im Büro?“

Ran lächelte zum ersten Mal; Aufregung färbte ihre Wangen rot.

„Natürlich! Ich kann es, offen gestanden, kaum erwarten! Endlich mitten drin zu sein, statt nur dabei… eigene Mandanten vertreten,…“
 

Sie wollte gerade voller Begeisterung weiterreden, als ihr Handy klingelte. Sie griff danach, und warf nach einem Blick auf ihr Handy ihren Eltern einen entschuldigenden Blick zu.

„Entschuldigt. Es ist Shiho, ich geh mal kurz ran.“

Damit verschwand sie aus dem Zimmer. Hinter ihr fiel die Tür zu.

Eri seufzte, zog dann eine Augenbraue missvergnügt hoch.

„Musstest du damit anfangen? Du weißt, wie sehr sie ihn vermisst. Wie sehr sie ihn immer noch liebt, insgeheim.“

Ihre Stimme war leise, kaum lauter als ein Wispern, damit Ran sie nicht hörte. Sie schwiegen kurz, hörten sie entfernt ins Handy sprechen. Kogorô schluckte.

„Ich weiß. Und ich würde mir wünschen, es wäre nicht so. Ich frage mich, was der Kerl an sich hatte, dass sie ihm derart verfallen ist.“

„Das kann ich dir sagen.“, murmelte Eri sacht; ein feines Lächeln hatte sich auf ihre Lippen geschlichen.

„Das brauchst du mir nicht sagen.“, meinte Kogorô düster. Um seine Mundwinkel spielte ein sarkastisches Grinsen, in seinen Augen funkelte Ablehnung wie und je, wenn es um ihn ging.

„Shinichi Kudô war ein Typ, dem der Hauch der Gefahr anhaftete, die Aura des Geheimnisvollen umwehte, schlauer war, als es die Polizei erlaubte und jedem um ihn herum, ihn selbst eingeschlossen, guttat… der einigermaßen gut aussah, und sich gut verkaufen konnte… darauf steht ihr Frauen doch.“

Eri schaute ihn an, fast mitleidig, schüttelte milde lächelnd den Kopf.

„Nein, Kogorô.“

Sie seufzte, strich sich müde über die Augen; ihr Blick war ernst, und auch ihre Stimme, als sie sprach.

„Er hat sie geliebt. Und sie das immer spüren lassen, noch bevor er es sagen konnte oder auch nur dachte. Auch wenn wir das nicht sehen wollten, er war immer da für sie, fand immer einen Weg. Deshalb liebte sie ihn. Liebt sie ihn immer noch. Du bist ihr Vater, sie ist deine kleine Prinzessin, du wolltest und willst sie nie gehen lassen; Shinichi hätte tun und lassen können, was er wollte, er hätte es dir nicht Recht machen können. Dass es dann auch noch so gekommen ist…“

Sie stand auf, strich den fliederfarbenen Rock ihres Kostüms glatt, den Blick immer noch auf die Tür geheftet.

„Kogorô, ich frage mich, ob wir es ihr nicht sagen sollten. Dass er damals nicht freiwillig ging. Dass… dass du ihm erzählt hast, sie wäre…“

Sie hielt inne, als das freudige Geplapper Rans draußen abbrach und sich Schritte näherten.

„Nein.“, murmelte Kogorô, schaute stur auf die Tischplatte.

„Ich lass nicht zu, dass ihr wegen ihm noch einmal ein Leid geschieht. Dass er sie nochmal in Schwierigkeiten bringt. Sie ist fast gestorben. Viel hätte nicht gefehlt, das weißt du, wir hatten unglaubliches Glück…“

„Aber…“, zischte Eri scharf. In ihren Augen stand ihr Unwille überdeutlich zu lesen; allerdings ließ ihr Ehemann sie nicht ausreden.

„Du siehst, was das aus ihr gemacht hat! Ran ist… ist nicht mehr Ran. Nicht mehr glücklich, nicht mehr selbstsicher, nicht mehr die Ran, die sie einmal war, und wir…“

„Ja, weil sie glaubt, er habe sie verraten, hätte-…!“

„Nein.“

Er stand auf, in seinen Augen glitzerte eine Kälte, die sie bei ihm selten sah.

„Und das ist mein letztes Wort, Eri. Du weißt, dass es so besser ist. Sie wird ihn vergessen. Früher oder später. Und wenn es soweit ist, wird sie mir dankbar sein. Und du kennst ihn... er ist... ein selbstbewusster Kerl, und doch ohnehin seiner Arbeit verfallen. Vielleicht hat er sie längst vergessen.“
 

Damit verließ er die Küche, zündete sich im Gehen eine Zigarette an und verzog sich ins Wohnzimmer, schaltete den Fernsehapparat ein.

Die Anwältin schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippen. Sie wusste, Kogorô machte sich Gedanken um Ran, vielleicht sogar um Shinichi. Und er log, wenn er behauptete, er überlegte nicht, ob er Ran reinen Wein einschenken sollte, endlich… denn Fakt war, nach fünf Jahren hatten sich seine Hoffnungen nicht erfüllt, und waren auch noch weit entfernt davon, es je zu sein.

Die Hoffnung, dass sie glücklich wurde.

Die Hoffnung, dass sie wieder wurde wie früher; dass sie es endlich hinter sich ließ, dieses Gefühl des Verlassenwordenseins, zusammen mit dem Gefühl von Minderwertigkeit, das damit einherging…

Die Hoffnung, dass sie Shinichi Kudô vergaß.
 

Tatsache war wohl, sie würde ihn nie vergessen.

Und ihre seelischen Wunden würden es ihren körperlichen erst dann gleichtun und heilen, wenn sie es endlich wusste… dass er sie geliebt hatte, dass er nicht freiwillig gegangen war.

Wenn es nun aber Ran schon so verändert hatte,… was war dann aus ihm geworden?
 

Eri schluckte, zog sich die Brille von der Nase, strich sich mit einer Hand über die Augen, und fragte sich, warum sie eigentlich immer noch schwieg. Es war nicht richtig.
 

Was für ein Leben führst du, Shinichi Kudô, in dem Glauben, Schuld zu sein am Tod der Liebe deines Lebens…

Haben wir das Recht, dir das anzutun?

Du weißt es offenbar immer noch nicht… sonst wärst du längst hier.

Hättest dich doch sicher bei ihr gemeldet.

Also lebst du noch immer mit dem Gedanken, dass sie damals in deinen Armen gestorben ist.
 

Aber auch wir sind nur Eltern… wir lieben unsere Tochter.

Wollen, dass sie sicher ist, wollen sie nicht verlieren…

Du musst das wohl verstehen.

Ich weiß nicht, ob du das kannst.
 

Ganz sicher weiß ich, dass wir das eigentlich nicht von dir verlangen dürfen.
 

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Hallo Leute!
 

Bitte entschuldigt das Malheur von letzter Woche. Ich wollte eigentlich nur den Vorwortstext umstellen – und hab damit aus Versehen die Bearbeitungsquota überschritten, weshalb mein Kapitel noch einmal zur Freischaltung wanderte.

Ich hoffe, ihr konntet es dennoch genießen – und dieses hier auch! Zur Entschädigung gibt’s in meinem Blog eine kleine Vorschau auf nächste Woche. Es wird spannend – denn langsam holt den guten Sherlock Holmes die Vergangenheit ein!
 

Kommentieren net vergessen, Leute – ehrlich, das motiviert mich einfach ungemein, deshalb wärs lieb, wenn ihr euch die Zeit nähmt, ein paar Worte zu hinterlassen über Dinge, die euch gefallen haben und Dinge, die euch weniger zusagten.
 

Beste Grüße,

eure Leira

Tag 3 - Kapitel 6: Internationale Zusammenarbeit

Tag 3
 


 

KAPITEL 6 – INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT
 

Shinichi stutzte, als er am nächsten Morgen das Yard betrat. Die Zeitungen hatten noch nicht viel Neues berichtet – ein paar Stimmen waren laut geworden, die sich über den schleppenden Verlauf beschwerten, aber ansonsten waren sie verhältnismäßig glimpflich davon gekommen, dafür, dass sie am Vortag nichts erreicht hatten.

Nichts destotrotz rannte ihm Jenna entgegen, ihre Frisur leicht aufgelöst, ihr Gesicht schon wieder von nervösen roten Flecken übersät.
 

„What is it this time, Jenna?“, fragte Shinichi vorsichtig, als er sich eine Tasse Kaffee aus dem Automaten zog, behutsam auf die Oberfläche blies, um sich nicht an der heißen Flüssigkeit die Zunge zu verbrühen.

„The AC wants a word with you, Sir.“

Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Yet again?“

„Yeah. And he sounded quite agitated.”

“Agitated like in being positively excited or like in being… not amused at all…?”

„No idea, Sir. He was about to answer a call, so he was very short in his… instructions.”
 

Shinichi seufzte.

„Let me have a guess: Get. Him. Here. Immediately.“

„Very close, Sir.“

Jenna grinste, sammelte sich dann.

„There’s definitely no time to waste for you.“

„When have I ever wasted time...“, stöhnte Shinichi, nahm einen Schluck Kaffee, drückte dann Jenna den Becher in die Hand.

„Go into my bureau and wait there – I’ll meet with you after my conversation with our adored assistant commissioner.”

Damit machte er sich auf den Weg ins Büro seines Vorgesetzten, betrat es wie am Vortag nach einem kurzen Klopfen und wartete wie am Vortag sitzend darauf, dass der AC mit seinem Telefonat fertig wurde.

Dabei starrte er auf seine Finger, oder tat zumindest so – stattdessen scannte er die Dinge, die auf dem Tisch des ACs lagen, lauschte dem Tonfall des Telefonats und nahm die Körperhaltung des Mannes ihm gegenüber auf.
 

Erregt, aber nicht verärgert. Kein Hinweis, dass die Presse uns bereits in Stücke reißt… es muss etwas anderes sein.
 

„Thank you very much, yes. He’ll be picked up, of course. I’ll send someone to fetch him immediately. By the way, it would have been less busy, if you’d called earlier – what? Yeah. Well. That’s right, I suppose…“

Montgomery verdrehte die Augen, schnaufte gepresst, als könne er seine Verstimmung nur mit Mühe zurückhalten. Shinichi blickte auf.

„You have tried, yes. Yes. There was nobody to be reached, because it was three o’ clock in the morning and the night shift… yeah. What? Could you please repeat this? No. Sure. Of course. You could not know…“

Er legte auf, seufzte entnervt.

„Good lord. Why are Japanese people speaking an English so hard to understand?“

Er starrte Shinichi an, der ihm höflich entgegenlächelte.

„I leally don’t know what you mean, Sil.”

Montgomery griff sich an die Stirn.

„Ahh…“

Er seufzte.

„Sometimes I forget that you are no Englishman, Sherlock.“

Ungelenk fuhr sich der Mittfünfziger durch sein graumeliertes Haar.

„You should count this definitely as a compliment.“

Shinichi lächelte müde.

„I’m indeed honored. But I’m not here to collect compliments about my Englishness, am I?“

Der junge Detektiv schmunzelte, während sein Vorgesetzter kurz grinste.

„No, you’re not. Any news about the case and the forthcoming of our investigation?“

„You’d be the first to know, Sir.“

Shinichi blickte kurz zur Seite, ein Schatten huschte über sein Gesicht.

„„I’d love to know more myself. Jenna’ll dig into the cloth issue and I wanted to busy myself with the search of the painter of that picture. But as long as we don’t know the identity of our victim…“

Shinichi blickte auf, als Stoff rascheln hörte, als sich Jackson Montgomery kurz bewegte, hielt inne.
 

„But didn’t you want to tell me something? About the Japanese and their bizarre English?“

Seine Augenbrauen waren nach oben gerutscht.

AC Montgomery begann, sich seinen Schnurrbart zu kraulen, als er kurz sein Telefonat rekapitulierte.

„Yes… indeed. You need not to bother about the problem of Jane Does identity any longer. The forensics were given a hint yesterday evening…“

„Wait… what?!“

Shinichi fuhr hoch, lehnte sich nach vorn.

„Why didn’t I know about that earlier?!“

„You would have learned about it this very moment. There was nothing to be done yesterday, anyway. But I have to admit, the Japanese don’t lose much time.“

Der junge Detective Superintendent verdrehte die Augen.

„And that means…?“

„… the hint came from Japan. A relative of the young woman saw her photo in the internet, together with our appeal. She contacted the police in Japan, the police in Japan contacted us, yesterday night, as you might have gathered from my telephone call right now, and well, they want to…“

„… they want what…?“, hakte Shinichi nach.

„You will be getting some support.“

Montgomery lehnte sich zurück, begann, mit seinem Kugelschreiber zu spielen. Das leise Klack-Klack, als er das Ende des Stifts immer wieder auf die Tischplatte stieß, um die Miene rein- und rauszuschieben, machte Shinichi fast wahnsinnig. Er riss sich dennoch zusammen, zog die Augenbrauen hoch.

„Support? Support of what kind? From another department?“

„No.“

Der AC hielt inne.

„Support of the international kind.“

Er seufzte leise.

„And this is something, to be honest, that doesn’t amuse me at all. Having someone foreign in our investigation is not what I wished, especially at this point of the investigation. I nevertheless expect of you, that you will represent the yard as a professional investigator in every aspect and every way. Our cultures might clash on one occasion or the other, but I hope that your past might be of some help to you at last, Superintendent Kudô.“

Shinichi zog interessiert die Augenbrauen hoch. Aufregung stieg in ihm hoch, schien ihn fast zum Platzen zu bringen. Gleichzeitig lief es ihm bei dem Gedanken daran eisig den Rücken hinab.
 

Ein Kollege aus Japan?!
 

Sein Vorgesetzter schien die Veränderung im Verhalten seines Kollegen durchaus zu bemerken.

„Yes, I see, your thoughts are already heading towards the right direction. It was possible to identify the girl as Japanese citizen, with the help of her Japanese relative. Her Name is Ayako Kanagawa, she spends a foreign semester here – spent, to be correct. The parents will arrive the next days to verify this. And to avoid that they have to deal with us alone, the Japanese police delegates…“

Shinichi merkte, wie ein Zittern durch seinen Körper lief.

„…a liaison officer.“, vollendete er Montgomerys Satz.

„A police officer of their mother country, correct. To be more precise, an officer of the crime department in Osaka, as the girl lived there. Her parents are from Tokyo.“

Montgomery nickte langsam.

„They show themselves grateful for our cooperation. You know, Sherlock, the officer is only an observer, he’ll be looking over your shoulder, talking to the parents and accompanying you at your investigation. He is there to make sure that nothing is overseen or left out. He must not investigate on his own.“

Der Chef des Departments seufzte leise.

„This is going to put additional pressure on you; besides being an additional strain on you to tag along a foreign police officer, who has a close look at your fingers – especially on your first case in this position, and which is, as it seems, carrying along enough problems itself. I nevertheless hope that you, according to your extraordinary success, will handle this exemplarily and flawless.”

Er begann, mit seinem Kugelschreiber kleine Löcher in das Papier des gestrigen Reporter zu picken.

„However, this is common practice and we will do our best to greet our guest politely and give him insight into every aspect of our work.“

Shinichi nickte langsam.

„When…?“, fragte er leise.

„You are going to fetch him; his plane arrives within the next hour. London-Heathrow. His name is Heiji Hattori.“
 

Shinichi merkte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich.
 


 

Wie und in welchem Zustand er das Büro des AC verlassen hatte, wusste er nicht mehr.

Ob er sich noch verabschiedet hatte oder einfach nur kreidebleich das Zimmer verlassen hatte, er hatte keine Ahnung. Er hoffte inständig, Montgomery hatte sein seltsames Verhalten nicht bemerkt.
 

Nun stand er schwer atmend am Gang, starrte das gefällige Muster des Linoleums zu seinen Füßen an und versuchte, Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Fahrig wischte er sich über Stirn und Augen.
 

Heiji! Von allen verdammten Polizeibeamten Japans schicken die ausgerechnet ihn!
 

Panik stieg in ihm hoch, als ihm bewusst wurde, dass sein abgeschottetes Leben heute sein Ende finden würde, und das in knapp einer Stunde. Wenn Heiji erst einmal da war, dann würden auch bald alle anderen wissen, wo er war und was aus ihm geworden war.

Dann würden die Fragen beginnen, und mit ihnen die Vorwürfe.
 

Mein ehemals bester Freund.

Sicher hasst er mich, für alles…

Dafür, dass ich ohne Erklärung verschwunden bin.

Dafür, dass ich auf Ran nicht besser aufgepasst habe.
 

Verdammt, was mach ich mit ihm?

Das kann niemals gut gehen!
 

Dann schluckte er, riss sich zusammen.

Er hatte keine Wahl, er musste sehen, was auf ihn zukam.

Und zu dieser Tageszeit war die Strecke nach Heathrow kein Vergnügen, also sollte er sich besser beeilen.

Shinichi seufzte, biss die Zähne zusammen bis sein Kiefer schmerzte, und wischte sich die schweißnassen Hände an seinem Jackett ab – dann rannte er den Flur entlang in sein Büro um Watson einzusammeln, die dort sonst vergeblich auf ihn warten würde.
 

Wenige Minuten später – standen sie im Stau.
 

Shinichi ließ seinen Kopf gegen das Lenkrad sinken, stöhnte entnervt auf. Seine Partnerin neben ihm warf ihm einen fragenden Blick zu. Er hatte sie kurz aufgeklärt – über Jane Does wahre Identität und den Grund ihrer Fahrt zum Flughafen.

Sie hatte ihm dann aus dem Autopsiebericht vorgelesen, was er ohnehin schon wusste – Tod durch diese verheerende Verletzung, verursacht durch einen Stichwunde in die Seite, die tatsächlich das Herz verletzt hatte. Sie war verblutet, qualvoll, mit jedem Herzschlag ein Stück mehr. Das Organ, das sie am Leben hielt, hatte sie umgebracht, weil es seine Arbeit tat.
 

Verblutet.

Ihr Herz hat ihr Blut aus ihr herausgepumpt.

Wie… makaber…
 

Zum Tatort und zum Todeszeitpunkt gab es ein paar Neuigkeiten; der Todeszeitpunkt wurde auf etwa vierundzwanzig Stunden vor Auffinden der Leiche geschätzt, der eigentliche Tatort war wahrscheinlich ein altes Fabrikgebäude oder ähnliches. Auf dem Kleid hatte man einen winzigen Ölfleck gefunden, Maschinenöl.
 

Nun gab es im Großraum London hunderte Fabriken und das Maschinenöl war ein herkömmliches Standardprodukt – diese Spur führte sie also nicht weiter.

Das Kleid vielleicht schon eher; es handelte sich um anthrazit beziehungsweise schwarz gefärbte Wildseide. Diesen Stoff verkauften nur eine Handvoll Händler in London; und die galt es, bezüglich ihrer Kunden auszuquetschen. In seiner Mappe befand sich bereits ein Bild des Kleids sowie eine Stoffprobe - vielleicht erkannte jemand etwas wieder und konnte die Käuferin oder den Käufer der Seide so identifizieren.

Das würde wohl Watson übernehmen.

Er würde sich mit dem Bild befassen. Eine Kartei mit bekannten Malern und Kunsthochschulen im Großraum London wurde bereits erstellt und wartete mit Sicherheit auf ihn, wenn er zurückkehrte.
 

Aber jetzt… galt es den Kollegen abzuholen, wie er Heiji seiner Partnerin gegenüber nannte, und fragte sich jetzt schon, wie lange Watson brauchen würde, um zu merken, dass Heiji nicht einfach nur ein „Kollege“ war. Er parkte sein Auto auf dem Flughafenparkplatz und legte Jennas Polizeimarke in die Windschutzscheibe, die ihnen wenigstens die horrende Parkgebühr ersparte. Dann machte er sich mit Watson auf den Weg, schaute dabei hektisch auf die Uhr – sie waren fast ein wenig spät dran.

Ungeduldig wartete er, bis sich seine Partnerin aus dem Auto gequetscht hatte, wohl bedacht, die Beifahrertür nicht in die Seite des nebenstehenden PKWs zu rammen – Shinichi musste zugeben, die Parklücken hier waren nicht eben großzügig bemessen. Kaum hatte sie ihre Tür ins Schloss geworfen, verriegelte er das Auto mit der Fernbedienung und schritt eilig voran. Jenna rannte hinter ihm her, holte ihn erst in der Eingangshalle wieder ein.

„Sir!“, japste sie neben ihm; ihre Stimme war noch ein wenig heller als sonst, wie immer, wenn ihr die Puste ausging.

„What?“

„Don’t we need a sign?“

Shinichi blieb wie angewurzelt stehen.

„Sign?“, fragte er verwirrt.

„Well, a sign with his name written on it. So he’ll be able to find us.”

Sie strich sich ihre Haare hinter die Ohren, kam langsam wieder zu Atem. Shinichi lächelte bitter; etwas, das sie erstaunte.

„No, I don’t think we’ll need a sign. He will for sure find us, one way or another…”
 

Tatsächlich war er auch nicht zu überhören, befand Shinichi nur Augenblicke später, als sie sich durch die Menge der aus dem Flughafen strömenden oder zu ihrem Terminal eilenden Fluggäste gewühlt hatten.
 

„What’s that meaning, nobody’s here to fetch me? Hasn’t anybody called you to …“
 

Der junge Superintendent drehte sich um. Heiji war nicht zu übersehen; mit einem großen Koffer und einer Reisetasche stand er an der Information und gestikulierte wild – und sah mit seiner Blitzschlagfrisur, die er immer noch trug und für die er nach wie vor wohl eigentlich einen Waffenschein gebraucht hätte, fast so aus wie vor fünf Jahren.

Er war ein wenig gewachsen, wohl, sein Teint immer noch dunkler, braungebrannt. Sein Körperbau war ein wenig kräftiger, als er ihn in Erinnerung hatte – wobei der exzellente Kendokämpfer schon immer ein wenig muskulöser gewesen war als er selbst. Shinichi blickte an sich herab, zuckte mit den Schultern. Er hatte in der Richtung in den letzten fünf Jahren auch nichts getan.

Er hatte in den letzten fünf Jahren genau genommen gar nichts für sich getan, bis auf die Tatsache, genug zu essen, zu trinken und zu schlafen um sich am Funktionieren zu halten.
 

Heiji hingegen sah gut aus – wie immer.
 

Shinichi seufzte. Neben ihm bewegte sich Jenna unruhig.

„Is that him?“, fragte sie dann leise murmelnd.

„Oh yeah. That’s him.“

„But he isn’t like you at all, Sir.“

Shinichi zog amüsiert die Augenbrauen hoch.

„No, he isn’t. Why should he be like me?“

„Well.“

Die junge Frau wurde rot bis unter die Haarwurzeln.

„One always hears that the Japanese are so quiet, always calm and friendly and polite…“

„Well, Jenna, and I always heard that the Britisch are all black-humoured and have a deep desire for their afternoon-tea. I haven’t ever seen you drink a cup of tea – at any time of the day…“

Damit setzte er sich in Bewegung, um die arme Flughafenangestellte von ihrem Leid zu erlösen, eine tomatenrote Jenna Watson im Schlepptau.
 

„Sir.“, begann die akkurat frisierte Dame, wischte sich mit einem Tüchlein über ihre Stirn, lockerte sich mit ihrem kleinen Finger ein wenig ihren Seidenschal.

„I am sure you have not been forgotten. But the traffic in London…”

„…is short and fast the hell itself, sometimes. Thank you very much, Miss…”

Shinichi beugte sich an Heiji vorbei, um das Namensschild lesen zu können, zückte gleichzeitig seine Dienstmarke und hielt sie hoch, damit die junge Angestellte sie lesen konnte.

„Kerry. Detective Superintendent Kudô, New Scotland Yard, and obviously already feverishly desired.“

Er warf Heiji einen kurzen Blick zu, musste an sich halten, um bei dem entsetzten und zugleich wutentbrannten Gesicht seines Gegenübers nicht zusammenzuzucken. Heiji starrte ihn an, hatte die Luft sichtbar angehalten, kaute auf seiner Zunge, um sie im Zaum zu halten.

Er hatte ihn nie so gesehen.

„Thank you very much. We’ll care for everything else. Have a nice day.“

Er deutete eine kleine Verbeugung an, griff mit der einen Hand nach Heijis Koffer und bedeutete mit der anderen Jenna, nicht wie angewurzelt herumzustehen, sondern ihrem „Gast“ seine Tasche abzunehmen.

Heiji starrte ihnen sprachlos hinterher, ehe er seine Fassung wiederfand und seine Kinnlade, die ihm gerade bis auf den Boden gefallen war, wieder aufsammeln konnte.

„Du?!“, zischte er dann atemlos, als er die beiden Beamten von Scotland Yard wieder eingeholt hatte.

„DU?! Verdammt…“

Ehe er jedoch seiner Wut Luft machen konnte, schnitt ihm Shinichi mit einer harschen Handbewegung das Wort ab, brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

„Ja. Ich. Hör zu, ich hör mir alles an, was du mir zu sagen hast, aber nicht jetzt. Ich bitte dich, reiß dich solange zusammen, bis wir allein sind.“

Er atmete tief durch, sah Heiji an, wie schwer ihm das Nicken fiel, das er gerade so eben zustande brachte. Er konnte genau erkennen, wie fahl er unter seinem braungebrannten Teint geworden war, wie sehr es in ihm brodelte. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt und in seine Hosentaschen gerammt, schon in dem Moment, als er Shinichis Stimme gehört hatte.

Diese Stimme, die er unter tausenden wiedererkannt hätte.

Schließlich räusperte er sich, lächelte dann businesslike.

„Good lord. Where are my manners?“

Er deutete eine Verbeugung an.

„Kommissar Heiji Hattori, Präfektur Osaka, murder squad.“ Er reichte zuerst Shinichi, dann Jenna geschäftsmäßig die Hand.

Die junge Frau strahlte ihn an.

„I do hope you will have an enjoyable stay here!”

Heiji warf ihr einen verständnislosen Blick zu.

„Hardly, Jenna. This man will work with us at our murder case…“

Shinichis Stimme klang staubtrocken. Heiji warf ihm einen schrägen Blick zu.

„However, if he wants to do some sightseeing, I’m fine with that.“

Damit räusperte er sich.

„For now, though, we will bring you to your hotel where you can refresh yourself, if you want. After that, we must beg you to accompany us to Scotland Yard, where…”

„… the AC surely is bursting to make your acquaintance! We are not working with a Japanese so often, I am so excited…!“

Shinichi fiel fast über den Koffer, den er gerade durch die Flughafentür nach draußen schob, während Heiji lauthals zu lachen anfing.

Und erst jetzt ging der jungen Beamtin auf, was sie gerade von sich gegeben hatte.

„Well… does this guy not count as a Japanese?“, meinte Heiji, immer noch lachend, während Shinichi sich sein Schienbein rieb.

„Mr. Sherlock Holmes?“

Jenna lächelte entschuldigend.

„Nobody can pronounce his first name properly and he himself is speaking more accurate British-English as our chief secretary does, who is a descendant of an old aristocratic family. So, no, somehow not. Sorry, Sir.“

Shinichi warf ihr einen langen Blick zu.

„Thanks, Jenna.“, meinte er gedehnt, seufzte dann.

Mittlerweile waren sie am Wagen angekommen. Shinichi öffnete den Kofferraum und wuchtete das Gepäck seines ehemaligen Freundes hinein, sich der Blicke des Osakaners wohl bewusst.
 

„Don’t make yourself comfortable, Jenna.“, bemerkte er, als die junge Frau ihre Jacke ausziehen wollte.

Damit drehte er sich um, gab dem Kofferraumdeckel einen Stoß, damit er zuflog.

„I want you to begin to investigate at the fabric stores. So you will leave us soon.“

Er öffnete eine Tür im Fond, um ihr zu bedeuten, wo ihr Platz war, und nickte Heiji auf den Beifahrerplatz, von wo er die Fallakte nahm, nachdem er selbst Platz genommen hatte.

Er öffnete sie, kramte eine Liste, zwei Tütchen und zwei Fotos heraus.
 

„You have something to take notices with you?“

„Jap.“

„Fine. Here is a list with addresses, here are the pictures of the dress and some samples of lining and upper material. You know what to do – ask the dealers, whether they sell this sort of fabric and keep in mind that it could be non-colored, nature.

Should they agree to this, ask for their client list. Let them hand it out to you, copy it or write it down. Write down everything which might seem important. Should the dealers not have such things like client lists, let them give you a good description of their clients. I let you jump off at the first store. As soon as you are done with this, come back to the Yard; call yourself a cab or go by tube. You can call me as well, perhaps I am around and can pick you up.”
 

Sie mussten nicht weit fahren, bis sie Jenna auf ihre Ermittlungstour schicken konnten.
 

Dann waren sie allein im Wagen. Shinichi atmete tief durch, dann scherte er in den laufenden Verkehr ein. Als Heiji den Mund aufmachen wollte, schüttelte er nur den Kopf.

„Nein. Noch nicht jetzt.“

Er warf ihm einen Blick aus seinem Augenwinkel zu.

„Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren.“

Ein leiser Seufzer entwich seinen Lippen, ehe er seine Augen wieder dem Geschehen jenseits der Windschutzscheibe widmete.

Heiji nickte nur langsam, ließ seine Augen aber nicht von ihm. Er wusste nicht, was er erwartet hatte; aber nicht das, soviel war sicher. Er hatte sich ein Stück weit gefreut, als man ihm eröffnet hatte, dass sein Ansprechpartner ein Japaner war; aber dass es sich so verhielt, damit hatte er nicht gerechnet.

Shinichi war blass, aber gut, das war er immer gewesen; so hatte er ihn Erinnerung. Auch der Haarschnitt, die Art, wie er sich kleidete, seine Bewegungen, Gesten – alles das war, wie es immer gewesen war.

Nicht jedoch der Blick in seine Augen.

Aus ihnen sprach immer noch eine wache Intelligenz und ein Verstand, scharf wie die Klinge eines katana – aber auch noch etwas anderes.

Etwas, das seine Augen dunkler machte, auch wenn sie doch immer noch glasklar und wasserblau waren, ganz genauso wie immer. Etwas, das ihnen den Glanz raubte, die Lebendigkeit.

Schmerz. Schuld.

Selbsthass.

Einsamkeit.
 

Heiji atmete langsam aus.
 

Kudô…
 

Und dennoch.

Er verstand es nicht. Und konnte sie nicht vergessen, all die Jahre, in denen sie nicht wussten, was aus ihm geworden war, als er einfach gegangen war, ohne ein Wort, eine Erklärung.
 

Nein.

Du wirst dich erklären müssen, so leicht kommste mir nich‘ davon.

Du warst mein Freund, verdammt - mein bester Freund.

Ich dacht‘, das würde irgendwas bedeuten.

Offenbar hat es das nich‘…

Was hastde dir dabei gedacht!

Du wärst es uns schuldig gewesen, du hättest was sagen müssen…

Auch wennsde Probleme hattest, wir hätten… versuchen können, sie gemeinsam zu lösen. Aber nein, du verdammter Sturschädel hast alles allein machen müssen, und dabei…

Du hast uns alle allein gelassen.

Hastde eig‘ntlich ne Ahnung, wasde angerichtet hast?
 

Wut kochte in ihm hoch.
 

Du hast dieses Leben wohl verdient. Allein zu sein, einsam zu sein, und dich zu verachten, für alles, wasde angestellt hast.

Wenigstens bereust du’s.

Aber warum musste es soweit kommen?!
 

Im Yard angekommen, informierte sie eine gut gekleidete, perfekt mit britischem Akzent englischsprechende Dame, dass sich die gentlemen noch etwas gedulden müssten, bis der assistant chief commissioner ein paar Minuten für eine Begrüßung erübrigen könnte.

Kurz darauf fanden sie sich auf einem der Gänge des Yards wieder – allein. Shinichi sah Heiji an, dass er kurz vorm Platzen war, was auch immer da in ihm brodelte. Wahrscheinlich war es besser, er ließ die Bombe kontrolliert explodieren, bevor sie im Büro des AC ungebremst hochging.

Er seufzte laut, straffte die Schultern.
 

„Also schön, bringen wir’s hinter uns. Komm mit.“
 

Shinichi schluckte, bedeutete ihm, ihm zu folgen; er konnte die Wut förmlich riechen, die in ihm tobte. Sie gingen nicht lange; Shinichi kannte das Gebäude wie seine Westentasche, und es gab nicht viele Räume, wo man sich einigermaßen ungestört unterhalten konnte.
 

Es ging in die Verhörräume.
 

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass auf der anderen Seite der Trennwand niemand saß, und den Raum sicherheitshalber abgeschlossen hatte, bedeutete er Heiji, den kleinen, kahlen Raum zu betreten, und sich zu setzen.
 

„WO ZUR HÖLLE WARST DU?!“
 

Heiji hatte kaum Platz genommen, als er zu schreien anfing; Shinichi zuckte nicht zusammen, versuchte aber auch nicht, eine Antwort auf diese sich eigentlich selbst beantwortende Frage zu geben.
 

„Wieso bistde gegangen ohne uns etwas zu sagen? Ich mein‘, was soll ‘n das? Du lässt uns fünf Jahre ohne eine Meldung von dir, verbietest deinen Eltern, uns zu sagen, wo du steckst, was… was, verdammt nochmal, hastde dir dabei gedacht!? Zuerst die Sache mit der Organisation, und dann haustde ab! Ich dachte, wir wärn Freunde, der Professor dachte das sicher auch, oder Ai…!“
 

Heiji ließ sich nun doch auf den Stuhl gegenüber sinken, schaute seinen ehemals besten Freund sprachlos an, schnappte nach Luft und sah dabei einem Fisch außerordentlich ähnlich.

Schnaufend atmete er aus, fuhr sich durch seine wie eh und je abstehenden Haare.
 

„Und dann find ich dich hier! In London, du arbeitest beim Yard… mein Gott, Shinichi, warum haste in all den Jahren… Warum biste überhaupt so überstürzt abgehauen, weißte nich‘, wie verletzt du alle hast, als du nich‘ Lebwohl oder sowas in der Art gesagt hast?! Wir hab’n uns Sorgen gemacht, verdammt!!“
 

„Ich weiß.“
 

Er flüsterte die Worte nur.

Heiji hielt inne.

„Ach, wie schön, dassdes weißt, Kudô. Schien dich aber nich‘ groß gestört zu haben.“

Seine Stimme klang gereizt.

„Krieg ich jetzt `ne Erklärung?“

„Lässt du mich ohne eine hier raus?“

„No, Sir.“
 

Heiji ließ sich zurücksinken und verschränkte die Arme vor seiner Brust, starrte ihn unter tief heruntergezogenen Augenbrauen wütend an, während sich Shinichi schwer auf seine Ellenbogen stützte, vornübergebeugt saß und die Tischplatte anstierte, als wolle er mit seinem Blick ein Loch hinein bohren.
 

„Ich konnte einfach keinem mehr unter die Augen treten, Heiji.“

Shinichi schaute kurz auf.

„Aber wieso das denn? Du hast es doch allen gezeigt!“

Der junge Polizist aus Osaka beugte sich vor, in seiner Stimme schwang pure Verständnislosigkeit.

„Du hattest die Organisation zerstört! Du warst wieder du selbst, du hättest endlich da weiter machen können, wo du aufgehört hast…“
 

„Eben nicht.“
 

Shinichi seufzte, fuhr sich durch die Haare, setzte sich dann langsam auf, presste seine Hände auf die Tischplatte.

„Eben genau das nicht, Heiji. Nachdem, was passiert war, konnt‘ ich keinesfalls bleiben. Und ich fühlte mich nicht… wert, mit euch befreundet zu sein, weiterhin. Ich war auch… nicht ich selbst, auch wenn du das glaubtest, nun, da ich Conan losgeworden war. In dem Zustand, in dem ich war, wollte ich mich eigentlich nicht mal meinen Eltern antun. Deshalb bin ich gegangen.“
 

Heiji starrte ihn an wie ein Bus, unfähig das, was sein Freund ihm gerade zu erklären versuchte, zu verstehen.

Shinichi war auffällig blass geworden.
 

„Ich fürchte, du musst ein bisschen genauer werden, Kudô. Ich versteh dich nämlich nich‘... warum haste niemandem was gesagt? Uns alle so vorn Kopf gestoßen?“

Shinichi bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl, schluckte.

„Du solltest es doch wissen. Wegen der Sache… mit…“

Er brach ab, räusperte sich, sammelte sich mit Mühe.

„Ich konnte einfach nicht bleiben, Heiji, nicht nachdem, was passiert war mit…, muss ich dir das wirklich sagen…?“

„Es geht um Ran, nicht wahr?“

„Um wen sonst.“

Shinichis Stimme war kaum hörbar, und er starrte wie gebannt auf die Tischplatte, als er sprach. Der junge Mann aus Osaka seufzte. Er hatte ja geahnt, dass das die Richtung war, aus der der Hase lief, aber…

„Kudô, ich kann mir ja vorstellen, dass du dich deswegen mies fühlst, dir die Schuld gibst, aber hättest du nicht wenigstens Lebewohl sagen können? Ich kann ja verstehen, dass das ein Trauma war für dich, du ein wenig Abstand zu alldem wolltest, so ein Erlebnis will ich… mir nicht vorstellen…

Und du siehst auch heute noch, offen gestanden… gezeichnet aus.“
 

Er seufzte, wollte fortfahren, als Shinichi ihn mit leiser Stimme unterbrach.

„Du machst dir keine Vorstellung, glaub mir.“

Langsam blickte er auf, schaute Heiji mit geschlagenem Gesichtsausdruck in die Augen.

„Heiji, du hast keine Ahnung. Es…, - Gin…“

Er brach ab, sammelte sich, ehe er weitersprach, leise, sein Tonfall kaum lauter als ein Flüstern.
 

„Es war, kurz… kurz bevor ihr kamt. Sie haben auf uns gewartet, es war eine Falle, von vorneherein. Sie waren zu dritt, ich war noch… zu erschöpft von…“, er unterbrach sich selber, schien auf seiner eigenen Zunge zu kauen, ehe er fortfuhr, „Egal. Machen wir uns nichts vor; wir waren ihnen unterlegen, so ist das einfach. Sie haben uns überwältigt, und Gin…“
 

Shinichi atmete mühselig ein, fuhr sich über die Stirn, auf die in den letzten Sekunden kalter Schweiß getreten war bei der der Erinnerung an diese Nacht.

„Er hat ihr ein Samuraischwert in den Bauch gerammt, einfach so. Ich hielt sie in den Armen, und sie verlor so furchtbar viel Blut. Ich… ich hab versucht, die Wunde zuzudrücken, das hab ich wirklich, aber sie war so schwer verletzt. Sie hat nicht geschrien, nicht geweint, irgendwann schien sie auch keine Angst mehr zu haben. Nein.“
 

Er lächelte bitter.

„Sie hat mich nur angesehen, und gelächelt.

Gelächelt, Heiji…!“
 

Er hob den Kopf, und Heiji erschrak. In Shinichis Augen stand der blanke Hass auf sich selbst und ein Schuldgefühl, dessen Ausmaß nicht abzuschätzen war.
 

„Sie hat mir gesagt, dass sie mich liebt, und starb! Verdammt…“

Seine Lippe begann zu zittern, er biss sie sich blutig, um zu verhindern, dass Heiji sah, wie fertig ihn die Erinnerung immer noch machte. Was er nicht sah, war der stutzig gewordene Ausdruck in Heijis Augen, aber noch schwieg er – Shinichi redete weiter, hätte ihn wohl ohnehin kaum zu Wort kommen lassen und er wollte ihn nicht unterbrechen, wo ihm doch das Reden über diesen Abend so schwer fiel.
 

„Ich hab sie angefleht, durchzuhalten. Ihr Blut war überall, und sie wurde immer blasser. Ich hab ihr gesagt, sie soll aufhören zu reden. Soll sich aufs Atmen konzentrieren. Ich… hatte eine Scheißangst, und ich fühlte es doch, dass ich es nicht aufhalten konnte, dass dieser Gegner mir über war, der Tod…

Du hast doch Leute schon sterben gesehen, wie ich auch, aber… dass… sie starb…“
 

Er hielt inne, presste sich die Hand auf den Mund.

„Ich hab gebetet, ehrlich. Gefleht und gebettelt. Ich hab geheult, ich… und sie lag nur da, in meinen Armen und wurde von Minute zu Minute blasser, ihre Augenlider wurden immer schwerer, aber sie sah mich immer noch an, mit diesem… Blick. Und sie hat nicht aufgehört zu lächeln, obwohl es ihr immer mehr Kraft abverlangte, sie immer müder wurde, immer erschöpfter, ich meine… das Leben… es… es…“
 

Mit zitternden Fingern griff er sich an die Stirn, schloss die Augen.

„Es hat sie verlassen, ihr Leben. Sie… sie ist gestorben, in meinen Armen. Hinter mir tauchte Kogorô auf, irgendwann. Sie war herztot, als der Krankenwagen kam, hatte keinen Puls mehr und keine Atmung und... Heiji…“
 

Langsam schüttelte er den Kopf.
 

„Ich hab erfahren, wie es sich anfühlt, wenn sie in meinen Armen meinetwegen stirbt. Wie hätte ich da bleiben können… sag mir, wie hätte… wie hätte ich…“
 

Er vergrub sein Gesicht kurz in seinen Händen, schaute ihn dann ernst an.
 

„Sie musste sterben, wegen mir! Ich bin gegangen, weil ich das nie wieder erleben wollte. Weil ich die einzige Möglichkeit, diese Situation zu vermeiden, diese… Gefahr von euch allen fernzuhalten, darin sah, mich selbst von euch fernzuhalten…

Und überhaupt… wie hätte ich einem von euch je wieder in die Augen sehen konnten, nachdem was passiert war. Sie war fort.“
 

Stille herrschte lange Zeit in dem kleinen Verhörraum; das einzige Geräusch war Shinichis keuchender Atem, als er versuchte, langsam wieder Herr über sich zu werden.
 

Heiji schaute ihn unverwandt an, in seinen Zügen spiegelte sich Entsetzen.
 

„Das hab ich… nicht gewusst. Ich kannte die Vorgeschichte so nich… ich weiß nur, was der Alte mir gesagt hat. Dass man sie schwer verletzt hat, das andere… das wusst ich nich. Keiner wusste das. Wir kennen die Geschichte erst ab dem Zeitpunkt, als sie im Krankenhaus war.“

Shinichi nickte nur langsam, ließ er sich in seinen Stuhl zurücksinken, seine Schultern waren gebeugt, seine Arme baumelten schlaff an seinen Seiten.
 

„Aber du verstehst jetzt sicher - was hatte ich in Tokio noch zu suchen… ich hatte versagt. Und ich hatte euch alle enttäuscht. Und ohne sie... ich meine, wundert es dich wirklich, dass ich, wo Ran doch tot war, keinen Sinn mehr darin sah, in Tokio zu bleiben…?“
 

Heiji starrte ihn an, unfähig zu irgendeiner Regung, ehe er sich zurücklehnte und seinen Freund betrachtete, der niedergeschmettert vor ihm saß.
 

„Shinichi…“, murmelte er dann leise, in seiner Stimme schwang seine Fassungslosigkeit deutlich mit. Er hatte in den letzten Minuten versucht zu begreifen, was Shinichis Worte ihm sagten – und seit er sich klar darüber geworden war, beschäftigte ihn die Frage, wie er ihm die Wahrheit beibringen sollte.

Sie würde ihn erschüttern.

Seine Welt ins Wanken bringen.
 

Die Wahrheit.
 

„Shinichi, du denkst… sie ist tot? Immer noch?“, murmelte er schließlich leise, schaute ihm geradewegs ins Gesicht, versuchte, seine Reaktion aus seiner Mimik herauszulesen.
 

Der Angesprochene schaute auf, verwirrt. Er ahnte noch nicht wirklich, auf was Heiji hinauswollte, auch wenn seine Frage eigentlich sehr genau auf etwas deutete.

„Was meinst du mit immer noch…?“

Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Heiji sah ihm in die Augen, konnte erkennen, wie sich die Erkenntnis im Kopf seines Freundes manifestierte, als er die Bedeutung dieses Satzes langsam erkannte. Er schluckte hart, schüttelte seinen Kopf, langsam, als aufkeimendes Entsetzen seine Glieder taub werden ließ.

„Ich meine, das ist es, was Kogorô mir sagte. Ihr Vater. Er kam raus, kurz nachdem man sie in den OP gerollt hatte, sagte mir, dass man für sie nichts mehr tun hatte können… und dass ich verschwinden solle. Ich hab ihm das… geglaubt, ich meine, sie… starb ja in meinen Armen. Ich war ohnehin völlig neben mir, also bin ich gegangen, ich hab mit keinem mehr geredet, ich… draußen wartete Meguré, für eine Befragung, die denkbar kurz war, dann fuhr er mich nach Hause.“

Seine Stimme war heiser und er räusperte sich mühsam.

„Damit, dass ich so schnell verschwunden bin, und so gründlich, hat wohl selbst Kogorô nicht gerechnet.“

Heiji beobachtete ihn musternd. Er konnte nur erahnen, wie es in der Gefühlswelt seines Freundes gerade aussah; was er sah, war, dass er um seine Beherrschung kämpfte. Er seufzte leise, strich sich über seine widerspenstigen Ponyfransen.

„Du hast niemand anders gefragt, wie es ihr geht? Oder wie ihre Beerdigung war?“

„Nein.“, antwortete Shinichi zögernd, merkte, wie nun Scham in ihm emporkroch. Andererseits kannte er die Erklärung dafür, warum er keinen gefragt hatte.

Keinen hatte fragen können.

Sie Heiji verraten würde er jedoch nicht.
 

Der schaute ihn seinerseits nur etwas verständnislos an.
 

Nachlässig von dir, Kudô.
 

„Hab ich nicht. Ich war… einigermaßen durch den Wind, ich sagte es bereits.“ Seine Stimme war tonlos.
 

Der Polizist aus Osaka schluckte, rieb sich gedankenverloren die Nase.

„Das hättest du mal tun sollen. Es gab nämlich keine Beerdigung.“
 

Er hielt inne, schaute Shinichi an, der ihm gegenüber so weiß wie das überaus gut gestärkte Bettlaken seines Londoner Hotelzimmers geworden war, in das er vorhin gerade noch sein Gepäck hatte werfen können.

Er hatte ihn nie jemals so irrsinnig blass gesehen.
 

Farblos, fast, Kudô…
 

„Es gab keine Beerdigung.“, wiederholte er langsam und eindringlich.
 

Shinichis Blick schien durch ihn hindurchzugehen.

„Es gab keine…?“, flüsterte er fast lautlos, als sein Hirn sichtlich versuchte, diese Information in seinen Wissensstand einzuordnen und dabei zusehends Schwierigkeiten bekam – weil dieser neue Fakt einfach nicht in das Bild passte, in dieses Puzzle, dass seit jener Nacht vor fünf Jahren in diesem Kopf zusammengesetzt worden war.
 

Ein zu helles Teilchen für dieses sehr dunkle Bild.
 

„Nein, es gab keine.“, wiederholte Heiji nun zum dritten Mal, und merkte, wie in ihm selbst die Beunruhigung wuchs.
 

Verdammt, Kudô, wenn du das nich‘ wusstest… sag nich… sag nich, du wusstest das nich…

Warum wusstest du’s nich…?!
 

Er riss sich zusammen, sammelte sich, ehe er fortfuhr.

„Nein. Gab es nicht. Und jemand anders hätte dir auch gesagt, dass sie nicht tot ist, sie hat überlebt, Shinichi. Und sie war mit den Nerven am Ende, als sie aus dem Koma erwacht ist und du warst nicht da… Weißte, was du ihr angetan hast? Sie lag im Bett und wurde wach und freute sich, dich zu sehen, aber du warst nicht da - und keiner konnte dir sagen, wo du abgeblieben warst… keine Notiz, kein Brief, keine Nachricht von dir, nichts… sie war… wirklich fertig, weißte…?“
 

Shinichi schüttelte langsam den Kopf.

„Nein…“, murmelte er.

„Nein!“

Er schaute seinem Freund ins Gesicht, in seinen Augen eine Mischung aus Entsetzen und Verzweiflung gleichermaßen. Er hatte seine Finger um die Tischkante gekrallt, sich angespannt nach vorn gebeugt, starrte Heiji mit einer Fassungslosigkeit ins Gesicht, die er an ihm noch nie gesehen hatte.

„Doch. Ich wusste, nich‘, in welchem Zustand sie ins Krankenhaus kam, Shinichi, aber Ran… Ran verließ es lebend. Sie lebt.“
 

Und obwohl sich diese Erkenntnis schon aus den Worten Heijis gerade eben hatte ableiten lassen, schlugen diese zwei kleinen Worte ein wie eine Bombe – explodierten mit einer Macht die seinem persönlichen Urknall gleichkam, hinein ins Nichts der letzten fünf Jahre, markierten den neuen Nullpunkt seines Lebens.
 

Heute, hier, jetzt.
 

Alles, was er die letzten fünf Jahre geglaubt hatte, war falsch gewesen.

Er stöhnte auf, vergrub sein Gesicht in seinen Händen, unterdrückte einen Frustschrei, als ihm die Wahrheit nun endlich ins Gesicht lachte.
 

Gelogen!

Er hat mich angelogen, er hat…

All die Jahre dachte ich…

Ich sitz hier und…

Und sie lebt, und denkt,…

Was denkt sie wohl von mir?
 

Shinichi saß da, wie vom Donner gerührt und unfähig, einen ganzen Satz zu äußern.

Er schluckte, merkte, wie sein Kreislauf langsam in den Keller ging, als ihm die Tragweite dieser zwei Worte klar wurde – und schlagartig zählten nur noch sie.
 

Sie lebt.
 

Langsam ließ er die Hände sinken. Kurz schien es ihm, als herrsche in seinem Kopf die totale Leere, das völlige Vakuum, als er sich bewusst wurde, was diese Worte bedeuteten.
 

Sie lebt.

Ran lebt! Sie…
 

Lautlos formten seine Lippen diese zwei Wörter, als er es begriff.

Er sank in seinen Stuhl, sein Atem flach, sein Puls schien fast zum Erliegen gekommen zu sein. Heiji starrte ihn an, wagte nicht, etwas zu sagen. Er konnte kaum abschätzen, was diese Nachricht für Shinichi bedeutete. Er sah, wie er sich mit fliegenden, zitternden Fingern über die Stirn wischte, wie er auf die Tischplatte starrte, und diese zwei Wörter murmelte, lautlos, wie als ob er sie sich mit jeder Wiederholung deutlich machen musste, welche Auswirkung dieser kleine Satz mit nur einem Verb und nur einem Nomen auf sein Leben hatte.
 

Er stellte es auf dem Kopf, einmal mehr.

Er gab ihm wohl überhaupt erst sein Leben zurück.
 

Shinichi schluckte hart, merkte, wie in ihm das Schwarze Loch nun langsam dem Urknall und dem damit verbundenen Chaos wich.

Gefühle und Bilder strömten auf ihn ein, rissen alles ein, was er in den letzten fünf Jahren aufgebaut hatte.
 

Ran ist damals nicht gestorben.

Du bist nicht Schuld an ihrem Tod.

Wenn du willst, kannst du sie sehen… sie…hören…

Nochmal…

Immer wieder, vielleicht…
 

Sie lebt!

Sie lebt…
 

Heiji griff seine Hand, brachte ihn so dazu, dass sein Freund ihn ansah, dessen Blick langsam unfokussiert in die Ferne geschweift war.

Jetzt richtete er seinen Blick langsam wieder auf ihn, in seinen klaren blauen Augen immer noch eine Mischung aus Erstaunen und Entsetzen – doch langsam mische sich etwas anderes in diesen Cocktail.
 

Unermessliche Erleichterung.
 

Und über seine Lippen kroch nur dieser eine Satz.
 

„Sie lebt.“
 

Heiji lächelte leicht.

„Ja. Ran lebt, du Idiot. Und sie liebt dich, immer noch. Trotz der Tatsache, dass du ihr das Herz gebrochen hast, aber wie ich das sehe…“
 

Heiji ließ sich zurücksinken, verschränkte die Arme vor der Brust, reckte sein Kinn vor, als er nachdachte; sein Unmut stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

„So wie ich das seh‘, müss’n wir uns Kogorô mal vorknöpf‘n.“
 

Shinichi hingegen hörte ihn kaum.

Es schien ihm, als könne er zum ersten Mal seit Jahren überhaupt wieder atmen, merkte, wie in ihm eine Welle von Glück und Erleichterung losbrach, die selbst das Gefühl von Wut auf Rans Vater, das kurzzeitig aufgeflackert war, vorerst löschte. Sie schwappte über ihn, wohlig und warm, ließ ihn sich endlich entspannen, ließ ihn leer und losgelöst zurück.

Sein Kopf sank nach hinten, er blickte an die Decke, ein lauter Seufzer entfloh seinen Lippen.
 

„Sie lebt…“, murmelte er erneut, hob dann unwillig eine Hand, schaute kurz zur Seite, als er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.

Dann fuhr er hoch, abrupt.
 

„Wie… wie geht es ihr?“
 

Shinichi beugte sich nach vorn, Wissbegierde lag in seinen Augen, verriet sich durch seine gesamte Haltung.

„Wie geht es ihr? Was macht sie? Wie…“

„Gut.“, murmelte Heiji langsam, verkniff sich ein Grinsen, als er Shinichis drängenden Blick registrierte.
 

„Auch wenn sie über dich nich hinweg is, mein Bester, wie gesagt. Sie hat ihr Jurastudium beendet, fängt bei ihrer Mama an. Sie richtet sich grad ne eigene Wohnung ein, soweit ich von Kazuha weiß. Und sie fragt sich bis heute, warum du einfach abgehauen bist. Nun…

Willste sie anrufen?“, meinte er dann plötzlich, kramte sein Handy aus der Tasche und hielt es ihm hin.

Shinichi schüttelte erschrocken den Kopf.

„Du elender Feigling! Jetzt ruf sie schon an, warum willste… ich find, das biste ihr schuldig…!“

Heiji knallte ihm das Telefon vor die Nase, nickte ihm aufmunternd zu.

„Mach schon!“
 

Shinichi schüttelte den Kopf, schob ihm das Handy zurück.

„Nein. Das kann ich nicht.“

Heiji schnaufte entnervt aus.

„Und warum nich…?!“
 

Dann klopfte es an der Tür, und das ersparte Shinichi die Antwort; zumindest für den Moment. Er erhob sich, Heiji einen letzten Blick zuwerfend, drehte den Schlüssel so leise wie möglich um, öffnete dann die Tür.
 

„Superintendent! You are in here? Why…?“
 

Jillian McDermitt steckte ihren Kopf durch die Tür. Shinichi schluckte, versuchte ein schiefes Grinsen.

„I have used the time to show… our guest… the… building. A bit.”

Er räusperte sich, überging den fragenden Blick der Sekretärin, die sich ganz klar wunderte, dass man einem Gast eher die Verhörräume zeigte als die architektonisch meisterhaft gestaltete Lobby.

„I take it, AC Montgomery has a couple of minutes to have a little chat with us now?“

Die Sekretärin zog skeptisch die Augen in die Höhe, ihr Blick wanderte von Shinichi zu Heiji und wieder zurück.

„That is indeed the case.“

„Well, thank you very much for informing us, mylady. Your ensemble suits you extraordinarily well. Dolce?“

„Are you trying sweet-talk on me, Superintendent?“

„I would never dare...!“

Shinichi deutete eine galante Verbeugung an, die, wie er wusste, immer zog. Damit beeilte er sich, mit Heiji den Verhörraum zu verlassen, bevor die Chefsekretärin einen zweiten, genaueren Blick auf ihn werfen konnte und niemals nachfragen, aber dennoch ihre Gedanken machen würde, warum er mit ihrem Gast im Verhörraum war, und so unverschämt durch den Wind aussah dabei.

Der junge Kommissar fuhr sich mit seinen Fingern durch seine Nackenhaare.

„Das war sie also? Die englische Adelsdame?“

Shinichi lächelte matt.

„Lady McDermitt, ja. Das war sie.“

„Du sprichst wirklich besseres Englisch.“

Shinichi hob eine Augenbraue.

„Als ob du das beurteilen könntest, mein Bester.“
 

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Hallo ihr Lieben!
 

Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel – ich hoffe, dieses hat euren Geschmack getroffen! Die Geschichte nimmt nun langsam Fahrt auf :)

Dies war nun der erste Teil der langen Geschichte, warum der Kontakt zwischen Shinichi und den anderen zum Erliegen gekommen ist… den Rest der Wahrheit erfahrt ihr bröckchenweise über den Rest der Geschichte.
 

Ich freue mich darauf, eure Reaktionen zu lesen! Falls ihr die neuesten Infos zur Geschichte sucht, schaut doch auf meinem Blog vorbei 
 

Liebe Grüße,

eure Leira

Kapitel 7: Nachforschungen

KAPITEL 7 – NACHFORSCHUNGEN
 

Heiji vergrub seine Fäuste tief in seiner Jackentasche, als er neben Shinichi her schritt; gerade eben fehlte ihm sein Baseballcap, mit dem er seine nachdenkliche Miene hätte etwas verstecken können. Er warf einen kalkulierenden Blick nach links; Shinichi war überaus schweigsam geworden, seit sie das Büro seines Vorgesetzten verlassen hatten. AC Jackson Montgomery schien ein kompetenter, loyaler und fairer Chef zu sein; immerhin so viel hatte er aus dem kurzen Wortwechsel heraushören können, den er mithilfe von Shinichis Übersetzung geführt hatte. Sein Englisch war zwar nicht so übel, sein Dialekt hatte allerdings beim Engländer für große Augen und verständnislose Blicke gesorgt, weswegen Shinichi die Sache kurzentschlossen in die Hand genommen hatte.
 

Nun gingen sie schweigend den Gang entlang, in dem sich eine Bürotür an die andere reihte, und studierten scheinbar das nichtvorhandene Muster des grauen Teppichs, der die Chefetage auszeichnete.
 

„Bin ich echt so schwer zu versteh‘n?“, unterbrach Heiji schließlich die Stille, um irgendetwas zu sagen, warf seinem Freund, der seine blauen Augen immer noch fest auf den Boden gerichtet hatte, als er, ebenfalls mit tief in die Hosentaschen gerammten Fäusten, einen Schritt nach den anderen machte, und tief, sehr tief in Gedanken versunken zu sein schien.

Nun wandte er den Kopf ein bisschen, gerade soweit, dass er Heiji aus den Augenwinkeln anschauen konnte.

„Dein Japanisch oder dein Englisch?“

„Witzig.“

Heiji warf ihm unter zusammengezogenen Augenbrauen einen humorlosen Blick zu, lachte ein trockenes Lachen. Shinichi seufzte, versuchte ein schiefes Lächeln.

„Grammatikalisch nicht. Aber dein Dialekt war heftig, und der dann auf Englisch… versuch, ein bisschen mehr Hochsprache zu sprechen, dann werden die dich auch verstehen.“

„Mhm.“
 

Shinichi schien dem nichts mehr anfügen zu wollen, denn er ging schweigsam weiter, bis er vor einem Aufzug stehen blieb, seinen Finger auf den Rufknopf legte, ohne ihn darauf zu pressen. Der Osakaner blickte ihn musternd an.

„Hey, Kudô… alles okay?“
 

Shinichi blinzelte kurz, drückte den Knopf etwas zu fest nach unten; seine Fingerspitze wurde deutlich weiß.

„Klar.“

Er räusperte sich.

„Alles bestens.“

Seine Stimme klang eine Spur zu gefasst, wie auch die Antwort ein bisschen zu schnell gekommen war. Heiji wollte gerade etwas erwidern, als ein leises „Ping“ und das fast lautlose Gleiten zweier Metalltüren die Ankunft des Aufzugs ankündigten. Shinichi betrat die Fahrgastkabine, wählte die gewünschte Etage und lehnte sich an die Rückwand, verschränkte seine Arme vor der Brust und betrachtete wartend den auf Hochglanz polierten Steinboden der Kabine. Heiji lehnte sich neben ihn, beobachtete, wie die Türen sich schlossen. Kurz nachdem der Lift sich in Bewegung gesetzt hatte, stürzte er vor, schlug mit der flachen Hand auf den Knopf, der den Lift zum Nothalt brachte.

In Shinichi kam Bewegung.

„Was…“, fing er an, wollte den Lift wieder in Gang setzen, doch Heiji hinderte ihn daran, in dem er sich vor das Schaltpanel stellte. Er sah seinen Freund streng an.

„Du hast mir nicht die ganze Geschichte erzählt.“

„Und das musst du jetzt im Lift mit mir ausmachen?“

Shinichis Augenbrauen wanderten nach oben; sein Unwille war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Sobald wir wieder draußen sind, sind wir nicht mehr allein. Und wie ich dich kenne, sorgst du dafür, dass das auch länger so bleibt, nur weil du nich‘ darüber reden willst.“

Shinichi wandte den Kopf ab, biss sich auf die Unterlippe. Er verschränkte langsam die Arme vor der Brust, ließ sich wieder gegen die Rückwand der Kabine sinken.

„Was willst du denn noch wissen? Du weißt, was ich dachte. Warum ich gegangen bin.“

Er warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Heiji fing ihn auf, schluckte unwillkürlich.

„Ich weiß, du hast geglaubt, sie ist tot. Aber du bist mir die Antwort auf die Frage schuldig, warum du nicht nachgefragt hast, und warum du dich nicht endlich bei ihr melden willst. Verdammt, sie wartet doch nur auf…“

Heiji schluckte, schüttelte verständnislos den Kopf.

„… dich.“

Er rieb sich die Oberarme.

„Ganz davon abgesehen, dass es mich wundert, dassde noch keine Morddrohung gegenüber Kogorô ausgestoßen hast. Der is schließlich Schuld…“

Shinichi schüttelte unwillig den Kopf.

„Ich bin wütend auf ihn, das darfst du schon glauben. Aber ich bin Profi genug, mit dem Ausflippen und Dinge-klein-Schlagen und Morddrohungen-Ausstoßen, so wie du es erwartest, zu warten, bis ich in meiner eigenen Wohnung bin – und auch da werd‘ ich es wahrscheinlich lassen, weil ich mich hinterher nur darüber ärgere, mir meine kaputten Möbel neu kaufen zu müssen, und das nur wegen Kogorô.“

Er hob den Blick, schaute Heiji bitter lächelnd an, ehe er dann sachte und langsam den Kopf schüttelte.

„Außerdem ändert es nichts am Resultat, fürchte ich, auch wenn du das wohl nicht gern hörst.“

Ein schuldbewusster Ausdruck erschien auf Shinichis Gesicht.

„Was meinste damit?“

Heiji schaute ihn scharf an. Shinichi hob nur kurz den Kopf, wich seinem bohrenden Blick dann aus.

„Nicht so…“

„Wichtig?! Das glaub ich nich!“

Die Stimme des Osakaners war merklich lauter geworden. Shinichi hob den Kopf, auf seinem Gesicht ein abgeschlagener Ausdruck, der nur langsam einer entschlossenen Miene wich. Die Reue und die Schuld jedoch spiegelten sich auch weiterhin in seinen Augen, als er sprach.

„Ich wäre so oder so gegangen, Heiji.“, murmelte er dann leise.

„Ich war und bin eine Gefahr für sie, ich hätte nicht bleiben können.“

Heiji betrachtete ihm stumm, dachte nach, ehe er sprach.

„Aber du hättest ihr sagen können, warum.“

„Ja, hätte ich. Wahrscheinlich hätte ich das sogar getan, auf irgendeine Art, weil es nicht mein Stil ist, einfach zu verduften. Aber hätte das was geändert?“

Er schluckte, strich sich über die Augen.
 

„Hätte das etwas geändert, an der Tatsache, dass sie und ich für den Rest unseres Lebens wohl getrennte Wege gehen…? Genau genommen ist sie so doch besser dran. Sie kann sauer auf mich sein, auf den treulosen Idioten und Krimispinner, der abhaut, wenns ernst wird, und kann sich ohne schlechtes Gewissen jemand anders suchen.“
 

Shinichi wollte den Lift wieder in Gang setzen, aber Heiji hielt sein Handgelenk auf dem Weg fest.
 

„Du hast keine Ahnung, oder? Keine Ahnung. Sie liebt dich. Egal, wie oft wir sie mitgenommen haben auf Parties, sie anderen Jungs vorgestellt haben, versucht haben, ihr wieder Selbstbewusstsein und Vertrauen einzuflöß‘n…“

Shinichi hob die Hand.

„Halt mal – was habt ihr?“

„Na, bitte, Kudô, du sagst es doch gerade - du bist sang- und klanglos verschwundn, du kannst doch nicht denken, dass wir zusehen, wie sie allein bleibt…“

„Nein, ich dachte, dass sie tot ist.“

Shinichis Stimme klang eisig. Heiji sah ihn starr an, wich seinem Blick nicht aus.

„Und das ist es nicht, was ich meinte. Ich meinte…“

Heiji jedoch ließ ihn nicht zu Wort kommen, schnitt ihm mit einer harschen Handbewegung das Wort ab, ließ seinen Freund verstummen, schaute ihn dann fast mindestens genauso frostig an, ehe er nicht ohne einer gewissen Schärfe in seiner Stimme weiterredete.
 

„War se aber nich‘. Und du hast nichts getan, um überhaupt herauszufindn, obs stimmt. Schon an der Stelle kann ich gratulieren – ein wirklich guter Freund bist du. Und wo wir grad dabei sind – ein noch besserer Detektiv.“
 

Shinichi zuckte zusammen, wurde sichtlich bleich. Heiji ließ seine Worte wirken, erkannte an seinem betroffenen Gesichtsausdruck, dass er den Nerv nun endlich getroffen hatte.

„Fakt is aber, dass Ran dein wenig ruhmreicher Abgang völlig fertig gemacht hat. Nicht nur, dass se dich liebt, mehr liebt, als ihr guttut, nein… sie dacht‘, sie hät‘ sich in dir getäuscht. Sie fühlte sich allein gelassen, verlassen… und dachte, der Grund dafür wär sie. Dachte, sie wär’s nich wert, dass du ihr deine Gedanken, deine Entscheidungen, deine Taten erklärst, so wie du sie ihr nie erklärt hast, Shinichi. Nie. Bis heute nich‘.“

Shinichi starrte ihn verständnislos an.

„Bitte, was dachte sie…?“

Heiji schaute ihn spöttisch an, hob den Zeigefinger, wedelte vor Shinichis Nase gespielt oberlehrerhaft damit herum.

„Na, Sherlock, sind wir `n bisschen begriffsstutzig heute? Oder kennstse doch nich so gut, wie du immer glaubtest? Sie dachte, sie hätt‘ sich in ihrem besten Freund getäuscht, zweifelte an ihrer Menschenkenntnis, glaubte, sie hätt‘ dem Falschen ihr Vertrauen geschenkt, dassde… dassde …“

Er seufzte, wischte sich über die Augen, schüttelte dann den Kopf.

„Weißte Kudô, das war wohl einfach eins zu viel. Du hast ihr Conan verschwiegen, ihr nie erklärt, was dir damals passiert is, du hast ihr niemals von deinen Problemen erzählt, von den Schwierigkeiten, in denen du stecktest… irgendwann musste sie glauben, dass du ihr nicht vertraust, oder dassde `n Lügner bist, oder beides…,“ Shinichi öffnete den Mund, um etwas zu erwidern; Heiji hingegen schüttelte stur den Kopf, hob die Hand abwehrend, „und dann verschwindste einfach so – wundert‘s dich, dass das bei ihr den Eindruck hinterlassen hat, sie wär nich‘ mal wichtig genug, dich zu verabschieden oder die Dinge klarzustellen? Es ist uns klar, versteh uns nich‘ falsch, dass du… dass du sie geliebt hast. Das weiß sie auch. Und wir dachten uns auch, dassde gegangen bist, weil durch das, was man ihr angetan hat, ne Grenze überschrittn worden is, die du nie überschritten sehen wolltest. Aber irgendwann hinterlassen all diese Lügen, die du konstruierst, einfach ihre Spur. In diesem Fall bei ihr. Und doch, trotz allem… kommt se nich‘ los von dir. Gut tut ihr das nich‘.“
 

Er steckte die Hände in die Hosentaschen, schaute seinen Freund ernst an.

„Und deswegen, wenn du se wirklich liebst, solltestese keinen Moment weiter im Unklaren lassn. Du musst ihr sagen… was passiert is. Warum de weg bist, und wer dich angelogen hat.“
 

„Das kann ich unmöglich tun.“

Heiji schaute ihn an.

„Und warum nich‘?“

„Das geht dich nichts an.“

Shinichi schluckte.

„Ich… es hatte Gründe, warum ich nicht nachgeforscht hab, abgesehen davon, dass ich Kogorô einfach glaubte. Ich war… zwei Jahre bei ihnen gewesen, ich hab gesehen, wie sehr er seine Tochter liebt. Er würde für Ran alles tun. Abgesehen davon hatte ich als Conan eine andere Beziehung zu ihm, eine… bessere, ich meine, als… als Shinichi, und ich war dumm oder naiv genug, das zu verwechseln. Ich vertraute ihm. Punkt. Bleiben konnte und wollte ich nicht, und mehr musst du nicht wissen.“

Shinichi kniff die Lippen zusammen. Heiji schaute ihn ernst an – und langsam mischte sich etwas wie Sorge in seinen Blick.

Er konnte nicht verhindern, dass sich ihm der Gedanke aufdrängte, sich zu fragen, was wirklich passiert war, damals. In diesen zehn Tagen und den fünf Jahren danach.
 

Isses Wirklich nur Arbeit, Schuld und Einsamkeit, die aus dir gemacht hat, wer du heute bist?

Schau dich an, Kudô...
 

Allerdings, und das war ihm klar, durfte er von Shinichi hier und jetzt keine Antwort erwarten; nicht in einem Aufzug im Herzen von Scotland Yard. Schließlich schüttelte er halb kapitulierend den Kopf.
 

„Aber warum rufste sie jetzt nich‘ an… mein Gott, warum willste denn nicht endlich zusammen sein mit ihr…?“
 

Shinichi schluckte hart, schüttelte den Kopf, langsam; dann fuhr er sich mit einer Hand über die Augen.
 

„… Du wirst leben, mein Freund… bis wir uns wiedersehen. Es sein denn, du bist feige genug, um deinem jämmerlichen Dasein selbst ein Ende zu setzen…“
 

„Was?“

Heiji starrte ihn verständnislos an. Shinichi wich seinem Blick aus.

„Gin, Vodka, Chianti. Sie haben mir diese Falle gestellt.“

Er seufzte, warf Heiji einen bezeichnenden Blick zu.

„Wir wähnten uns nach unserer Flucht zu sehr in Sicherheit, als sie kamen. Und dann haben sie Ran angegriffen. Sie mit mir erpresst, damit sie sich nicht weiter wehrt, ihr das Schwert in ihren Körper gerammt und sie fallen gelassen, und wussten genau, was sie taten, damit. Gin ließ mich am Leben, um mich miterleben zu lassen, wie sie stirbt. Und das war es, was er zu mir gesagt hat, als er ging.“

Er atmete schwer, merkte, wie die Erinnerung an diese Nacht ihn zusehends einholte.

„Heiji, die wollten sie umbringen, nicht verletzen. Dass sie noch lebt ist pures Glück; sie wollten sie töten, und mir zusehen, wie es mich zugrunde richtet, ohne dass sie auch nur noch einen weiteren Finger dafür krumm machen müssen. Und ich bin mir sicher, sie sehen immer noch zu. Sie warten nur darauf, bis sie zuschlagen können, und ganz ehrlich, die Tatsache, dass Ran noch lebt…“

Er schaute auf, in seinem Blick lag pure Panik.

„…macht mir mehr Angst, als ich zugeben möchte. Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass sie nicht erfolgreich waren vor fünf Jahren; aber gemessen an der Tatsache, dass sie noch lebt, denke ich, auch sie wissen es nicht, wer weiß warum. Vielleicht haben sie sich einfach nur auf mich konzentriert, ich meine… vielleicht saßen sie demselben Irrtum auf wie ich. Aber wenn ich mit Ran wieder… wenn sie mich beobachten und über mich herausfinden, dass sie noch lebt, und dass sie sie noch einmal… was glaubst du, passiert dann…? Man muss kein Hellseher sein, um das zu wissen.“

Er schluckte hart, drückte sich dann entschlossen an Heiji vorbei und presste auf den Stop-Knopf, um den Fahrstuhl wieder in Gang zu bringen.

„Glaubste nich‘, du wirst langsam paranoid, Kudô? Die haben sich verkrochen in ein Loch, du hast ihre Namen aufgedeckt, ihre Gesichter ins Licht gezerrt, die können gar nich mehr…“
 

Shinichi hob den Blick, lächelte ihn dann bitter an.

„Nimm nur mal für fünf Sekunden an, bitte, es ginge hier nicht um mich und Ran, sondern um dich und Kazuha. Nur fünf Sekunden. Und dann stell mir die Frage nochmal.“
 

Heiji zuckte zusammen, blickte ertappt zur Seite.
 

„Wie ich mir dachte.“

Der junge Superintendent steckte die Hände in seine Hosentasche, schüttelte langsam den Kopf, lächelte das bitterste Lächeln, das Heiji jemals auf den Lippen eines Menschen gesehen hatte.

„Ich denke, die Frage, ob ich nicht endlich mit ihr zusammen sein will, beantwortet sich von selbst. Aber ich will sie nicht nochmal zum Ziel machen, Heiji. Auf gar keinen Fall. Und deshalb werde ich sie nicht anrufen, werde nicht mit ihr reden, und wenn ich Glück habe, einmal nur in diesem Leben, dann werden sie nie erfahren, dass sie noch lebt. Und eines Tages einfach nur kommen, um zu Ende zu bringen, was sie begonnen haben. Und dann sehen wir, wessen Figuren am Ende dieses Spiels noch stehen.“
 

Er hob den Blick, straffte die Schultern entschlossen, in seinen Augen ein Blick, der deutlich zeigte, dass er nur darauf brannte, jetzt mehr denn je, den finalen Zug endlich zu tun.

Heiji starrte ihn an, sprachlos.
 

Damit hielt der Lift an, die Türen öffneten sich mit einem fast lautlosen Gleiten. Shinichi trat an ihn vorbei, wortlos, ging voran in die kalte, silberweiße Hölle der Autopsie.
 


 

Der Besuch in der Autopsie war eher informativer Natur gewesen; richtige Neuigkeiten gab es nicht. Heiji schaute sich die Leiche des japanischen Mädchens an und ließ sich dann von McCoy die anderen Beweisstücke zeigen. Shinichi stiefelte neben ihm her, erklärte ihm dieses oder jenes und half bei der Kommunikation der beiden Männer.

Er kannte den Fall ohnehin auswendig.
 

„Well, now, Sherlock, has our Watson found something about…“, begann der alte Mann schließlich, nachdem er Heiji den Überblick über den Fall aus forensischer Sicht gegeben hatte, als eben jener ihn auch gleich unterbrach.

„Sherlock?“

Er grinste Shinichi an, der genervt die Augen verdrehte.

„Sherlock, like in „Sherlock Holmes“, yes? Die nennen dich hier… als Jenna vorhin anfing, dachte ich, sie macht nur nen Witz…”

“Jaaaa…”

Shinichi zog ein langes Gesicht.

„Sie nennen mich hier Sherlock. They are too lazy to call me Superintendent Kudô, I suppose.“

„No.“

Der Forensiker lächelte großväterlich, klopfte ihm gutmütig auf die Schulter.

„We call him Sherlock since he solved his first case in a very sherlockian manner five years ago. And he knows that very well. Everyone in London calls him Sherlock since then.”

Heiji grinste.

“Und einen Watson habt ihr auch?”

Shinichi rieb sich den Hinterkopf.

„Eine Watson, Heiji. Du kennst sie. Jenna. Sie heißt mit Nachnamen Watson. Und nein…“

Er sah Heijis Grinsen immer breiter werden und überlegte schon, ob sich dem Pathologen hier nicht auch noch gleich eine medizinische Sensation bieten würde, nämlich ein von einem Ohr zum anderen grinsender Japaner, „… ich denke keinesfalls, dass das Zufall war, dass ich sie bekommen hab. Aber sie ist tüchtig, verlässlich und nicht auf den Kopf gefallen. Also solls mir Recht sein.“

„Gib doch zu, dass du das genießt. In der Stadt deines Idols und dann auch noch wie er genannt…“

In Heijis Augen glitzerte leichter Spott.

Shinichi warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu, der ihm das Lächeln von den Lippen wischte.

„Wie du weißt, bin ich nicht zum Vergnügen hier, war ich nie, zu keiner Sekunde, in den letzten fünf Jahren.“

Seine Zähne mahlten kurz aufeinander.

„Ich arbeite hier, um der Welt in irgendeiner Weise einen Dienst zu tun und mein Leben sinnvoll zu nutzen, für was hab ich es schließlich – und Fälle lösen ist nun mal das, was ich kann. Und ja, ich war… sein größter Fan. Und es gab Zeiten, da hättest du mir keine größere Freude machen können, als mich mit ihm zu vergleichen. Allerdings…“

Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen.

„Sind diese Zeiten wohl lange vorbei. Wir beschäftigen uns mit Mord und Totschlag, und für jede kleine Gerechtigkeit, die ich erreiche, scheinen zwei neue Verbrechen zu entstehen. Diese Schlange hat so viele Köpfe, und für jeden, den ich ihr abschlage, scheinen doppelt so viele neue nachzuwachsen. Das echte Leben ist nicht wie bei Sherlock Holmes. Das… zu begreifen hat lange gedauert bei mir, und es war eine Lektion, die ich hart gelernt habe.“

Er warf Heiji einen kurzen Blick zu; dann wandte er sich dem Pathologen zu.

„And no. I have not yet heard a word from her. I’ll contact you as soon as I have any news for you. Thanks for your time, doctor.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Heiji starrte ihm hinterher, fing dann zu laufen an, konnte dem Autopsiearzt nur noch kurz zuwinken. Als er ihn wieder eingeholt hatte, schaute er ihn miesepetrig an.

„Hör mal. Du brauchst nicht gleich so dünnhäutig…“

Shinichi strich sich über die Augen.

„Entschuldige.“

Er seufzte.

„Es ist nur… ich weiß auch nicht. Ich hab mir mein Leben anders vorgestellt, das ist es wohl. Und diese Briten nehmen ihren Doyle verdammt ernst, die verstehen gar keinen Spaß, wenn sich Sherlock Holmes als unfähig erweist - ich…“

Nachdenklich ließ er seine Augen über den Boden wandern, als sie zum Aufzug gingen.
 

Wortlos fuhren sie eine Etage höher, in die Tiefgarage. Shinichi führte Heiji zu seinem Auto, ließ ihn Platz nehmen.

„Und jetz‘?“, meinte der Osakaner nüchtern, als er sich angeschnallt hatte.

Shinichi ließ den Wagen an.
 

„Es ist jetzt halb vier… können wir noch versuchen, die Mitbewohnerin von Ayako zu finden und zu befragen, damit du etwas zu berichten hast, schließlich bist du doch hier als liasion officer, nicht wahr? Wann kommen Ayakos Eltern eigentlich?“

Heiji nickte bestätigend.

„Ja, bin ich. Und sie kommen morgen, Flug Osaka-London City Airport. Ich soll sie am Flughafen treffen, kommst du…“

„… mit? Nein.“

Shinichi schüttelte langsam den Kopf.

„Das heißt, ich kanns noch nicht sagen, kommt drauf an, wie weit Jenna heute kommt. Ich bring dich aber zum Flughafen, das sollte kein Problem darstellen.“

Ein leichtes Grinsen huschte ihm über die Lippen.

„Abgesehen von Ayakos Eltern ist auch mal die Recherche nach unserem Picasso dran. Hoffen wir, dass wir einen Hinweis finden. Vielleicht ist ihnen aufgefallen, mit wem sich ihre Tochter so trifft.“

Er rieb sich die Nasenwurzel, machte ein gedankenverlorenes Gesicht.

„Am wahrscheinlichsten scheint momentan einer der Straßenkünstler oder ein Kunststudent zu sein, das heißt, wir suchen mal die prominenten Orte dieser illustren Gesellschaft auf, und besuchen die Kunstakademie.“

„Warum ausgerechnet…“

„Jung und brauchen das Geld.“

Shinichi lächelte schief.

„So, wie es doch immer ist. Liebe, Geld, Macht. Die großen Drei, wenns um Gründe fürs Verbrechen geht.“
 

Heiji seufzte leise, ließ sich in seinen Sessel zurücksinken.

„Na dann, los.“
 

Shinichi nickte nur, schnallte sich an und ließ seinen Dienstwagen aus der Garage rollen.
 


 

Die Wohnung von Ayako und ihrer Mitbewohnerin lag am anderen Ende der Stadt. Shinichi hatte keine Ahnung, wie viele Nerven er auf der Strecke verloren hatte; er war zwar ruhig geblieben, aber keinen Anfall zu kriegen beim Beinahe-Verkehrsinfarkt in Londons Innenstadt hatte Mühe gekostet.

Als sie schließlich in einer tristen Vorortstraße zum Stehen kamen, schälte er sich schweißgebadet aus seinem Auto. Er warf Heiji einen musternden Blick zu; so richtig frisch sah der Gute auch nicht mehr aus.

Allerdings hatte er einen zwölfstündigen Flug und den Jetlag auf seiner Rechnung, noch dazu die Tatsache, seit seiner Ankunft hier auf den Beinen zu sein. Shinichi zupfte an der Knopfleiste seines Hemds, um ein bisschen frische Luft an seine Haut zu lassen, fischte dann ein Taschentuch aus seiner Sakkotasche, um sich damit übers Gesicht zu wischen. Als Heiji ihn fragend ansah, warf er ihm das Päckchen zu, der es auffing und ihm gleichtat.

„Sag mal, was is eigentlich, wenn wir hier fertig sind?“

„Dann fahr ich dich wieder ins Hotel.“

Shinichi knüllte das Taschentuch zusammen und steckte es in seine Hosentasche.

„Ich glaub, du hast heute dann genug geleistet. Wir sammeln Jenna wieder ein, fahren dich ins Hotel, und ich… ich darf heut noch ne Pressemitteilung rausgeben, was mich ungemein erfreut, wie du dir denken kannst.“

Er grinste säuerlich.

„Aber nun sehen wir erst einmal, was wir hier erfahren können.“

Damit warf er die Fahrertür ins Schloss, wartete, bis Heiji es ihm gleichgetan hatte und sperrte mit der Fernbedienung ab.
 

Sie musste nur ein paar Meter gehen, um die Wohnung der beiden Mädchen zu erreichen. Das Appartementhaus war heruntergekommen wie alles hier; auf der Mauer prangte ein Graffiti einer Ratte, die ein Schild hochhielt. London doesn’t work, stand darauf geschrieben, entlockte Shinichi ein mattes Grinsen. Heiji blieb neben ihm stehen.

„Darüber hab ich in meinem London-Reiseführer im Flieger gelesen.“, bemerkte er, schüttelte den Kopf.

„Der muss richtig berühmt sein. Ganze Wände mit diesen Graffiti…“

Shinichi blickte auf, schaute ihn an.

„Banksy. Ja. Gibt ganze Führungen vorbei an seinen Kunstwerken. Kein Mensch hat ihn je gesehen… Letztens wurde eine Wand verkauft, auf dem eins seiner Graffiti war.“

„Verrückt.“

Heiji schaute kopfschüttelnd die Ratte an.

„Wennsde mich fragst, spinnen sie, diese Briten.“

Shinichi lächelte müde, seufzte dann leise.

„Aber Recht hat er doch.“
 

Auch London funktioniert nicht…
 

Dann suchte er sein Notizbuch aus seinem Sakko, blätterte darin, bis er den Namen fand, nach dem er suchte, und glich ihn mit den Namen auf den Klingelschildern ab. Er fand ihn, presste seinen Finger auf den vergilbten Knopf daneben und wartete. Ein schrilles Klingeln schallte aus einem der Zimmer über ihren Köpfen zu ihnen herunter, was den beiden Ermittlern verriet, dass sie immerhin nicht zu viele Treppen steigen mussten. Kurz darauf erschien ein wirrer, verfilzter Lockenkopf in einem Fensterrahmen, starrte nach unten.

„Who are you?“

„Scotland Yard.“, rief Shinichi hoch, hielt ihr seine Marke entgegen.

„We investigate in the case of your flat-mate, Miss Rourke.“

„Scotland Yard sends two foreigners because of Aya? Why on earth…“

„False.“, korrigierte Shinichi sie.

„Scotland Yard sends one police officer with British passport, that’s me. The gentleman next to me is a police officer of Ayakos hometown, lending us his experienced hand. Would you now be so kind and let us in to see her room and have a few words with you?“

Die junge Dame über ihnen schien zwar nicht sehr erbaut über den Besuch und noch weniger erfreut über die Aussicht auf eine Unterhaltung mit ihnen zu sein, seufzte aber schließlich theatralisch.

„If you must do so...“

„Ja, müssen wir.“, murmelte Shinichi genervt, in einer Lautstärke, die das Mädchen nicht mehr hörte. Er warf Heiji einen skeptischen Blick zu, der nur stumm nickte. Viel würde das hier wohl nicht bringen.

Wenige Minuten später fanden sie sich in einer Wohnung wieder, die aussah, als würde hier ein archäologisches Experiment der Neuzeit stattfinden. Inmitten einer Akkumulation von Fastfood, Wein, Zeitschriften, Sitzkissen und Klamotten, die in mehreren Schichten übereinander abgelagert worden waren, stand die Reinkarnation von – ja, von was eigentlich, fragte Shinichi sich insgeheim, als er das Wesen musterte, das ihn aus verschlafenen Augen unter einer Wolke an wirren Haaren heraus leicht weggetreten musterte. Sie schien direkt aus dem Woodstock der 60er hierher transferiert worden zu sein.

Miss Delilah Rourke, so stellte sie sich vor, trug ein langes, viel zu weites Batikshirt mit Dreiviertelärmeln, das sie um die Taille mit einem Gürtel zusammengebunden hatte, dazu eine verwaschene graue Leggins und keine Schuhe. Auf ihrem Kopf wucherte das Experiment einer Rastafrisur, so zumindest deutete Shinichi mit viel gutem Willen und Vorstellungskraft die aschgrau gepuderte Stromschlagfrisur ihrer braungrauen Locken.

Shinichi zückte seinen Stift.

„How well did you know Ayako, if I may ask?“

„No‘ well.“, nuschelte die junge Frau, fuhr sich durch die Haare und blieb prompt mit ihren Fingern im Filzteppich hängen. Sie beachtete das nicht, ließ ihre Hand stattdessen sinken und fing an, den bunten Nagellack, der nur noch in Resten an den Fingernägeln klebte, gänzlich runter zu knubbeln. Sie schien unkonzentriert und hibbelig, fahrig in ihren Bewegungen, fiel den beiden jungen Polizeibeamten auf – und der Grund dafür musste nicht lange gesucht werden. In einem Aschenbecher, dem sie immer wieder nervöse Blicke zuwarf, qualmte etwas, das verdächtig nach einer selbstgedrehten Zigarette aussah. Und wenn sie den Duft, der ihnen hier ganz penetrant die Nasenflügel hochkroch, richtig deuteten, dann wussten sie auch, dass in dieser Zigarette nicht ganz legales Grünzeug gerade in Rauch und Asche aufging.

„Actually, she was’bout to move out. Always soooo keen to have everything neat and tidy and in perfect order and clean…“

„Clean might be the word of the day.“, unterbrach Shinichi sie trocken, schaute sie unter zusammengekniffenen Augenbrauen an. Delilah schluckte merklich, um im Anschluss so zu tun, als wüsste sie nicht, wovon er sprach.

„Well, if you understand what I mean…“, setzte sie erneut an.

„Take it, we don‘t,“, schob Heiji genervt dazwischen, was Delilah gekonnt ignorierte und sich gänzlich Shinichi zuwandte.

„Was in desperate need of a roof over her head, she was. And guess what? I was in desperate need of a flat mate, to be able to pay for this…“

Sie wedelte mit ihren Händen in Ermangelung von Worten, um ihre Bleibe gebührend zu beschreiben.

„…uhm…- place. Met her in our canteen. Seemed nice enough for me.“

Sie zuckte mit den Schultern, eine Geste, mit der sie fast jede ihrer Aussagen unterstrich.

„What university?“ Shinichi zog interessiert die Stirn kraus.

„Royal Academy of Music.“

Heiji gab ein trockenes Lachen von sich, dass er geschickt in einen Hustenanfall umwandelte, als er sich den bösen Blick der jungen Frau einfing.

„That’s nothing to do with looks or… or lifestyle… or, or money, mister, but with talent.“, bemerkte sie pikiert.

Sie zog die Augenbrauen zusammen.

„I am a gifted pianist. I am just taking a break, currently. There’s nothing wrong with…“

Shinichi stellte seine Ohren auf Durchzug und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen; in der Ecke stand tatsächlich ein E-Piano, der einzige Ort im ganzen Raum, der penibelst sauber gehalten wurde. Notenblätter und –bücher stapelten sich ordentlich nach Komponisten geordnet im Regal daneben.

„And Ayako?“

„Genius with her violin. Was really funny with her, the first time. Great musician. But got boring, after a while, she had no appetite for experiments, very unlike me. Was to addicted to the classics. Never left her Mozart, her Brahms, her Paganini…“

Delilah verdrehte die Augen, wedelte mit ihren Händen theatralisch in der Luft, um ihr Unverständnis zu unterstreichen.

Good lord. As if Paganini was the only human being ever capable to handle that grumpy instrument properly. But well. That didn’t bother me, anyway.”

Sie schaute vom einen zum anderen, als erwarte sie ihre Zustimmung – weder Heiji noch Shinichi taten ihr den Gefallen, schauten sie mit vor der Brust verschränkten Armen nur unverwandt an. Delilah verdrehte die Augen.

„I know, I know. You want to see her room. Well, please, here it is. See for yourself, what I mean.“

„Very kind of you. Just one last question, Miss Rourke.“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch, bedachte sie mit einem forschenden Blick.

„Are you able to tell us something about Ayakos social life? Has she had friends? Acquaintances? Was she in a group at her university? Did she have colleagues at a side job, perhaps?“

„Nope.“

Die Hippieelfe schüttelte ihr Haupt, dass ihre teils verfilzten Haare flogen.

„Nope, no‘ at all. Came an‘ went, whenever she wanted, she did, and so did I. We barely talked. Besides arguing about the state the kitchen or the freakin’ bathroom were in, that is.”

Sie grinste schief.

„As I said. She was the freakin’ queen of tidyness, not me. I see my time better wasted on other things than piling dishes in a cupboard.“

Sie verbeugte sich neckisch, gestikulierte dramatisch zur Tür des Zimmer, das sie vorher schon als Ayakos bezeichnet hatte.

„So, gentlemen, this is her room. Please, have a look, turn every sheet of paper upside down, perhaps ya’ll find something of use… if there are any sheets of paper to be turned, that is.“, meinte sie, immer noch grinsend, stieß mit einem nackten Fuß die Tür zu einem Zimmer auf, das an das Zimmer angrenzte, in dem sie gerade standen. Shinichi seufzte, warf ihr einen durchdringenden Blick zu.

„Nobody has been in there, since she left it?“

„Nope.“

„So, do tell me – why’s the lock brocken, he?“

Heiji war das ramponierte Schlüsselloch genauso aufgefallen wie Shinichi. Das Mädel zuckte nur die Schultern, drehte verträumt eine Pirouette und ließ sich auf ein Sitzkissen fallen.

„How shall I know that? Have ya seen the vicinity, our neighborhood? This is not Belgravia or Westminster or Soho or Notting Hill, or…”

„Got it. Thank you.“

Shinichi winkte kurz, um ihren Redeschwall abzubrechen. Dann ging er, gefolgt von Heiji in das Zimmer, zog die Tür hinter sich zu, reichte Heiji ein paar Handschuhe.

„Der Mistkäfer is hier eingebrochen.“, murrte Heiji auf japanisch, während er seine Finger in das Latex bohrte.

„Sag mal, haste so kleine Hände, Kudô?“

Der Angesprochene warf ihm einen belustigten Blick zu, während er sich selbst ein Paar überstülpte.

„Einheitsgröße.“

Er drehte sich kurz um die eigene Achse, um das Zimmer als Ganzes aufzunehmen – es sprach tatsächlich von Ordentlichkeit und einer spartanisch zu nennenden Lebensführung - ging dann in die Knie und hob den Futon hoch, der auf dem Boden lag.

„Natürlich ist sie das.“, kommentierte er dann den ersten Satz seines Kollegen sachlich, ehe er fortfuhr.

„Das einzige, was uns vielleicht hilft, ist, dass Miss Woodstock nicht nach dem gleichen sucht wie wir. Sie wird nach Geld oder Drogen gesucht haben, denn ich bin mir sicher, was da draußen schwelt…“

„Marihuana.“

Heiji nickte bestätigend.

„Aber deswegen sind wir nicht hier.“

„Nein.“

Shinichi grinste spitzbübisch.

„Da schick ich die Drogenfahndung vorbei, sollen die sich mit der Kleinen da draußen befassen. Schau mal, ob da was is.“

Damit hob er die Matratze hoch.

„Ne. Doch, wart mal.“

Er griff nach einem flachen Lederetui und zog es hervor.

Shinichi ließ die Matratze wieder sinken.

„Ist was drin?“

Der Osakaner Polizist zog den Reißverschluss auf, beförderte ein paar Papiere, darunter Pass und Flugtickets, hervor.

„Kein Bargeld, keine Kreditkarten.“

Heiji warf Shinichi einen vielsagenden Blick zu.

„Magst du dich mit ihr unterhalten?“

„Na klar.“

Heiji grinste säuerlich. Von draußen erklangen E-Piano-Klänge, ganz als ob sie den beiden Beamten ihre Berechtigung zum Musikstudium unter Beweis stellen wollte.

„Bevor wir ihr was unterstellen, was sie wohl auch getan hat, solltn wir aber noch den Rest hier unter die Lupe nehmen. Dürft ja nicht lang dauern.“

Er wartete Shinichis zustimmendes Murren nicht ab, sondern begann damit, die Bonsaitöpfchen, die sich am Fenstersims aneinanderreihten, hochzuheben. Außer einer dünnen Staubschicht befand sich jedoch nichts darunter. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Shinichi etwas anderes gefunden hatte. Ein aufgeklappter Geigenkoffer lag auf dem Futon, das Instrument legte sein Freund gerade fast zärtlich daneben. Heiji näherte sich interessiert.

„Teures Instrument?“

„Nicht billig, jedenfalls.“

Shinichi nahm die Geige noch einmal in die Hand, drehte sie elegant, späte durch die F-Schlitze ins Innere.

„Nein, nicht billig. Mama und Papa haben einiges in die Karriere ihrer Tochter investiert.“

„Und woher weißte das?“

„Markenstempel.“

Shinichi zeigte auf eine kaum sichtbare Prägung im Holz.

„Unsere diebische Elster hat das wohl Wertvollste hier liegen gelassen. Dabei dürfte ihr der Wert hochwertiger Instrumente doch als Pianistin…“

„Was verlangste von ihr, Kudô. Sie spielt hier aufm E-Piano.“

Shinichi grinste kurz, ließ seine Fingerkuppen über die Seiten streichen, womit er ihnen eine melodiöse Tonfolge entlockte.

„Sag mal, hast du nich…“, meinte Heiji nachdenklich.

„Richtig. Hab ich.“

Er legte das Instrument hastig beiseite, als er sich einen schrägen Blick von Heiji anfing.

„Und fang nicht schon wieder an. Wir haben alle ein Instrument gelernt, Hattori. Ran spielte Klavier.“

„Ja, aber du hättest auch…“

„Hab ich aber nicht. Und meinetwegen schiebst du es auf ein gewisses Faible für einen Romandetektiven, aber hör auf jetzt, bitte.“
 

Er schaute kurz genervt auf, ehe er seinen Blick abwandte.

„Außerdem gibt’s hier noch viel Interessanteres.“

Damit pulte er vorsichtig den Bogen aus dem Deckel, hinter dem ein Anzeigenblatt zum Vorschein gekommen war. Er zog es vorsichtig hervor und plättete es.
 

Heiji pfiff durch die Zähne.

Aus dem Anzeigenblatt war fein säuberlich eine Annonce ausgeschnitten worden.
 

„Tja, und wo ist…?“

Shinichi zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht ist sie ja noch… hier irgendwo…“, meinte er unüberzeugt, kramte sich durch Notenblätter und Ersatzsaiten, jedoch erfolglos. Auch die restliche Untersuchung des Zimmers ergab keinen Fund.
 

„Wär zu schön gewesen. Wir müssen wohl bei der Zeitung anrufen und uns die Ausgabe schicken lassen.“, seufzte Shinichi. Heiji nickte langsam.

„Immerhin besser als nichts.“

„Aber auch weniger als etwas.“

Damit packte Shinichi Geige und Koffer wieder zusammen, griff nach dem Fotoalbum, das sie noch gefunden hatten, sowie nach den persönlichen Dokumenten der Toten.

Als sie das Zimmer verließen, schallte ihnen Liszt entgegen.

Heiji näherte sich der jungen Frau von hinten, stützte sich mit einer Hand auf der Klaviatur ab, was eine Folge schiefer Töne im regen Spiel der Musikerin erzeugte. Sie verzog das Gesicht, schaute auf.

„What the heck are you doin’?! Have you found what you were looking for? Then you could’ve left silently like any sensible…“

„Ayakos credit cards, her giro card, according with the money you’ve stolen but not yet spent, if you don’t mind.“, erwiderte Heiji trocken grinsend.

„Hah?“

„Aaah… come on, Miss Rourke. Don’t play dumb…“

Shinichi trat auf die andere Seite der jungen Studentin. Die wurde, eingeklemmt zwischen zwei Polizeibeamten, die ihr auf die Pelle rückten, sichtlich nervöser.

„Don’t make it more complicated as it has to be. Ayako had no documents with her, no cash money or anything like that, when we found her. But everybody has stashed something for emergencies. The lock of the door was broken, the cards in her map are missing. But there have been some, the pockets are a bit baggy. We want to have them. Please hand them over.“

„And what makes you believe that no one else has taken them? Her murderer, perhaps? Haven’t found anything with her body, so it is just as likely that…”

Shinichi seufzte, lächelte dann spöttisch. Heiji beobachtete ihn interessiert, als er durchs Zimmer ging, seinen Finger scheinbar unbedacht über gewisse Gegenstände gleiten ließ, den einen oder anderen einsammelte und auf dem E-Piano aufstellte.

„A necklace with a pendant of Swarovski-crystals, a new tv, a dvd-recorder, a new coffee-maker, a jacket made of wild leather along with matching shoes and the background knowledge, my love, that you needed desperately a flatmate to be able to pay for this“, er rekonstruierte ihre Handbewegung von vor ein paar Minuten, „place. And to pay for that disgusting stuff that’s polluting the air in here.”

Er legte einen Zettel mit abgerissenem Ende auf die Jacke, die über dem Piano hing. Mit krakeliger Schrift stand die Wohnungsannonce darauf geschrieben.

„You told it for yourself minutes ago. Do I have to make myself more clear?“

„No.“

Missmutig stand sie auf, holte aus der Schublade einer Kommode drei Plastikkarten heraus, händigte sie aus.

„Many thanks.“

Shinichi ließ sie in die Beweismitteltüte gleiten, die Heiji ihm aufhielt.

„You’ll kindly stay available, Miss Rourke. And it should be obvious, that the room of the deceased has to be vacant until you hear otherwise from us. As well as untouched.”
 

Damit wandte er sich um, verließ das Haus und trat kaum auf die Straße, als auch schon sein Telefon läutete. Zielsicher griff er in seine rechte Sakkotasche, fischte das bimmelnde Klapphandy heraus und warf einen kurzen Blick auf die Rufnummer, die das Display anzeigte.

„Jenna.“, meinte er dann kurz zu Heiji gewandt, ehe er ihren Anruf entgegennahm.

„Detective Sergeant Watson, what’s up?“

Er lehnte sich vorsichtig gegen das Auto, lauschte der Stimme, die dumpf aus dem Hörer quoll, in sehr schnellem Englisch. Heiji nutzte die Zeit, um sich seinen Freund ein wenig genauer anzusehen.

Genau wie er war auch Shinichi noch ein wenig gewachsen; und genau wie bei ihm hatte sich die Jugendlichkeit aus seinem Gesicht verabschiedet. Sein Teint war immer noch hell; wirkte fast ein wenig ungesund. Er war vielleicht ein wenig zu hager für seine Größe, und er sah einen Tick zu abgespannt aus, als dass er ihm abkaufen könnte, die letzten Jahre wären nur gut für ihn gewesen. Er musste die meiste Zeit in Arbeit und Studium investiert haben, Superintendent nach nur fünf Jahren beim Yard, dazu als Ausländer…

Heiji schluckte, zog innerlich seinen Hut.

Die paar Minuten mit ihm in der Wohnung hatten ihm gezeigt, dass Shinichi sein Handwerk immer noch verstand. Die Art, wie ihm seine Kollegen im Yard begegnet waren, allen voran sein Vorgesetzter und der Pathologe, zeugte davon, dass er sich seinen Respekt verdient hatte, einerseits durch harte Arbeit, durch vollen Einsatz, aber auch durch unbedingte Loyalität und Integrität.
 

Shinichi hätte vor Stolz eigentlich platzen müssen. Die Beförderung konnte noch nicht lange zurückliegen, und der Shinichi, den er gekannt hatte, hätte sich über diesen Erfolg gefreut wie ein Schneekönig.
 

Genau das tat er nicht.

Noch genauer besehen, dachte Heiji bei sich, hatte er selten einen unglücklicheren Menschen gesehen, noch dazu einen, der es schaffte, sein Unglücklichsein so überzeugend zu überspielen.

Seine Augen schienen dunkler, ein leichter graublauer Schleier unter ihnen zeugte von schlaflosen Nächten, Sorge und Schuld.
 

Er wusste, woher das rührte.
 

Es stimmte wohl, was er sagte. Er nutzte sein Leben, um von Nutzen zu sein, seit er keinen anderen Sinn mehr darin sah – weil man sie ihm genommen hatte.
 

Aber so geht’s doch auch nicht weiter, Kudô.

Das kann doch nich‘ dein Leben sein, von nun an bis in Ewigkeit.

Noch dazu, wo sie…
 

„Schau mich nicht so an. Das ist meine Entscheidung.“

Shinichi hatte sein Telefonat beendet. Heiji zog die Augenbrauen hoch.

„Sag ich was?“

„Nein. Aber dein Gesicht spricht Bände.“

Er schluckte, vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen.

„Ich habs dir erklärt, und ich hatte eigentlich den Eindruck, du verstehst das. Es… tut gut, dich wiederzusehen, aber das… das muss es bleiben, Heiji. Ich kann nicht wieder nach Tokio zurück. Ich kann sie da nicht noch einmal mit reinziehen.“

Damit öffnete er die Beifahrertür, bedeutete Heiji, Platz zu nehmen.

„Das war Jenna. Sie wartet am Picadilly Circus auf uns. Was mich bei dem Feierabendverkehr ungemein freut.“

Er grinste schief, ehe er sich hinters Steuer klemmte.
 

Etwa eine halbe Stunde später hatten sie sowohl einen Parkplatz, was an ein Wunder grenzte, als auch Jenna Watson gefunden. Die junge Frau stand relativ gut sichtbar vor der großen Werbewand, hatte sich ein schattiges Plätzchen gesucht und trotzte mit einem großen Becher Caffé Frappé den heißen Temperaturen. Sie winkte, als sie Shinichi und Heiji näher kommen sah.

Bevor sie jedoch auch nur ein Wort sagen konnte, zerriss erneut der Retro-Klingelton von Shinichis Handy die Stille. Sie rannte näher, beobachtete ihren Partner, wie er in seiner Jackentasche danach grub, als er es endlich zu fassen bekam.

„Was ist heut bloß los…“
 

Ein kurzer Blick auf das Display zeigte ihm, dass es die Gerichtsmedizin war. Wer genau es war, erfuhr er, als er den Anruf entgegennahm.

Es war Dr. McCoy.

Shinichi bedeutete Heiji, der gerade zu einer Frage ansetzen wollte, ruhig zu sein. Neben ihm erschien Jenna, heftig atmend, weil sie die letzten Meter gerade gerannt war.

„Dr. McCoy, hallo. Yes. You found what? A human hair? On the dress of the victim? Why didn’t you mention that earlier? Yeah.”

Er verstummte, wohl weil sein Gesprächspartner zu einer Antwort ansetzte.

Heiji schaute ihn gespannt an, beobachtete, wie Shinichis Gesichtsfarbe von verschwitzt-rot zu weiß wechselte, sich seine Hand um sein Handy krallte, sich seine Gesichtszüge zunehmend verhärteten. Jenna neben ihm sortierte ihre Notizzettel, schien von der Konstitution ihres Chefs gerade nichts mitzukommen. Heiji hingegen entging nichts – angefangen von den gerade beobachteten Merkmalen bis hin zu dem finsteren Blick, der sich in Shinichis Augen gestohlen hatte.

„Yeah. I understand. Well. So, it seems, it’s a dead end anyway, without a match in our databases. But thank you nevertheless, doctor. We’ll watch out.”
 

Ein silberblondes, langes Haar…!
 

Shinichi spürte die Gedanken in seinem Kopf förmlich rasen, versuchte, ihnen Einhalt zu gebieten und sich nichts anmerken zu lassen. Es war klar, woran er dachte; aber Tatsache war, das konnte alles bedeuten.
 

Passe nie die Fakten deiner Theorie an.
 

Er seufzte fast lautlos, klappte sein Mobiltelefon zusammen und ließ es wieder in seine Sakkotasche gleiten. Heiji schaute ihn abwartend an. Shinichi hingegen überging seinen fragenden Blick, wandte sich Jenna zu.

„So, Jenna, did you find out something interesting?“

Heiji räusperte sich, ehe Jenna zu einer Antwort ansetzen konnte. Sie blieb mit geöffnetem Mund stehen, als der Osakaner zu sprechen anfing.

„Ein Haar am Kleid des ersten Opfers?“

Shinichi nickte langsam.

„Ja, aber es ist nicht in der Datenbank. Also bringt es uns nicht weiter. Außerdem ist die Haarfarbe hier nichts besonderes.“

„Aha.“

Heiji kniff die Augen zusammen.

„Aber gut zu wissen isses doch. Was für ein Haar isses denn?“

„Ein helles, menschliches Kopfhaar.“

Shinichi konnte die Ungeduld in seiner Stimme kaum verbergen. Heiji schaute ihn nachdenklich an; die plötzliche Gereiztheit war ihm nicht entgangen, so sehr sein Freund auch versuchte, sie zu überspielen.
 

Vielleicht liegts aber auch nur daran, weils uns nich weiterbringt…
 

Shinichis nächster Satz schien seine Ahnung zu bestätigen.

„Nichts, was auffällig genug wäre, um eine Fahndung auszuschreiben, zumindest. Nicht gefärbt, ausgefallen, nicht ausgerissen, also auch ohne genetisches Material, weil ohne Haarwurzel. Eine Sackgasse, wie ich eben schon am Telefon erwähnt habe.“

Er seufzte.

„Leider.“

Er wandte sich Jenna zu, gab Heiji damit zu verstehen, dass er das Thema nun endgültig nicht weiter verfolgen wollte.

„Please tell us, that you have found something about that dress, Jenna.“

„Only this, Sir.“

Sie überreichte ihm eine Liste, in der sie fein säuberlich alle Läden durchgestrichen hatte, die den Stoff erst gar nicht verkauften; leider waren das nicht gerade viele.

„It’s crazy…“, fing sie an, „but wild silk seems to be a must-have fabric these days. Most of the dealers don’t have such a thing as a list of their clients, unfortunately. The only lists I got only show their business clients, no private persons. I have taken them nevertheless, perhaps…“

Shinichi seufzte, strich sich über die Stirn, überflog dann die Liste.

„The fashion design school?“, murmelte er dann, schaute auf.

„Jep.“

Jenna nickte; am Glitzern in ihren Augen konnte er ablesen, dass sie das Gleiche dachte wie er – und ein kurzer Blick, mit dem er Heiji streifte, verriet ihm, dass auch sein Kollege dieselben Schlüsse gezogen hatte.

„Among the biggest clients. Currently, there is a project at that school, a kind of competition working with wild silk. That’s at least what the lady at Soft as Silk has told me. They have delivered some rolls of that cloth over there. I thought, that might be a hint – if we don’t get a name, perhaps we are going to find our dress or similar dresses like ours there?“

„It’s worth the try.“

Shinichis und Heijis Blicke trafen sich.

„You’ll do this, Jenna. Have a look at the student’s work. Take pictures. Show them the photos of our dress. Perhaps one of the students recognize his or her work. Or can lead to the original designer. Whatever.“
 

Dann seufzte er.

„Well, let’s call it a day. I’ve to make the press conference, but you can go home. Where can I drop you off, Jenna?”, fragte er, während er ihre Unterlagen in die Fallakte einsortierte.

Die junge Polizistin lächelte dankbar, schüttelte aber den Kopf.

„Thank you, Sir, but I don’t live far from here. I can walk there.”

Shinichi nickte.

“Well then. Good work, Miss Watson, see you tomorrow.”

Damit hob er die Hand zum Gruß, den sie erwiderte.

„Goodbye, Mr. Holmes!“

Sie missachtete den genervten Blick ihres Chefs und wandte sich ihrem Kollegen aus Osaka zu; Heiji gegenüber deutete sie eine leichte Verbeugung an, offensichtlich bemüht, sie japanisch aussehen zu lassen, was ihr etwas missglückte.

„Sayounara, Hattori-san!“

Heiji lachte, entgegnete die Verbeugung, allerdings viel gekonnter, was ihr die Röte ins Gesicht trieb.

„Sayounara, Watson-san.”

Sie lächelte, winkte, und kaum eine Minute später war sie um die Ecke verschwunden. Shinichi seufzte, zog die Augenbrauen hoch.

„Ich kanns nicht ausstehen, wenn sie das macht.“

„Was? Japaner auf japanisch verabschieden? Ich fand das ja sehr niedlich. Und sehr respektvoll, du hastse gut erzogen…“

„Nein. Du weißt, was ich meine.“
 

Er zog unwillig die Augenbrauen zusammen, bis sie sich fast in der Mitte trafen.
 

„Sherlock Holmes.“
 

Heiji zog die Autotür auf.

„Den haste dir selber eingebrockt.“

„Ach echt? Woher konnt ich wissen, dass die hier ausgerechnet einen Japaner…“

Der Osakaner Polizist unterbrach seinen Kollegen mit einem sachten Kopfschütteln.

„Es ist die Art, wie du die Fälle löst, wie du dich benimmst, wie du deine Arbeit machst. Du hast den Doktor doch gehört, heute. Aus dir spricht die Quintessenz von Conan Doyles Romanen, Kudô. Das Traurige daran is, du hast es so verinnerlicht, in allen Lebensbelangen, dass du’s selber nich mehr merkst.“
 

Shinichi wandte sich um, schaute ihn ernst an.

„Fang nicht schon wieder an mit Ran. Das hat nichts…“

„Hat es sehr wohl.“

„Noch ein Wort und du gehst zu Fuß zurück in dein Hotel. Und glaub mir, du wohnst, im Gegensatz zu Jenna, nicht um die Ecke.“

Heiji knurrte etwas Unverständliches, stieg dann ins Auto ein. Shinichi seufzte laut, strich sich über die Augen, beobachtete, wie die Sonne ihre letzten Strahlen gerade noch so über die Skyline Londons schickte, ehe er einstieg.
 

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Hallo Leute!
 

Ich möchte mich an der Stelle sehr für die Kommentare zum letzten Kapitel bedanken. Und eine Bitte loswerden – wenn es eins gibt, wo ihr bitte, bitte ein Auge zudrücken könntet, wäre das die Geschichte mit der Zeitverschiebung und der Reisedauer. Ich saß hier mit Tabellen und Flügen und Zeitzonen – und habs irgendwann aufgegeben. Es zerreißt mir den ganzen Plot, und ich muss gestehen, grad wenn die Mädels und die Kudôs unterwegs sind, die einen vor, die anderen zeitlich nach London - @.@
 

Zum zweiten – ist euch ein Kapitel pro Woche zu hektisch für euch, sollte ich zweiwöchentlich laden? Ich weiß, die sind lang... und momentan ist der Hochladerhythmus wirklich schlecht berechenbar. Meistens lade ich Mittwochs und im Laufe des Samstags kommt das Kapitel.

Bitte sagt, was ihr denkt :)
 

Beste Grüße,

Leira

Kapitel 8: Werewolf

KAPITEL 8 – WEREWOLF
 

Wie er erwartet hatte, waren sie in den Feierabendverkehrsstau geraten.

Shinichi seufzte leise, aber dennoch hörbar genervt und beobachtete mit wachen Augen den Verkehr, durch den er sich bohren musste – und war entsprechend wortkarg. Heiji, der gerade per Email von seinem Handy aus offenbar seinem Vorgesetzten oder aber Kazuha ein kurzes Update gab – Shinichi wusste sein konzentriertes Gesicht in der Hinsicht nicht exakt zu deuten – steckte nun sein Smartphone weg.

Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, in denen er seinen Chauffeur schweigend musterte – so lange, bis eben jener ihm einen kurzen Blick aus seinen Augenwinkeln schenkte.
 

„Hab ich was am Mundwinkel oder was ist?“

Seine Augen blickten ihn fragend an.

Heiji lächelte schmal, schüttelte dann mit ernster Miene den Kopf.
 

„Willst du mir mal erzähl‘n, was damals eigentlich passiert is‘, Kudô?“
 

Shinichi hatte seinen Blick wieder abgewandt, studierte konzentrierter als je zuvor das Heck des Autos vor ihm – Heiji war diese offensichtlich abweisende Reaktion nicht entgangen. Jedes Gefühl von Genervtheit war verflogen – im Gegenteil, Shinichi wünschte sich fast, der stockende Verkehr wäre sein einziges Problem. Stattdessen näherten sie sich jetzt zu allem Überfluss auch noch ihrem Ziel, Heijis Hotel. Wobei, vielleicht wurde er ihn da schnell los.
 

Träum weiter, Kudô.
 

Langsam atmete er aus, überlegte, ehe er antwortete.

„Lass mich nachdenken, Hattori, will ich das?“

Er tat so, als würde er grübeln.

„Nein. Will ich nicht.“

Sein Tonfall klang trocken wie der Staub auf dem Armaturenbrett, den die Londoner Straßenluft durchs Fenster blies, und ganz offensichtlich versuchte er mit dieser angestrengten Sachlichkeit, die er an den Tag legte, zu überspielen, wie sehr ihn „das, was damals eigentlich passiert ist“, wie Hattori es nannte, belastete, auch wenn er sich das selber nicht eingestehen mochte. Es war ihm nicht Recht, dass das immer noch ein so sensibles Thema war. Tatsache war, er hatte in den letzten fünf Jahren versucht - ach was; alles Menschenmögliche daran gesetzt traf es wohl eher - um daran nicht mehr zu denken.
 

Nie mehr wieder daran denken.
 

Und so schluckte Shinichi hart, wandte sich kommentarlos wieder dem Geschehen auf der Straße zu, blickte stur geradeaus - und hoffte, dass das Thema damit gegessen war. Der Kommissar aus Osaka jedoch ließ nicht locker; was war auch anderes zu erwarten gewesen, von einem Mordermittler und leidenschaftlichem Detektiv… und einem gutem Freund.

Heiji verdrehte die Augen, schüttelte dann unwillig den Kopf.

„Ne, so leicht kommste mir nich‘ davon, Kudô.“

Er beobachtete seinen Fahrer, der keine Miene verzog, und zog innerlich seinen Hut vor so viel Selbstbeherrschung.

„Hier is keiner mehr, der dich vor meinen Fragen rettet; keine Sekretärin, kein Aufzug, kein Telefonat, keine Jenna. Du wirst mir jetzt endlich mal die ganze Geschichte erzählen. Du bist vor fünf Jahr‘n abgehau‘n, ohne ein Wort zu sagen, einfach so verschwunden. Ich weiß nich‘, ob du jemals daran gedacht hast – an das, wasde anderen antust mit deinen Kamikazeaktionen. Du warst über ne Woche weg. Wir haben uns Sorg’n gemacht, verdammt nochmal. Ich… hab mir Sorg‘n gemacht. Ich will wissen, ob zu Recht.“

Der Osakaner schluckte, schaute nachdenklich aus dem Beifahrerfenster, sah die Menschen gesichtslos an sich vorbeifliegen, hunderte, in der Rushhour Londons. Dann wandte er sich seinem Freund wieder zu, räusperte sich, setzte ein entschlossenes Gesicht auf.

„Du warst von einem Tag auf den anderen weg. Einfach so, ohne ein Wort. Irgendwann erfuhr ich, dassde in ihren Händen bist… und als dann alles vorbei war, hastde mit keinem mehr geredet und am nächsten Tag warstde aus Japan verschwunden, spurlos. Kein Mensch weiß, was passiert is, in die Akte durft ich nich‘…“
 

„Na immerhin.“, meinte Shinichi nüchtern, unterbrach damit Heijis Redeschwall. Seine Augenbrauen waren zusammengerutscht, trafen sich fast in der Mitte, als er die Stirn runzelte.

„Für gewöhnlich sind Fallakten geheim. Solltest du…“, und er gab sich diesmal keine Mühe, den leichten Anflug von Spott in seiner Stimme zu verbergen, „doch wissen, Herr Kommissar Hattori.“

Der warf ihm einen angesäuerten Blick zu, sein Mundwinkel zuckte kurz, wurde allerdings schnell wieder ernst.

„Dennoch. Um ehrlich zu sein, dacht‘ ich nich‘ mehr, dich nochmal lebend zu sehen, als Haibara mal durchblicken hat lassen, was die da anstellen mit ihren…“

Er hielt inne, als er merkte, wie Shinichis Handknöchel weiß hervortraten, als sich seine Finger um das Lenkrad krampften.

Und er sah auch genau, wie gepresst sein Atem ging.

Der Osakaner Polizist schluckte, hob dann eine Hand, wollte sie ihm beruhigend auf den Unterarm legen, oder auf die Schulter – und ließ sie wieder sinken. Irgendetwas an Shinichi hinderte ihn daran.
 

„Haste eigentlich überhaupt schon mal mit jemandem drüber geredet?“
 

Shinichi seufzte laut, ließ sich gegen die Rückenlehne seines Sitzes sinken, setzte den Blinker und bog nach einem Blick über die Schulter, um keinen Radfahrer zu gefährden, auf den Hotelparkplatz ein.
 

„Gezwungenermaßen und nur in Auszügen.“

Er schluckte.

„Wen hatte ich denn, wie du sagtest, ich bin fortgegangen. Meine Eltern, gut, die kriegten es sowieso mit… noch mehr wohl auch, dass ich mit den Nerven völlig am Ende war, wegen Ran. Um ehrlich zu sein, hat das auch alles andere irgendwann ziemlich nebensächlich erscheinen lassen, als mir wirklich bewusst wurde, dass ich sie nicht mehr wiedersehen werde, in diesem Leben.“
 

Er hielt an, schaltete den Motor ab.

„Wir sind da.“

Heiji warf einen Blick nach draußen, schaute die Hotelfassade hoch.

„Wir sehen uns morgen, ich hol dich…“, fing Shinichi an, schickte sich an, den Motor wieder anzulassen.
 

„Ich dacht‘, ich bin dein Freund. Ich dacht‘, du würdest mir vertrauen.“

Heiji unterbrach ihn. Seine Stimme war absolut ruhig, verriet nicht, wie sehr die Tatsache, dass sein Freund ihn damals einfach außen vor gelassen hatte, aufwühlte. Und wie sehr ihn der bloße Versuch Shinichis, ihn auch heute wieder ohne Antworten abzuwimmeln, aufregte.

Shinichi biss sich auf die Lippen, nahm die Hand vom Zündschlüssel.

„Das hat doch damit nichts zu tun.“, murmelte er tonlos.

Der Osakaner wandte sich zu ihm um, schaute ihn durchbohrend an; in seiner Stimme lag nun doch eine gewisse Schärfe, als er sprach.
 

„Und womit dann, Kudô? Du hast mir nich‘ gesagt, als es eng wurd‘ für dich. Du hast mir nich‘ gesagt, was du vorhattest, mich nich im Geringsten eingeweiht in deine Pläne. Du hast dich hinterher nie bei mir gemeldet. Was denkste, was für’n Eindruck hat das bei mir hinterlass‘n?“

Er beobachtete wie Shinichis Kopf ein wenig sank, sein Blick auf seine Hände fiel, die das Lenkrad immer noch festhielten, als gäbe es allein ihm noch Halt.
 

„Was willst du denn hören?“
 

Nicht der Hauch eines Gefühls schwang in seiner Stimme, leise wie das Surren der Klimaanlage hing dieser Satz im Innenraum des Wagens, kaum zu vernehmen im Verkehrslärm, den die angrenzende Straße in die Kabine schickte. Er wandte sich um, in seinen Augen eine Kälte, die Heiji so noch nie gesehen hatte.

Und sie gefiel ihm nicht.
 

„Sag mir, was soll ich dir jetzt erzählen…?“

Der Osakaner schaute ihn unbehaglich an.

„Shinichi, ich…“

„Nein.“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Nein. Du machst dir keine Vorstellung, was da ablief. Du weißt, ich pack ne ganze Menge, aber das… das will ich einfach nur vergessen. Und darüber reden hilft mir nicht, das endlich hinter mir…“

Er hielt inne, als er Heijis sarkastisches Gelächter hörte.
 

„So siehste aus, Kudô. Das blühende Leben. Deinen Taktik scheint hervorragend aufgegangen zu sein.“

Heiji bemühte sich nicht, den Sarkasmus aus seiner Stimme zu filtern.

„Die pure Freude am Leben, mein Freund. Wie frisch…“

Shinichi wandte sich ihm zu, merkte, wie er langsam ärgerlich wurde.

„Das hat damit nichts zu tun. Du weißt, ich dachte, Ran…“

„Und das is tatsächlich alles?“
 

Shinichi wand sich unter seinem forschenden Blick.
 

„Verdammt, ich hab deine Eltern angerufen, damals, als du weg warst! Ich hab mir Sorgen gemacht, als du einfach verschwunden warst, am nächsten Tag! Weißt du eigentlich, dass ich geholfen hab, nach dir zu suchen? Ich hab diese zehn Tage kein Auge zugetan, verdammt! Und dann kommste zurück, und alles was ich von dir gesehen hab, war deine Rückseite, als Meguré dich zum Auto gebracht hat. Ich dacht mir, ich besuch dich am nächsten Tag – aber was is? Du bist weg! Und weder der Professor noch Haibara konnten mir sagen, wo de bist!“
 

Er schnappte nach Luft, war rot geworden vor Ärger und Wut, in seiner Schläfe pochte deutlich eine Ader, illustrierte anschaulich sein aufgebrachtes Gemüt. Shinichi schaute ihn betroffen an, schluckte trocken, wandte sich beschämt ab.
 

„Als ich angerufen hab in LA, ging keiner dran. Die ersten Tage, Wochen, hab ichs fast täglich probiert, und nie hob einer ab. Und als ich dann mal durchkam…“

Heiji atmete schwer.

„Einmal kam ich durch. Und ich war so erleichtert, endlich…“

Er schnaufte tief durch; seine Erregung stand ihm quer ins Gesicht geschrieben, ließ seinen Puls in die Höhe schnellen, als er zurückdachte, an diese zehn Tage.

An die Zeit, in der sie alle irgendwann den Glauben verloren hatten, ihn lebend wieder zu finden, weil die Zeit verstrich, ohne ein Zeichen von ihm.

Ohne einen Hinweis, wo er war.
 

Und dann das.
 

„Dein Vater war dran. Er klang müde und erschöpft, völlig abgekämpft, und er sagte, du wärst nich‘ zu sprechen. Ich solle nich‘ mehr anrufen. Das wars. Er hat einfach aufgelegt. Und ich hab… nich mehr angerufen.“

Shinichi schaute ihn zögernd an.

„Wusstest du, dass ich angerufen hab?“

Shinichi atmete langsam aus.

„Kann sein, dass sie’s mir gesagt haben.“
 

Er starrte auf seine Finger, zog seine Unterlippe zwischen die Zähne, ließ seine Finger vom Lenkrad gleiten, hinterließ dabei eine schwitzig-feuchte Spur, die schnell trocknete. Heiji schaute ihn ernst an. Er war leise geworden, seine Wut war verraucht, als er Shinichis schuldbewussten Gesichtsausdruck sah, sah, wie sein bester Freund mit sich kämpfte.

„Was soll’n das heiß’n…?“

Shinichi atmete langsam aus.

„Es tut mir Leid. Ich… hatte sie gebeten, niemandem zu sagen, wo ich war, und ich war… wohl auch nicht das, was man gemeinhin bei Verstand nennt, ich bekam in diesen Wochen wohl wenn überhaupt nur die Hälfte mit. Ich wollte keinen Kontakt mehr zu euch. Du weißt, warum. Abgesehen davon…“
 

Er hob den Kopf, kurz, warf ihm einen flüchtigen Blick zu.
 

„Was war los mit dir? Ich hätte deinen Vater am Telefon fast nich‘ erkannt, Shinichi, und ich…“

Heijis Stimme war leise, jedoch hatte er ihr eine wohl bemessene Dosis an Unnachgiebigkeit eingeimpft, sein Blick, der nun unverwandt auf Shinichi ruhte, spiegelte pure Entschlossenheit.

„Es ist doch egal, Heiji. Was passiert ist, lässt sich nicht mehr ändern, ich habs überlebt, das is doch alles, was…“
 

Sein Satz brach ab, als er Heijis forschendem und zugleich forderndem Blick begegnete, stöhnte leise auf.
 

„Du lässt mich nicht gehen, bevor du’s nicht weißt.“

Heiji schluckte, wandte den Blick ab.

„Ich habs mir heut morgen im Aufzug schon gedacht. Es gab noch einen anderen Grund, warum du nicht nachgeforscht hast, was aus Ran wurd. Du sagtest, du konntest nich‘.

Zuerst dacht‘ ich, das wär rein… psychologisch. Dann fiel mir das Verhalten deines Vaters am Telefon wieder ein. Und ganz ehrlich – so langsam fürchte ich, es steckt noch mehr dahinter, und was es auch is, es steckt dir immer noch in den Knochen. Ich mein, schau dich an… das is nich‘ nur zu viel Arbeit…“
 

Er zögerte.
 

„Ich bin kein großartig einfühlsamer Mensch, das weißte. Aber ich merk doch, dass da was is… und ich will dir doch nur helfen.“

Shinichi rieb sich die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger, seufzte dann laut auf, als er sich gegen die Rückenlehne fallen ließ.
 

„Und du denkst, du bist der richtige Mann für diesen Job, ja?“

Heiji sah ihn unverwandt an, überging den nagenden Zynismus in Kudôs Stimme.

„Ich bin dein Freund.“

Shinichi atmete aus, langsam, presste sein Rückgrat noch fester gegen das Polster der Rückenlehne.

„Na schön, ich will heute auch nochmal ins Bett, irgendwann. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

„Tu ich nich.“

Shinichi warf Heiji einen schrägen Blick zu.

„Warts ab.“

Dann holte er tief Luft, ließ noch einen Augenblick verstreichen, ehe er begann.
 

„Du weißt, mein Ziel war immer, den Laden irgendwann hochgehen zu lassen. Allein der Zeitpunkt, an dem es schlussendlich passierte, kam unerwartet und ungeplant. Zu früh, für meinen Geschmack. Und andererseits hatte es mir ja auch kaum schnell genug gehen können, damit, endlich dieses Dasein zu beenden. In letzter Konsequenz spielte es allerdings keine Rolle, was vernünftig gewesen wäre oder was ich wollte. Schlussendlich hatte ich das wann… und auch das wie… nicht so ganz in der Hand.“

Shinichi schluckte, wandte sich zu Heiji um.

„Ich hätt‘s gern besser geplant. Länger geplant. Einen Plan B gehabt. Allerdings musste ich handeln, und zwar schnell, als etwas passierte, mit dem ich so nie gerechnet hätte, zugegebenermaßen. Du erinnerst dich vielleicht an den Vorfall, als Ai als Shiho die Kinder gerettet hatte, damals im Wald. Die Kleinen hatten zufällig ein Video gedreht, auf dem sie drauf war. Und… Kogorô hatte das Video von Ai alias Shiho ins Internet gestellt, weil die Detective Boys sie suchten, um ihr zu danken.“

Er lächelte bitter.

„Eine nette Geste wohlerzogener Kinder, aber für uns beide…“

„Der Super-GAU.“, murmelte Heiji, nickte verstehend.

„Klar, das zwang dich zum Handeln.“

„Ein öffentlicher Internetauftritt einer Totgeglaubten, allerdings… das war der größtmögliche anzunehmende Unfall, den wir uns vorstellen konnten. Und es dauerte nicht lange, da stießen sie auf dieses Video, und uns schlug die Stunde null… die Organisation hatte einen Hinweis dafür, wo sie als nächstes sein würde. Ganz blöd sind die da nämlich auch nicht.“

Er fuhr sich mit plötzlich schweißnassen Händen durch die Haare, blickte durch die Windschutzscheibe nach draußen, sein Blick verlor sich irgendwo in der Luft vor der Parkplatzmauer, als er sprach.

„Sie hatten es auf sie abgesehen, als wir im Bell Tree Express mitfuhren. Auf dem Video trug sie den Teilnehmerring, deshalb schlussfolgerte die Organisation, dass sie mit von der Partie war. Ich ahnte, dass sie sie suchen würden, ich wusste, dass Vermouth wusste, dass sie Ai war. Das Ding konnten wir nur drehen, weil Kid und meine Mutter sowie Agent Akai vom FBI mitspielten, um Shihos Tod neu zu inszenieren… sonst wäre mein schöner Plan ganz schön schief gelaufen. Dennoch, eine meiner besseren Aktionen. Im Gegensatz zu manch anderer, die da folgte.“

Er lachte bitter.

„Vermouth wusste also von Ai, und sie wusste von mir. Mich wollte sie schützen, ich nehme an, weil ich der Sohn ihrer besten Freundin war, und wohl, weil ich ihr mal das Leben gerettet habe – andere Geschichte,“ schob er ein, würgte damit Heijis Frage ab, bevor sie seine Lippen verlassen konnte, „ - Ai jedoch stand auf ihrer Abschussliste, frag mich, warum… ich schätze, wegen irgendeinem organisationsinternen Kram, eine persönliche Rechnung, schätze ich. Was Vermouth betrifft, bin ich mir über ihre Motive und ihre Alter Egos immer noch nicht ganz sicher, aber das tut jetzt noch nichts zur Sache. Bourbon, der sich als Kogorôs Assistent Toru Amuro ausgab, wusste noch nichts davon – allerdings wurde auch er langsam stutzig, als er mich und Kogorô ein paar Mal miteinander einen… Fall lösen…“, seine Stimme wurde leise, „sah. Und dann forschte er nach… befragte die, die damals Shiho eingesperrt hatten, und musste erkennen, wie unmöglich ihre Flucht als Erwachsene aus ihrem Gefängnisloch eigentlich gewesen war. Forschte nach, woher Conan eigentlich kam und ob man Shinichi Kudô beerdigt hatte, denn eigentlich sollte der laut Gin und Vodka ja tot sein.“

Shinichi drehte den Kopf, schaute Heiji nachdenklich an.

„Im Nachhinein wundert es mich, dass sie nicht viel früher schon mal auf dem Friedhof oder im Verstorbenenregister nachgeschaut haben. Nur, weil sie das versäumten, konnte dieses Possenspiel überhaupt so lange laufen.“

Er wischte sich über die Augen, ließ die Hand dann müde wieder aufs Lenkrad sinken.

„Also, er forschte er im Auftrag der Organisation zusammen mit Gin nach. Sie glichen die Daten des Verschwindens von Shiho mit der Schulanmeldung Ais ab, und das Gleiche taten sie bei Conan und Shinichi, für dessen Tod sie ja keinen Beweis gefunden hatten… finden konnten… weil es einfach keinen gab. Und dann setzten sie sich in letzter Instanz mit dem Gift auseinander, das mir das alles eingebrockt hat, Apoptoxin 4869… und fanden heraus, was die Nebenwirkung war. Ganz blöd sind die da drin auch nicht, und auch wenn Shiho eine begnadete Chemikerin war, und immer noch Geheimnisse mit sich rumträgt, die die am liebsten alle wüssten, so war sie doch nicht die einzige helle Birne in diesem dunklen Verein.“

Ein schiefes Grinsen rutschte ihm über die Lippen; seine Augen blieben weiter dunkel und ernst blickend auf seinen Fingern haften.

„Was soll ich sagen… damit war der Fall für sie klar. Was sie nicht wussten, bestenfalls ahnten, war, dass nicht nur sie mich, sondern auch ich zumindest Bourbon im Auge behielt, und deshalb ahnte, dass die Organisation etwas plante – und dass Vermouth mich warnte. Sie schickte mir eine Nachricht. Und ich musste handeln, schnell… also brachte ich Ai mit dem Professor in Sicherheit, schickte sie auf eine Erfindermesse nach Sapporo, natürlich, ohne ihr etwas zu sagen und versendete meine Mails. Ich nehme an, Meguré oder Black hat sie dir gezeigt.“
 

Heiji nickte, seufzte leise.

„Ja, deine beeindruckende Dokumentation über Conan Edogawa, über die Leute in der Organisation und deine Drohung mit der Emailadresse hab ich gelesen. Den Film jedoch hat man mir nich‘ gezeigt…“

„…wahr wohl auch besser so.“, schob Shinichi ein.

„Nun, wie auch immer. Dein kleiner Plan hat ja prima funktioniert…“

Heijis Stimme troff vor Sarkasmus.

„Stimmt auffallend.“

Shinichi lächelte kurz.

„Kaum nen halben Tag später stand Bourbon auf meiner Matte und bat mich, in sein Auto zu steigen, oder so ähnlich… er hatte es ja nicht weit, und stand wohl in der Gunst des Bosses besser als Gin, der es ja erwiesenermaßen versäumt hatte, mich richtig umzulegen, als er die Gelegenheit hatte…“

Heiji hörte ihm gar nicht richtig zu.

„Aber – dennoch, Kudô…und überhaupt… Ai hat sich so einfach wegschicken lass’n? Wie ging das denn, ich mein, wir beide kennen sie doch, die hätte dich nie…“

Erst jetzt wandte Shinichi sich von der Welt jenseits der Windschutzscheibe ab, die im Wesentlichen aus einer grauen Mauer mit dem Schild „Privatparkplatz Hotel Haido – nur für Gäste“ bestand, schaute Heiji ruhig ins Gesicht. Das schmalste aller Lächeln zierte seine Lippen.

„Ich hab… den Professor ein bisschen eingeweiht in die Sache, die ich da plante. Und meine Eltern gebeten, für Ai und ihn ein sicheres Plätzchen zu besorgen. Manchmal wundert mich selber, was mein Vater alles mit ein paar Anrufen hinkriegt. Ihn davon zu überzeugen, mich meine Sache allein regeln zu lassen, war weitaus schwieriger. Er hatte mich ja schon mitnehmen wollen, als ich gerade ein paar Wochen Conan war, und wollte alles andere irgendwelchen Freunden bei Interpol überlassen..."

„Dein Vater hat Kontakte zu Interpol…?“, begann Heiji ungläubig, doch Shinichi winkte unwirsch ab.

„… ihm zu eröffnen, dass ich mich nun in die Höhle des Löwen begeben würde, war eine harte Nummer. Ihn davon abzubringen, mir irgendwie helfen zu wollen, noch schwieriger. Tatsache war, mir war nicht zu helfen. Deshalb habe ich auch dir nichts gesagt.“

Er biss sich kurz auf die Lippen, ließ seinen Blick über das Armaturenbrett wandern.

„Du hättest mir nicht helfen können, auf keine Weise und zu keiner Zeit. Auf dich auch noch aufzupassen wäre zu schwierig geworden, eine unplanbare Unbekannte in dieser ohnehin sehr ungleichen Gleichung…“

„… auf mich aufpassn? Wie bitte? Also ich kann schon selber ganz gut auf mich auf-…“

„Jaja.“

Shinichi würgte ihm mit einem müden Lächeln und einer unwirschen Handbewegung ab, fuhr unbeirrt fort.

„Also bin ich lieber allein gegangen, statt dich grundlos in Gefahr zu bringen.“

„Und dein Vater hat das hingenommen?“

Heijis Augenbrauen wanderten nach oben. Sein Missmut war ihm immer noch deutlich ins Gesicht geschrieben, und zwar einmal quer und einmal senkrecht, sah man genau hin.

Shinichi schluckte, strich sich seine Haare aus der Stirn. Er wusste, Heiji war ein fähiger Detektiv, aber ihn einzuweihen, ihn mitzunehmen oder irgendwo außen zu postieren… wäre in seinen Augen zu gefährlich gewesen. Dass Heiji das anders sah, war ihm klar, schon immer gewesen, hatte ihn aber nicht umdenken lassen.
 

„Nicht ohne Widerrede, was mich aber nicht aufhalten konnte – schließlich wollte ich ja auch nicht seine Zustimmung, nur seine Hilfe bei Ai. Er fand meinen Plan übers Knie gebrochen und unausgereift. Und im Endeffekt hatte er Recht damit, das Schräge daran ist – mir war das auch klar. Dennoch war es die einzige Chance, die ich hatte, diese Sache mit möglichst wenig Schaden auf unserer Seite zu beenden. Und deshalb habe ich Bourbon beobachtet, weil er mir als der greifbarste schien, und weil… auch er ein Doppelagent war, dem ich zwar nicht bedingungslos vertraute, aber bei dem hoffte, die besten Chancen zu haben. Und als es soweit war, habe ich die nötigen Schritte eingeleitet…“
 


 

„Und du bist sicher, Bourbon, dass er nichts ahnt?“

Gin lächelte spöttisch, blickte sein Gegenüber gelassen an, pustete feine Kringel blauen Rauchs in die Luft zwischen ihnen, ignorierte, oder besser genoss, das angewiderte Gesicht des Mannes.

„Ganz sicher…“

Bourbon lehnte sich zurück, verschränkte seine Arme.
 

„Du weißt, ich hab zuverlässige Quellen.“, meinte er dann trocken.

„Ich möchte ja wissen, warum wir das machen…?“, begann Chianti gelangweilt, setzte sich auf eine Tischkante und überkreuzte ihre langen Beine, die der schwarze, eng anliegende Lederjumpsuit auch heute wieder perfekt in Szene setzte.

„Ach ja, sagt nichts. Gin muss sein Ego streicheln.“

Sie schaute ihn spöttisch an, lächelte breit, zwinkerte mit ihrem Auge. Der Schmetterling flatterte kurz mit seinem Flügel, unheilverkündend wie eh und je.

„Dass ihr Männer immer so ein Theater draus machen müsst. Du hättest ihn mit ihr in die ewigen Jagdgründe schicken sollen, als du die Gelegenheit hattest. Aber nein, fünf Jahre sitzen wir rum und drehen Däumchen und schauen zu, wie er sein langweiliges Leben führt.“

Sie rümpfte die Nase.

„Arbeiten, essen, schlafen. Fälle lösen. Gut, dass er ein schlaues Bürschchen war, durften wir ja erfahren.“

Chianti lächelte kalt, warf Bourbon einen berechnenden Blick zu.
 

Das ist er noch.
 

Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht.
 

„Ich seh dennoch nicht, warum der Boss seinerzeit nicht einfach kurzen Prozess gemacht hat. Oder wir mit Shiho, der kleinen Verräterin, die immer noch am Leben ist und uns unbekümmert unter der Nase herumläuft – Akai-“

Chiantis Stimme klang unangenehm in seinen Ohren, ihr meckernder Ton nervte ihn und der bohrende Blick, starr, ohne zu blinzeln, wie der einer Schlange, die ihr Opfer hypnotisiert, brannte fast ein Loch in seine Haut.

Chianti blinzelte nur bewusst, wie es schien.

Nur dann, wenn der Schmetterling mit seinen Flügeln schlagen sollte.
 

„…passt auf sie auf, und hinter Akai steckt das FBI – hinter uns niemand mehr, abgesehen davon, dass wir uns in Japan, geschweige denn Tokio, kaum blicken lassen können, nach Kudôs Aktion. Du weißt, wie schwer es seitdem ist, überhaupt unerkannt zu reisen. Wenn wir uns ihm gleich offenbaren, weil du nicht warten kannst, können wir unsere Rache vergessen.“

Gin warf ihr einen scharfen Blick zu.

„Und deswegen tun wir das. Es reicht einfach nicht, ihn nur umzubringen. Ich will es genießen. Einmal nur… will ich ihn zermürben, ihn in Fehler treiben, jedes unangenehme Detail seines Lebens ans Licht zerren, bis ihm keiner mehr glaubt – bis er selbst sich nicht mehr glaubt. So wie er es mit uns gemacht hat. Ausziehen bis auf die Knochen.“

Er lachte leise.

„Und wenn es soweit ist, und er am Boden liegt… wird es mir eine Freude sein, ihn von seinem jämmerlichen Dasein zu erlösen. Bis dahin… spielen wir dieses Spiel.“

Bourbon warf ihm einen kurzen Blick zu.

„Na, dann pass lieber auf. Du weißt, was er das letzte Mal angezettelt hat, als man ihn zu lange am Leben ließ, weil der Boss noch spielen wollte.

Kudô ist keine Maus, und ihr seid keine Katzen. Er wird sich wehren, er ist nicht blöd, auch wenn ihr ihm einen ordentlichen Schlag versetzt habt, das letzte Mal. Ich an eurer Stelle, hätte den Sack damals zugemacht. Und auch das sagte ich euch. Ich hab euch…“
 

„… gewarnt, jaja. Spar dir den Atem.“

Gin drückte seine Zigarette aus, schüttelte den Kopf. Wie immer waren seine Augen unter seinen Haaren und dem breitkrempigen Hut, den er auch in Innenräumen kaum jemals abnahm, nicht zu sehen.

Bourbon seufzte.
 

„Du weißt, der Boss hätte nie erlaubt, dass du sein Mädchen umbringst und ihn ziehen lässt, ihn weiterhin eine Gefahr sein lässt, für die Organisation.

Es hat mich gewundert, dass er sich ohnehin so lange mit ihm amüsiert hat, seinerzeit.“

Gin zog tief den Rauch seiner Zigarette ein, ließ ihn langsam durch seine Lippen entweichen.

„Du weißt, was der Boss wollte, warum er ihn nicht gleich losgeworden ist. Kudô hat es geschafft, sich… unterhaltsam… genug zu machen, um ins Hauptquartier zu kommen – und er wollte die Antworten. Du weißt, der Boss hatte eine Schwäche für Menschen, die es intellektuell mit ihm aufnehmen konnten, egal, ob er nun Freund oder Feind war. Wir haben ja gesehen, wie sehr er es genossen hat, sich mit ihm zu beschäftigen.“

Er kniff die Augen zusammen.

„Was meine Rache allerdings betrifft, geht dich das herzlich wenig an, Bourbon. Der Boss ist Geschichte, ihn wird’s damals nicht interessiert haben, und genausowenig tut es das heute – er hat den Laden in die Luft gejagt und sich gleich mit.“

Er lachte kalt.

„Nach bester Samurai-Manier nimmt der gescheiterte Krieger sich das Leben… Schade nur, dass er es nicht damit tun konnte.“

Er blickte zu dem Katana, das an der Wand hing, lächelte schmal.

„Ich hab mir erlaubt, es zu retten. Honjo Masamune, das legendäre Samuraischwert…“

Bourbon schluckte hart.

„Sollte er doch noch nicht tot sein, hast du ein Problem, Gin… du weißt, Anokata…“

Der Angesprochene schnitt mit einer scharfen Handbewegung Bourbon das Wort ab, der gerade noch einmal seine Stimme erheben wollte, bereits Luft geholt hatte.

„Hör auf mich zu langweilen und lass das lahme Gewäsch, Bourbon. Der Boss ist tot. Es gibt keine Organisation mehr, für die Kudô eine Gefahr sein könnte – es gibt nur noch uns. Und wir werden uns unsere Genugtuung holen und zu Ende bringen, was wir vor fünf Jahren begonnen haben, wir werden ihn vernichten, diesen kleinen dreckigen Schnüffler. Und zwar gründlich, endgültig und erfolgreich… und dann kaufen wir uns Sherry.“

Bourbon schaute ihn aus Halbmondaugen lang an, ehe er mit spöttelnder Stimme Gins Selbstbeweihräucherung unterbrach.

„Ja, klar. Euer Erfolg springt einem ins Gesicht. Großbritanniens bester Ermittler seit Conan Doyles Erstausgabe von Sherlock Holmes im Strand Magazine buchtet die Kriminellen reihenweise ein - dem habt ihrs aber gezeigt…“
 


 

Heiji starrte ihn fassungslos an.

„Und das war also dein Plan? Dich zu stellen, wenns eng wird…?“

„Nein.“

Shinichi schaute ihn verärgert an.

„Ich musste sicher sein, dass ich interessant genug war, damit man mich nicht einfach gleich erschießt. Und ich musste dafür sorgen, dass die anderen sicher sind. Ran. Die Môris. Ai, der Professor… du.“
 

Er schluckte hart.

„Ich habe also das FBI kontaktiert und eingeweiht. Und mit ihnen diesen Plan ausgeheckt. Ich würde reingehen, ein Computerprogramm, einen Trojaner installieren, der heimlich die Daten ihrer Rechner abzog und sie würden ein Auge auf alle anderen haben, unauffällig, und sie in Sicherheit bringen, wenn nötig. Damit der Boss der Organisation auch glaubte, dass ich es ernst meinte, dass es sich lohnt, mit mir zu reden bevor man mich liquidiert, habe ich ihm diese Mail geschickt. Und an James Black und Meguré, damit sie einen Beweis haben für meinen… Fall. Und damit der Boss sieht, wer in meinem Team spielt, natürlich.“

Shinichi schluckte hart.

„Damit war ich drin in der Sache… mit einem einigermaßen konkreten Plan, wieder rauszukommen, denn damals dachte ich ja noch, ich hätte das alles in der Hand, zumindest das meiste. Haibara und der Prof waren weg, zusammen mit meiner Mum. Mein Vater hielt sich in Tokio auf, wie du ja erfahren hast, begleitete das FBI und die Polizei. Als der Zeitpunkt kam, also… als dank der erfolgreichen Installation des Trojaners die nötigen Daten sie endlich erreicht haben würde, sollten sie mit der Emailadresse den Namen und Aufenthaltsortes des Bosses recherchieren. Tatsächlich dauerte das zu lange – wer sie wirklich ins Hauptquartier brachte, war Ran. Sie orteten ihr Handy, das sie immerhin bis knapp vor die Tore des Gebäudes hatte bringen können, bevor man sie aufgriff …“

Er hielt inne, als er seinen Gesprächspartner neben sich nach Luft schnappen hörte, wandte sich um und sah Heiji, der krebsrot im Gesicht geworden war.
 

„Ja, das hab ich mitgekriegt. Und damals wie heut frag ich mich - warum hast du nicht gleich die Mailadresse vom Boss nachverfolgen lassen, Kudô!?“
 

Heiji fuhr ihn wütend an.

„Verdammt, wenn du die hattest, warum dann das Ganze?! Konnteste den Hals nicht voll genug kriegen, musstest du’s unbedingt allein durchziehen, war dir das alles noch nicht genug des Ruhms, du -“

„Weils nicht so einfach war!“, fauchte Shinichi zurück, mit nicht minder Wut in der Stimme. Er fixierte seinen Freund mit zornfunkelnden Augen, brachte sich mühsam unter Kontrolle.
 

„Denkst du das wirklich? Hast du in all den Jahren, in denen wir befreundet waren, denn nichts über mich gelernt? Mir gings nicht um Ruhm oder Ehre oder sonstwas dergleichen…“

Er wurde leise, wandte sich ab.

„Ich wollte ein Ende, ja. Ich wollte, dass keiner wegen mir zu Schaden kommt. Ich wollte sicher sein, dass wenn jemand über diese Klinge springen musste, nur ich allein derjenige war. Ich hatte Mist gebaut, damals. Und ich… ich hatte Angst, ganz einfach. Ich gebe gern zu, ich hatte nicht viel Ahnung, wen ich mir da an Land gezogen hatte, als ich ihnen vor sieben Jahren am Rummelplatz nachgejagt bin. Und auch einige Zeit danach noch nicht… ich hielt sie bestenfalls für etwas besser organisierte, etwas skrupellosere Verbrecher. Aber ich kann dir sagen, als ich vor fünf Jahren den Schlussstrich gezogen habe, war mir sehr klar, mit wem ich mich da angelegt hatte. Und ich hatte… die nötige Portion Respekt.“

Shinichi schluckte hart. Heiji starrte ihn sprachlos an.

„Glaubst du nicht, das war mein erster Gedanke, als ich an die Adresse gekommen bin? Recherchier den Inhaber und nimm den Verein hoch, Kudô!“
 

Er lachte bitter, schüttelte etwas hilflos den Kopf, ehe er weitererzählte.
 

„Ich hätt‘s sofort getan. Noch an dem Tag, als ich sie herausgefunden habe! Ich wollte Takagi anrufen und ihn nachforschen lassen. Bis Ai mir erklärte, dass jeder, der die Adresse recherchierte, schneller tot wäre, als er die Nummer in irgendeine Suchmaske eintippen könnte.“

Shinichi atmete schwer.

„Beweise, Rezepturen, Zeugen, alles vernichtet, ehe irgendwer einen Fuß in diese Festung setzen konnte, alle Vögel längst ausgeflogen, dafür viele unschuldige Tote, nein!“

Der junge Detektiv fasste sich mühsam.

„Das war es nicht, was ich wollte. Ich wollte sie alle. Und ich wollte das Gegenmittel zu diesem verfluchten Apoptoxin. Ich wollte Beweise und Namen sichern, damit die Polizei an den Ort führen. Ich wollte das endlich beenden, und als ich die Chance kriegte, nutzte ich sie. Nutzten wir sie.“
 

Mit klammen Fingern wischte er sich über das Gesicht. Heiji starrte ihn an, bemerkte, wie aschfahl Shinichi geworden war.

„Und warum bist du da selber rein? Und nicht wer vom FBI? Oder warum hat es diese Hondo nicht gemacht, warum mussten die da dich…“

Shinichi seufzte leise.

„Hidemi war immer noch unter strenger Beobachtung. Das FBI hatte noch keinen neuen Agenten, den man einschleusen konnte, und selbst wenn, hätte es zu lange gedauert, bis er sich da drin ein Grundvertrauen erworben hätte. Die Zeit hatten wir aber nicht. Wie ich schon sagte, sie wussten, wer Ai war. Und ich.“

Er seufzte.

„Unser Leben war ohnehin in Gefahr, ich sollte ja schon tot sein, schon vergessen? Also warum dann nicht so? Ich hatte nur die Wahl zwischen Zeugenschutz und – dem hier. Kampf. Und ich bin niemand, der wegläuft…“
 

Zumindest war ichs damals nicht.
 

Er schluckte hart, sammelte sich.
 

„Ich wollte das. Ich wollte mein Leben wieder. Ich wollte… Ran. Und Shihos Freiheit. Deshalb bin ich gegangen. Mein Leben als Einsatz für mein Leben… das schien nur fair für mich. Und als Bonus die Sicherheit von euch allen, Shihos Freiheit… mir erschien das durchaus das Risiko wert.“

Shinichi hob den Kopf, schaute Heiji fest an, lächelte schmal.

„Versuch nicht, mir weiszumachen, du hättest anders gehandelt, an meiner Stelle. Ich war viel freier als Hidemi es sein konnte – sie musste darauf achten, ihre mühsam erarbeitete Position nicht zu verraten, die Arbeit von Jahren nicht zunichte zu machen, falls sie scheiterte oder aufflog. Ich konnte da drin ausbrechen und tun was ich wollte, ich war ihnen ohnehin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und bis zu dem Zeitpunkt, als Bourbon mich dem Boss übergab – den ich während der ganzen Zeit dort nicht gesehen habe, zumindest nicht mehr als seine Silhouette“, merkte er an, als er sah, wie Heiji zu einer Frage ansetzen wollte, „er saß immer im Gegenlicht oder ganz im Schatten - lief alles leidlich nach Plan. Es funktionierte alles, bis zu dem Zeitpunkt, als ich den Trojaner installierte, der Itakuras Verschlüsselungssoftware knackte. Und ich dachte, ich könnte, was dann auch immer kommen würde, ertragen, bis man mich rausholte oder sich eine Gelegenheit zur Flucht ergab. Ich meine, ich hatte mittlerweile doch etwas… Übung.“

Sein Lächeln war bitter geworden, Sarkasmus färbte seine Stimme, hinterließ einen schalen Geschmack auf seiner Zunge. Heiji wusste, worauf er anspielte. Er hatte oft genug mitbekommen, was Shinichi ausgehalten hatte, immer dann, wenn Conan kam oder sich verabschiedete.

„Tatsächlich muss ich sagen, ich rechnete mit vielem… aber mit dem, was dann passierte, nicht.“
 

Shinichi schluckte hart, merkte, wie die Erinnerung seine Sicht trüb werden ließ, und wusste, auch jetzt, nach fünf Jahren, war er die Bilder noch immer nicht los geworden. Wahrscheinlich würde das nie der Fall sein.

Unwillkürlich rieb er seine Armbanduhr, drehte sie um sein Handgelenk.

„Was…?“

Heiji merkte, wie ihn fröstelte. Shinichi ließ sich langsam nach hinten sinken. Er sah ihn aus dem Augenwinkel an.
 

„Zunächst wollten sie einfach wissen, was ich so großspurig in dieser Mail, beziehungsweise meiner Videobotschaft angekündigt hatte. Ich meine, damit war zu rechnen, und das tat ich auch. Sie brannten darauf zu erfahren, wohin Ai verschwunden war. Und wie ich so viel hatte über diesen schwarzen Misthaufen hatte herausfinden können. Sie wollten die Namen der Maulwürfe und Verräter hören. Sie wollten sich rächen dafür, dass ich sie an die Polizei und das FBI verpfiffen hatte, mit diesem Beweisvideo. Wollten ihren Spaß wohl haben, mit mir. Ich war die meiste Zeit, bis dahin zumindest, nicht wirklich gefährlich gewesen. Wohl aber lästig. Aber ich war dabei, etwas zu lästig zu werden, und damit dann sehr wohl gefährlich.“

Er lächelte bitter, schaute auf seine Finger, die unruhig auf das Lenkrad trommelten. Heiji beobachtete ihn beunruhigt.

„Gut, das war ja mein Ziel gewesen. Ich wollte ihre Aufmerksamkeit von Shiho zu mir ziehen. Wollte verhindern, dass sie mich kleines Licht auspusteten, bevor ich irgendetwas hatte anzünden können, den Großbrand hatte legen können, dort drin.“

Shinichi schloss die Augen.

„Das hatte also geklappt. Gleich als ich ankam, gaben sie mir ein Gegengift, ein Geschenk für mich, denn das erleichterte mir vieles – welchen Nutzen das für sie hatte, erschloss sich mir nicht. Vielleicht wollten sie einfach ihrem Widersacher in die Augen sehen. Vielleicht fanden sogar sie es zu absurd, das, was kommen sollte, mit einem Grundschüler anzustellen.“
 

Heiji starrte ihn fassungslos an, ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken, prickelte unangenehm in seinem Nacken nach, als er seinen Freund so bitter lachen hörte.
 

Kudô…
 

Er blickte ihn von der Seite an, sah diesen seltsam blicklosen Ausdruck in Shinichis Augen, der ihm verriet, dass er gerade mit den Gedanken nicht in der Gegenwart war.

Heiji ahnte, woran sein Kollege gerade dachte – und schwieg, so sehr ihn dessen Schweigen auch beunruhigte.
 

Irgendwann war er wieder zu sich gekommen – wie erwartet hatte man ihm die Hände gefesselt; und er wunderte sich auch nicht, dass er sich im Kofferraum eines Wagens wiederfand.

Ihm war klar gewesen, dass er kaum Business class ins Hauptquartier fahren würde.
 

>Wohl eher Holzklasse.<

Er schluckte, schloss kurz die Augen, als er den pochenden Kopfschmerz hinter seinen Augen bemerkte.
 

>Der war auch nicht zimperlich… sind die wohl alle nicht.<
 

Er spürte, wie das Plastik der Kabelbinder in seine Handgelenke schnitt, fühlte, wie die Schnalle hart gegen seine Knöchel drückte – und wohl irgendeinen Nerv oder ein Gefäß abklemmte, denn er spürte nichts mehr in seinen Fingerspitzen seiner rechten Hand, etwas, das ihn beunruhigte – allerdings, und das war ihm klar, steckte er in weit größeren Schwierigkeiten und hatte andere Sorgen, als eine eingeschlafene, taube Hand.

Ihm war heiß, und der Schweiß rann ihn in kleinen Tropfen über die Haut, klebte seine Haare an seine Stirn. Er ahnte, er lag in einem Kofferraum, gedämpft drang das Motorengeräusch zu ihm durch – viel lauter jedoch klang das Rauschen seines Bluts in seinen Ohren, sowie sein durch den Knebel, den man ihm verpasst hatte, gepresster Atem. Er stöhnte auf, als er sich bewegte, und die Kopfschmerzen sich intensivierten – intuitiv wollte er an die Stelle am Hinterkopf greifen, ein aussichtsloses Unterfangen.

Man hatte ihn ja – mal wieder – niedergeschlagen.
 

Shinichi schluckte erfolglos – der Knebel in seinem Mund, wahrscheinlich ein Geschirrlappen aus Agasas Küche, saugte seinen Speichel weg, bevor er sich in seiner Mundhöhle sammeln konnte.

Er schloss die Augen, versuchte, ruhig zu sein.

Genau das hatte er doch gewollt.

Genau das war der Plan gewesen.
 

Und so lag er da, spürte jede Kurve und jede Bodenwelle, und wartete.

Seine Gedanken waren nicht bei dem, was kommen würde.

Was ihn erwartete.
 

Er hatte eine kleine Ahnung, was ihn erwartete, und er wusste, es würde kein Vergnügen werden. Dennoch, trotz dieses Wissens, hatte er sich dafür entschieden – und nun würde er es aussitzen müssen. Schließlich hatten sie einen Plan.

Es ging um alles, er durfte nicht kopflos werden, indem er der Panik erlaubte, die Kontrolle über ihn zu übernehmen – auch wenn er Angst hatte.

Und das konnte er nicht leugnen.
 

Shinichi starrte in die stickige Dunkelheit, atmete langsam aus.
 

Irgendwann hielt der Wagen an, der Motor erstarb. Anscheinend waren sie angekommen – dass dem tatsächlich so war, bestätigte ihm Bourbon, der die Heckklappe öffnete und das künstliche Licht einer Parkgarage in den Kofferraum strömte. Shinichi blinzelte, als die Helligkeit ihn kurz blendete. Im Zwielicht einer Tiefgarage erschien Bourbons Gestalt.
 

„Wie schön. Du bist wach. Dann müssen wir dich nicht tragen.“
 

Damit zog ihn der Mann aus dem Wagen, ließ ihn kaum auf die Füße kommen, als sich bereits ein weiteres Paar Hände um ihn kümmerte – ein starkes Paar Pranken, die zu einem untersetzten Mann gehörten, mit Hut und Sonnenbrille.
 

Wodka.
 

„Sieh einer an, du kleiner Schnüffler. So sieht man sich wieder.“

Er lachte hohl.

„Gin wird sich freuen, dich zu sehen. Mal kucken, ob er sich an deine Visage erinnert. Er sagt ja immer, er vergisst sie alle.“

Ein weiteres Lachen entwich seinen Lippen, als er ihm einen Stoß nach vorne gab, um ihn zum Gehen zu bewegen – und ihn damit ins Stolpern brachte.
 

„Na na. Schwächelst du etwa schon?“

Bourbon lächelte ihn breit an. Dann ging er voran, wandte sich nicht um – er wusste auch so, dass die beiden ihm folgten.

Shinichi blickte ihn kurz an, zog die Augenbrauen hoch. Dann schubste man ihn weiter – durch eine Tür in ein Labyrinth aus grellweißen Gängen mit grauem Linoleumboden, der im Licht der Neonröhren glänzte.
 

Wenn er geglaubt hatte, sie würden ihn sofort zum Boss bringen, hatte er sich jedoch getäuscht.

Was er zuerst sah, war das Innere einer etwa sechs Quadratmeter großen Zelle, in die man ihn stieß. Sie war rundum weiß, blendend hell erleuchtet, und über der Tür blinzelte ihn ein Kameraauge an.
 

>Sie machen sich nicht einmal die Mühe, etwas zu verstecken.<
 

Leider hatten sie sich auch nicht die Mühe gemacht, ihm den Knebel aus dem Mund zu ziehen oder die Fesseln abzunehmen. Mit Mühe hatte er sich an die Wand gerobbt und aufgesetzt, und zerrte an seinen Händen.

Erfolglos.

Er stöhnte frustriert auf, ließ sich zurücksinken – bekam er die Hände nicht frei, dann bekam er auch den Knebel nicht aus seinem Mund.
 

Und sie ließen ihn warten.

Irgendwann wusste er auch, worauf sie warteten.

Seine Kehle schien wie ausgetrocknet, seine Zunge fühlte sich unnatürlich groß und wattig in seinem Mund an, erschwerte ihm das Atmen. In seinen Fingern spürte er mittlerweile gar nichts mehr, so sehr er auch versucht hatte, sie in Bewegung zu halten.

Was er allerdings sehr wohl spürte, war etwas ganz anderes.
 

Hitze.
 

Shinichi warf der Kameralinse einen verächtlichen Blick zu.

Warteten sie darauf, dass er sich zurückverwandelte?
 

>Ganz offenbar ist das der Plan…<
 

Die sechs Stunden für die verringerte Dosis waren ganz offenbar verstrichen.

Er versuchte, sich von der Kamera wegzudrehen. Wollte ihnen die Genugtuung nicht geben, ihn leiden zu sehen. Allerdings ahnte er, dass es egal sein würde, wie er es anstellte – die Kamera hing hoch genug, um ihn immer im Blickfeld zu haben. Und er wusste, wenn es soweit war, würde er keine Kontrolle mehr über sich haben.
 

Und es kam soweit.
 

Er stöhnte in seinen Knebel, fand ihn zum ersten Mal nützlich – er erstickte seine Schreie, und er eignete sich hervorragend, um darauf herumzubeißen.
 

Er riss die Augen auf, als die Schmerzen anfingen – plötzlich, wie immer, aber unerwartet heftig. Brennend, bohrend zuckten sie wie ein Stromschlag durch seinen Körper, auf der Suche nach einer geeigneten Austrittsstelle, scheinbar, ließen auf ihrem Weg seine Muskeln verkrampfen, verspannen, seine Nerven vor Überreizung fast kapitulieren.
 

Und er schrie.
 

Krümmte sich, wand sich, wollte sich bewegen, seine Hände um seine Brust schlingen, gegen seinen Brustkorb pressen, und es ging nicht – noch immer hielt das Band aus Plastik seine Arme auf seinem Rücken. Er keuchte, bekam kaum Luft, verschluckte sich und konnte kaum Husten, glaubte, ersticken zu müssen.

Er fühlte, wie jede Zelle einzeln vor Qual zu schreien schien – und zum ersten Mal fragte er sich, was mit ihm eigentlich geschah.

Was mit all der Größe, all den überschüssigen Zellen passierte.
 

Apoptose war der Name für den Selbstmord von Zellen.

Und würde dieser Selbstmord nicht aufhören, dann starb er.
 

Es war tatsächlich erleichternd, als seine Hände endlich durch die Fessel rutschten, er sich den Knebel aus dem Mund zerren konnte, um nach Luft zu schnappen wie ein Ertrinkender.

Schließlich lag er auf dem Boden, Arme und Beine flach ausgestreckt, die Wange am Fußboden, atmete flach und schnell, wie ein kleiner Vogel auf der Flucht vor der Katze.
 

Dann ging die Tür auf, und sie kamen, um ihn zu holen.
 

Und er war nichts in ihren Händen.
 


 

Sie stellten ihn auf die Füße, mussten ihn dreimal hochheben und wieder hinstellen, weil ihm die Beine versagten. Im Gegenlicht stand ein Mann, eine schwarze Silhouette – neben ihm, und erkennbarer, weil deutlich näher, standen Vermouth, Gin, Bourbon. Hinter ihnen gruppierte sich eine Horde weißgewandeter Chemiker – und ihre Anwesenheit verhieß ihm nichts Gutes.
 

Shinichi fragte sich, in welchem Raum sie wohl waren; seine malträtierten Sinne ließen ihn im gleißend hellen Licht kaum etwas erkennen.

Eine Liege.

Ein Ständer für einen Tropf.

Ein OP-Wagen aus Edelstahl, dessen Tischplatte er nicht sehen konnte – wahrscheinlich wollte er das auch gar nicht. So blieb ihm der Ausblick auf das, was ihn vielleicht gleich erwartete, erspart.
 

Ihm drehte sich fast der Magen um.

Und jetzt wusste er auch, was für eine unbarmherzige Lampe das war.

Es war eine OP-Beleuchtung. Dies war ein Untersuchungsraum. Er war im Labortrakt, ganz offensichtlich.
 

„So, so so…“, hallte eine seltsam körperlose Stimme durch die Stille. Conan ahnte, dass sie zu dem Mann im Gegenlicht gehörte.

Und er ahnte auch, wer das war.
 

„Ich hoffe, du verzeihst mir meine Neugier, Shinichi Kudô.“

Ein heiseres Lachen ertönte.

„Meine Neugier und meine schlechten Gastgebergewohnheiten. Es war unhöflich, dich so lange warten zu lassen, wo deine Einladung doch so… ausgesprochen eindringlich war.

Aber ich wollte mich doch zuerst mit eigenen Augen überzeugen, ob diese beeindruckende Vorführung, die du mir hast zukommen lassen, stimmt.“
 

Der kleine Junge warf ihm einen aufgesetzt genervten Blick zu.

„Und? Zu welchem Schluss sind Sie gekommen? Bin ich ein Lügner oder nicht?“

Gelächter hallte durch den Raum, lauter, als er es erwartet hatte – und er fragte sich zum ersten Mal, ob die Stimme nicht aus einem Lautsprecher kam.

Ob der Schatten, der vor ihm stand, wirklich der Boss war oder nur eine Puppe.
 

„Du hast Humor, das gefällt mir. Offenbar stimmt es, was man sich von dir sagt, Shinichi Kudô – oder Conan Edogawa. Du bist ein furchtloser Detektiv… oder einfach einer der größten Dummköpfe, der hier rumrennt.“
 

Bewegung kam in die Menschen um ihn herum, er fühlte sich fast von den Füßen gerissen, als Vodka, der irgendwann hinter ihm erschienen sein musste, ihn packte. Er strampelte kurz, ließ es wieder bleiben, als er einerseits merkte, wie sinnlos das war, und zweitens, wie selten dämlich das aussehen musste. Er war ein Kind und hatte ihnen nichts entgegenzusetzen.

Punkt.

Er schluckte, hörte auf, sich zu wehren, versuchte stattdessen, in der schwarzen Silhouette ein Gesicht zu sehen.

„Und was haben Sie jetzt vor? Ich muss zugeben… das hier lässt nicht viel Spielraum für Fantasie…“

Er nickte in Richtung des Untersuchungstischs.

Der Boss lachte leise.
 

„Ach das? Das muss dich nicht beunruhigen. Noch nicht.“
 

Er ließ die letzten zwei Wörter drohend im Raum schweben.
 

„Nun. Da ich es nicht liebe, auf meine Feinde schon herabzusehen, wenn sie noch nicht am Boden liegen…“, eine Kunstpause ertönte, „muss ich wohl den eben gesehenen Vorgang rückgängig machen. Aber freu dich, Kudô. Es wird das letzte Mal sein.“
 

Shinichi starrte ihn sprachlos an, schluckte trocken.

Er wusste genau, in welcher Konstitution er sich befand.

Nie hatte er sich getraut, zweimal in so kurzer Zeit das Gegengift zu nehmen. Niemals gleich nach dem Abklingen der Wirkung, so experimentierfreudig er gemeinhin auch mit diesen Gegengiften gewesen war.

Ein Schweißtropfen rann ihm die Schläfe entlang nach unten – und er wusste, dass er es sah.
 

„Angst, Kudô?“

Shinichi versuchte erneut, seine Kehle zu befeuchten, und erneut gelang es ihm nicht. So räusperte er sich, ehe er zu einer Antwort ansetzte.
 

„Verwirrung, vielmehr.“

Er versuchte, seinen Stand etwas zu entspannen, seiner Stimme mehr Selbstsicherheit zu verleihen.
 

„Bitte korrigieren Sie mich, falls ich Ihre bisherigen Aktionen falsch interpretiert haben sollte. Wir stimmen darin überein, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, meiner Bitte Folge zu leisten und mich hierher zu bringen, weil Sie tatsächlich neugierig darauf sind, wer ich bin und… oder was ich weiß.“

Der Boss lächelte.

„Damit liegst du richtig.“

„Dann… scheint es mir, mit Verlaub, als wenig zielführend, wenn Sie nun riskieren, Ihre Informationsquelle auszutrocknen, bevor Sie sie angezapft haben, um die bösen Wörter verhören und töten nicht zu verwenden.“

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Shinichis Lippen.

„Du hast Recht, ich spiele mit Risiko. Gerade du solltest das aber doch verstehen, Kudô…“

Ein leises Lachen plätscherte durch den Raum.
 

„Risiken einzugehen macht das Spiel erst interessant… und du, mein junger Freund, bist nur aus einem einzigen Grund hier.“
 

Sein Lachen wurde lauter, biss in Shinichis Ohren.
 

„Um mit dir zu spielen…“
 

Der Schatten winkte, und eine junge Frau kam heran, eine Kapsel in ihrer Hand. Sie ging vor ihm in die Knie, ohne ihn anzusehen, kniff ihm ohne Vorwarnung die Nase zu – und als er den Mund aufriss, um nach Luft zu schnappen, schob sie ihm die Kapsel zwischen die Kiefer, hielt ihm dann mit erstaunlich viel Kraft eisern den Mund zu, indem sie seinen Unterkiefer gegen seinen Oberkiefer presste.

Bis er schluckte.
 

Shinichi verdrehte die Augen, als der Schmerz ihn mit scharfen Klauen packte und mit sich zerrte. Er merkte nicht, wie er auf dem Boden aufschlug – der Schmerz des Aufpralls war nichts im Vergleich zu dem, was sich gerade durch seine Glieder bahnte, mit heißen, weißglühenden Nadeln.

Hörte nur gedämpft das Gelächter der Personen, die um ihn herum standen und ihm zuschauten.

Er ahnte, dass sie dabei war.
 

Vermouth.
 

Dass sie ihm zuschaute, dass sie ihn beobachtete…

Und er kämpfte.

Sein Organismus ging fast in die Knie, er spürte es. Die Rückverwandlung war gerade erst vorbei gewesen, ihn so schnell wieder diesen Prozess retour ertragen zu lassen war fast mehr, als er aushalten konnte. Er fühlte, wie sein Kopf abschalten wollte, seinen Körper einfach ausschalten – sein rasendes Herz anhalten, seinen fliegenden Atem zum Erliegen bringen, weil es zu viel war, die Belastung zu hoch. Er zitterte und krampfte, Faser für Faser verzog und verzerrte sich, bis die Krämpfe seinen Herz erreicht hatten – es fast wie eine Papierkugel zusammenknüllte, nur um es im Anschluss wie einen Luftballon fast bis zum Platzen auszudehnen.

Aber es schlug weiter, unruhig, unregelmäßig, krampfhaft zwar – dennoch, es schlug.

Er befahl sich, weiter zu machen, nicht aufzugeben – Shihos Leben hing an seinem Erfolg.

Und wahrscheinlich nicht nur ihrs.
 

Er schrie auf, laut, als er es nicht länger aushalten konnte. Schnappte nach Luft, versuchte, tief zu atmen, weil ihm die Sinne schwanden, als seine Zellen zu wenig Sauerstoff erhielten, da er fast hyperventilierte.
 

>Die wollen mich sterben sehen… die wollen mich hier einfach nur sterben sehen, das… deswegen bin ich nicht hier. Das darf nicht passieren. Das. Darf. Nicht. Passieren…!<
 

Fest kniff er die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander, zwang sich, tief durch die Nase zu atmen.
 

„Nein…“
 

Er krallte die Hände in den Boden, hustete und keuchte, zischte das Wort fast stimmlos in den Raum.
 

„Was, nein…?“
 

Die Stimme klang beunruhigend nah an seinem Ohr. Dunkel, durchdringend… grausam.
 

„Ich…“

Er schluckte, zog sich auf die Knie, gestützt auf seine Unterarme, berührte mit der Stirn den kalten Fliesenboden.
 

„Ich…“

Shinichi rang um jeden Atemzug.
 

„Wir warten.“
 

Belustigung klang in der Stimme. Heiße Luft streifte seine Wange, und ein paar schwarzer Lederschuhe tauchten in seinem Sichtfeld auf.
 

„Ich… sterbe heute nicht.“
 

„Ich fürchte, wir konnten dich nicht hören.“

Kalt drang die Stimme an sein Ohr.

Shinichi sog die Luft ein, tief. Sein Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals – aber langsam schien es abzuebben. Der Schmerz war auf ein dumpfes Pochen herabgesunken, das er ertragen konnte – und so richtete er sich auf, hob den Kopf.
 

Als er hoch ins Licht blinzelte, sah er nichts als schwarze Schatten, und doch lag in seinen Augen Entschlossenheit in ihrer Reinstform.

„Ich. Sterbe. Heute. Nicht.“, erklärte er bestimmt, schaffte es, ihnen dabei in ihre Gesicht zu sehen, ohne zu blinzeln – oder besser dorthin, wo er ihre Gesichter vermutete.
 

„Beeindruckend.“, erklang die Stimme erneut.

Shinichi rieb sich über die Augen, die immer noch wegen der Helligkeit schmerzten. Die Stimme lachte.

„Wie schön. Der Spieler entscheidet sich, das Spiel noch nicht zu verlassen… also auf in Runde zwei, Detektiv…“
 

Eine kurze Pause folgte.

„Allerdings wird sich dieses Gespräch noch etwas verzögern, ich hoffe, du verstehst das. Leider hast du uns ziemlich viel Ärger bereitet mit deiner kleinen e-mail… ein paar unserer Leute sind etwas nervös geworden, als es die Kunde machte… anscheinend hat die Polizei ein kleines Informationsleck.“
 

Ein heiseres Lachen waberte durch den Raum.
 

„Deshalb müssen wir zuerst einmal Schadensbegrenzung betreiben. Aber sei unbesorgt. Du wirst deine Gelegenheit noch bekommen, mit mir zu reden. Ich brenne geradezu darauf…“
 

Sein Ton verebbte zu einem gefährlichen Flüstern.
 

„Detektiv Shinichi Kudô…“
 

Damit hatten sie ihn zurück in seine Zelle gebracht und allein gelassen, in blendend weißer Hölle – und so war er die meiste Zeit auf dem Rücken gelegen, hatte sich die Augen zugehalten und gewartet – und dabei wirklich jedes Zeitgefühl verloren.
 

Shinichi blinzelte – die Stille im Auto war fast greifbar, und sie war es auch gewesen, die ihn aus seinem kurzen Gedankenausflug wieder zurückgerufen hatte.
 

„Ich hatte, wie du ja jetzt weißt, den Auftrag, einen Virus ins System zu spielen, und ich nutzte die erste Gelegenheit, die sich mir bot, um das zu tun. Ich brach aus, als so ein Mädchen mir was zu essen brachte, kurz nach meiner Festnahme, ich glaube, es war am zweiten Tag – so wie wir es geplant hatten, ich war über den Umgang der Organisation mit ihren Gefangenen gut informiert durch Akai. Ich schaffte es, in den Serverraum zu gelangen und die Software zu installieren, man hatte mir ja den Weg erklärt. Bis dahin lief auch alles noch nach Plan. Die Organisation ahnte nicht, wie sehr die Kacke wirklich am Dampfen war, der Virus simulierte einen Hackerangriff – und als sie alle panisch begannen, ihre Daten von den Server zu holen, dazu natürlich all ihre Passwörter eingaben, saugte der Virus genau das alles ab. Er arbeitete im Verborgenen, wurde von keinem ihrer Anti-Spyware-Programmen aufgespürt, entschlüsselte die Dateien und lieferte zwar langsam, aber beständig, Daten ans FBI. Namen und Codenamen, Adressen, Daten über Verbrechen, Laboraufzeichnungen. Das, was Shiho noch brauchte…“

Er schluckte.

„Nachdem sie mich wieder eingefangen hatten, fingen sie an, mich zu verhören. Und nachdem ja einfaches Fragen erwartungsgemäß wenig fruchtete, versuchten sie es mit…“
 

Kurz hielt er inne, müde, jeder Zynismus war von ihm abgefallen. Heiji schaute ihn abwartend an, seine Gedanken rasten – um mit den nächsten Worten gänzlich zum Erliegen zu kommen.
 

„…versuchten sie es mit einer Droge.“
 

Shinichis Stimme war sachlich, erstaunlich nüchtern. Er hatte die Lippen aufeinandergepresst, den Blick ernst und starr auf seine Fingerspitzen gerichtet.

Heiji schluckte hart, kniff die Lippen zusammen.

„Mit Droge meinste…“

„Richtig. Eine süchtig machende, sich auf Körper und Psyche eher ungesund auswirkende Substanz.“

Shinichi schaute ihm geradewegs ins Gesicht, auf seinen Lippen ein zynisches Grinsen, in seiner Stimme beißender Spott und abgrundtiefe Abscheu.
 

Heiji starrte ihn sprachlos an, schluckte hart. Shinichi massierte sich die Schläfen, merkte erst jetzt, wie trocken sein Mund geworden war, versuchte zu schlucken, schaffte es nicht, und räusperte sich stattdessen mühevoll, ehe er fortfuhr.
 

„Es war ein Halluzinogen. HLZG 0405 war der Name. Werewolf nannten sie sie, weil es, wie so viele Halluzinogene, zweifach wirkte – in Phase eins kam die Euphorie, in Phase zwei die Depression. Und beides jenseits irgendeiner Kontrolle meinerseits. Ich war abgemeldet, während der Film lief.“
 

Er seufzte lautlos, versuchte, sachlich zu bleiben, als er sprach.

„Ein irres Zeug war das, machte mit meinem Hirn, meinem Denken, was es wollte. Ich versuchte mir einzureden, dass es ist nur dieses Zeug war, nur das Gift, dass es alles nicht echt war, hab versucht, in einem Eckchen meines Hirns noch klar zu bleiben, und schaffte es doch nur kurz, immer… dieses Ringen um meine Selbstbeherrschung, im wahrsten Sinne des Wortes Herr über mich zu bleiben, wurde von Mal zu Mal härter und letzten Endes verlor ich immer. Mitzubekommen, wie einem etwas die Kontrolle über die eigenen Gedanken entreißt, nicht nur den Körper jenseits einer Steuerung durch das eigene Bewusstsein zieht sondern einem sogar das Denken vernichtet, brachte mich an den Rand des Wahnsinns, das… kann ich dir sagen.“

Shinichi hielt inne. Sein Gesicht hatte eine rötliche Farbe angenommen, und erst, als er weiter sprach, erkannte Heiji, warum.

Scham.

Er schämte sich.

„Ich war nach kurzer Zeit schon ziemlich süchtig, auch wenn ich diesen Kontrollverlust hasste. Ich hab mir die ersten Male verboten, darüber nachzudenken. Ich kam mir fürchterlich schwach vor. Und das wollte ich nicht sein. Durfte ich nicht sein.“

Er schüttelte den Kopf, starrte seine Finger an, die Unruhig die Konturen des Lenkrads nachfuhren.

„Zuerst realisierte ich gar nicht, was mit mir geschah. “

Er ließ seine Hände vom Lenkrad sinken.

„Nach der dritten Nacht, also meinem vierten Tag da drin hatte jegliches Gefühl für Realität und Traum verloren, konnte kaum unterscheiden zwischen den Momenten, in denen ich tatsächlich klar war, oder mir die Droge etwas vorgaukelte. Ab da konnten sie mir praktisch alles verkaufen. Und ab da schien’s erst richtig interessant zu werden für sie.“

„Was… was hast du…?“
 

Shinichi schluckte hart, wischte sich über die Stirn.
 

„Darüber will ich nicht reden.“, murmelte er tonlos.
 

Heiji lief ein eisiger Schauer über den Rücken.

„Ran…?“, murmelte er leise.

„Du hast…“

„Heiji… was verstehst du eigentlich nicht an den Worten „Darüber will ich nicht reden“?“

Shinichis Stimme klang rau – und dennoch klang noch eine Spur von Ärger und Unwillen in ihr nach.

„Also Ran.“

Heiji atmete langsam aus, wandte den Blick ab, beobachtete die Oberflächenstruktur des Armaturenbretts. Shinichi schwieg, schluckte, atmete langsam und gepresst aus. Heiji hörte es, schaute ihn aus dem Augenwinkel an.

Kurz herrschte Stille im Wagen, ehe der Osakaner wagte, erneut das Wort zu ergreifen.
 

„Kudô…“ Heiji klang erschüttert – und er war es auch. Shinichi schüttelte den Kopf, schaute ihn an, lächelte bitter.

Shinichi schüttelte den Kopf, ein winziges, trauriges Lächeln huschte über seine Lippen, als er mit einem Blick voll Bedauern seine Finger betrachtete.

Schluckte dann hart, schaute dann auf, aus dem Fenster.

„Muss ich dir mehr sagen? Du siehst, was der Glauben, sie sei gestorben, wegen mir, aus mir gemacht hat.“

Unwillig schüttelte er den Kopf, riss sich dann wieder zusammen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie verspannt Heiji neben ihm saß, stumm und mit aufgerissenen, unfokussierten Augen den Kopf schüttelte.

„Nein, musste nich‘.“, flüsterte er tonlos. Shinichi räusperte sich.

„Natürlich… war es das. Dahin wollten sie mich bringen. Desorientiert, weitgehend willenlos, abhängig. Ihr Ziel war wohl, mich zu zermürben, bis ich ihnen freiwillig die Antworten präsentieren würde, in den kurzen Phasen, in denen ich einigermaßen klar war zwischen letztem Trip und Entzugswahnvorstellung.“

Er wischte sich über die Augen, seufzte still. Heiji fasste sich an die Stirn, merkte, wie sein Magen sich zusammenzog, hörte Shinichis Stimme kaum, als er sprach. Ihm wurde fast übel.
 

„Dieses Szenario von Euphorie, von Glück mit ihr dauerte so lange, wie die Droge vorhielt. Und dann kam… der Alptraum. Ihr Schmerz, jedesmal, weil ich sie nicht beschützen konnte, weil ich nicht da war, weil ich unfähig war. Ich war es, der sie ins Elend stürzte. Und jedes Mal riss es mich auseinander, weil ich es nicht unterscheiden konnte von dem, was Realität heißt, so sehr sich die kleine Stimme in meinem Kopf abmühte, mich zu überzeugen, hinterher. Realität war eine Fiktion für mich. Und Fiktion war so fürchterlich real.“
 

Er hielt inne, blickte aus der Windschutzscheibe nach draußen an die Wand.
 

„Ich frag mich, warum ich hinterher nie Popcornreste gefunden hab, die müssen sich köstlich amüsiert haben bei jeder Vorstellung…“

Er lachte hohl, wischte sich fahrig übers Gesicht, fühlte kalten, klebrigen Schweiß unter seinen Fingern, rieb sie und streifte sie dann unwirsch an seiner Hose ab.

„Es… hat mich fast umgebracht, was diese Droge mit meinem Kopf, mit meinem Körper anstellte – und irgendwann sahen sie sich zum Handeln gezwungen, schließlich hatten sie ja immer noch nicht, was sie wollten, nur… einen Namen. Und den nutzten sie. Ich erinnere mich an diesen Tag – weil es der Tag war, an dem er sich mal Zeit nahm, etwas länger mit mir zu reden. Ich sah ihn mit seinem Schwert, mit diesem antiken Samurai-Katana im Gegenlicht des Fensters stehen, spürte seinen Blick auf mir, ahnte, dass er nicht mehr lange warten würde, dass er kurz davor war, den letzten Schritt zu tun, um mich endgültig kleinzukriegen, endlich die Antworten aus mir rauszupressen, die sie so gerne haben wollten.“
 

„Ran.“, murmelte Heiji.

„Ran.“, bestätigte Shinichi. „Und ich wusste, ich musste weg hier, schnell, wenn ich das vermeiden wollte. Und sie holten sie, das weißt du. Der einzige Grund, warum wir überhaupt wieder rauskamen, bevor Ran etwas Schlimmeres passierte, war Sharon. Sharon ist total vernarrt in Ran…“
 


 

„Diese Schlange. Vermouth.“

Chianti sah aus, als würde sie gleich Gift und Galle speien.

„Sie wollte ihm ja fast ein Placebo gegeben. Nur gut, dass wir sie durchschaut haben… sie und ihren kleinen Plan – ihm nur eine ganz leichte Dosis zu geben, und seine kleine Freundin rauszuschmuggeln. Was für ein Naivchen – es war rührend, wie sie mir vertraute, als ich sie rausbrachte, ihr versicherte, dass er schon draußen wäre...“

Sie kicherte amüsiert.

„Aber was sie mit Kudô zu schaffen hatte, verstehe ich bis heute nicht.“
 

Gin lachte lauthals.

„Ich schon.“

Bourbons Kopf ruckte auf, Chianti starrte ihn an.

„Du wusstest… dass sie…?“
 

Der Mann lächelte arrogant.

„Natürlich, Bourbon. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, nachdem sie sich so auffällig benahm. Ich fand heraus, dass ihre Mutter mit Kudôs Mutter befreundet war, und das ließ mich aufhorchen. Und nachdem ich ihren Gesichtsausdruck gesehen habe, als er… am Boden lag, dem Tod näher als dem Leben, weil ihn sein überdosierter Drogenrausch fast den Verstand gekostet hat und damit seinem Herzen fast den Garaus gemacht hätte… da ahnte ich, dass sie sich das nicht mehr viel länger anschauen würde und ihn schonen wollte, bis die endlich kamen, um ihn zu retten, für die er den Kopf hinhielt – das FBI. Es war allerdings auch herzzerreißend, als er vom Tod seiner Freundin halluzinierte. Deshalb auch mein Plan.“

Er grinste böse, hob den Kopf – und Bourbon konnte seine hellen Augen kalt funkeln sehen.

„Ich wollte live erleben, wie es ihn zerstört, wenn man seine Freundin wegen seiner Dummheit umbringt. Und. Es. War. Fantastisch.“
 

Gin lachte schallend.
 


 

„Sharon wollte dafür sorgen, dass ich am nächsten Tag nur eine sehr geringe Dosis bekam, damit ich mich zumindest kurz erholte. Du weißt, was dann passierte. Das FBI bekam die letzten Hinweise und stürmte das Quartier. Und ich konnte tatsächlich entwischen, zusammen mit Ran, die sie ja… tatsächlich geholt hatten, um zu sehen, wie gesprächig ich in ihrem Beisein wäre. Ich holte mir ein Handy, und… schickte Ran vor, mal wieder. Sharon wollte sie rausbringen und ich wollte noch einmal zurück, ich wollte… den Boss finden, den man noch nicht erwischt hatte. Ich sah ihn von weitem, kurz bevor die Explosion weite Teile des Gebäudes einriss.

Ich rannte also raus, bis ich merkte, dass das Gift doch zu hoch dosiert gewesen war – oder ich einfach schon viel zu abhängig war. Ich war körperlich am Ende und stand am Rande eines neuen Fiebertraums.“
 

Shinichi blickte kurz auf, massierte sich die Schläfen.

„Was dann passierte, weißt du. Es war nicht Sharon, die Ran rausbrachte, und mir hinterherschickte, sondern Chianti. Wahrscheinlich war auch sie es gewesen, die mir die letzte Dosis dieses Gifts verabreicht hatte. Und Chianti war es auch gewesen, die mich überhaupt in diese Richtung geschickt hatte – von wegen, dort wäre das FBI. Tatsächlich lauerten sie uns auf, wir hatten keine Chance, Gin stach Ran nieder, ließ mich zurück mit dem Versprechen, sich um mich auch noch zu kümmern… irgendwann.“
 

Kraftlos ließ er sich in den Sitz sinken.

„Das wars also.“

Kurz entstand Stille im Raum.
 

Heiji schaute ihn an, zögernd.

„Warum warst du nicht zu erreichen?“

Shinichi schluckte.

„Ist das nicht offensichtlich? Ich war körperlich am Ende und stand unter Schock wegen Ran.“

Er lächelte bitter.

„Ich kam zu meinen Eltern nach Hause und geriet in der Nacht in den Entzug. Ich hatte ihnen da noch nicht erzählt, was los war mit mir, ich muss sie in Angst und Schrecken versetzt haben, vor allem meine Mum. Ich wollte es mir selber kaum eingestehen, dass ich ein Wrack war, das bereits am nächsten Tag nach diesem Zeug jammerte, weil…“

Shinichi schüttelte frustriert den Kopf.

„Weil du hofftest, sie im nächsten Traum am Leben wieder zu finden.“

Heijis Stimme war kaum zu hören.

„Richtig.“

Shinichi schaffte es nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, fixierte das Parkplatzschild mit blicklosen Augen, einen Ausdruck tiefster Abscheu gegen sich selbst auf dem Gesicht. Er schämte sich wegen seiner eigenen Schwäche, das war deutlich zu sehen.

Heiji merkte, wie in ihm das schlechte Gewissen immer lauter wurde. Langsam wünschte er sich, er hätte ihn nicht dazu gebracht, ihm das alles zu erzählen; es war deutlich zu sehen, wie sehr in die Erinnerung daran mitnahm.
 

„Ich hoffte so sehr, das nur geträumt zu haben. Verdammt, ich hatte es doch schon so oft geträumt, und es war nicht wahr gewesen, so realistisch, aber niemals wahr… und auf einmal war es das… es war Realität geworden, und das brachte mich fast um den Verstand, mehr noch, als es diese Droge konnte. Ich wünschte mir so sehr, sie noch einmal zu sehen, einfach zu vergessen, was passiert war, hoffte irgendwie immer noch, dass ich nur wieder Gefangener meiner eigenen Albträume war, ich…“

Mit ernster Miene starrte er aus dem Fenster.

„Die Entscheidung, nicht in Tokio zu bleiben, fiel entsprechend leicht. Zunächst einmal entschied ich gar nichts – meine Eltern taten das. Und als ich wieder leidlich klar im Kopf war, war mir klar, dass ich nicht zurück wollte. So wollte ich erstens keinem unter die Augen treten, und zweitens brauchte ich den Abstand, um wieder in die Wirklichkeit zu finden… und einen Ort, an dem mich nicht alles an sie erinnerte, an meine Schuld, auch wenn das wohl in der ersten Zeit die eher untergeordnete Rolle spielte. Ich entkam mir selber nicht, also war es egal, wo ich war.“
 

Unwirsch massierte er sich seine Schläfen.

„In den ersten Tagen kann ich kaum ich gewesen sein. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft… an Fieberträume, daran, einfach nur dazuliegen, eine verachtenswerte Kreatur, die sich völlig hängen ließ. Ich hasste mein Leben, weil ich an Ran dachte, an Ran, die tot war, wegen mir, und ich lag hier und lebte immer noch. Immer noch.“

Er lächelte bitter.

„Was für eine Ironie. Sie war tot und ich war entkommen, wieder mal. Ich verdiente dieses Leben nicht. Ich hätte doch schon vor Jahren sterben sollen an diesem Gift, stattdessen war ich geschrumpft und hatte sie in all das hineingeritten, und am Ende bezahlte auch noch sie meine Rechnung. Das war nicht fair.“

Er stöhnte auf.

„Das war einfach nicht fair in meinen Augen. Und noch dazu, stärker noch als diese Schuld, die mich fast auffraß, war dieses Verlustgefühl, das ich nie für möglich gehalten hätte. Sie…“

Shinichi biss sich auf die Lippen.

„Sie fehlte mir. Der Gedanke, sie nie wieder zu sehen, nie wieder zu hören, raubte mir das letzte bisschen Verstand in diesen Tagen. Der Wunsch, sie wiederzubekommen, schien schier übermächtig und die Unmöglichkeit, das zu bewerkstelligen… ich konnte diesen Gedanken kaum begreifen. Geschweige denn, ertragen.“

Shinichi kaute auf seiner Unterlippe, wagte es nicht, Heiji anzusehen.

„Ich… erinnere mich an meinen Vater, der an meinem Bett saß, und mir vorlas. Ernsthaft.“

Er räusperte sich.

„Der Mann las mir vor! Er las mir tatsächlich vor. Aus seinem neuen Roman, als alles andere nichts mehr half. Ich erinnere mich auch an meine Mutter, die meine Hand hielt, mir die Stirn kühlte. Ich mag gar nicht daran denken. Ich war nicht ich.“

Ein langes Seufzen entfloh seinen Lippen.

„Sie kümmerten sich um mich wie um einen sechsjährigen Jungen. Und mehr war ich wohl auch nicht.“

Ein bitteres Lachen füllte kurz die Kabine des Autos.

„Ein kleines, krankes Kind. Ein kleines, krankes, trauriges Kind…“

Nachdenklich strich er sich über die Augen.

„Ich glaube, ich hab mich nie richtig dafür bedankt. Der Grund, warum ich wieder auf die Beine kam, ist nur die Sorge meiner Eltern.“

Er lächelte traurig.

„Nun… Als ich dann eine Zeitlang clean und einigermaßen wiederhergestellt war, stellte sie vor die Tatsache, dass ich sie verlassen würde. Ich… hatte mich bei Scotland Yard beworben, mir Referenzen vom FBI besorgt. Sie sahen das nicht gern, aber sie ließen mich ziehen, weil sie verstanden, dass ich die Luftveränderung brauchte. Ich ging also nach England, und versuchte, aus mir das Beste zu machen. Und das ist der Status Quo bis heute.“
 

Er setzte sich wieder gerade hin, räusperte sich. Stille breitete sich aus, als Heiji sacken ließ, was er gerade gehört hatte. Bis er schließlich doch noch einmal ansetzte.
 

„Träumst du immer noch davon?“

Seine Stimme klang leise durch die Fahrgastzelle.
 

Shinichi zuckte zusammen, wandte sich doch, wenn auch widerwillig, Heiji zu.

„Wovon…?“

„Davon, mit ihr zusammen zu sein.“

Heiji schluckte. Er wusste, er ging auf dünnes Eis.
 

Ein wehmütiges Lächeln umspielte Shinichis Lippen.

„Nein, eher nicht… ich dachte ja, dass sie tot ist. Ich hab eher… von diesem Abend geträumt. Aber manchmal, ja. Wenn ich an die Minuten denke, die dem vorangegangen sind, als sie mich gefunden hat in dieser Gasse, und wir für ein paar Minuten glaubten, in Sicherheit zu sein.“

Er schloss die Augen.

„Als sie sagte, dass sie mich liebt, trotz all dem Mist, den ich verbockt hab…“

Heiji sah in sein Gesicht, konnte das Lächeln von seinen Lippen bröckeln sehen Stück für Stück, bis nichts weiter als ein bitterer Zug um die Mundwinkel übrig geblieben war.
 

Shinichi starrte blicklos in die paar Quadratzentimeter Luft vor seinen Augen, ohne wirklich etwas wahrzunehmen, schluckte hart.
 

Und beinahe hätten wir uns geküsst… stattdessen hat er in dir gegeben, Ran, deinen ersten Kuss.

Ein Kuss ohne Liebe, nur aus Hass gegeben, nur um dir weh zu tun – und mir.
 

Das sollte ein Kuss nicht tun…
 

Bitterkeit stieg in ihm hoch, ein fahler Geschmack auf seiner Zunge, ein dumpfes Brodeln in seinem Bauch. Der Gedanke daran, wie dieser Mann mit ihr umgegangen war, was er ihr gestohlen hatte, entfachte in ihm einen nie für möglich gehaltenen Zorn. Heiji schaute ihn an, sah, wie eine Kälte in seine blauen Augen Einzug hielt, die Heiji dort nie vermutet hätte.
 


 


 

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So.
 

Mehr sag ich dazu heute mal nicht.

Nächste Woche kommt das Kapitel später, weil ich im Urlaub bin – ich denke, ich hab euch auch so genug Stoff zum Nachdenken gegeben, wie das hier weitergehen kann…
 

Danke an die sechs Kommentare zum letzten Kapitel, ich kanns nicht deutlich und oft genug sagen - ich freu mich unendlich, wenn sich jemand die Zeit nimmt, mir ein Feedback zu hinterlassen, für diese Geschichte, die so irre viel Arbeit macht. Sie wird gut ein Jahr zu laden brauchen, Leute, und an dieser Geschichte schreib ich bestimmt schon vier Jahre. Ihr habt keine Ahnung, wie sehr da ein paar Kommentare motivieren!
 

Beste Grüße,

Leira

Kapitel 9: Die Nachrichten von Morgen

KAPITEL 9 – DIE NACHRICHTEN VON MORGEN
 

Shinichi rieb sich die Stirn, seufzte.

Heiji war gerade ausgestiegen.

Er hatte nichts mehr gesagt, ganz offenbar hatte er ihn sprachlos geredet – eine Leistung, auf die er fast schon stolz sein konnte – wer schließlich machte Heiji Hattori schon so schnell sprachlos?

Er lächelte bitter.

Mühsam atmete er durch, versuchte, die Erinnerung an diese Zeit vor fünf Jahren wegzuschieben von sich, schließlich war sein Tag noch nicht zu Ende, und für das was jetzt kam, die Pressekonferenz nämlich, musste er einen klaren Kopf haben. Langsam drehte er den Zündschlüssel im Schloss, bis der Motor leise zu schnurren anfing, legte den Rückwärtsgang ein und gab vorsichtig Gas, ließ den Wagen vom Parkplatz rollen und fädelte sich umsichtig wieder in den Verkehr ein.
 

Als er bei Scotland Yard eintraf, war der Parkplatz fast voller Autos, trotz dieser Tageszeit.

Und er wusste genau, warum – man musste nicht von der Polizei sein, um das zu erkennen. Die Namen und Logos der Sender und Zeitungen prangten deutlich auf den Wägen, schrien hinaus in die Welt, wer sich hier um die Information der Bevölkerung kümmerte.
 

So gut wie jeder Sender und jedes Klatschblatt ist hier.

Na super...

Aber das Beste ist doch, es wird es völlig egal sein, was ich sage – morgen kann ich’s in hundert Varianten lesen von wortwörtlich zitiert bis hin zu frei erfunden…

Außerdem interessiert diese Mediengeier ja gar nicht, was ich sage.

Sie interessieren sich nur für Sherlock Holmes.
 

Sherlock Holmes, ja…
 

Er schluckte.

Ihm schwante Übles, als er das Gebäude über die Pforte betrat und den Weg in Richtung press department einschlug.

Je näher er kam, desto höher wurde der Geräuschpegel. Stimmengewirr herrschte im Gang vor dem Konferenzsaal, ein diffuses Summen wie von einem Bienenschwarm klang an seine Ohren; dennoch, wollte man die Ansammlung von Menschen, die auf ihn wartete, mit der Tierwelt vergleichen, so traf das Bild von einem Rudel hungriger Wölfe besser zu.

Sehr hungrige Wölfe, die sich auf ihn stürzen würden, und auf jeden Brocken, den er ihnen hinwarf, ihn zerfetzen und zerreißen und neu zusammensetzen würden...
 

Shinichi schärfte sein Gehör, versuchte, genaueres rauszuhören, die Stimmung unter den Reportern zu erfühlen.

Tontests wurden gemacht, Ordnungspersonen wiesen allzu neugierige Reporter zurecht, Beschwerden wurden laut, wann es jetzt endlich losginge – und über allem lag diese eine, sich immer wieder wiederholende Frage.
 

„Where’s Sherlock Holmes? Have you seen him, yet? What’s he doing, he should be here by now…?”
 

Where’s Sherlock…?
 

Shinichi hielt inne, bevor er um die Ecke bog und zweifellos ins Sichtfeld der Medienleute geriet. Er wusste, wie das laufen würde, er hatte es oft genug gesehen, nie jedoch in dieser Dimension selbst abbekommen.

Er wusste, Montgomery würde zugegen sein, und die Gerichtsmedizin. Sein Chef würde die Lage kurz erklären, McCoy das Bild noch etwas schärfen, indem er die Befunde der Pathologie vorstellte – und dann würde man ihn um ein Statement zum Stand und Verlauf der Ermittlungen bitten, und wie weit waren sie…?
 

Er hob beide Hände, massierte sich die Schläfen, und merkte dabei, dass seine Finger eiskalt und schweißnass waren.
 

Wann war ich das letzte Mal so nervös? Gerade vor der Presse?

Es gab Zeiten, da badete ich in ihrer Aufmerksamkeit, ihrem Blitzlicht, ihrem Papier und ihrer Druckerschwärze…

Ich konnte kaum genug davon kriegen, ich war so stolz.
 

Warum?
 

Warum wollte ich das… lag mir das? Machte ich mir was daraus?

Ich habs wohl genossen. Ein wenig größenwahnsinnig war ich sicher. Und ziemlich arrogant, oh ja.

Aber gut, ich war praktisch noch ein Kind. Ein pubertärer Teenager, völlig abgehoben von der Realität, sah nur die Herausforderung, den Erfolg, den Ruhm.

Und die Medien bestätigen einem das… Erfolg und Ruhm.

Ich war wohl scharf drauf, irgendwie. Ein wenig sicher.

Ich weiß es nicht. Ich weiß, ich wollte, dass sie liest, was ich kann, was ich bin…

Wollte wohl, dass sie mich wahrnimmt, stolz auf mich ist, irgendwie.

Ich hab ihr die Liebesbriefe dieser liebestollen Mädels unter die Nase gehalten, nur, damit sie mich anschaut… eifersüchtig wird.

Ran…
 

Wusstest du das eigentlich?

Dass auch ich nur ein pubertärer Kerl war… so schlau und doch nicht für fünf Pennies Verstand in der Birne. Ich bin dir wohl gehörig auf den Keks gegangen, ab und an. Und dennoch warst du bei mir.

Du hast mich auf den Boden runtergezogen, wenn ich mal wieder am Abheben war. Und dabei hast du mich nie fallen gelassen.
 

Er lächelte bitter.
 

Und jetzt? Jetzt ist alles anders.

Jetzt warten sie auf mich und ich fürchte sie. Weil ich weiß, was sie können…

Weil sie mein Leben auseinandernehmen, wenn Sherlock Holmes nicht funktioniert. Du wirst es ohnehin nicht lesen. Tokio ist weit weg von London…
 

„Sherlock!“
 

Shinichi fuhr herum, sah Montgomery, der seinen Namen leise zischte und ihn zu sich winkte. Der junge Superintendent setzte sich in Bewegung, entfernte sich wieder ein wenig von der Schar der Medienfritzen.
 

„Sir?“, fragte er leise.

„What is it? I thought the press conference is about to begin?“

“It is.”

Montgomery nickte leise.

“And that’s why I wanted to talk to you. Did you find out something of interest?“

Shinichi wiegte den Kopf auf die Frage seitens seines Chefs, ob sie etwas Brauchbares gefunden hätten.

“Well. We have her name and identity. We have talked to her roommate this afternoon, and found out, that she obviously has cut out an advert from a newspaper, I have already sent a request for that paper – we unfortunately did not find the ad itself. We found out, that the London Design school has ordered a big amount of wild silk, so this is where we will go digging for the designer or tailor. And we will go into the UAL as to look for the painter – if the tailor is from there, the painter likely is as well. So – what do you think?”
 

Montgomery atmete aus, Erleichterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Immerhin schienen sie ein paar Hinweise hinsichtlich des Motivs zu haben. Diese Zeitungsanzeige zu finden, würde sicher helfen.

„I knew you would come up with something. Well done.”

Er klopfte seinem Mitarbeiter unbeholfen auf die Schulter.

„Well tell them that. That we have liable traces concerning dress and painting and therefore good hints concerning the persons who have made them. We’ll not, of course, give them details. No word about the UAL or the campus will be flooded by reporters tomorrow. We don’t want that.”

Shinichi zog die Augenbrauen kurz hoch, nickte langsam. Nein, ganz sicher wollte er nicht eine Horde schlagzeilenhungriger Reporter auf dem Unicampus haben wollen, wenn er dort morgen seine Recherchen machte.
 

„No, we don’t want that.“
 

Damit drehten sie sich um, gingen Seite an Seite den Flur entlang, durch das Meer von Reportern hindurch in den Konferenzsaal, während ein wahres Blitzlichtgewitter auf sie herniederging. Shinichi versuchte, unverbindlich zu lächeln, reagierte auf keinen Ruf, nahm wortlos und äußerlich gelassen neben McCoy Platz, der seinen Bericht vor sich liegen hatte. Shinichi griff nach dem Wasserglas, nahm einen Schluck, ehe er sein Notizbuch aus seiner Jackettasche fischte.
 

„How are you?“

Die leise geflüsterte Stimme McCoys drang an sein Ohr.

„Fine.“

Shinichi lächelte müde.

„Tired, a bit, it has been a long day…“

“That is true.”

McCoy nickte, während die Lautstärke im Raum langsam verebbte.

„How was the work with the liasion officer? I hope you two got along well?”

Und diese Frage lockte Shinichi tatsächlich ein Grinsen auf die Lippen.

„Indeed, we did. Better as you might have guessed, Doctor. Mr Hattori is an old friend of mine. I haven’t seen him for some time, though, so we… kind of enjoyed this coincidence and take it as a good chance to solve a case together,…”

McCoy sah ihn an – es fühlte sich lange an, dieses Schweigen, und doch wusste Shinichi, dass es nur Sekunden waren. Er zog eine Augenbraue hoch, schaute ihn fragend an.

„Hm?“

“You might call me pathetic now. Or overprotecting like a mother hen. Perhaps you’ll think I stick my nose into matters that are not of my business, but well, that’s what we all do.”

Shinichis Lächeln glitt langsam von den Lippen, machte einem bitteren Zug um die Mundwinkel Platz.

„What is it, then?“

Der alte Mann schaute ihn ernst an – so ernst, tatsächlich, dass in Shinichi das schlechte Gewissen erwachte.

„I guessed that you knew each other the very second I heard you talk Japanese with him. The way you looked at him, met his eye. Open, trusting,… knowing. I’ve never seen you like this before. And I am relieved, I really am. To see that you have friends at last, someone you trust your life with. You have no friends here, just colleagues, besides… me, perhaps, if you count me as a friend of yours; I do count you as one of mine. But I never heard you talk about your family. And you have no… partner. No young woman catching you, caressing you, showing you the beauty and joy of life, when you come home, after a day full of horror and death. You seemed to have no life besides the Yard. So I worried… how long would you think, you could keep this up? You seem to fade away, lose yourself in this name they gave you… Sherlock. But you’re not him. You’re a living, thinking human. You need friends. You need… love. The scene in the autopsy with that girl… she…”

“No.”

Shinichi schluckte hart, war blass geworden.

„Please, doctor. Leave my private life private. I am touched that you worry that much about my person, but rest assured, everything is fine. It really is.”

Er hob den Kopf.

“Everything else has to do with decisions I made in the past. Sometimes they were wrong, but I made them, nevertheless. The only person that is to be bothered with my life is me.”
 

Ein lautes Räuspern ließ sie beide auffahren – mittlerweile war es still geworden im Saal. Montgomery warf ihnen einen strengen Blick zu, den beide mit einem gesenkten Haupt quittierten. Stumm verfolgten sie den Bericht des Assistant Commissioners. Er hörte die Diktiergeräte klicken, nur vereinzelt einen Kugelschreiber über einen Block kratzen, als über die Identität des Mädchens gesprochen wurde, und über die Teilnahme des liasion officer aus Japan an den Ermittlungen. Er schaute aufmerksam in die Runde, sah, wie die ersten mit ihrem Smartphone bereits die Neuigkeit an ihre Redaktion mailten; dem folgte der Bericht des Pathologen. Für Shinichi war daran nichts, was er noch nicht wusste, aber dennoch hörte er aufmerksam zu. In seiner Rede kam er noch einmal auf den sonderbaren Aufzug der Leiche, ihre Blässe, ihre Wunde, die die Todesursache darstellte, zu sprechen. Über den Todeszeitpunkt vor drei Tagen. Er redete über ihren Mageninhalt, erneut. Über den Tox-screen. Über die Beschaffenheit des Kleides, über das Bild.

Und dann kam das Wort an ihn.
 

Shinichi fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, fühlte, wie sein Mund auf einmal trocken wurde, nahm einen Schluck Wasser und schämte sich fast ob seiner Nervosität – seiner Schwäche.

Noch dümmer, das wusste er, war es jedoch zu sprechen anzufangen und keinen Ton über seine trockenen Lippen zu bringen.

Und so räusperte er sich aufgeräumt.
 

„Well. You have been informed by AC Montgomery and our forensic Dr. McCoy – you can consider yourself being up to date. It is not much that I have to add. Detective Sergeant Watson did a good job in compiling a list of shops, stores and dealers that sell that special kind of cloth the dress was made with. We also have gathered some hints as to where to look for the painter of that picture – we’ll follow both traces tomorrow. This afternoon, we have met Miss Kanagawas flatmate, and had a nice chat with her. We learned that Miss Kanagawa was a student at the Royal Academy of Music. She was a young violinist. As it seems, she had responded to an ad she found in…”

Er ließ seinen Blick über die Köpfe gleiten, bis er das passende Logo gefunden hatte.

“… in a copy of your newspaper, Miss…“

“Shelley.”

Die junge Dame stand auf. Sie war etwas älter als Shinichi, schaute ihn unverwandt an, ihr Smartphone in der Hand.

„What ad?“

„We don’t know yet. It was cut out. I’ve already sent a request…“

“What date?”

“April 13th, page eight.”

“Hang on and give me a second.”

Sie eröffnete anscheinend ein kurzes Textnachrichtengespräch, ehe sie nach nicht einmal einer Minute triumphierend ihr Handy in die Luft hielt. Aller Augen waren auf sie gerichtet; sie jedoch schaute Shinichi breit lächelnd an.

„Here it is. Tell me your number and I’ll send it to you right away.“

Über Shinichis Lippen zuckte ein kurzes Lächeln.

„Nice try, Miss Shelley. Please hand over your mobile, I’ll copy it down for the moment. But I would appreciate a mail addressed at the press department as well. Rest assured, they will confidently make sure it will arrive in my mailbox.”

Die junge Frau grinste breit, entblößte dabei zwei Reihen makellos geformter, perlweißer Zähne; dann stand sie auf, stöckelte auf high heels zu ihm, der von seinem Stuhl hinter dem weißen Tisch aufgestanden war, um ihr entgegen zu gehen.

Als er die Nachricht las, auf einer digitalisierten Kopie des Anzeigenblatts, gefror ihm schier das Blut in den Adern.
 

You are slim, pretty AND looking for easy made money?
 

CALL US!
 

WE, that is an arts student in his eight semester and a design student in her seventh, WANT YOU for our project – painting and tailoring united

in a beautiful artistic collaboration.
 

TAKE PART IN OUR SYNTHESIS OF THE ARTS!
 

Langsam, die Augen nicht von der Anzeige wendend, die da euphorisch von einem Gesamtkunstwerk der Schneiderkunst und Malerei kündete, für die man junge, hübsche und schlanke Mädchen suchte, ging er zurück zu seinem Tisch. Er konnte das triumphierende Grinsen der Reporterin schier im Nacken brennen spüren, als ihm aufging, was das hieß.
 

Punkt eins; sie hatten Recht gehabt mit ihrer Vermutung, Studenten könnten dahinterstecken.

Punkt zwei; zumindest der Reporter, das Klatschblatt, für die diese Dame arbeitete, würde ihnen morgen in die Quere kommen, denn sie zogen zweifellos die gleichen Schlüsse wie sie.

Punkt drei; wenn diese Anzeige ernst zu nehmen war, dann suchten sie nach mehreren Mädchen.
 

Was auf mehrere Opfer hindeuten könnte. Und das wiederum… könnte auf den Auftakt einer Mordserie hinweisen.

Aber das ist Irrsinn… zwei Studenten sollen das angezettelt haben?

Nie im Leben…
 

Gleichwohl war Shinichi heilfroh über seine Geistesgegenwärtigkeit, sich das Telefon aushändigen, und sie nicht die Nachricht einfach vorlesen zu lassen. Hätte sie das getan, wäre genau das eingetreten, was sie um jeden Fall verhindern wollten – Presse, Aufmerksamkeit, überall und auf Schritt und Tritt.
 

Immerhin ein bisschen hast du dazugelernt, Sherlock…
 

Es würde ohnehin schwer genug werden, sie abzuschütteln. Er war zu bekannt hier, und die Erwartungshaltung, bestimmt groß. Hastig schrieb er die Notiz in sein Buch, reichte der Dame, die ihn bedeutungsvoll anschaute, ihr Handy mit einem gemurmelten Dankeschön zurück.

Nachdem er dann noch ein paar Worte über Miss Kanagawas Sozialkontakte und Lebensumstände in London verloren hatte, dachte er eigentlich, er hatte die Sache ganz gut hinter sich gebracht. Shinichi nahm einen letzten Schluck Wasser, und wollte die Runde wie immer mit der obligatorischen Frage nach letzten, unbeantworteten Fragen beenden.
 

„We were told, you are accompanied with a foreign officer. How was the work with him today?”

Shinichi blickte auf, schaute dem Mann mittleren Alters ins Gesicht, überrascht – so überrascht, dass er sich fast verschluckte, kurz hustete.

Mit vielen Fragen hatte er gerechnet, aber nicht damit.

„Fine. We are both professionals. Thank you for your interest, though.“

„I mean – isn’t it something special for you? For all we know, you are of Japanese origin as well. Wasn’t that… unique for you?”

“I think, my personal affection is not important for that case, is it? We work well together, my school-Japanese is still pretty good…”, er lächelte säuerlich, “… so… what?”

Er legte fragend den Kopf schief, versuchte gelassen zu klingen und ahnte doch, wohin das jetzt führen wurde. Sein Puls beschleunigte sich – und die nächsten Worte des Reporters taten nichts, um ihn wieder zu beruhigen.

„Well. I just wondered – I googled Mr. Hattori, that was his name, right? Just this very moment. Looked into cases he solved, I was just curious, who that man is, that looks over the shoulder of New Scotland Yard. And there I found a picture. On a facebook account of a young woman, living in a village in Japan, she has tagged it with his name. There is Mr Hattori, a youth in his late teens. And there is another young guy. Wearing a sweatshirt and a baseballcap, looking at him and discussing. “These guys are fucking brilliant”, that’s what the capture says. I can’t help myself – but the other guy is looking very much like you.”
 

Shinichi atmete tief ein, ließ sich zurücksinken, schloss die Augen.

Er konnte Montgomerys Blick spüren, den er ihm in diesem Moment zuwarf – er musste ihn gar nicht sehen.
 

„Is there…“

„Yeah… that must be me, then.“

Er öffnete die Augen wieder, lehnte sich vor, legte seine Arme auf den Tisch und verschränkte die Finger.

„But I don’t see why this is bothering you. I take it you guessed I’m Japanese, or at least Asian of origin.“

Er lächelte unverbindlich.

“So. This is only proof that we know each other and that I’ve been in Japan some years ago.”

Damit räumte er seine Notizen zusammen – er wollte es zumindest.

„Well, but that’s not all.

I don’t know, why we didn’t look earlier, me and my colleagues. Perhaps it was the Japanese writing that deceived us, as we do not speak your mother language, perhaps we were just impressed, and thought, at your young age, the last case you solved here in London, the Murder of Notting Hill, concerning that robbery of that brilliant necklace and murdering of the the young aristocrate Hillary Carlington – the very case that made you Superintendent – was your first big coup. As I said. You’re twenty-five. How could anybody suppose that you started your carrer as a detective at the age of sixteen?”
 

Shinichi merkte, wie sein Mund schlagartig trocken wurde. Im Saal erhob sich Getuschel und leises Raunen, und er konnte sehen, wie die Smartphones gezückt wurden.

„Would you deny that?“, schallte die Stimme des Reporters über die Köpfe der anderen hinweg, brachte sie zum Schweigen.

„No. I started my career at the age of sixteen, that’s true. It was… some kind of hobby.“

Er schluckte, warf einen kurzen Blick zur Seite, bemerkte die heruntergefallene Kinnlade des alten Forensikers, der damit innegehalten hatte, seine Notizen zu sortieren, sondern ihn nun wie eingefroren anstarrte.

“And I must confess, I was astonished as you are now, that you didn’t do a web research when I joined your police, or at least, when I was promoted.”

Shinichi sammelte sich kurz, sortierte seine Gedanken.

“I don’t know, why this is of interest now.”

“Well, it is a strange kind of hobby for a teenager, isn’t it? One might think a good-looking guy like you would prefer hanging around in the company of a sweet girl…”

Shinichi erbleichte, wollte etwas erwidern, als die Journalistin vom Reporter, mittlerweile mit roten Wangen auf ihrem Smartphone wischend, ihm jedoch das Wort abschnitt, bevor er es ergreifen konnte, und zwar mit einer Stimme, die buchstäblich heiser war vor Erregung.

“And it is not just some cases you solved. Listen to this:

Shinichi Kudô – saviour of the Police!

Shinichi Kudô – a high school student tidies up Japan!

The new Sherlock Holmes is Japanese…!“
 

Sie schnappte nach Luft, die Sensationslust leuchtete in ihren Augen.

„This is weird! Absolutely surreal, this is…!“

Sie war aufgestanden – die Erregung ließ sie zittern, und er wusste, dass sie jetzt nicht mehr lockerlassen würde. Ganz offensichtlich schnupperte sie die Story ihres Lebens, und er konnte fast sehen, wie ihr der Mund wässrig wurde bei dem Gedanken, was sie aus seinem Leben noch alles herausholen können würde.

Ihm schwindelte.

Genau das, was er jetzt brauchen konnte. Ehe er jedoch die Konsequenzen abschätzen konnte, riss ihn ihre sich überschlagende Stimme aus seinen Gedanken.

„I mean, dealing with corpses and murderers at this age is a discomforting, disturbing thought, I must confess. How could you…”

Er merkte, wie Ärger in ihm aufkeimte.

„Miss Shelley, by all politeness, this is my past and my private life. This needs not to trouble you. And as you might know, if you did your researches properly, my father is a crime novelist, and he helped our police commissioner from time to time, as they were friends. So I got into touch with those things… major crime investigation. That’s all. Rest assured, I’m fine.”

Shinichi seufzte, grinste matt.

„The only thing that changes is the mere fact, that the British are not the first of peoples who call me Sherlock.”

Er kratzte alles an Souveränität zusammen, was er aufbringen konnte, klappte sein Notizbuch zusammen und steckte es in seine Sakkoinnentasche.

„Well. If no other, real important questions still are unasked, I’d prefer to leave you now. As you very well know, there is a case to be solved and a long day awaits us tomorrow. Good evening.”
 

Damit stand er auf und ging.
 

Draußen vor dem Yard war es mittlerweile schon lange dunkel. Shinichi blieb stehen, ließ sich den kühlen Nachtwind um die Nase wehen, atmete tief durch.

Also war es nun soweit – er war sich sicher, heute würden noch die Rechner heißlaufen in den diversen Redaktionen, und sie würden alles herausziehen, was sie in seiner Vergangenheit fanden - dass sie das noch nicht getan hatten, hatte ihn schon oft gewundert – schließlich gab es massig zu finden. Vielleicht hatte ihn die Sprache gehindert – er war eigentlich kaum international bekannt gewesen, das meiste dürfte auf Japanisch zu lesen sein. Und wer von denen verstand das schon.

Jetzt aber würden die Übersetzer kein Auge mehr zutun, dessen war er sich sicher.
 

Er rieb sich über seine müden Augen und machte, dass er wegkam, ehe Montgomery ihn noch einmal zurückrufen konnte. Und der, dessen war er sich sicher, war bestimmt schon auf der Suche nach ihm, und in definitiv wenig amüsierter Stimmungslage.

Er eilte zu seinem Auto, ließ sich in den Sessel sinken, atmete tief durch. Er würde Heiji über das alles unterrichten müssen, morgen.

Und seine Eltern.

Unwillig kniff er die Augen zusammen, ließ seine Stirn gegen das Lenkrad sinken, klopfte ein paar Mal leicht dagegen.
 

Genau, was ich jetzt brauchen kann. Danke auch.
 

Genervt atmete er aus, ließ dann den Motor an und rollte mit seinem Wagen vom Parkplatz. Glücklicherweise waren die Straßen Londons um diese Uhrzeit etwas leerer, wenn auch weit davon entfernt, verwaist zu sein.

Kurz vor Mitternacht parkte er mit einem erleichterten Seufzen seinen Wagen vor seiner Wohnung. Kurz schloss er die Augen, blieb noch einen Moment sitzen, atmete einfach ein und aus.

Ein und aus.
 

Und wunderte sich, wie wunderbar er funktionieren konnte, selbst nachdem er gefühlt sein Innerstes nach Außen gekehrt hatte. Er fragte sich nur, ob er nicht hätte ein paar Details verschweigen sollen.
 

Andererseits lag das jetzt nicht mehr in seiner Hand.
 

Er warf einen Blick in den Spiegel, dann stieg er aus, stiefelte durch die Dunkelheit den Weg zur Haustür.

Auf dem Weg in seine Wohnung begegnete ihm niemand, was ihn ungemein erleichterte. Er merkte, wie die Ereignisse des Tages ihn nun zunehmend aufzuwühlen begannen; während der Heimfahrt hatte er sie zur Seite geschoben, aber nun schlugen sie zu, mit voller Macht, als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss drückte und den Schlüssel umdrehte.

Der Fakt, der alles andere, was er heute erlebt hatte, einfach niederschrie, überblendete, in den Hintergrund drückte.
 

Ran lebt.
 

Er merkte, wie ihm die Knie nachgaben, rutschte langsam an der Tür entlang zu Boden.
 

Sie war in Tokio, gesund und munter, lebte…

Lebte.

Er wischte sich über die Augen, merkte, wie sich das Gewicht weiter lüftete, das seit fünf Jahren auf seiner Brust lag und sich darauf breit- und schwer gemacht hatte.
 

Sie lebt!
 

Er rappelte sich hoch, eilte ins Schlafzimmer, fischte ihr Bild aus seiner Schublade, schluckte hart. Und mit einem Mal wurde ihm klar, was dieser Fakt eigentlich bedeutete.

Wie sehr diese eine Tatsache sein Leben wieder einmal auf den Kopf stellte.
 

Alles, was er verloren geglaubt hatte, war noch da. Jede Chance bestand noch.

Die Hoffnung hatte wieder einen Grund, zu leben.

Shinichi biss sich auf die Lippen.
 

Du bist noch da.
 

Wenn er es wollte, konnte er ihre Stimme hören. Er könnte sie wieder sehen. Nochmal ihren Duft riechen, vielleicht sogar… sie vielleicht sogar berühren.
 

Sofern sie es zuließ, und ihn nicht zuerst auf ganz andere Weise berührte, und zwar ganz gezielt und sehr schlagkräftig.

Er lächelte sarkastisch.
 

Du hättest jedes Recht dazu, mir eine reinzuzimmern, Ran.
 

Müde strich er sich seine Haare aus der Stirn.
 

Allerdings, dafür trennen uns noch zu viele Kilometer.

Aber…

Aber…
 

Er griff in sein Sakko, zog sein Mobiltelefon hervor. Und merkte, wie in ihm der Wunsch fast unerträglich wurde, anzurufen und ihre Stimme zu hören.

Ein winziger Beweis für Heijis Aussage.

Es…
 

Er stöhnte auf, atmete ungeheuer schwer aus, sah, wie seine Hände zitterten.
 

Nur anrufen und ihre Stimme hören…

Ihr vielleicht sagen, warum…

Warum ich ging und warum es nicht geht, dass ich bei ihr bin, sie hätte eine Erklärung so sehr verdient, vielleicht…

Und ihr erklären, was jetzt los ist… was gerade passiert… warum ich hier bin.

Heiji hat doch Recht, sie sollte es von mir erfahren, nicht aus den Nachrichten…
 

Vielleicht kann sie dann loslassen und glücklich werden, ohne…
 

Ohne mich.
 

Shinichi schluckte hart, versuchte den bitteren Geschmack, der auf seiner Zunge lag, hinunterzuwürgen.

Dann ließ er die Hand sinken, drehte seinen Kopf zum Fenster, ließ seinen Blick in den nächtlichen Himmel schweifen. Er presste die Lippen aufeinander, schüttelte unwirsch den Kopf.

Tippte die Nummer ein.

Er merkte, wie klamm seine Finger geworden waren, betrachtete die Zahlen auf dem Display lange. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
 

Langsam legte er seinen Daumen auf den grünen Hörer.
 

Nur kurz anrufen. Ihr sagen, warum du gegangen bist. Sachlich bleiben.

Lebwohl sagen und auflegen.
 

Dann tippte Shinichi auf den roten Hörer, sah zu, wie die Nummer verschwand.
 

Du Feigling, Kudô.
 

Er stöhnte auf, durchfurchte sich mit seinen Fingern seine Haare.

Und dachte an den Mann, der ihm das hier erst eingebrockt hatte. Dank Kogorô jedoch hatte er die letzten fünf Jahre in seiner ganz persönlichen Hölle verbracht, in dem das Feuer mit jedem schuldbeladenen Gedanken an Ran immer heißer geworden war.

Er wäre fast verbrannt darin.
 

Warum hast du mir das angetan, Kogorô?

Hasst du mich denn wirklich so sehr? Konntest du mir das so wenig vergeben, dass dir mein… mein Schicksal so egal war?

Oder hast du einfach nicht daran gedacht?

Wahrscheinlich ist es das…

Wahrscheinlich hast du einfach nur an sie gedacht… und wolltest mich für immer fernhalten von ihr, ich, die ihr nur Unglück und Schmerz… und fast den Tod gebracht habe.
 

Du bist ihr Vater, eigentlich muss ich das verstehen können, dennoch…

Es hätte gereicht, wenn du mich gebeten hättest zu gehen.

Ich wäre gegangen.

Ich wäre so oder so gegangen, weiß ich doch, dass sie immer noch da sind…
 

Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen, das musst du doch wissen, Kogorô!
 

Er schluckte hart.

Dann griff er erneut nach dem Telefon, tippte eine andere Nummer ein. Wenn er schon nicht Ran anrufen konnte, dann doch wenigstens zwei andere Menschen, denen er das Leben mit dieser Nachricht schöner machen konnte, und die er wohl warnen sollte; vorwarnen zumindest, über das, was ab morgen in den Medien los sein könnte.
 

Seine Eltern.
 

Wobei, immerhin Amerika sollte leidlich unbeeindruckt von meinen Tätigkeiten hier geblieben sein.
 

Das Freizeichen tönte ihm entgegen.

Und dabei blieb es.
 

„Einmal will ich euch anrufen, Leute.“

Er murrte leise.

„Sonst beschwert ihr euch immer, weil ich mich nicht melde, und wenn ich euch einmal – einmal – anrufen will, seid ihr nicht da.“
 

Er ahnte nicht, dass seine Eltern schon längst unterwegs waren, in wenigen Stunden ankommen würden – und er ihnen höchstpersönlich ein Update geben konnte.

Was er auch nicht wusste, war, das auch ein anderer Haufen junger Touristinnen bereits unterwegs war in die Stadt des Meisterdetektiven Sherlock Holmes‘.
 


 

Auch in einer anderen Ecke Londons ging der Tag nun endlich seinem Ende entgegen. Gin, Chianti und Bourbon saßen immer noch zusammen in dem Loft im Londoner West End, tranken Hochprozentiges und ließen alte Zeiten auferstehen.
 

„Also zieht ihr es durch?“, murmelte Bourbon fragend, warf einen kurzen Blick mit hochgezogener Augenbraue auf die beiden Gestalten, die während den letzten beiden Stunden hinter ihnen in der Dunkelheit gewartet hatten.

Gin stand auf.

„Natürlich. Es wird Zeit, dem ganzen endlich ein Ende zu setzen.“

Er drehte sich um und lächelte, als er in den hinteren Teil des Lofts trat, wo sie, an eine Säule gefesselt, wartete. In ihren Lippen steckte ein Knebel und daneben stand Eduard, aufgelöst und mit den Nerven am Ende. Er zitterte und schwitzte zugleich, schaffte es kaum, sich auf seinen Beinen zu halten. Er hatte kein Wort von dem verstanden, was dieser silberblonde Teufel gerade gesagt hatte, aber der Tonfall, in dem gesprochen worden war, das bösartige Triumphgelächter und das lüsterne Glitzern, das er nun in seinen Augen, die im Schatten seiner Hutkrempe lagen, mehr erahnen als sehen konnte, sagten ihm eins, und das ganz deutlich:
 

Es war nichts Gutes gewesen.
 

Und so trat der blonde Mann nun auf Erin zu, die, mit tränennassem Gesicht vor Angst wimmerte, bebte wie eine Pappel im Wind und wohl ahnte, dass ihr Leben gleich beendet sein würde.
 

„A pretty thing, you are...“, lächelte er.

Es war das letzte, was sie hören sollte.
 

Und als der Morgen graute, stand Eduard in der kleinen, miefigen Toilette in der Nähe des London Eye – ein kleiner Ort der Erleichterung für Touristen, allerdings auch von ihren Hinterlassenschaften noch nicht gereinigt.

Es war jetzt kurz nach Mitternacht, die Putzkolonne würde erst in fünf Stunden eintrudeln und den Ort wieder annehmbar machen für die feinen Nasen der Städtereisenden, die sich die Metropole an der Themse von einer der Gondeln des Giant Wheel aus anschauen wollten.
 

Er würgte ein letztes Mal, spuckte aus, spülte die letzten Reste von Erbrochenem mit zitternden Fingern ins endlose Rohrsystem von Londons Kanalisation.

Langsam drehte er sich um, trat ans Waschbecken, drehte den Hahn auf und genoss kurz das Gefühl von kaltem Wasser auf seiner Haut. Er hielt seine Arme unter den Strahl, kühlte seinen Puls, merkte, wie auch langsam die Hitze in seinem Kopf verschwand, das heiße, dumpfe Pochen hinter seiner Stirn etwas verebbte.
 

Er hatte sie wieder nicht retten können. Er hatte versucht, langsam zu machen, und war sofort eingebrochen, als sie einmal angerufen hatten und ihm das Lieferdatum nannten. Meredith war auf dem Sofa im Wohnzimmer gesessen, als er an sein Handy gegangen war, und allein der Gedanke daran, was passieren würde, wenn er nicht parierte, ließ ihn sich für den Rest des Tages in sein Zimmer sperren und das verfluchte Bild fertig malen.

Es war umsonst gewesen. Er war einfach zu feige, um Widerstand zu leisten.
 

Und ihm war klar geworden, dass er weder eine Wahl noch die Macht hatte, irgendetwas zu ändern.
 

Sie hatte nicht einmal geschrien.
 

Erin, die junge, hübsche Irin, lag nun in der Champagnergondel, ausgebreitet auf dem Boden, drapiert zu ihrem eigenen Kunstwerk – in Merries traumhaftem, rauchgrauem Kleid. Er fand ihre Kreation besonders gelungen, die Farbe griff die silbrigen Augen der jungen Frau perfekt auf, der schmale Schnitt betonte ihre zierliche Figur, die weich fließende, am Rock zu mehr Volumen drapierte und mit wenigen, aber wohlgesetzten Glasperlen bestickte Wildseide bildete mit ihrem zarten Schimmer die perfekte Ergänzung zu ihrem rotblonden Haar. Daneben sein Kunstwerk.

Seine stumme Verbeugung vor ihrer Unschuld.

Seine stille Bitte um Vergebung für das, was er ihr angetan hatte.
 

Sie war wunderschön auf diesem Porträt, wirkte so lebendig - und in ihren Fingern ein Zweig Rosmarin. Er hatte keine Ahnung, warum – hatte er sich das Stiefmütterchen von Ayakos noch erklären können, als er herausgefunden hatte, dass es für die Stadt Osaka stand, Ayakos Studierstadt und Wahlheimat, so stand er nun ratlos vor der Wahl dieser Pflanze. Er schluckte, schüttelte den Kopf.

Wusste der Geier, was diese Leute damit bezweckten. Wahrscheinlich war es eine Botschaft an die, die an diesem Fall arbeiteten.

Er war sich fast sicher, dieser Fisch, nachdem sie angelten, schwamm im Teich der Polizei.

Und mit dieser Mordserie wollten sie jemandes Interesse wecken.
 

Eduard schluckte, strich seine Uniform glatt, mit der die Arbeiter hier das Giant Wheel warteten, öffnete dann die Tür.

Mit langsamen Schritten, um keinen Verdacht zu erregen, entfernte er sich genauso ruhig und unaufgeregt, wie er sich unter die Arbeiter gemischt hatte. Den Beutel, in dem er sie mit sich getragen hatte, schob er auf einer Schubkarre mit einem Werkzeugkasten und Ersatzteilen vor sich her.
 

Dann verließ er den Kreis der Scheinwerferlichter, tauchte ein in die Dunkelheit und war verschwunden.

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Hallo Leute!
 

Tja, ich hoffe, ihr habt dieses Kapitel genossen – um ehrlich zu sein, würde ich mir wünschen, ihr sagt mal etwas dazu, ich kann nicht hellsehen, echt nicht. Ich frage mich seit Wochen, ob diese Geschichte hier in Ungnade gefallen ist, und gerade, dass zum letzten Kapitel so derart wenig feedback kam (an der Stelle aber dennoch noch einmal meinen herzlichen Dank für diesen einen Kommentar!!!) – lässt mich doch zweifeln, ob diese Geschichte Anklang findet. Und ich weiß nicht, ob ich mir diesen Frust und diese Unsicherheit, ob ich nicht einfach nur ins Leere lade, ein gutes Jahr lang antun will. Es verwirrt, Leute, wirklich, wenn sich die Kommentarzahl innerhalb von 8 Kapiteln von 11 auf 1 reduziert. Ich liebe den Austausch mit den Lesern, ich freue mich über jede Reaktion, auch jede Kritik, die mich zum Nachdenken bringt – ich will doch besser werden! Also – muss ich auf die Knie gehen? Ich will keinem die Pistole auf die Brust setzen, ich sehe Kommentare durchaus als freiwillig – aber ist es so schwer zu sagen, ob einem was gefällt oder eben nicht? Ihr tut, und in diesem Punkt spreche ich für alle Autoren, uns einen großen Gefallen damit. Wir alle laden, um zu hören, wie unsere Geschichte ankommt.

So – und mehr sag ich jetzt zu dem Thema wirklich nicht mehr.
 

Beste Grüße, bis nächste Woche

eure Leira

Tag 4 - Kapitel 10: Touristen

TAG VIER
 

KAPITEL 10 – TOURISTEN
 

Ran seufzte, ließ sich in die Polster ihres First class – Luxussessels sinken, den sie Sonokos Kreditkarte zu verdanken hatte. Tief atmete sie ein, genoss das Prickeln in ihrem Bauch, das Gefühl von Aufregung, das in ihr aufkeimte, als die Boeing über die Rollbahn rumpelte, an Geschwindigkeit zunahm und sie in ihren Sitz drückte. Als sie den Boden verließen, lief ihr ein Schauer von den Fingerspitzen, die sich in die Armlehne krallten, über ihre Arme hinauf über den Kopf und den Rücken wieder hinunter, ließ all ihre Härchen und Haare sich einzeln aufstellen.

Fast schon aufgekratzt beobachtete sie wie sie den Boden verließen, Tokio erst langsam, dann immer schneller immer kleiner wurde, bis sie unter leichtem Rütteln und Schütteln und gelegentlichem Absacken des Flugzeugs in die dichte Wolkendecke eintauchten – was ihr erneut ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengegend bescherte.
 

Dann brachen sie durch die weiße, duftige Masse und sahen weit und breit nur silbrig-weiße, flauschige Unendlichkeit, beschienen vom Vollmond, die nur ab und an einen Blick auf die Welt unter ihnen erhaschen ließ – eine Welt, die fast genauso aussah wie über ihnen - tausende winzige Lichter in einem weiten, dunklen Meer.

Über ihnen die Sterne und unter ihnen die Formationen der Straßenlaternen und Beleuchtungen der Stadt.
 

Ran atmete auf, schloss die Augen, als der Flieger nun scheinbar wie auf Schienen durch die Luft glitt, merkte erst jetzt, wie herrlich das Gefühl war, einfach rauszukommen, diese Stadt, dieses Leben ein bisschen zu verlassen, Urlaub zu machen, endlich. Ein Lächeln malte sich auf ihre Lippen. Sie merkte, wie ihre Lider schwer wurden, sie noch tiefer in ihren Sitz sank, und genoss das Gefühl des Loslassens, das sie gerade übermannte.

Sonoko, die neben ihr saß, wandte sich ihr zu, wollte gerade etwas sagen, schloss aber ihren bereits geöffneten Mund wieder, als sie sah, wie ihre Freundin entspannte und schließlich wegnickte.
 

„Das wurde Zeit, Ran…“, wisperte sie leise, lächelte.
 

Neben ihr saß Kazuha, nahm leise raschelnd den Reporter auseinander, den sie vom Zeitungsstapel in der Wartehalle des Terminals genommen hatte, überflog die ersten Zeilen. Die Schlagzeile hatte sie auf die Tageszeitung aufmerksam gemacht; leider war es die Ausgabe des vergangenen Tages, die neue Auflage war anscheinend noch nicht verfügbar gewesen in Tokyo.

Sie hatte vermutet, dass es um Heijis Fall ging, weshalb sie anfing, zu lesen, auch wenn es ihr das Englisch ein wenig schwer machte. Sie bekam dennoch mit, dass es im ersten Absatz um ein Mädchen mit asiatischen Wurzeln ging. Tot, gekleidet in ein Seidenkleid, an ihrer Seite ein Bild. Genaueres über das Opfer verriet die Zeitung nicht.
 

Jap. Das is Heijis Fall.
 

Sie schluckte.

Heiji hatte mit ihr nicht über den Fall geredet. Sie wusste nur, dass ein japanisches Mädchen tot gefunden worden war, im Hyde-Park. Kein Detail darüber, in welchem Zustand, oder von wem. Sie las weiter, entzifferte mühsam die Worte, und war schon fast am Ende, kurz davor, den Artikel abzubrechen, weil keine neue Information mehr zu kommen schien, als sie den letzten Satz las.
 

The Met has so far only confirmed the existence of one victim. As it seems, they neither want to stampede London’s citizens nor to create a platform to stage himself for the cruel murderer. However - this situation seems to be a new fascinating case for our Sherlock Holmes of New Scotland Yard! The press conference will take place this afternoon, so we are going to have some more detailed news in our next edition.
 

Shiho, die auf der anderen Seite neben ihr saß und sehnsüchtig auf die Stewardess schielte, die gerade angefangen hatte, Getränke und Snacks zu verteilen, wandte sich ihr zu.

„Verschluckt?“

„Ne.“

Kazuha schaute sie schräg an.

„Les dir das mal durch. Und sag mir…“

Shiho hob die Hand zu Zeichen, dass sie Ruhe zum Lesen wollte. Kazuha verstummte, lehnte sich ein wenig zurück, damit Sonoko, die ebenfalls aufmerksam geworden war, einen Blick auf den Artikel werfen konnte.
 

„Damit meinen se nich…“

Shiho schluckte. Sie ahnte, wohin Kazuhas Gedanken gingen.

„Kudô.“, murmelte sie leise, warf Ran, die eingeschlafen zu sein schien, einen kalkulierenden Blick zu.

Sie seufzte, massierte sich die Schläfen.

„In jedem anderen Land würde ich dir sagen, die Vermutung liegt nahe. Aber hier sind wir in Großbritannien, noch dazu in der Hauptstadt, London, der Stadt, aus der die Figur überhaupt stammt… da kann es gut sein, dass sie jeden dahergelaufenen Polizisten Holmes nennen, nur weil er mal ein bisschen deduziert. Und ja…“, sie fing sich Sonokos spöttischen Blick bezüglich des Wortes „deduziert“ ein, „ich hab die Romane gelesen.“

Kazuha hingegen nickte langsam und nachdenklich.

„Sicherlich haste Recht.“

Sie schlug die Zeitung zu, stopfte sie in die Tasche im Sitz vor ihr und klappte das Tischen herunter, um das Abendessen, dass die Fluggesellschaft ihnen spendierte, darauf abstellen zu können. Das mulmige Gefühl, das sich bei diesem Namen in ihrem Bauch ausgebreitet hatte, ließ sich jedoch kaum vertreiben, so sehr sie sich auch mühte.

„Ich dacht mir nur, irgendwo musser abgeblieben sein. Und London… die Stadt seines Idols…“

„… läge nahe.“

Sonoko nickte langsam. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Dennoch, interpretieren wir mal nicht zu viel da rein. Und vor allem sollten wir…“, sie senkte ihre Stimme auf ein vom Turbinen- und Lüftungslärm fast übertöntes Wispern,

„… Ran nicht scheu machen, bevor wir uns nicht sicher sind.“

Damit klappte auch sie ihren Tisch aus, wandte sich ihrer Freundin zu, die tatsächlich eingenickt war, wovon ihr nun leicht geöffneter Mund und die damit einhergehenden entgleisten Gesichtszüge kündeten. Sie wollte sie gerade wecken, besann sich aber nochmal anders, holte schnell ihre Kamera aus ihrer Handtasche und machte ein Foto ihrer tiefenentspannten Freundin. Kazuha knuffte sie in die Schulter.

„Wie gemein!“

„Ach was. Ran kennt das. Eigentlich ist das schon fast Tradition, wenn wir in Urlaub fahren.“

Sonoko grinste, hob dann ihre Hand, streichelte mit ihren Fingern sanft über Rans Oberarm.

„Ran, Süße. Aufwachen, es gibt Abendessen. Danach kannst du weiterschlafen.“

Die Angesprochene öffnete träge die Augen, blinzelte.

„Hm?“

Sonoko lächelte sie an, stellte ihr das Essenspaket vor die Nase, das ihr die freundliche Stewardess reichte.

„Kaffee?“

„Ja, bitte.“, murmelte sie dann, setzte sich ein bisschen mehr auf.

„Ich bin wohl eingeschlafen.“

„Jap.“, meinte Sonoko gelassen, öffnete ihr Essenstablett.

„Aber nur kurz. Wir sind noch über Japan. Ich dacht mir aber, du magst was essen, wir haben einen langen Flug vor uns.“

Sie streckte sich.

„Zwölf Stunden, gut.“

Ran nickte, nippte dann an ihrem Kaffee, ehe sie sich ebenfalls über ihr Essen, eine Suppe und Sushi, hermachte.
 

„Nicht zu vergessen, dass wir nen hübschen Jetlag haben werden.“, ergänzte Shiho.

„Jetzt ist es ja grad mal acht Uhr abends. Wenn wir da sind, isses eigentlich schon acht Uhr morgens, aber da wir acht Stunden Zeitverschiebung haben, wird es grad mal Mitternacht sein.“

Kazuha riss die Augen auf und hustete.

„Was, hast du das nicht nachgerechnet?“

Shiho grinste schadenfroh.

„Wir gewinnen fast nen ganzen Urlaubstag, den wir beim Rückflug wieder abgeben.“

Damit wandte sie sich ihrem Sushi zu, griff sich ein Röllchen, tunkte es in die Sojasoße und schob es sich genüsslich in den Mund, während sie ruhig über den Wolken dahinglitten.
 


 

Währenddessen hatten andere Reisende bereits ihr Flugziel erreicht.
 

Yukiko Kudo stöckelte durch die Empfangshalle, entschlossen den Ausgang im Blick behaltend, während ihr Mann ihr nachstiefelte und dabei ihre Koffer hinter sich her schleifte, von denen der seiner geschätzten Gattin wohl ihren halben Hausstand samt Garderobe beherbergte, seinem Gewicht nach zu urteilen. Er sparte sich, etwas zu sagen; Yukiko hätte ihn so oder so nicht gehört. Es ging um ihren Sohn, sie war ihm endlich so nahe wie seit fünf Jahren nicht mehr – immerhin in der gleichen Stadt! – und sie konnte es ganz offensichtlich kaum abwarten, ihn zu sehen.

Das konnte er ihr kaum übelnehmen.

Bedachte man den Zustand, in dem er sie verlassen hatte, waren fünf Jahre eine viel zu lange Zeit.

Was er ihr aber sehr wohl übel nahm, war die Tatsache, dass er wie so ein doofer Packesel hinterhertrottete, und sie mit nichts weiter beladen als ihrem Handtäschchen die Avantgarde gab. Schließlich blieb sie stehen, vor den gläsernen Toren Heathrows, ließ die für Londoner Verhältnisse ungewöhnlich warme Sonne auf ihr Gesicht scheinen, atmete tief ein.
 

„Endlich da!“
 

Yusaku kam hinter ihr zum Stehen, stellte seine Armbanduhr acht Stunden vor.

„Du sagst es.“

Er gähnte ausgiebig, strich sich mit dem Handrücken den leichten Schweißfilm, der auf seiner Stirn stand, weg – der Jetlag würde horrend sein. Dennoch war ihm das Schlafdefizit noch egal – momentan war er einfach froh, die völlig überfüllten Hallen dieses Flughafens hinter sich gelassen zu haben. Ein Blick in den Himmel zeigte ihm, dass die Morgensonne bereits emsig ihre Strahlen zu Boden schickte, nicht einmal ein Schönwetterwölkchen hinderte sie daran.

„Lass uns ein Taxi rufen, Yukiko, und zuerst mal ins Hotel fahren. Er wird so bald ohnehin nicht zu Hause sein, weil er ja arbeitet.“

Sie drehte sich zu ihm um, nickte dann langsam. Der Schriftsteller konnte ihr ansehen, dass sie lieber jetzt als gleich mit ihrem Sohn gesprochen hätte, allerdings hatte auch an ihr der Flug seine Spuren hinterlassen – wie er auch war sie müde und hungrig, und bestimmt nicht abgeneigt, sich etwas frisch zu machen und einen Happen zu essen, ehe sie sich nach Westminster in die Baker Street aufmachten. Auf dem Weg zum Taxistand kamen sie an einem Zeitungsstand vorbei; der Inhaber legte gerade die Morgenausgabe des Reporter auf.
 

THE ARTIST TERRIFIES LONDON prangte auf der ersten Seite. Yusaku blieb stehen, griff sich eine Ausgabe.

New case for Sherlock Holmes – exclusive facts and background information! stand darunter.
 

Oh ja, wie es aussieht, bist du sehr beschäftigt mit deiner Arbeit, Sohnemann.
 

Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen, dann kaufte er die Zeitung, rollte sie zusammen, ehe er mit Yukiko zum Taxistand ging, um sich ins Hotel fahren zu lassen.
 


 

Etwas erschöpft betrat Shinichi an diesem Morgen sein Büro. Das kleine Eckbüro mit den großen Fensterbändern war ebenfalls ein Zugeständnis an seine neue Stellung gewesen; früher hatte er sich, wie Jenna jetzt, mit anderen Detective Sergeants ein Großraumbüro geteilt.

Auf seinem Tisch lag bereits der Bericht der Autopsie; auf der Deckseite oben festgeklemmt ein Foto von einem weißen Haar auf schwarzem Untergrund. Shinichi schluckte, blieb unwillkürlich stehen. Ein eisiger Schauer rieselte ihm aufreizend langsam den Rücken hinunter, als er näher trat. Er pflückte das Foto ab, betrachtete es nachdenklich.
 

Genau genommen war es nur ein silberblondes Haar.

Das konnte alles bedeuten und von vielen Leuten stammen, schließlich waren sie hier nicht in Japan, sondern in Mitteleuropa, und blonde Haare waren keine Seltenheit.

Er runzelte die Stirn, steckte es zurück.

Es gab überhaupt keinen Grund, sich verrückt zu machen.

Und so trat er um den Tisch herum, um sich in den Bürostuhl zu setzen und den Bericht in Ruhe zu lesen, sowie die Aktionen für heute zu planen. Weit kam er jedoch nicht - ohne Vorwarnung schwang die Tür auf und Heiji stand im Zimmer.
 

„Guten Morgen, Hattori.“, murmelte Shinichi, schaute nicht auf.

„Setz dich doch. Hättest du ein bisschen gewartet, hätte ich dich abgeholt.“

„Morgen.“

Etwas perplex trat Heiji näher, nahm auf dem Stuhl Platz, betrachtete seinen Freund musternd. Der junge Superintendent sah aus wie immer; falls ihn das Gespräch von gestern irgendwie noch aufwühlte, ließ er es sich nicht anmerken. Shinichi überflog den Bericht noch schnell, um zu vermeiden, später etwas nicht zu wissen und klappte ihn zu.

„Wie geht’s dir?“

Shinichi hob den Kopf, schaute ihn einem schiefen Grinsen und einer hochgezogenen Augenbraue an.

„Höre ich da ein schlechtes Gewissen?“

Heiji bewegte sich unruhig, kratzte sich dann etwas verlegen am Hinterkopf.

„Ich muss zugeb’n, ich hab gestern nich‘ wirklich ruhig geschlafen. Und ich war mir nach deiner Erzählung echt nich‘ sicher, ob ich dir damit wirklich nen Gefallen getan hab.“

Er räusperte sich. Shinichi schaute ihn immer noch an, das Grinsen war ihm mittlerweile von den Lippen gewichen, hatte einer ernsteren Mimik Platz gemacht.

„Ach.“

Die Augenbraue rutschte wieder hoch. Heiji knetete seine Hände, hatte den Blick abgewandt, weil er dem forschenden Ausdruck in den blauen Augen seines Freundes nicht mehr länger standhalten konnte.

„Ich hatte dich doch gewarnt.“

Shinichi seufzte, schaute ihn über den Tisch hinweg an.

„Abgesehen davon ist das vorbei. Es muss dich nicht…“

„Das meine ich nicht.“

Heiji rutschte auf seinem Stuhl nach vorn, angespannt.

Tatsache war, er hatte kaum ein Auge zugetan, seitdem er wusste, wie schlecht es Shinichi tatsächlich gegangen war. Nicht einfach nur schlecht, sondern richtig elend, nachdem man ihm den Grund ihres Daseins geraubt hatte.
 

„Ich wär dir gern als Freund beigestanden, in der Zeit.“

Shinichi hielt in der Bewegung inne.

„Das weiß ich.“

„Na, anscheinend nicht. Warum haste nichts gesagt? Warum…“

Heijis Stimme war kaum zu hören.

Er biss sich kurz auf die Lippen, wusste genau, worauf sein Freund anspielte.

„Das weißt du.“

„Nein, weiß ich nich‘. Und ganz offen, Kudô - schau dich an… du hast in den letzten Jahren doch kaum richtig gelebt, so wie du gesprochen hast, möchte man meinen, du forderst es heraus, du wartest drauf, dass…“

Scharf holte Shinichi Luft, drehte sich nicht um.

„Ich hab mich geschämt, ich stand unter Schock, denkst du, ich hab überlegt, was…“

„Und die Zeit danach? Warum haste nie…“, brach es aus Heiji hervor.

„War das dein Plan? Hier zu leben, bisde stirbst, ohne Ruhe, ohne Freude, ohne jemals wieder einen Fuß in Japan... das biste doch nich`! So warste auch nie!“
 

Shinichi wandte sich um, schaute ihn mit festem Blick an, ließ mit diesem einen Blick Heiji buchstäblich in seiner Bewegung einfrieren. Der entspannte sich ein wenig, stellte sich gerade hin, in seinen Augen jedoch immer noch den Blick des Ermittlers.

Shinichi schüttelte den Kopf, ein Hauch von Ärger schwang in seiner Stimme, als er sprach, stopfte seine Hände in seine Hosentaschen.

„Erstens, Heiji, ich bin nicht dein Verdächtiger, den du verhörst, auch wenn du das in den letzten Stunden schon fast zur Gewohnheit hast werden lassen… sondern dein Freund. Und ich nehme an, aus dir spricht jetzt die Sorge und nichts anderes.“

Shinichi schaute ihn reserviert an.

„Ich hatte keinen Plan, damals. Ich habe auch jetzt keinen. Die Zukunft lässt sich nicht planen, sie kommt einfach, das… hab ich gelernt.“

Er seufzte, ließ seinen Blick langsam über den Schreibtisch wandern, wo er an der Büroklammer der Akte hängenblieb, die das Bild mit dem Haar festhielt.

„Ich war fertig, Heiji. Man hatte mich bis auf die Knochen zermürbt… ich war… drogensüchtig und schuldzerfressen, ich hab mich geschämt, ich bekam das Gefühl von Verlust und Versagen nicht los, ich wollte so einfach keinem unter die Augen treten, niemals wieder. Es kam zu viel zusammen… ich wollte einfach keinen mehr belasten, keinen in meine Probleme, in meine Schwierigkeiten hineinziehen. Die letzte, bei der ich das getan hatte, war schließlich tot. Das war mir eine Lehre.“

Heiji schaute ihn an, merkte, wie schwer es Shinichi fiel, den Blickkontakt zu ihm wiederherzustellen.

„Du musst das verstehen. Gerade in der Zeit danach, als ich ohnehin kaum geradeaus denken konnte…“, er lächelte bitter, „war es einfach unmöglich für mich, es euch auch noch zu sagen. Und was meinen Plan oder mein Leben für die Zukunft betrifft… frag mich was Leichteres. Bis gestern dachte ich ja noch, Ran wäre tot, deshalb wollte ich nicht zurück. Jetzt weiß ich, dass sie lebt, aber ich habe noch keine Ahnung, was das ändert – sicher ändert es etwas, aber…“

Er schluckte hart.

„Solange sie noch da sind, solange diese eine Rechnung noch offen ist, führt kein Weg zu ihr. Du hast Recht, ich will, dass das endlich endet. Ich… würde soweit gehen, mich an der Stelle tatsächlich mit Holmes zu vergleichen, so müde ich diese Vergleiche mittlerweile auch bin. Ich werde sie kriegen, jeden letzten schwarzen Rest dieses Haufens von Verbrechern von diesem Planeten putzen, der noch übrig ist, und wenn es das Letzte ist, was ich in diesem Leben tue.“

In seinem Blick glomm kurz Entschlossenheit auf, ehe er die Akte vor seinem Tisch energisch aufschlug.

„Und sollte ich, wie Sherlock Holmes, das Glück haben, diese Reichenbachfälle nicht hinunterzufallen, dann, das schwör ich dir, ruf ich sie an und versuche den Rest meines Lebens wieder auf die Reihe zu kriegen – aber keine Sekunde vorher. Sonst noch was?“

„Nein.“

Heiji schüttelte den Kopf.

„Ich meine nur, das alles… also einiges… hätte man dir ersparen können, hätte Kogorô…“

„Ich weiß.“ Shinichi setzte sich wieder, legte den Ordner vor sich auf den Tisch.

„Hätte, wäre, würde, sollte. Daran hab ich auch schon gedacht – allerdings ist das jetzt ohnehin alles Makulatur. Vergangenheit.“

Er schluckte hart, schaute dann von dem Bericht auf, den er gerade aufgeblättert hatte.

„Heiji - du versprichst mir, dass das, was ich dir gestern erzählt habe, unter uns bleibt.“

Ein zögerndes Nicken war die Antwort.

„Auch wenn ich nich‘ verhehlen kann, dass ich Kogorô…“

„Denk nicht mal dran.“

Shinichis Stimme war scharf geworden. Heijis Kopf ruckte auf.

„Aber…!“

„Wenn, dann ist das meine Angelegenheit. Du hältst dich da umfassend raus, Hattori, oder aber du kannst dir sicher sein, dass ich dir nie wieder was erzähle.“

Er schluckte.

„Außerdem bist du zum Arbeiten hier, nicht, um dich in meine Angelegenheiten einzumischen.“

Mit einer entschlossenen Bewegung schob er Akte und Bericht in Heijis Richtung, machte deutlich, dass diese Diskussion für ihn beendet war. Der Kommissar aus Osaka streifte beides mit einem kalkulierenden Blick.

„Etwas Neues?“

„Nein. Nicht wirklich.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Aber wir haben endlich eine Antwort auf eine unserer Fragen.“

Damit zog er eine Seite aus dem Bericht, legte ihn auf den Tisch. Es war eine Email des Reporter, zusammen mit der fehlenden Anzeige.
 

You are slim, pretty AND looking for easy made money?
 

CALL US!
 

WE, that is an arts student in his eight semester and a design student in her seventh, WANT YOU for our project – painting and tailoring united

in a beautiful artistic collaboration.
 

TAKE PART IN OUR SYNTHESIS OF THE ARTS!
 

„Wenn das mal kein Anhaltspunkt ist…“, murmelte Heiji.

„Gut, soviel Neues sagt es uns aber auch nicht.“, meinte Shinichi langsam. Sein Enthusiasmus hielt sich sichtbar in Grenzen.

„Den Kunststudenten und eine Schneiderin hatten wir schon auf dem Radar. Jetzt wissen wir, dass wir alle anderen Optionen nicht weiterverfolgen müssen. Dennoch… irgendwie hab ich das Gefühl, das ist erst die Spitze des Eisbergs.“
 

Heiji grinste spöttisch. Dann ließ er die neueste Ausgabe des Reporter auf den Tisch fallen, die er bisher zusammengerollt in der Hand gehalten hatte.

„Hab se heute im Hotel gefunden und dachte, ich nehm‘ se dir mit.“

Shinichi zog das Blatt zu sich, überflog den Titel.
 

THE ARTIST TERRIFIES LONDON stand in Großbuchstaben geschrieben – über einem Bild von ihm, das man wohl gestern bei der Pressekonferenz geschossen haben musste.
 

„Ja. Das… befürchtete ich.“

Heiji zog die Augenbrauen hoch.

„Nen netten Namen haben sie ihm gegeben.“

The Artist, ja…“

Shinichi nickte langsam.

„Du wirst sehen, die haben’s hier mit Spitznamen.“

„Ja, das is mir schon aufgefallen. Viel interessanter wird dann allerdings die Tatsache, dass die da eigentlich viel mehr über dich schreiben, als über deinen Fall.“

Er warf einen bezeichnenden Blick auf den Untertitel der Schlagzeile.

Shinichi seufzte, lächelte müde.
 

New case for Sherlock Holmes! - exclusive facts and background information!
 

Und dann ging‘s los – ein halbseitiger Artikel, der in blumiger Sprache reißerisch seine Vergangenheit ausgrub.
 

Yesterday’s press conference at New Scotland Yard did not only present the latest results concerning the investigation of the murder case Kanagawa, it also showed a short look into the incredible past of the investigating Superintendent, Shinichi Kudô – better known to us all as “Sherlock Holmes”, after having shown his fabulous deduction skills at the Carlington-Case.
 

We never dreamed that this guy, mere twenty-five years of age, could have such an incredible past concerning major crime investigation.

In fact, our very young Superintendent, whose promotion came surprisingly early (no other police officer has reached that grade at this age and in that short time), has spent half of his life solving cases. Our researches tell us, that he pops up in the Japanese media for the first time when solving a murder case on a plane – at the age of barely sixteen!

From this time on, one case follows another, each and every one solved in short time. The Japanese media (for those, who didn’t know – Mr Holmes is born Japanese) celebrated him as their own Sherlock Holmes.

His father a crime novelist, best friend of Tokyos major crime police commissioner, it seems to have been unavoidable, that this young man chose this way. One might admire him for this – or one might see this with a healthy measure of suspicion – it is a bit unnerving, thinking of a youth dealing with beheaded, stapped, shot, throttled and poisoned murder victims and one might wonder, how this is changing a young guy’s mind…
 

We are only beginning to dig into this fascinating, though, and that must be mentioned, highly unusual past – stay tuned!
 

As for the murder case, the Met gives following information…
 

Shinichi stützte seinen Kopf in seine Hände, massierte sich die Stirn, fuhr sich dann kurz durch die Haare.

„Es fängt also mal wieder an…“, murmelte er, leise stöhnend.

Er kannte diese Art von Artikeln zur Genüge, und eigentlich war er sie schon lange leid. Andererseits hatte er es ja absehen können, nach dem Debakel gestern.
 

Shinichi Kudô, der Wunderknabe.

Die wahre Reinkarnation Sherlock Holmes.
 

Allerdings, und auch das sah er, war dies zunächst mal ein Bruchteil – und vorerst auch durchaus positiv, ließ man den letzten Absatz einmal beiseite, indem die Sorge darüber kundgetan wurde, inwiefern der zu intensive Kontakt mit Mord und Totschlag sich nachhaltig negativ auf seine geistige Gesundheit ausgewirkt haben könnte. Er lächelte zynisch.

Andererseits, und dessen war er sich sicher – würde er nicht lange das Wunderkind bleiben, wenn nicht bald die Lösung des Falls ins Haus stand.

„Die fangen jetzt erst an, in deiner Vergangenheit zu graben?“

Shinichi seufzte.

„Seit gestern, um offen zu sein. Und das wegen dir – die wollten wissen, wer du bist, und fanden mich. Einer der Beteiligten damals bei dem Fall mit meinem Doppelgänger hat ein Foto von uns gemacht, heimlich wohl, und bei facebook online gestellt, mit deinem Namen getagged. Nun… jetzt sind die Aasgeier von der Presse neugierig geworden, haben Blut gerochen und stürzen sich auf diese Story um ihren Wunderknaben. Ich hoffe, wir haben das beendet, bevor es unangenehm wird. Was das „Warum erst jetzt?“ betrifft – keine Ahnung. Ich nehme an, sie haben vielleicht mal gegoogelt, wer ich bin, allerdings könnte sie das Japanisch etwas abgeschreckt haben. Abgesehen davon haben die sich an ganz anderen Dingen am letzten Fall aufgehängt – und ihnen war wohl, wie man auch hier liest, fünfundzwanzig auch noch jung genug, um sich zu wundern über meine Laufbahn.“

Er hob den Kopf, schaute Heiji an, lächelte säuerlich.
 

„Wir werden sehen, was es bringt. Ich muss aufpassen, das ist alles, aber nichts, was neu ist für mich. Du kennst das doch auch.“

Damit klappte er die ausführliche Analyse des Labors hinsichtlich der Farbe, des Stoffs und anderen Spuren des Tatorts auf.
 

„Also, auf zum Geschäftlichen. Die Eckdaten kennst du aus meinem Bericht, den man dir ja schon zugeschickt hatte. Bei dem Stoff des Kleides handelt es sich um Wildseide, eine spezielle Sorte. Tussahseide.“

Heiji schaute ihn an wie ein Bus.

„Und?“

„Die wird aus den Kokons der japanischen Eichenseidenspinnerraupen gewonnen. Und offenbar haben wir eine tierliebe Näherin, denn im Gegensatz zur Zuchtseide, bei der die Raupen vor dem Schlüpfen aus dem Kokon getötet werden, meist durch Wasserdampf, damit sie die Seidenfäden beim Schlüpfen nicht durchbeißen, wird bei Wildseide gewartet, bis der neue Schmetterling geschlüpft ist. Dadurch, dass nun Fäden durchgebissen sind, muss man sie neu verspinnen, an diesen Stellen weisen sie Verdickungen auf, die man beim ganzen Faden der Zuchtseide nicht hat. Das könnte ein Aspekt sein, warum sich die Designerin für Wildseide entschieden hat.“

„Also ein Punkt im Profil unserer Täter.“

„Eventuell, ja.“

Shinichi nickte, blätterte weiter.

„Darüberhinaus haben wir Nähseide aus genau der gleichen Faser, was für eine Profinäherin spricht.“

„Warum das?“

„Weil das Kleid erst nach dem Nähen gefärbt wurde.“

Shinichi zog einen Laborbericht heraus.

„Mit handelsüblichen Textilfärbemitteln, nach der Fertigstellung, dreimal gefärbt, bis der sattschwarze Farbton erreicht wurde. Sieht man angeblich an der Farbe des Fadens und der Naht; und damit man die Naht nicht sieht, ist es besser, sie hebt sich farblich nicht ab. Für die Perlstickerei wurde vermutlich ein Extrafaden ins Farbbad gelegt, damit auch hier keine großen Unterschiede auszumachen sind. Also, wie du siehst, durchaus jemand, der sich Gedanken macht. Ein Profi, keine Hobbynäherin und auch keine Studienanfängerin.“
 

Heiji nickte langsam.

„Klingt logisch. Was is‘ mit den Bildern?“

„Das besprechen wir am besten vor dem Objekt.“, meinte Shinichi, stand auf, griff sich das am Vortag ausgeliehene Lexikon und sein Notizbuch.

„Komm mit. Es hängt unten im Labor neben der Patho.“

Er stand auf, winkte Heiji mit sich.

„Den Weg kennst du ja eh noch. Du musst da heute ohnehin nochmal runter, fürchte ich.“

Shinichi blickte über die Schulter, betrachtete Heijis betrübtes Gesicht kurz.

„So isses wohl, ja.“
 

Nach einem Abstecher in der Kaffeeküche, in der sie sich beide mit einem Becher Kaffee ausstatteten, betraten sie den Nebenraum der Pathologie.

Zu ihrer Überraschung war dort schon jemand.
 

Dr. McCoy stand vor dem Bild, das man in einer Staffelei vor der braungetäfelten Wand aufgestellt hatte und auf das nun das Licht einer gedimmten Glühbirne fiel. Der Raum war eigentlich ein leeres, unbenutztes Büro gewesen, aber die vollkommene Stille in dem Zimmer gepaart mit dem dämmrigen Licht verlieh der Inszenierung einen fast musealen Charakter, ließ Heiji und Shinichi, die sich bis zum Betreten des Raums noch unterhalten hatten, verstummen.
 

Heiji verschlug es beim Anblick des Bildes schier die Sprache. Er kannte das Mädchen nur von den Tatortfotos, und die zeigten einen Menschen bekanntermaßen nicht unbedingt von ihrer Schokoladenseite, genauso wenig, wie ihnen ein blanker Metalltisch als Unterlage schmeichelte, auf der sie unbekleidet als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt lagen.
 

Und erst jetzt sah er die unglaubliche Ähnlichkeit zu Ran.

Er warf einen Blick zu Shinichi, der dem Bild einen langen Blick schenkte, ehe er zu seinem Kollegen vortrat.

Heiji schluckte hart. Er konnte sich kaum vorstellen, wie es gewesen sein musste, vor ein paar Tagen unter einem Plastikband zu kriechen und sich einem Tatort zu nähern, um ein Mädchen vorzufinden, in schwarzem Kleid, drapiert im grünen Gras am Serpentine Lake, unter einer Trauerweide… das der Liebe seines Lebens so ungeheuer ähnlich sah.
 

„Dr. McCoy?“

Shinichis ruhige Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, veranlasste ihn dazu, ebenfalls näher zu treten.

„Ah.“

Der Mediziner zog eine Augenbraue hoch, machte eine verlegene Handbewegung.

„Sherlock. I haven’t heard you…“, er drehte sich um, als er Heijis Schritte vernahm, und korrigierte sich, „both of you entering the room.“
 

Er wandte sich nun gänzlich den beiden jungen Ermittlern zu, ein bedauerndes Lächeln auf seinen Lippen, das sich im Tonfall seiner Stimme wiederfand.

„She was such a beautiful girl. It’s a shame she was murdered. Do you have any new clues concerning the murderer?”

Shinichi antwortete nicht gleich. Er schaute gedankenversunken die Gesichtszüge des Mädchens an, trat so nahe an das Bild heran, dass er die Farbe riechen konnte. Heiji fuhr sich durch seine Ponyfransen, konnte nicht erahnen, was sein Freund gerade dachte.

„Indeed, we have.“, meinte Shinichi schließlich mit leiser Stimme, wandte sich um. Als er fortfuhr, war sein Tonfall kaum lauter.

„We have proof that lead us towards the UAL… a student of arts and a young tailor or rather tailoress, both students at the University of Arts London, as it seems. We don’t know their names, though, only their advertisement in the Reporter. But, to be honest…”
 

Heiji und McCoy blickten gleichermaßen auf, als sie Shinichis nachdenkliche Stimme hörten. Auf seinem Gesicht war pure Entschlossenheit zu lesen, ein Ausdruck wacher Intelligenz, die gerade auf Hochtouren arbeitete.
 

„Ich glaube nicht, dass sie die sind, die wir wirklich suchen sollten…“
 

Heiji schaute ihn an, nippte an seinem Kaffee.

„Du denkst, da steckt ein Drahtzieher dahinter.“
 

Shinichi nickte.

„Ja. Was hätten die beiden davon? Nur den Ärger mit der Polizei, um‘s mal salopp auszudrücken. Sie forderten keinerlei Lösegeld, und sie werden auch nicht wirklich berühmt… ich denke nicht, dass so etwas karrierefördernd ist. Vor allem dann nicht, wenn man seine Karriere vom Knast aus weiterverfolgen muss.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich denke…“

„… entweder werdense bezahlt oder erpresst.“

„Oder beides.“

Shinichi nickte, griff sich seine Tasse von dem kleinen Tisch in der Mitte, wo er sie abgestellt hatte, als er das Bild genauer betrachtet hatte. Dabei fiel ihm auf, dass sie allein im Raum waren.

„Hast du mitgekriegt, wann McCoy gegangen ist?“, fragte er verdutzt. Heiji blickte ratlos um sich.

„Ne.“

Er zuckte mit den Schultern.
 

Dann öffnete er sein Notizbuch, und erläuterte nach einem Schluck Kaffee Heiji, was er bereits herausgefunden hatte.
 

„Gut. Also, lass mich mal zusammenfassen.“, murmelte Heiji nachdenklich, stützte sein Kinn auf seine Faust, hatte seinen Ellenbogen auf seine Brust gestützt und stand so wie ein Fragezeichen im Raum. Shinichi klappte das Buch zu.

„Wir haben ein Bild von dem Mädel in dem Kleid von der Schneiderin. Wir haben ne altmeisterliche, so nanntest du’s“, er blickte fragend zu Shinichi, der bestätigend nickte, „Malweise. Wir haben das Stiefmütterchen, das symbolische Bedeutung haben kann, oder nicht… um etwas auszuschließen, wissen wir noch zu wenig. Wie du schreibst, und das war auch mein erster Gedanke, könnts auch einfach für Osaka stehen… Alles in allem…“

„Wirft das mehr Fragen auf, als dass es sie klärt. Wir haben noch dazu gar keine Ahnung, ob uns das Bild was sagen soll. Andererseits… malen Maler eigentlich nicht aus Jux und Tollerei. Sie denken sich was dabei.“

Shinichi rieb sich nachdenklich sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger, schwieg Heiji kurz an.

„Wir werdens herausfinden, hoffentlich.“

Damit fiel sein Blick auf seine Armbanduhr.

„Komm, wir holen Jenna. Wir haben heut noch viel vor.“

Heiji nickte langsam, folgte seinem Kollegen aus dem Büro.
 

Sie fanden Jenna im Großraumbüro der Sergeants, wo sie wie festgeklebt an einer Tasse Kaffee hing, in ihren Augen war deutlich der fehlende Schlaf der letzten Nacht zu lesen. Shinichi grinste leicht, stellte sich vor ihr auf. Sie sah ihn von unten herauf an, seufzte laut, ehe sie ihre Haltung straffte.

„Jenna, you look awesome. Less sleep, more beauty…?“

„Ha.“, kommentierte sie seinen spöttischen Kommentar, dann seufzte sie.

„I thought about our case. And when I finally looked at the clock, it was half past two.”

“And? Anything interesting, that came upon you while your intensive thinking?”
 

Sie schüttelte den Kopf, grinste schief.

„More and more questions, no answers at all.“

Shinichi seufzte still, nickte dann langsam.

„Better get accustomed to that feeling, Jenna.“
 

Während sie sich auf den Weg zur Tiefgarage machten, erläuterte er ihnen den „Schlachtplan“ für den Nachmittag.

Heiji würde heute die Eltern des ersten Opfers in Empfang nehmen; das hieß, zuerst würden sie ihn zum Flughafen bringen, wo er auf sie warten würde, um dann mit einem Taxi zusammen mit ihnen ins Yard zu fahren, wo sie ihre Tochter identifizieren sollten. Er und Jenna würden zur Kunstakademie fahren. Vielleicht war dort jemand, der weiterhelfen konnte, herauszufinden, mit wem sich Ayakos eingelassen hatte.
 

Er ließ seinen Freund am Hotelparkplatz aussteigen und verabredete sich für später mit ihm; seine Aufgabe des Tages führte ihn und Jenna in ein ganz anderes Eck Londons.

Jenna, die neben ihm saß, als er ruhig den Wagen durch den dichten Morgenverkehr auf den Straßen lenkte, schien die Stille im Wagen zu genießen; allerdings, das musste Shinichi schnell feststellen, trog der Schein.
 

„You and the officer from Japan work very well together.“

Shinichi zog eine Augenbraue hoch. Jennas bis gerade eben geschlossene Augen waren nun wieder geöffnet – sie hatte sich ihm zugewandt und blickte ihn wach an.

„We are both Japanese. Sharing the same mother country is connecting somehow, is it not?“

Jenna schüttelte bestimmt den Kopf.

„No. That’s not what I mean. When we fetched him yesterday, I thought, frankly, that you will have shred each other into pieces by the end of the day. At least I expected an atmosphere of icy ignorance. The man seemed to be upset, as we met him at the airport, and he was about to burst into flames and spill hot magma in the car. Do you honestly believe that I did not note the way you talked to him on our way to your car? You always try to act professional, and you doubtlessly were, but between the both of you there seemed to bubble a conflict. Something personal. Private. And there you were, yesterday evening, coming to fetch me, and you looked so perfectly settled with each other, being smoothly tuned to the same wavelength.”

Shinichi seufzte, schloss seine Augen kurz.
 

Ach, Kudô. Heiji hatte Recht gestern, die hast du dir wirklich gut erzogen. Nicht nur, was ihre Manieren betrifft.
 

„So you pondered about this change of mind last night till early morning, made your deductions and drew your conclusions. Which would be…?”

Er fühlte, wie sich Jenna neben ihm anspannte.
 

“You two knew each other before meeting yesterday at the airport. You knew each other well… I would indeed go so far as to call you two friends.”
 

Sie zerbiss sich die Unterlippe. Zögern und etwas Verlegenheit stand in ihren Augen zu lesen.

„Am I right?“

„You are. Go ahead.“

Shinichi blieb ruhig, lenkte das Auto um die Ecke.
 

„You two were close friends and worked together. Before moving to London and joining Scotland Yard. I do not know why you left Japan, but you haven’t talked a word to him since then. And, according to his behavior yesterday morning, you haven’t broken up amicably. That smelled strongly of an unpaid bill… but by the time you picked me up that afternoon, your debt seemed cleared.“

Shinichi seufzte, räusperte sich.

„That’s correct in every aspect – though I’d prefer to call that open bill a now cleared missunderstanding.“

Er warf ihr einen Blick zu, lächelte sanft.

„I see, I don’t waste my time with you. Though I’d approve, if you now accept that Heiji and me know each other well and are friends, and don’t ask further questions concerning our break up. This is completely… my private issue and not at all subject to this case.“
 

Aber es wundert mich… hat sie die Zeitung heute noch gar nicht gelesen?

Wohl nicht… sonst hätte sie sicher…

Wobei, über Heiji schreiben die ja nichts. Nur über Sherlock Holmes…
 

Jenna errötete bis unter die Haarwurzeln, nickte dann aber. Dann warf sie einen kurzen Blick auf ihre Notizen, unter denen die Adresse stand.

„We are already there. It’s that building ahead of us!“

Sie deutete auf das Eckhaus einer Reihenhauszeile.

Shinichi nickte, lenkte das Auto an die Bordsteinkante und stellte den Motor ab.
 


 

Heiji unterdessen verbrachte die Zeit mehr oder minder gelangweilt über einer Tageszeitung und einer Tasse Kaffee wartend in der Hotellobby. Er hatte am Empfang nach dem Ehepaar gefragt – sie waren ausgegangen und ganz offensichtlich noch nicht zurück.

Allerdings war es auch noch nicht zehn.
 

Nach zwölf Stunden Flug und ihrer Ankunft um Mitternacht hatten die vier London-Urlauberinnen aus Tokio zunächst mehr oder minder im Halbschlaf ihr Hotel aufgesucht. Jetzt, am nächsten Morgen waren sie zwar etwas erholter – dennoch schien es Ran immer noch, als würde sie halb schlafwandeln, als sie geduscht und angezogen aus dem Badezimmer schlappte, und sich zu Sonoko aufs Bett setzte, die sich gerade Ohrringe anlegte, bevor sie zum Frühstücken in den Speiseraum gehen wollten.

Ran strich sich müde eine Strähne aus dem Gesicht.

„Es ist kaum zu fassen… wir sind tatsächlich da…“

„So isses“, murmelte Kazuha, die gerade das Zimmer betreten hatte, streckte sich.

„Und ich bin immer noch hundemüde…“ Sie gähnte.

Shiho ging hinter ihr, blieb im Türrahmen stehen.

„Ich weiß nicht, was ihr habt.“, meinte sie kurz.

„Wir sind doch eh nur rumgesessen, und haben geschlafen – dann sind wir hier angekommen und haben geschlafen - was soll daran anstrengend sein. Ich bin dafür, dass wir jetzt endlich frühstücken gehen, ich hab nämlich Hunger. Es ist schon fast zehn.“ Damit drehte sie sich um, begann den Weg zum nahe gelegenen Speisesaal entlangzugehen, während die anderen sich beeilten, ihr zu folgen.

„Ha.“, meinte Kazuha, wollte gerade mit Shiho zu diskutieren anfangen, als sie ein bekanntes Gesicht in der Menge der Wartenden in der Lobby entdeckte.
 

Sie blieb abrupt stehen, so dass Sonoko von hinten in sie hineinrauschte. Ran war ebenfalls stehen geblieben. Auch sie hatte die hochgewachsene, braungebrannte Gestalt sofort erkannt.

„Ist das nicht Heiji?“, meinte sie dann, wandte sich Kazuha zu.
 

„Jap.“, meinte sie. Sie wirkte etwas überrascht.

„Also, dass es so leicht sein würde, ihn zu finden…“

„Wieso?“, murrte Sonoko launisch, „darauf hastes doch angelegt. Außerdem wartet er nicht auf uns, sondern auf jemand anderen. Er weiß nicht, dass wir hier sind, also trifft er sich hier wohl mit den Eltern des Mordopfers. Was ein Zufall.“

Kazuha nickte. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Freund, ließ dabei die anderen kurz hinter sich, als sie durch einen Strom niederländischer Touristen getrennt wurden.
 

„Heiji!“
 

Der junge Kommissar schien sie noch nicht bemerkt zu haben.

„Hey, Heiji?! Sag mal, biste taub?“
 

Erst jetzt drehte er sich um. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.

„K…Kazuha.“

Mühevoll räusperte er sich.

„Was zum Henker machst du hier?!“, fuhr er sie dann an.

„Na, danke auch, Begeisterung schaut aber anders aus!“, giftete sie ihn an.

„Ich dacht mir, ich komm dich besuchen, und du…“

Sie hielt inne, als sie Heijis Blick bemerkte, der längst nicht mehr auf ihr ruhte, sondern auf einen Punkt hinter ihr fokussiert war.

„Ran.“, murmelte er tonlos.

„Warum zum Henker…“, fing er an, in seine Stimme war mehr Ärger und Unruhe getreten, als er es wollte.

„… habt ihr sie hergebracht?“

Kazuha, suchte den Blick in seine Augen, schluckte.

„Damit sie mal Ablenkung hat. Du weißt, sie hat sie nötig.“

„Und da fällt dir als Urlaubsziel nichts Besseres ein als ausgerechnet SHERLOCK HOLMES‘ Stadt?“

Unverständnis lag in seinen Augen. Und etwas anderes – etwas, das Kazuha nur schwer deuten konnte.

„Hauptsächlich, weil du hier bist.“, murmelte sie etwas kleinlauter.

„Ich wollt dich besuchen…“

„Traust du mir nich über den Weg, oder was?“, fragt er gereizt.

„Das isses nich. Es war wirklich… eigentlich nur gut gemeint.“

Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen; sie holte tief Luft, schaute ihn ernst an, zog die Ausgabe des alten Reporters aus ihrer Tasche, die sie im Flieger gelesen hatte. Schnell warf sie einen Blick über ihre Schulter; die anderen näherten sich zwar, waren aber noch zu weit weg, um sie zu hören.

„Sherlock Holmes. Meinen die ihn damit?“

Ein lautes Seufzen entwand sich seiner Kehle, unwillig stopfte er seine Fäuste in seine Taschen. Er überlegte, was er ihr sagen sollte – sollten sie die neue Ausgabe in die Finger kriegen, würde die Frage ohnehin sofort geklärt sein. Allerdings schienen sie im Moment noch ahnungslos, und wenn er Kudô erwischte, bevor Ran eine Zeitung in die Hand bekam, dann könnte er vielleicht noch selber…
 

Idiot. Du hättestse gestern anrufen sollen, Kudô. Wobei, vielleicht saßense da schon im Flieger. Was muss das auch so kompliziert sein…
 

„Meine Arbeit ist meine Arbeit, Kazuha. Das hab ich dir schon einmal erklärt, ich bin kein dummer Oberschülerdetektiv mehr, der bereitwillig über seine Fälle schwadronieren kann…“

„Also issers.“

„Das hab ich mit keiner Silbe gesagt.“

Er wandte sich um.

„Seid so gut, lasst mich einfach meine Arbeit machen. Und passt ein bissl auf euch auf, London is `n gefährliches Pflaster für junge Frauen, momentan.“

„Wir können auf uns aufpassn!“

Entrüstet stemmte Kazuha ihre Fäuste in die Hüften.

„Hörmal, nur weilde jetzt Polizist bist…“

Er zog die die Augenbrauen hoch, hob einen Zeigefinger, brachte sie zum Schweigen. Dann beugte er sich zu ihr, drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

Kommissar, Schatz, nicht nur einfach popliger Beamter. Ich meld mich, wenn ich Feierabend hab.“

Damit wandte er sich zum Gehen.

„Und Sherlock Holmes?“, rief sie ihm hinterher.

„Kannste im Museum anschaun. Bakerstreet.“
 

Damit ließ er sie stehen, schritt auf eine Familie zu, die gerade eben die Lobby betreten hatte und auf ihn zusteuerte.
 

Na wunderbar.

Damit wären wir ja alle wieder versammelt…
 

Ach, Kudô…
 

Ran trat neben Kazuha, schaute sie fragend an.

„Alles in Ordnung mit ihm?“

Kazuha zuckte zusammen, knüllte die Zeitung hastig in den nächsten Mülleimer.

„Ja, klar. Etwas gestresst, etwas mitgenommen… Mordfälle sind halt mal keine schöne Sache, und sich mit den Eltern auseinandersetzen auch nich…“

Sie warf einen nachdenklichen Blick auf das Paar. Die Frau, offensichtlich die Mutter des ermordeten Mädchens, war in Tränen ausgebrochen, hielt sich an ihrem Mann fest, dessen Gesicht von tiefen Falten gezeichnet war, die sein Gram wohl noch tiefer in seine Haut meißelte.
 

„Wir sehn ihn heut Abend, sagt er. Bis dahin schaun wir uns die Stadt an.“
 

Damit zog Kazuha Ran ins Frühstückszimmer, wo sie sich um einen Tisch gruppierten und ihre Teller mit allerlei Leckerein vom Buffet füllten.

„Was wollen wir denn mit dem heute noch machen?“, nuschelte Sonoko, die sich gerade ein Croissant in den Mund steckte, und beim Kauen und Sprechen großzügig Blätterteilgkrümel über den Tisch verteilte.

„Ich finde, wir sollten den Tag nicht nur noch mit Essen und Schlafen verbringen. Unser Hotel ist in der Nähe von Harrod’s, und von dort aus ist es nicht weit zum London Eye! Warum starten wir unsere unseren Urlaub nicht mit einer Fahrt mit dem Giant Wheel!“

Die Schwerreichentochter hatte nun fertig gekaut und das bröselige Blätterteiggebäck mit einem großen Schluck Milchkaffee runtergespült.

„Und im Anschluss gehen wir in Harrods Afternoon Tea trinken und ein bisschen einkaufen! Was sagt ihr?“
 

Ran, Kazuha und Shiho schauten einander an.
 

„Warum nicht?“, meine Ran schließlich, nippte an ihrem Schwarztee. „Mit dem Riesenrad wollte ich schon letztes Mal fahren… allerdings reichte da die Zeit leider nicht.“

„Dann wäre das abgemacht!“, grinste Sonoko verbrannte sich die Finger an ihrem weichgekochten Frühstücksei.
 

„Autsch!“
 

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Hallo meine Lieben!
 

Zuerst einmal meinen herzlichen Dank, vor allem auch an all die sonst stummen Leser, die sich auf meine Bitte letzte Woche hin gemeldet haben. Es tut gut zu hören, dass ich hier nicht einfach nur für den Mexxschen Server schreibe – wie gesagt, wir reden hier von… etwas um die 50 Kapitel, bei wöchentlichem Laden dauert das ein Jahr, und das… täte ich mir wohl nicht mehr an, wenn das hier einfach keinen interessiert.
 

Also – wenn ihr mir ab und an mal eure Meinung kundtut, würde ich mich irre freuen, ehrlich. Man braucht nicht nur fürs schreiben Motivation – sondern vor allem fürs Laden hier. Und es ist nicht motivierend, wenn die Reaktion so ganz ausbleibt. Ich rede auch gerne mit meinen Lesern über meine Geschichte, Kritik ist wichtig – auch ich will hier noch lernen.
 

Wenn ihr mal etwas nicht versteht, bitte lasst es mich wissen – ich erkläre gerne oder schicke Übersetzungen für die Englischstellen, wenn nötig.

Ansonsten, ihr seht es – wir nehmen Fahrt auf! Ran ist da, seine Eltern ist da, die Presse hat ein neues Fresschen… es wird spannend. Stay tuned!
 

Beste Grüße,

Leira

Kapitel 11: Neue Kleider

KAPITEL 11 – NEUE KLEIDER
 


 

„Harrods, Yukiko? Ehrlich?“

Yusaku seufzte, äugte in sein Portemonnaie. Yukiko schaute ihn genervt an, klappte das Lederetui in seinen Händen mit beiden Händen entschlossen zu. Um sie herum herrschte reges Treiben in der Hotellobby.

„Du bist kein armer Poet, mein Lieber, sondern ein Bestsellerautor. Du kannst dir das leisten. Außerdem…“
 

„Jaja.“

Yusaku seufzte, fuhr sich durch die stoppeligen Haare seines Barts. Sie waren vor etwa einer Stunde im Hotel angekommen, und jetzt, nachdem seine Frau sich hatte frisch machen können, schien sie nichts mehr bremsen zu können – er hätte seinerseits auch gern einfach ein kleines Nickerchen abgehalten. Allerdings konnte er sich denken, warum Yukiko die Decke auf den Kopf fiel und sie so dringend nach Zerstreuung suchte.

„Ich sag ja schon nichts mehr. Aber ehrlich, unser Geld können wir auch anderswo mit beiden Händen zum Fenster rauswerfen.“

Er lächelte gespielt gequält.

„Aber wenn es dich glücklich macht, Liebling…“

Yusaku trat vom Hotel auf die Straße, winkte einem black cab aus der bereits wartenden Schlange zu, das sogleich vorfuhr. Ein dienstfertiger Taxifahrer stieg aus seinem Wagen und hielt seinen Gästen die Tür auf, half beim Einsteigen und kutschierte sie im Anschluss quer durch London.

Während der Fahrt beobachtete Yusaku seine Frau nachdenklich. Er merkte ihr an, dass sie ihren Sohn lieber jetzt als gleich gesehen hätte, und er fühlte es ihr nach. Gerade jetzt, wo sie ihm doch nun schon so nahe waren, zum Greifen nah fast, konnte sie es kaum erwarten, ihn zu sehen, sich zu überzeugen, dass es ihm gut ging, einigermaßen. Er erinnerte sich lebhaft an den Tag, als er sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, ihnen eröffnet hatte, dass er sie verlassen würde… und er erinnerte sich mindestens genauso intensiv an die Wochen davor.
 

Seinen Sohn so zu sehen hatte ihm viel vor Augen geführt.
 

Erstens, wie zerbrechlich so ein Mensch war… wie leicht man ihn zerstören konnte, fand man nur den richtigen Knopf an ihm, den man drücken musste. Es hatte nicht viel gefehlt, und sie hätten Shinichi verloren, umgebracht von der Organisation… oder als Opfer des Nachbebens, das dem Ganzen folgte.

Zweitens - musste er sich eingestehen, er hatte gewusst, dass sein Sohn seine Jugendfreundin liebte.

Wie tief diese Gefühle allerdings wirklich waren, hatte er jedoch bis zu diesem Zeitpunkt nicht ermessen können.

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen beobachtete er Yukiko, die mit wachen Augen die Stadt betrachtete, die vor ihrem Fenster vorbeizog, fühlte dieses wohlig warme Gefühl, das ihr Anblick, ihre schiere Anwesenheit, bei ihm auslöste, und verfluchte dieses Schicksal, das seinem Sohn dieses Gefühl wohl für immer verwehren wollte.
 

Ein solch großer Verlust, Shinichi…
 

Yukiko drehte sich um, als sie ihn neben sich unterdrückt nach Luft schnappen hörte. Sie sah ihn nur kurz an, wusste sofort, woran er dachte.

„Yusaku.“, murmelte sie leise.

„Immerhin lebt er. Er hat gekämpft, dafür, für uns, das weißt du. Und irgendwann, das hoffe ich, wird er auch wieder glücklich werden, aber das… was er erlebt hat, diese Wunde, die man ihm zugefügt hat, braucht wohl etwas länger, um zu heilen…“

Sie seufzte leise, auf ihren Lippen ein bedauerndes Lächeln, strich ihm zart über die Wange.

Er schaute sie an, schüttelte den Kopf. Er wusste, warum sie das sagte; nicht nur, um ihm Mut zu machen, sondern auch sich selbst. Schließlich hatten sie ihn damals beide gehört im Fieberwahn, völlig durchnässt und von Krämpfen geschüttelt, die ihn mit ihren grausamen Klauen gepackt hatten - dennoch schien das nicht das Schlimmste gewesen zu sein, das ihn gequält hatte, auch wenn er vor Schmerz in sein Kissen geschrien hatte.
 

Er hatte um ihr Leben gefleht.
 

Und auch danach, als diese erste, schlimmste Phase des Entzugs vorbei war, hatte er sich kaum aus seiner Trauer befreien können.

Er hatte ihn nie so gesehen, seinen Sohn, Shinichi.

Blass und apathisch in einem Sessel hängend, stundenlang den gleichen Fleck in der Luft beobachtend, stumm.
 

Irgendwann war er auch aus dieser Phase aufgewacht, hatte gepaukt und gebüffelt für seinen Abschluss, sie alle glauben gemacht, er hätte es überwunden, aber Yusaku wusste es besser.
 

Der Ausdruck in seinen Augen verriet ihn. Immer.
 

„Glaubst du wirklich, er wird je ein anderes Mädchen so lieben wie Ran? Ich sags dir ganz ehrlich… wäre ich an seiner Stelle, ich… ich könnt‘s nicht. Und wenn er in dem Punkt ebenso nach mir gerät wie mit seinem Dickschädel, seinem Starrsinn, seinem Gerechtigkeitswahn und dieser Schwäche für Verbrechensaufklärung, dann…“

Er seufzte.

„Ich wünschte, er wär mir nicht ganz so ähnlich. Sein Leben wäre deutlich einfacher…“

Yukiko wiegte ihren Kopf nachdenklich.

„Sicherlich… aber wäre sein Leben dann auch so spannend? Ich meine… allein, was er bisher erreicht hat, wie er sich immer wieder aufrafft, er ist eine so… ungeheuer starke Persönlichkeit, so stark, wie er es selbst wohl gar nicht weiß, und das… das hat er auch von dir. Und das macht mich auch stolz auf ihn. Dich etwa nicht?“

Sie zog die Zeitung unter seinem Arm hervor, hielt ihm die Schlagzeile unter die Nase. Yusaku grinste schief.

„Doch. Sicher.“

Sie tippte ihm auf die Nase, lächelte ihn liebevoll an und küsste ihn kurz auf die Lippen.

„Siehst du… und was… Ran betrifft… ich hoffe einfach, er sieht es irgendwann ein, dass er nicht schuld war. Und dass er zurückkommen sollte, nach Hause, wo seine Freunde sind, die ihn vermissen…“
 

Sie biss sich auf die Lippen, als ihre Zuversicht ein wenig schwand bei dem Gedanken an das Mädchen, das ihr Sohn so sehr geliebt hatte.
 

„Ran… war doch nicht die einzige, die ihn brauchte.“
 

Sie seufzte leise, dachte an Shiho, an ihr Verhalten in den Tagen, als ihr klar geworden war, wo er war.

Was er getan hatte.

Yukiko hatte sie kaum wiedererkannt. Von dem toughen, kleinen Mädchen war nichts übrig geblieben. Unruhig, besorgt, verängstigt, das war sie gewesen, als sie aus Sapporo mit dem Professor zurückgekommen war.
 

Zuerst war sie einfach nur explodiert.

Was ihnen eigentlich eingefallen war, als sie ihn allein hatten losziehen lassen.

Als sie sie mit dem Professor außer Landes geschickt hatten.

Ob sie denn noch ganz bei Trost wären, hatte sie gefragt.
 

Und Yukiko musste ihr im Stummen beipflichten.
 

Diese Tirade an sich hatte sie nicht überrascht. Wortgewaltig und laut war sie gewesen, und sie und Yusaku hatten sie brüllen lassen, er war ihr Freund, sie machte sich Sorgen, man hatte sie angelogen und hintergangen, sie hatte Angst… alles gute Gründe, um einmal nach allen Regeln der Kunst auszurasten.
 

Was danach kam, hatte sie alle überrascht – denn es zeigte eins zu eins Rans Verhalten im Kleinformat.

Shiho war in die Knie gegangen, auf den Boden gesunken und liegen geblieben. Kraftlos, leer in die Luft starrend, eine einzelne Träne vergießend, ihre Hände wie zum Schutz gegen Kälte um ihren Oberkörper geschlungen.
 

Ach, Shinichi.
 

Yukiko lächelte müde.
 

Zwei Frauen in deinem Leben hast du das Herz gebrochen, ist dir das eigentlich bewusst?

Du hast ihr alles bedeutet… du warst alles, was sie noch hatte.

Dir hat sie bedingungslos vertraut, zu sehen, dass du sie genauso angelogen hattest wie Ran, zu ihrem Wohl natürlich, aber eine Lüge bleibt eine Lüge, traf sie wie ein Schlag ins Gesicht…

Und dennoch dachte sie nur an dich.

Daran, was sie dir im Moment wohl antaten.

Daran, ob sie dich in ihrem Leben noch einmal wiedersehen würde.
 

Denn auch wenn sie wusste, dass sie dich nie haben können würde, du warst die Liebe ihres Lebens.

Und als solche wollte sie dich glücklich sehen.
 

Was würde sie wohl jetzt sagen, sähe sie dich…
 

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als das Taxi anhielt.

„Here we are!“, meinte der Fahrer gutgelaunt, drehte sich zu dem Ehepaar auf seinem Rücksitz um. Yusaku ließ sich die Summe nennen, die sie ihm schuldeten, zahlte und bedankte sich. Der Fahrer stieg aus, hielt den beiden die Tür auf.

„Enjoy your stay in London!“
 

“Thank you!”, zwitscherte Yukiko, ehe sie sich zu ihrem Mann umdrehte, der bereits die Fassade des Nobelkaufhauses in Augenschein nahm. Sie griff ihn an der Hand und kicherte kurz. Er warf ihr einen bezeichnenden Blick zu.

„Also fein, meine geschätzte Gattin. Um welches exklusive Kleidungsstück möchten Sie denn Ihre Garderobe ergänzen?“

Die Antwort hörte er gar nicht mehr – Yukiko hatte ihn an der Hand gepackt und ins Kaufhaus gezerrt. Ihn wunderte immer wieder, dass seine Frau beim Einkaufen stets ein bisschen den kleinen Shopaholic auspackte – aber wenn er das begeisterte Funkeln in ihren Augen sah, war es ihm jede Summe wert, die er dafür hinterher blechen musste. Er wusste, so zuversichtlich sie sich im Auto auch gegeben hatte, was ihren Sohn betraf, so sehr sorgte sie sich in Wirklichkeit um ihn.

Und so sehr bedauerte sie, wie er, dass ihm seine bessere Hälfte so früh schon entrissen worden war.
 

Eigentlich bevor es anfing, Shinichi.
 


 

Ein Pärchen ganz anderer Herkunft und mit ganz anderer Kaufkraft stand ebenfalls vor dem gleichen Konsumtempel und blickte die Fassade hoch. Eduard hatte seine Hände tief in seinen Taschen vergraben; ihm hing der letzte Abend immer noch hinterher, schien in jedem einzelnen seiner Knochen zu stecken. Jedes Mal wenn er irgendwo eine Zeitung sah, zuckte er zusammen, wenn er Nachrichten aus einem Lautsprecher hörte, fing er mit Merry, die er begleitete, sogleich ein Gespräch an. Bisher hatte noch keine Information über einen neuen Mordfall den Weg an die Öffentlichkeit gefunden.
 

Er war so in Gedanken versunken, dass er erst beim dritten Mal merkte, dass Meredith ihn ansprach und am Ärmel zupfte.
 

„Could we go in now, please, Eddie? Westwood’s new collection has arrived and I’d die to risk a look at it!“

Sie lächelte ihn warm an, strich ihm über die Wange.

„I do know, of course, that we cannot afford a single fibre of it. But I so much like to see which cuts she uses this season and which cloth she prefers. She is so… inspiring. I promise, I’ll accompany you into the Portrait Gallery afterwards!“

Er wandte sich ihr zu, studierte das mit bernsteingoldenen Flecken durchsetzte Grün ihrer Augen, das ihn schon beim ersten Treffen in seinen Bann gezogen hatte.

Ein Anblick, der ihn niemals losließ – und den er, um ihn stets konserviert zu wissen, um ihn immer betrachten zu können, auf Leinwand gebannt hatte.

Es war das schönste Werk, das beste Porträt, das er je geschaffen hatte - das Porträt von ihr – ein Bild, das außer ihnen beiden niemand kannte, weil er es nicht geschafft hatte, es jemandem zu zeigen.

Es zeigte zu viel von ihm.
 

Eduard seufzte fast lautlos, nickte dann.

„Of course, Merry. We have time, the whole day long, if we want – it’s Saturday, after all.“ Zart küsste er ihre Augenbraue, beobachtete, wie sie genießerisch und voll Vertrauen ihre Augen schloss. Dann griff er sie an der Hand, betrat mit ihr das Kaufhaus.
 

Wie lang sie sich zwischen betuchten Leuten und weniger betuchten Touristen herumdrückten, wusste er am Ende nicht mehr zu sagen. Merry lief voll Begeisterung durch die Frühjahrskollektion ihres Idols, mit gezücktem Bleistift und ihrem Skizzenblöckchen, zeichnete Schnitte und Muster auf, notierte Farben und Stoffarten, fing auf einigen Seiten schon mit eigenen neuen Entwürfen an und war vollstens in ihrem Element.
 

Eduard folgte ihr mit gebührendem Abstand. Er hatte heute morgen eine Nachricht ihres Auftraggebers bekommen, die ihm im Magen lag.
 

A new girl, a new dress, a new picture.
 

Das Mädchen würde kein Problem sein… auf ihre Annonce hatten sich viel zu viele junge Frauen beworben, er musste nur eine von ihnen anrufen. Allerdings verursachte allein der Gedanke daran, das nächste Opfer für diesen geisteskranken Soziopathen auszuwählen, ihm Übelkeit und Schweißausbrüche - das erste Model hatten sie noch selber ausgewählt, Ayako. Sie hatten gewartet, bis ein Mädchen wie sie endlich angebissen hatte, wie es schien, unbedingt sie hatte es sein müssen.

Erin war Merries Entscheidung gewesen, nachdem man ab dem zweiten Model die Qual der Wahl ihnen überlassen hatte.

Meredith hatte sich sofort in Erins rote Haare verliebt.
 

Ein nasser Tropfen perlte ihm die Schläfe hinab, als Merry sich umblickte, ihn in der Menge suchte und sein etwas blasses Gesicht bemerkte. Besorgt trat sie näher.
 

„Is everything alright? Is it to warm for you in here?“

„Hm?“

Er warf ihr einen verständnislosen Blick zu.

„How do you come to think…?“

„Well…“, sie hob die Hand, zeichnete mit ihrem Zeigefinger eine Linie von seine Schläfe zu seinem Kinn.

„Because of this.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen hielt sie ihm ihre feucht glänzende Fingerkuppe unter die Nase.

„And you look a bit dizzy, to be honest.“

„Ah. Well. This...“ Er merkte, wie ihm nun so richtig heiß wurde.

„I guess it’s because the room is so stucked with people; they make the air stuffy. You’re right, I’m a bit dizzy, but don’t worry. Just go ahead, have fun…“, versuchte er die Kurve zu kriegen. Meredith hingegen schaute ihn nun voll schlechten Gewissens an.

„But you’re right!“

Sie schluckte.

„I didn’t realize this, as I was so absorbed with the outfits. It really is kind of sticky in here. If you’d like, we could go to Starbuck’s and share a glass of icetea.”

Eduard hob abwehrend die Hand.

„No – no, Merry, please, it’s not that bad! Have a look at those dresses, don‘t…“

„Nah! I’ve seen enough, you see?“

Sie zeigte ihm ihr Skizzenbuch, schob ihn dann energisch Richtung Ausgang, stieß dabei mit einem ausländischen Paar zusammen, das gerade die Abteilung betrat.

„Oh – please excuse me!“, stotterte sie beschämt.

„Never mind, no damage done.“, meinte die asiatisch aussehende Frau und lächelte höflich, trat zur Seite. Eduard hingegen blickte dem Mann starr in die Augen wie die Maus der Katze ins Gesicht. Der hob hingegen nur fragend die Augenbrauen.

„Everything alright with you, young man?“

„Yeah…“, meinte der junge Maler hastig.

„Everything fine. Please excuse the collision.“

Damit drückte er sich hastig an ihm vorbei, atmete durch. Irgendwas in den Augen dieses Mannes hatte ihn an jemanden erinnert.
 

Dann fiel es ihm ein.
 

Er erinnerte ihn an das Foto eines jungen Mannes, das er vor ein paar Monaten auf den Titelseiten der Zeitungen gesehen hatte. Unwillkürlich drehte er sich um; allerdings war dieser Mann, der nun wieder ins Gespräch mit seiner Frau vertieft war, zu alt und außerdem Brillenträger. Und wahrscheinlich täuschte er sich ohnehin, diese Asiaten sahen doch eh alle gleich aus.

Eduard schüttelte den Kopf, hörte allerdings auf, als er Meredith sah, die dem Mann ebenfalls angestrengt hinterher schaute.
 

„Could that be possible?“, murmelte sie schließlich mit bebender Stimme.

„Hm, what?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Meredith blickte ihn mit geröteten Wangen an.

„I believe, this man we ran into was Yusaku Kudô!“

Ihre Stimme zitterte ein wenig.

„Soooooo what?“, hakte er nach, seine Augen skeptisch zusammengekniffen.

„This man is the author of the „Night baron“!“, flüsterte sie aufgeregt.

„I should have asked him for an autograph! My god…!“

Eduard lächelte erleichtert, als er sie neben sich schwärmen hörte. Er kannte die Bücher, auch wenn er sie selbst nicht las. Meredith hatte sie alle, sie standen in einer langen Reihe in einem Bücherregal, und einige davon hatte sogar er ihr geschenkt.
 

So it’s just this…
 

Erleichtert ging er neben ihr her, blendete allerdings schon bald ihr freudiges Geplapper aus, da seine Gedankengänge, die vorhin unterbrochen worden waren, nun recht schnell wieder zu seinem Problem wanderten – ein neues Bild, ein neues Kleid, ein… neues, totes Mädchen.
 

Und so bemerkte er nicht, wie Meredith neben ihm zu plaudern aufhörte, langsam still wurde.

Er bemerkte auch nicht, wie sich der Druck ihrer Finger an seiner Hand verstärkte.

Sehr wohl aber bemerkte er, wie sie stehenblieb und ihn damit ebenfalls einbremste.
 

Ihre Augen waren auf die Schlagzeile des Reporter gerichtet, der in einem Zeitungskiosk auslag.
 

Eduard erstarrte.
 

„Ayako.“, wisperte Meredith tonlos, rannte los, griff sich eine Zeitung und warf dem Verkäufer hastig ein paar aus ihrer Hosentasche gekramte Münzen hin.

Wie in Trance ging sie zu Eduard zurück, der sie vorsichtig zu einer Bank führte, sie auf die Sitzfläche drückte, während sie sich kaum von der Zeitung losreißen konnte.
 

„They have found her in the Hyde Park, dead…“, murmelte sie tonlos.

„With your picture, Eduard. They say, she was murdered!“

Sie zerknitterte die Zeitung mit ihren Händen, als sie ihre Finger um das dünne Papier krampfte.

„Murdered! Probably on her way home, after the photoshoot, she still wore the dress…“

Ihre Lippen bebten, als sie seinen Blick suchte.

„They call the murderer „The Artist…“, wisperte sie schließlich, als er mit so gar keiner Regung aufwarten wollte.
 

„Horrible.“

„Did you know…?“

„No.“, log er, und war fast überrascht, wie fest seine Stimme dabei klang.

„I… am just as shaken as you are.“

Er schluckte hart.

„How incredibly sad that is. I mean, how incredibly cruel! Poor Ayako…”

Der Rest ihres Satzes ging im Verkehrslärm unter. Eduard saß neben ihr, unfähig zu irgendeiner Aktion, außer ihr fast wie mechanisch über den Rücken zu streicheln, fühlte, wie in ihm etwas zu Bruch ging.

Erst ihr nächster Satz riss ihn aus seiner Starre.
 

„We should go to the police. Do you think they want to talk to us? I mean they found your picture and my dress, the newspaper calls the murderer “The Artist” because of that, I suppose…”
 

Eduard starrte sie entgeistert an – allerdings bemühte er sich schnell, seine entgleisten Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu kriegen.

„No, I don’t think so.“, beeilte er sich dann zu sagen.

„We… we were not the last people who’ve seen her, I think. Or were witnesses or somethin’ like that. It’s… I mean, they’d have to question every banker or drug store seller if it comes to answering the question with whom she met last.“

Er lachte hohl, hörte aber schnell wieder auf damit.

Sie schaute ihn aus glasigen Augen an – dann schien ihr die Stichhaltigkeit seiner Argumente einzuleuchten. Sie nickte müde, ließ sich dann von ihm hochziehen.
 

So wie es aussah, würde er Meredith den nächsten Auftrag vorerst verschweigen.
 


 

Allerdings ahnte er nun auch, auf wen die beiden – oder waren es nun drei? – eigentlich abgesehen hatten.

Er hob die Zeitung, las den Namen des ermittelnden Beamten von Scotland Yard, der damit betraut war.
 

Shinichi Kudô.

So this was your father we’ve just seen? And your mother?

Your family…
 

Wie fast jeder Londoner kannte er den Namen. Ihr neuer Held, ihr Sherlock Holmes, der ihm natürlich kaum weniger ähnlich sein konnte – und doch seine Inkarnation zu sein schien. Er löste jeden Fall im Handumdrehen, war der Shooting Star von Scotland Yard und wohnte noch dazu, wie konnte es auch anders sein, in der Baker Street.
 

Was sich ihm nicht erschloss, war, was diese Leute von ihm wollten. Ihn vernichten, so viel war klar geworden. Ihn irgendwie in eine Falle locken, mit dieser… Serie von Verbrechen, zu der sich das bald ausweiten würde.

Es wunderte ihn, dass man noch nichts von Erin gehört hatte. Eduard schauderte, als er an sie dachte – tot und bleich in der Champagnergondel liegend. Wunderschön, als würde sie schlafen, und doch blickten ihre Augen in eine Welt jenseits derjenigen, die noch zwischen Wachen und Schlafen unterscheiden konnten.
 

Langsam ging er mit Meredith die Straße entlang, hielt kurz bei einem Eisverkäufer an, um für sie einen Schokoladenmilchshake zu kaufen. Meredith wanderte neben ihm her, hielt seine Hand wie ein kleines Mädchen, trank ihren Milchschake durch einen Strohhalm und schien immer noch geschockt zu sein.
 

She musn’t get the news of Erin. I have to leave her untouched of the news, somehow…

Her suspicions are not raised yet, she still believes that some nutter has killed Aya. But if she gets to know that their number increases, that Erin has died, that the next girl will die… and sees that every time her dresses and my pictures are part of the game…

Then she’ll count one and one together…
 

Eduard schluckte hart.

Es wurde Zeit, dass dieser Alptraum ein Ende hatte.

Angst kroch in ihm hoch, als er an diesen blonden Hünen dachte… an die Drohung, die er ihm ausgesprochen hatte. Unwillkürlich drückte er Merediths Finger, die ihn überrascht anschaute, dann kurz lächelte.
 

Sie war seine Rettung gewesen. Er würde nicht zulassen, dass man ihr etwas antat… und wenn das bedeutete, dass er damit weiter machen musste, bis diese Leute endlich ihre Rache an Sherlock Holmes bekommen hatten, dann war das wohl so.

Er seufzte still.

Dann zückte er sein Handy, bestätigte den Auftrag, und sandte eine Kurznachricht an das Mädchen, das als erstes Nummer in seiner Kontaktliste unter der Rubrik „Models“ gespeichert war.

Er hasste sich dafür.

Und er würde dafür in der Hölle landen, dessen war er sich gewiss. Er fragte sich, wie er ohnehin hatte glauben können, dass es für ihn noch Hoffnung gab. Eigentlich war er doch von vorneherein verdammt gewesen – seine Geschichte war von Geburt an die Story eines Verlierers.
 

Unbewusst drückte er Merediths Hand, löste die Zeitung aus ihrer anderen, ließ sie in den nächsten Papierkorb fallen, achtete nicht auf Merediths fragenden Blick – der verging, als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht wahrnahm.
 

Sie kannte es, wenn er so schaute, und sie mochte es nicht. Wenn Eduard so guckte, dann war er in Gedanken an Orten, an denen sie ihn nicht wissen wollte. Dann machte er sich Vorwürfe oder schwelgte in seiner Vergangenheit oder aber er haderte mit sich selbst, seiner Talentlosigkeit, seiner Unfähigkeit… oder aber alles zugleich.
 

„Eduard… what is it this time?“

Ihre leise Stimme dran an sein Ohr, brachte ihn dazu, sich ihr zuzuwenden.

„Nothing.“

„Yeah. Sure.“
 

Sie schüttelte den Kopf.

„Is it because of Aya?“

Er schüttelte den Kopf, aber sie merkte, wie kraftlos und unüberzeugt diese Geste war.

„It isn’t our fault, is it, Eddie?“

Das Bild von Ayako in ihrem Kleid trat ihr vor Augen.

„She wasn’t any more attractive to a murderer because of this, was she? Because of wandering around with our stuff?“

In ihrer Stimme lag ein fragender Klang, so sehr sie sich bemühte, sie fest klingen zu lassen. Eigentlich hatte sie ihm ja Sicherheit geben wollen.
 

„No. I don’t think that made her more a victim than any other girl.“

Er schüttelte den Kopf, schloss die Augen.
 

I alone have made her a victim.

Because I did not help her… I did not rise against them to protect her.

And every other girl will be made a victim by me, and only by me alone… because I am not strong enough.
 

I’ve never been strong.

I wonder if they saw that, knew this, when they chose me.
 

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
 

Left by my father at the age of five… my mum died `cause of an overdose when I was nine. Passed along from one foster family to another, as none could deal with my aggressions, which came over me, every time I felt this fear… to be pushed aside, to be left behind again… and this behavior was it, I dug my own grave with, out-maneuvered myself with every new family, which wanted to try being a family with me.
 

I have scared them away, them all… have submitted myself to my loneliness, the feeling of injustice, and have enjoyed it, somehow, though. It was not my fault, the world was bad, that’s how I put it. Easy enough, that was.
 

And as this world was not willing to give some of the good things to me voluntarily, I had to take it from her… wrest it from her with force, if it couldn’t be helped otherwise.
 

Das war die Zeit, als er kriminell geworden war.

Mit gerade mal fünfzehn Jahren begann er seine Karriere zuerst mit kleineren Ladendiebstählen, dann Taschendiebstählen… und als er dann in Kontakt mit Heroin kam, gab es kein Halten und keine Grenzen mehr für ihn.

Für seinen Dealer, für den nächsten Schuss, ging er stehlen, war kaum mehr Herr über sich, merkte, wie er verfiel, moralisch und körperlich.
 

Dann hatten sie ihn geschnappt.
 

Als er im Knast seinen Entzug machte, fing er an zu malen.

Und nach ein paar Monaten kam er frei, genauso mittellos wie vorher, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Freunde… aber mit einer neuen Sucht.
 

Der Malerei.
 

Und so saß er auf der Tower Bridge, Tag für Tag, und zeichnete.

Und dort war es auch, wo Dekan Percival Hammersmith ihn gefunden und mitgenommen hatte.
 

Seither hatte er ein Dach über den Kopf, einen Ort, zu dem er zurückkommen konnte, einen Platz, den er sein Heim nennen konnte. Er erfuhr Anerkennung, er hatte so etwas wie ein Vorbild, eine Vaterfigur gefunden… und dennoch kam er immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz, wenn er auf die falschen Leute hereinfiel.
 

Und er fiel so oft auf die falschen Leute herein…
 

Als er Meredith kennengelernt hatte, hatte er geglaubt, dass auch das endlich vorbei war.
 

Sie machte aus ihm einen besseren Maler, einen besseren Mann, einen besseren Menschen. Nie hatte er das Gefühl von Geborgenheit gekannt, und nie hatte er sich verantwortlich für jemanden gefühlt, sich um jemanden sorgen wollen – bis zu dem Tag, als sie in sein Leben trat.

Sie kümmerten sich umeinander, und er genoss das, wollte das nie wieder missen.
 

Und genau das war es wohl, was ihn erneut hatte anfällig werden lassen für die Versprechungen von Geld und Wohlstand, die andere ihm gemacht hatten.

Er wollte, dass es ihr gut ging, hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr so wenig bieten konnte, und war entsprechend leichte Beute gewesen, als diese Frau ihn angesprochen hatte.
 

Und erneut musste er feststellen, dass man ihn hereingelegt hatte, dass das, was er als große Chance gesehen hatte, nichts weiter war als ein Trick.

Erneut benutzte man ihn, um andere Ziele zu verfolgen, und noch schlimmer… noch viel schlimmer als es sonst immer gewesen war, war die Tatsache, dass sie da mit drinsteckte.
 

Merry…
 

Solange er aber noch lebte, würde er dafür sorgen, dass seinem Engel kein Leid geschah.
 

It might be too late for me…

But I won’t allow them to harm you!
 


 

Yukiko Kudô hingegen wühlte sich bereits durch die erste Bekleidungsabteilung, dicht gefolgt von einer diensteifrigen Angestellten, die ihrer Kundin bereitwillig ein Kleid nach dem anderen präsentierte, komplett mit Hut, Modeschmuck, Tasche, Schuhen, natürlich, und sonstigen Accessoires. Yusaku hatte sich, ganz der wohlerzogene Ehemann und perfekt dressierte Shoppingbegleiter, auf einen Stuhl in der Nähe der Umkleidekabinen postiert und begutachtete seine Göttergattin in ständig wechselnden Outfits, gab Kommentare, die, wie er wusste, Yukiko zwar hören wollte, aber gleichzeitig kaum wahrnahm.
 

Wenn seine Frau einkaufte, tauchte sie ein in eine Welt, die nicht die seine war. Er erinnerte sich noch gut daran, wie irre gelangweilt Shinichi damals immer gewesen war. Sobald er alt genug geworden war, sich nicht auf Nimmerwiedersehen zu verlaufen, hatte er es vorgezogen, seinen Vater frech grinsend allein diesem Schicksal zu überlassen und hatte sich die nächste Buchhandlung gesucht, um dort für die nächsten Stunden zu versumpfen.
 

„Du hast sie geheiratet, nicht ich, Vater.“
 

Er verzog die Lippen zu einem müden Grinsen, als er die spöttelnde Stimme seines Sohns fast hören konnte, zog dann die Zeitung hervor, die er am Flughafen erstanden hatte und begann, sie zu lesen.
 

Der Fall klang interessant, das musste er zugeben; bereits im Internet hatte er die letzten Ergebnisse verfolgt.

Er hatte einige unübliche und daher seine Aufmerksamkeit weckende Komponenten wie die Kleidung und das Bild. Sicherlich würde Shinichi versuchen, über diese beiden Beweisstücke die Hersteller der Sachen und damit auch den oder die Täter zu finden. Stutzig werden ließ ihn auch die Beschreibung des Bildes; es wurde erwähnt, dass das Mädchen mit einer Blume, einem Stiefmütterchen, abgebildet worden war.
 

Was will uns der Künstler denn damit sagen? Normalerweise versteckt man so ein Symbol nicht ohne Grund…?
 

Noch stutziger werden ließ ihn jedoch der lange Vorspann über die Vergangenheit seines Sohns. Er seufzte, lächelte bitter.
 

Nun, das musste kommen, Shinichi. Wer sich interessant macht, über den ziehen die Leute Erkundigungen ein. Und das Internet ist nicht eben schweigsam, was deine Vergangenheit betrifft.

Wenn auch wohl unsere Sprache und unsere Schrift dich und dein Leben etwas schwerer zugänglich gemacht haben. Das dürfte wohl nun vorbei sein.
 

Er las die Zeilen durch, zuckte dann mit den Schultern. Immerhin schrieb man hier noch recht wohlwollend über ihn; der Autor konnte nur hoffen, dass es so blieb.
 

Was ihn jedoch tatsächlich innehalten ließ, war der Dienstgrad, den man mit dem Namen seines Sohns nannte.
 

Detective Superintendent.
 

Unwillig zog er eine Augenbraue hoch.

„Yukiko“, murmelte er langsam, als seine Frau gerade wieder aus der Umkleidekabine auftauchte und in einem Traum aus azurblauem Seidentaft vor ihm posierte, der ihm kurz die Sprache verschlug, ehe er seine Frage anbringen konnte. Sie grinste ihn an, allerdings wich der vergnügte Gesichtsausdruck sogleich einem eher nachdenklichem Gesicht, als sie die mittlerweile wieder ernst gewordene Miene ihres Mannes betrachtete.

„Was ist, Yusaku?“

Sie hatte ihre Pose fahren gelassen, in die sie sich gerade geworfen hatte, um ihre aufregenden Kurven und die Art und Weise, wie dieses Kleid sie noch viel aufregender machte, perfekt vorzuführen.

Ihr Mann seufzte leise, ein missvergnügter Ausdruck war auf sein Gesicht getreten.
 

„Hat Shinichi dir erzählt, dass man ihm zum Detective Superintendent befördert hat?“
 

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Hallo Leute!
 

Danke für die Kommentare zum letzten Kapitel! *freu*

Dieses hier ist nun ein etwas kürzeres und ruhiges Intermezzo… aber seid euch versichert, im nächsten wird’s dafür umso… interessanter. ;)
 

Stay tuned :)
 

Einen kleinen Vorgeschmack gibt’s in ein paar Tagen im Weblog – bis dahin!
 

Beste Grüße,

eure Leira

Kapitel 12: Zeitenwende

KAPITEL 12 - ZEITENWENDE
 


 

Während Heiji mit den Eltern des japanischen Opfers, Herrn Takeshi und Frau Mariko Kanagawa ins Revier fuhr, verließen Shinichi und Jenna die University of Arts. Sie hatten den Vormittag damit zugebracht, dort mit dem Dekan zu verhandeln, alle Studenten zu versammeln, die mit Öl malten und sich auf Porträts spezialisiert hatten, und dabei versucht, der Presse geschickt aus dem Weg zu gehen. Noch war erfreulich wenig los – aber Shinichi befürchtete, dem würde nicht mehr lange so sein.

Unter Umständen wartete Miss Shelley ja schon an der nächsten Ecke auf ihn.

Shinichi seufzte, verscheuchte das zynische Lächeln, das sich bei dem Gedanken an die aufgestylte Medientussi auf seine Lippen geschlichen hatte und wandte sich dann wieder dem Vorstand der Universität zu.

Der Mann, ein hagerer, langgestreckter Mensch mit schulterlangem, grauen Haar und stechend grauen Augen hatte sich bisher als wenig bis gar nicht kooperativ erwiesen, was seine Bitten bezüglich des Falls betraf.
 

„It is impossible to gather them in that short time. We are a university, not a school, they come and go as they want. And how on earth am I to know which kind of paint every single one of my students uses?“

Shinichi schaute ihn aufmerksam an, lächelte freundlich. Jenna beobachtete ihn aus den Augenwinkeln – und bewunderte ihn, dass er es schaffte, seine Wut nur auf seinen Daumen und Ringfinger zu beschränken, die er, unsichtbar für den Dekan, aneinander rieb, während sein Gesicht nichts weiter zeigte als endlose Geduld und allerbritischste Höflichkeit.

„Well, but you should have an overview concerning those who study in their eighth semester and paint in a realistic manner? Perhaps you even know whom of them has specialized on portraits…“

„Of course I have not!“

Der Mann hatte sich vor ihm aufgebaut, wirkte in seinem schwarzen Mantel noch hagerer und langgestreckter als er es ohnehin von Natur aus war, und schien zunehmend verärgert darüber, dass man es wagte, ihm seine Zeit zu stehlen.

Das Lächeln auf Shinichis Lippen bröckelte immer noch nicht. Jenna fragte sich wiederholt, aus welchem Stoff der Geduldsfaden ihres Chefs gestrickt war – ihrer war schon längst gerissen. Seit Minuten beackerten sie diesen Typen, hatten sich freundlich und formvollendet vorgestellt und ihre Marken gezeigt, ein Foto des Gemäldes vorgelegt und bissen seither auf Granit. Offenbar war der Dekan der UAL von der eher zurückhaltenden Sorte, was Kooperation mit der Staatsgewalt betraf.
 

„Do you have a search warrant?“

Shinichi seufzte leise.

„No, to be honest, I don’t.“

Er steckte das Foto zurück in seine Mappe.

„But for now, we don’t want to search anything. We don’t impute a crime. We are not accusing anybody. We are merely looking for witnesses…”

„If you have no search warrant, I ask you to leave my university. Please.“, fiel ihm der Dekan ins Wort – und an der Stelle fing Shinichis Lächeln tatsächlich zu zucken an.

Dekan Hammersmiths Stimme klang kalt – und seine Wortwahl fiel deutlich höflicher aus, als sie gemeint war. Jenna drückte ihr Rückgrat durch. So viel Starrsinn und Sturheit waren ihr zuwider und strapazierten ihre Nerven aufs Äußerste. Sie waren auf einer heißen Spur und dieser alte Dickschädel ließ sie knallhart gegen eine geschlossene Tür laufen.

„Now, you’ll listen to me, Sir. The kind of reaction you show is called …“

Doch sie hielt inne, als sie den scharfen Blick ihres Partners auf sich spürte.
 

„Well then, I cannot force you. But please count on a second visit of us soon, Mr. Hammersmith.“
 

Shinichi hatte das Wort übernommen, seine Stimme immer noch ruhig, allerdings war das Lächeln von seinen Lippen gewichen. Wie gewohnt streckte er dem Mann höflich seine Hand entgegen, ließ sie allerdings sinken, als der Mann den Gruß nicht erwidern wollte.

„I wish you a pleasant day.“
 

Damit drehte er sich um, verließ, Jenna im Schlepp, das Büro des Dekans.
 

Kaum fiel die Tür zu, griff Hammersmith nach seinem Telefon auf dem Schreibtisch, wählte zu seiner Vorzimmerdame durch.

„Yes, please? How can I help you…?“, quäkte ihm die unangenehme Stimme von Mrs. Kathy Carter entgegen.

„I don’t want to be disturbed in the next time. And tell Eduard Brady I want a word with him.“
 

Er hatte den Urheber des Bildes auf dem Foto entgegen jeder seiner Beteuerungen sofort erkannt.

Und in ihm läuteten die Alarmglocken penetrant laut.
 

Into what kind of trouble has this stupid brought himself this time?!
 

Ed Brady war ein begnadeter Künstler, allerdings nicht nur talentiert, was den Umgang mit Pinsel bedurfte, sondern auch, was seine Begabung betraf, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Er erinnerte sich daran, wie der Junge, der weder familiären noch freundschaftlichen Rückhalt vorzuweisen hatte, hier aufgetaucht war – ein Ex-Junkie, Schulabbrecher und obdachloser Herumtreiber - und sich sogleich erneut mit Drogenproblemen beladen hatte. Als er dann wegen Diebstahl in einem Elektronikgeschäft verhaftet wurde, um seine Sucht zu finanzieren, wäre er fast von der Universität geflogen. Einzig sein eigener Einsatz, den jungen Mann noch nicht aufzugeben, hatte ihn vor einem Schicksal auf der Straße mit noch mehr Drogen, noch mehr Kriminalität und einem vielleicht viel zu frühen Tod bewahrt.
 

Percival Hammersmith seufzte tief.

Er hatte etwas in Brady gesehen, das ihn sehr an sich selbst erinnerte. Das Gefühl des Verlassenseins, der Heimatlosigkeit. Des Nicht-Verstanden-Werdens. Er hatte ihm helfen wollen, hatte ihm die Adresse der UAL gegeben, als er ihn in der Nähe der Tower Bridge als Straßenmaler hatte arbeiten sehen. Und er hatte sich bestätigt gefühlt, als Brady gekommen war und aufgrund seiner Porträtarbeiten ohne Wenn und Aber aufgenommen wurde in den Kreis derer, die man für die Kinder der Musen hielt.

Nach dem Vorfall damals hatte er den Jungen ins Gebet genommen, ihn in die Drogenklinik einweisen lassen, Mäzene gefunden, die das bezahlten, weil sie an seine Kunst glaubten, und so hatten sie die Kurve damals noch gekratzt. Gerade so.

Nach ein paar kleineren Delikten – Raufereien, Alkoholmissbrauch und ähnlichem – hatte er es dann vor anderthalb Jahren geschafft, sich mit anderen Studenten bei einer Graffitiaktion verhaften zu lassen; die Anklage wegen Sachbeschädigung hatte ihm ein heftiges Bußgeld eingebracht, das er heute noch abstotterte, sowie eine zeitweilige Suspendierung von seinem Studium an der Universität.
 

Und dann war der Wandel gekommen – als er Meredith kennengelernt hatte.
 

Hammersmith lächelte.

Meredith Rowling war ein Engel. Sie machte aus Eduard einen besseren Menschen, hielt ihn von der Straße und von Schwierigkeiten fern, inspirierte ihn, machte ihn glücklich.
 

Und eigentlich hatte der alte Dekan der Universität, der über seine Studenten mit Argusaugen wachte, gerade über die, die Bewachung bedurften, angefangen, aufzuatmen - und zu glauben begonnen, zu hoffen gewagt, dass damit nun endlich die Akte Brady geschlossen war.
 

Offenbar war sie das nicht.

Er musste herausfinden, was da lief, bevor der Junge den Karren vollends an die Wand fuhr.
 

Major crime investigation, murder squad, New Scotland Yard, Eduard.

And they don’t send anybody… they send Mr. Holmes himself.
 


 

Shinichi seufzte, betrat das Freie, wartete, bis Jenna aufgeholt hatte. Er hatte das Gebäude mit langen Schritten verlassen, hatte nicht darauf gewartet, ob sie mit ihm Schritt halten konnte, oder nicht.
 

Nun stand er da, die Augen geschlossen, die Sonne auf seiner Haut genießend.
 

Dann wandte er sich um, als er das Knirschen des Kieses unter ihren Schuhen hörte.
 

„Jenna, you mustn’t forget your manners.“

Er öffnete die Augen, wandte sich zu ihr um. Seine junge Partnerin schaute ihn ertappt an.

„Of course, it is frustrating, everytime a person denies us his or her helping hand and cooperation. But we cannot force anyone to help us, unless we come up with a search warrant. But we always represent Scotland Yard – and in this position, we have to behave flawlessly, politely and patiently. What do you think is going to happen, if anyone complains about us? Scotland Yard has no use for bad press that is caused by a young sergeant unable to control herself. They are busy enough with me.“

Shinichi lächelte kurz, hatte ruhig gesprochen, jeglichen Tadel und jeden Hauch von Rüge aus seiner Stimme verbannt… dennoch glühte Jennas Gesicht in der Sonne, und das nicht nur vor Hitze.

„Yes, Sir.“

Sie schaute betreten zu Boden, stiefelte ihm dann hinterher, als sich auf den Weg zum Auto machte.

„So… what now?“

„Well, we’ll do him the favour and get him his search warrant.“

Er grinste forsch, sperrte den Wagen auf.

„And as for the dresses and tailor students, we’ll try another strategy; I’ve an interesting idea concerning this. Get in, Heiji should have…“
 

Seine Stimme verebbte, als er das gedämpfte Klingeln seines Handys vernahm. Er zog es aus der Innentasche seines Sakkos, hob ab und hielt es sich ans Ohr, lauschte aufmerksam der Stimme am anderen Ende. Seine Miene verdüsterte sich zusehends.

„Thank you, Sir. I’ve understood. We’re on our way. Did you inform Mr. Hattori as well? Fine. I think, we’ll catch him there. Goodbye.“
 

Er legte auf, starrte kurz in die Ferne, seine klaren Augen unfokussiert in den Himmel gerichtet.

„What is it?“, wagte Jenna schließlich leise zu fragen.

„Another victim, London Eye, Champaign gondola. She was found right now, only a few minutes ago, as someone wanted to use the gondola. It is likely that she has lain there for the whole night.“

Shinichi schluckte hart.

„And…?“

„Smoky gray dress, made of wild silk, young, red blonde woman, portrait showing her off in that dress…“

„Sounds like our man...“
 

Jenna merkte, wie ihr ein eisiger Schauer über den Rücken rann. Sie stieg in den Wagen ein, schnallte sich an, beobachtete den wie steinern wirkenden, nachdenklichen Gesichtsausdruck ihres Partners.

„A serial killer, then?“
 

Shinichi schluckte hart.

Dann nickte er scharf.
 

„A serial killer, then.“
 

Dann griff er erneut nach seinem Handy, tippte routiniert eine Nummer ein.

„Heiji, wo steckst du? Gut. Hör zu, du hast bereits… richtig. Nimm die Jubilee Line und fahr nach Westminster. Warte dort auf uns bei der U-Bahnhaltestellte in der Nähe der Westminster Bridge. Wir sind so schnell da, wie es geht.“

Er lauschte kurz ins Telefon.

„Ja gut. Bis dann.“

Damit legte er auf, startete den Wagen und fädelte ihn geschickt in den laufenden Verkehr ein.
 

Heiji am anderen Ende der Leitung seufzte lautlos.

Damit waren es gleich zwei Nachrichten, die seinen Freund heute hübsch aus der Fassung bringen würden… neben dieser zweiten Leiche, die da auf sie wartete, wartete auch noch die Nachricht auf Überbringung, dass sie hier war. Er verzog das Gesicht, stieg er die nächste U-Bahntreppe hinab und zwängte sich in einen der Wagen, um nach Westminster zu fahren.
 

Und Heiji war auch der erste, der am vereinbarten Treffpunkt, dem Big Ben, eintraf.

Shinichi und Jenna verspäteten sich kaum; er hatte sich gerade gegen die Brücke gelehnt, den Anblick des neogotischen Gebäudes genossen und sich die leichte Themsebrise um die Nase wehen lassen, als er die beiden auf sich zukommen sah.
 

Er ging ihnen entgegen, griff Shinichi kurz am Arm.

„Hör zu, ich muss dir etwas sagen…“, fing er an.

Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Jetzt? Zum Fall?“

„Nein.“

Heiji wich seinem Blick aus.

„Kann es dann nicht warten?“

Shinichi klang ungeduldig und etwas abgehetzt, und er konnte es ihm nicht verdenken.

Andererseits wollte er ihn nicht eine Sekunde länger darüber uninformiert lassen, wem er hier, in seiner Stadt, in die Arme laufen könnte.
 

Es zu wissen, dass sie noch lebte, war die eine Sache.

Sie zu sehen eine ganz andere.
 

„Ich glaube eher nich‘, wenn ich ehrlich bin, Kudô…“, murmelte er also langsam, versuchte die richtigen Worte für die Botschaft zu finden, die er zu überbringen hatte. Ein lapidares „Ran is‘ hier“ wäre sicherlich Information genug, aber ganz so unvorbereitet wollte er ihm das nicht vor den Latz knallen.

Shinichi schritt zügig aus, warf ihm einen Blick zu. Jenna hinter ihm musste fast laufen.

„Dann musst du’s mir sagen, während wir gehen. Wir sind ohnehin schon spät dran…“

Statt eine Antwort von ihm zu bekommen, bemerkte er, wie Heiji auf einmal abrupt stehen geblieben war. Er folgte seinem Blick – und meinte im nächsten Moment, der Boden unter seinen Füßen würde ihm weggerissen.
 

Am anderen Ende der Brücke standen vier junge Damen, und waren sie gerade noch intensiv in ein Gespräch vertieft gewesen, starrten sie sie nun an.

Kazuha blieb stehen, hatte Heiji sofort gesehen – dann hörte sie es laut platschen, als ein Becher Caffé Frappée auf den Boden auftraf und explodierte wie eine Wasserbombe. Sie spürte kühle Spritzer an ihrem Bein, wandte sich Ran zu, die in einer Pfütze geeisten Kaffees stand, und wie erstarrt nur auf einen Punkt blickte.
 

Erst dann sah sie ihn.

Und fragte sich, wie sie ihn hatte übersehen können.

Shinichi.
 

Sherlock Holmes.
 

Er stand da, eine Hand an der Brüstung liegend, aber momentan sah es vielmehr so aus, als halte er sich daran fest, um nicht umzufallen. Er war kreidebleich, starrte Ran an wie einen Geist.
 

Klar, natürlich, du fürchtest ihre Reaktion, schließlich hast du sie einfach allein gelassen.
 

Hinter ihm und Heiji stand eine junge Frau in unscheinbaren Klamotten, deren Blick immer wieder von Shinichi zu ihnen schweifte. Kazuha bekam das nur am Rande mit; Sonoko, die neben ihr stand, hingegen umso mehr.
 

Heiji warf seinem Freund einen beunruhigten Blick zu.
 

Tja. Zu spät.
 

Er wollte etwas sagen und brachte doch kein Wort über die Lippen – er bezweifelte auch, dass Shinichi irgendetwas gehört, geschweige denn verstanden hätte.

Er war abrupt verstummt, stand wie schockgefroren neben ihm und schien kaum zu atmen. Für ihn existierte in diesem Moment nur eins.

Sie.

Und sie sah ihn an.
 

Heiji schluckte hart. Er hatte sehr wohl bemerkt, wie sich Shinichis Körper angespannt hatte, wie sich seine Finger um die Brüstung krallten, als wolle er sie in das Metall bohren. Seine Augen waren starr auf Ran gerichtet, ohne zu blinzeln - Heiji konnte nur ahnen, was in ihm vorging.

Sehr wohl ahnte er aber, dass für ihn die Welt gerade stillstand. Wenn es so etwas wie die Welt für ihn überhaupt noch gab.
 

„Du Bastard!“
 

Neben Kazuha explodierte die zweite Bombe; Sonoko schien buchstäblich in die Luft zu gehen, als sie losrauschte, ohne Rücksicht auf Verluste einem Hund, der eigentlich eher Handtaschenformat hatte, und eher in eben jene als auf den Boden gehörte, auf die Pfote trat. Sie hatte kein Gehör für das schmerzvolle Jaulen und das entrüstete Wettern seiner Besitzerin, stattdessen steuerte sie zielgerichtet auf Shinichi zu, der sich der nähernden Gefahr langsam bewusst schien, und sich ihr zuwandte.

Und dennoch machte er nicht einmal den Versuch, der Ohrfeige auszuweichen, die Sonoko ihm mit Wucht ins Gesicht pfefferte.

Er hielt sich nicht einmal die Wange.

Kazuha wusste nicht zu sagen, ob er den Schmerz überhaupt spürte.

Shinichi reagierte praktisch nicht, ließ Sonokos lautstarke und nicht eben jugendfreie Schimpftirade über sich ergehen, ohne ihr auszuweichen, sich wegzudrehen oder irgendetwas zu entgegnen. Nur mühsam zerrte Heiji die aufgebrachte junge Frau von seinem besten Freund weg. Shiho setzte sich in Bewegung, zog Ran mit sich. Kazuha rannte ihnen nach.
 

„Herrgott, Sonoko, nu‘ hör doch mal zu!“

Heiji hatte sie an den Schulter gepackt, versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

„Es interessiert mich nicht! Lass mich los! Lass mich LOS!!“

Sie kreischte, rammte ihm den Absatz ihres Schuhs in den Fuß woraufhin er sie losließ, nicht ohne laut und übelst zu fluchen. Sie hingegen hatte sich schon längst wieder ihrem Opfer zugewandt, das immer noch da stand, ohne die geringsten Anstalten zur Flucht oder Gegenwehr zu machen.

„Weißt du, was du ihr angetan hast!? Einfach so zu verduften, ohne ein Wort, ohne eine Meldung?! Keine Nachricht hast du hinterlassen, deine Eltern waren nicht zu erreichen, du bist praktisch im Nichts verschwunden, hast dich in Luft aufgelöst, du verdammter Egoist, wir haben uns Sorgen gemacht! Obwohl wir das nicht hätten tun sollen, weil du nämlich keinen weiteren Gedanken wert bist, denn so etwas tut man nicht, so behandelt man…“
 

Sonoko schnappte nach Luft. Shiho verschränkte ihre Arme nachdenklich vor der Brust, musterte ihn eingehend, konnte nicht leugnen, dass sie das nicht nur tat, um Gelassenheit auszudrücken, sondern auch, um ihre schlagartig kalt gewordenen Finger an ihrem Oberkörper aufzuwärmen.

Ihr Puls raste, und dennoch, ahnte sie, glich ihrer wohl noch einem gemächlichen Schritttempo, verglichen mit seinem.

Seine Hände zitterten so sehr, dass er sie tief in seinen Hosentaschen vergraben hatte, und dennoch sah sie es. Sein Gesicht war leichenblass, seine Lippen praktisch blutleer, auf seiner Stirn stand ein leichter Anflug von Schweiß. Und sie traute sich wetten, dass sein Herzschlag so sehr raste, dass er wohl sprichwörtlich kaum mehr zu spüren war.

Noch dazu der Blick, mit dem er Ran ansah.
 

Manchmal frage ich mich, ob du eigentlich weißt, was deine Augen alles verraten, über dich. Wohl nicht, sonst würdest du eine Sonnenbrille aufsetzen, nicht wahr?
 

Kudô…
 

Sie schluckte, als sie ihn eingehender ansah, bemerkte die Veränderungen an ihm – die nicht nur dieses unerwartete Treffen mit sich brachte, das sicherlich für sich schon reichte, um ihn aus den Fugen zu reißen, für ein paar Minuten.

Nein.

Da war mehr.
 

Und der Gedanke an dieses „mehr“ allein reichte schon, um ihr einen Schauer kalt wie eine Ladung Eiswürfel über den Rücken rieseln zu lassen.
 

Sie zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne, bewegte ihre Finger unruhig.
 

Da stimmt doch etwas nicht…

Welchen Dämon fütterst du nun schon wieder, Idiot?

Hast du nicht eigentlich endlich mal genug davon?
 

„Du glaubst, damit kommst du mir davon? Verdammt nochmal, ich will eine Erklärung! Ran will eine Erklärung! Ist doch so, oder, Ran?!“

Sonokos Stimme riss Shiho aus ihren Gedanken, ließ sich ihr zuwenden.

Die Kunstblondine stieß ihrer Freundin in die Rippen, die starr wie eine Marmorstatue neben ihr gestanden hatte, kaum atmete und fast ohne zu blinzeln sein Gesicht anstarrte, immer noch, als könne sie ihren Augen nicht trauen.

Und in diesem Moment bereit zu sein schien, ihm alles zu verzeihen, wenn er sie nur endlich in die Arme nehmen würde.

Sonoko starrte sie an; als sie merkte, dass sie von ihrer Freundin keine Unterstützung kriegen würde, fuhr sie weiter fort, sich alleine zu ereifern.

„Und eine Entschuldigung wäre auch fällig! Wie konntest du nur, wie…?!“

Sie merkte, wie die Wut erneut in ihr hochkochte, sie drohend einen Schritt näher trat.

Heiji warf ihr einen warnenden Blick zu.

„Jetzt isses genug, Suzuki.“

„Nein, ist es nicht! Und warum schlägst du dich auf seine Seite, du hast genauso geschimpft, du warst genauso enttäuscht, wie kannst du ihm so schnell verzeihen, wie…“

In Heijis Schläfe pochte eine Ader.

„Weil er einen verdammt guten Grund hatte! Er…“
 

„Nein!“
 

Seine Stimme schnitt scharf durch die Luft, ging ihnen allen durch Mark und Bein. Und er wusste, er hatte mit diesem einen Wort viel mehr verraten, als er wollte. Wohl aber immer noch weniger, als das, was Heiji gerade eben hatte erzählen wollen, und darauf kam es an. Mühsam atmete er ein und aus.

Heiji hielt inne, warf Shinichi einen überraschten und gleichermaßen verständnislosen Blick zu.

Shinichi schluckte, strich sich kurz mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, ehe er sich Sonoko zuwandte.

„Damit hast du völlig Recht.“

Seine Stimme verursachte Ran eine Gänsehaut. Sie klang wie immer, so unendlich vertraut – und gleichermaßen abgekämpft und müde. Er räusperte sich, strich sich über den Hinterkopf; so wie er es immer tat, wenn er unsicher war, von unten nach oben, brachte seine Haare damit noch mehr in Unordnung, als sie es ohnehin waren. Ran schluckte, musterte ihn eingehend. Er sah nicht eben so aus als hätte er sein Leben genossen, in den letzten Jahren.

Ganz und gar nicht.
 

„An mich sollte man keinen Gedanken mehr verschwenden.“

Er lächelte bitter, starrte zu Boden.

Als er aufsah, sah er Ran mitten ins Gesicht. Ihre Blicke trafen sich, und für ein paar Sekundenbruchteile schien die Welt still zu stehen. Das Lächeln bröckelte von seinen Lippen, als er ihr in die Augen sah.

Sein Kopf schien auf einmal wie leer gefegt, stattdessen überwältigte ihn dieses eine Gefühl fast; dieses Gefühl, das ihn bisher in seinen Alpträumen heimgesucht hatte, das Gefühl, das in ihm emporkroch, wenn er das Bild von ihr betrachtete.

Nur so ungleich stärker fühlte es sich an, und fragte sich, wie lang er das aushalten konnte.

Er sah sie nur an… sie sah aus wie immer, und doch ganz anders, aber egal was es war, das er an ihr liebte, es war immer noch da.

Und er wollte, wollte so gern einfach nachgeben. Wollte sie an sich ziehen, ihr Haar berühren, ihren Duft riechen und ihre Stimme hören - immer wieder ihre Stimme hören.

Ihre Wärme fühlen.

Einfach nur das.

Fühlen.

Damit er aufhörte, dieser Schmerz. Damit diese Sehnsucht endlich ein Ende hatte.

Er wollte einfach glücklich sein, dass sie lebte.

Wollte fühlen, dass sie lebte, es spüren, nur kurz, nur…
 

Dass er das nicht konnte, weil er nicht durfte, er es sich nicht erlauben wollte, brachte ihn fast um den Verstand.
 

Shiho sah von einem zum anderen, merkte, wie ein Schaudern sie ergriff. Sie konnte die Sehnsucht fast spüren, sicher aber sah sie sie; und auch Ran musste sie sehen, wenn sie nicht völlig blind war.

Ran trat einen Schritt näher, zögernd, ihre Augen weiterhin fest auf ihn gerichtet.

„Shinichi…“

Der Klang ihrer Stimme brachte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit.

Mit Mühe kämpfte er alle Gefühle nieder, die sich gerade emporwinden und ihn unter ihre Kontrolle hatten bringen wollen, und schüttelte den Kopf, bestimmt, brach damit den Blickkontakt.

Als er sprach, hatte er sich wieder Sonoko zugewandt.

„Du hast ganz Recht, ich bin ein egoistischer Bastard, der sich aus dem Staub macht, wenn‘s ernst wird, und der sich nur für eine Sache interessiert, und das ist seine Arbeit. Also bitte, macht das. Hasst mich. Vergesst mich. Denkt nicht mehr an mich. Und verschwindet aus dieser Stadt, wenn ihr wisst, was gut für euch ist.“

Seine Stimme klang bitter, und genauso bitter war das Lächeln auf seinen Lippen.

Sonoko starrte ihn an, sprachlos. Ran neben ihr schien fast in Ohnmacht zu fallen; sie sah ihn an, immer noch unentwegt, und fühlte sich, als würde in ihr gerade zum zweiten Mal etwas ganz fürchterlich und irreparabel zu Bruch gehen.
 

Dann durchschnitt ein Handyklingeln die Stille. Shinichi zuckte zusammen, griff in seine Sakkotasche, holte das Mobiltelefon heraus, nahm das Telefongespräch entgegen und hörte kurz zu, begann dann ruhig und sachlich, jedoch mit merklich beunruhigter Stimme auf Englisch in das Telefon zu sprechen. Kazuha hingegen näherte sich ihrem Freund, griff nach seiner Hand, zog ihn an sich.
 

„Heiji, ich kauf ihm kein Wort ab. Was is los? Du weißt es doch?“
 

Sie durchbohrte ihn mit einem Blick aus grünen Augen. Heiji seufzte, griff sie an der Hüfte und drückte sie an sich, merkte erst jetzt, wie glücklich er sich schätzen konnte, als sein Blick auf Ran fiel. Eine einzelne Träne rollte aus ihrem Augenwinkel, und er wusste, dass Shinichi sie sah.

So wie er immer alles sah, auch wenn er ihr scheinbar den Rücken zuwandte.

Und er wusste, dass er gerade innerlich still und leise an die tausend Tode starb, einen nach dem anderen, und einer schmerzvoller als der andere, als er gegen den Drang ankämpfte, sie einfach in die Arme zu nehmen und nie mehr loszulassen.

Heiji presste die Augen zusammen, dann schüttelte er den Kopf.

„Wenn er nich‘ reden will, werd ichs auch nich tun, Kazuha. Das weißte.“

Sie lächelte verständnisvoll.
 

Deine Loyalität hat er also wieder, Heiji.

Dann is ihm auch zu vertrauen.

Und warum auch immer er gegangen is, er hat sie nich grundlos verlassen.

Aber warum verhält er sich jetzt so?

Was treibt ihn denn immer noch?
 

Ihre Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als sie Shinichis Stimme hörte.

„Wir…“

Heiji ließ sie los.

„Sie wart‘n wohl schon…“

Shinichi nickte schwer, strich sich übers Gesicht.

„Ja. Die Spurensicherung ist da und bestätigt die erste Meldung von vorhin.“

Er schluckte hart.

„Ein weiteres junges Mädchen, ein Bild, ein hellgraues Kleid.“

Unwillig wandte er sich den anderen zu, schaute sie ernst an.

„Hört zu, es ist mir gleich, was ihr von mir denkt. Aber fliegt nach Hause, momentan ist hier ein Serienmörder unterwegs, und er hat es auf junge Frauen in eurem Alter abgesehen. Und wenn ihr schon nicht abhauen wollt, passt wenigstens auf euch auf. Haltet euch fern von Schneidern und Malern oder Designern oder was auch immer für Berufe, die damit verbunden sind. Ich hab wenig Lust...“

Er brach ab, drehte er sich um, ohne den Satz zu vollenden und ging. Kurz warf er einen Blick zurück, sah Ran, die ihm hinterherblickte.

Sah die Tränen in ihren Augen, die Enttäuschung, die Verständnislosigkeit.

Und hasste sich und dieses Leben einmal mehr.
 

Hinter ihm her lief Jenna, die während der Geschehnisse einfach nur fassungslos daneben gestanden hatte. Ihr verwirrter Blick sprach Bände. Shinichi bemerkte sie erst, als sie neben ihn trat, schnelle Schritte machte, um mit ihm mitzuhalten, und stöhnte lautlos auf. Jenna hatte er völlig vergessen; und er wollte sich gar nicht fragen, was sie von ihm nun dachte.

„Sir…“, fing sie an, aber er schüttelte nur den Kopf, hob die Hand abwehrend, brachte sie so zum Schweigen. Im Moment fühlte er sich sichtlich überfordert, irgendetwas klar zu stellen. Heiji starrte ihn an, seufzte.

„He’ll explain later. Rather private business, that is, anyway. As you might have observed.”

Dann griff er nach Jennas Arm, zog sie mit sich, die sich widerstandslos von ihm führen ließ. Shinichi hingegen wurde immer langsamer, als der Schock ihn einholte. Er hatte nicht gedacht, dass es ihn so treffen würde, sie zu sehen. Er hatte doch gewusst, dass sie lebte. Er war doch gefasst darauf gewesen. Oder doch nicht?
 

Ihm wurde übel.
 

Sie lebt. Und sie ist hier.

Und sie…

Sie…

Wie sie… mich angesehen hat…
 

Als sie außer Sichtweite waren, blieb er stehen, lehnte sich schwer atmend gegen eine Telefonzelle; hinter seiner Stirn pochte es, in seiner Brust schlug sein Herz schmerzhaft gegen seinen Brustkorb, raubte ihm den Atem und jeden Willen, auch nur noch einen Schritt vorwärts zu tun. Heiji, der mit Jenna schweigend vorangegangen war, hielt inne, starrte ihn an. Kopfschüttelnd trat er auf ihn zu.

„Kudô. Geh zurück und rede mit ihr. Stell das klar.“

„Nein.“

Seine Stimme klang gequält, auch wenn er versuchte, sie fest klingen zu lassen.

„Das geht nicht, das weißt du. Ich will nicht. Gerade, falls…“

„Falls was…?“

Shinichi schluckte; sein Blick verlor sich ins Nichts, ehe er den Kopf schüttelte. Heiji hingegen schaute ihn verärgert an.
 

„Du weißt doch…“

Shinichi schluckte schwer; nur mit Mühe schien sich sein Adamsapfel einmal nach unten wieder nach oben zu bewegen.

„Sie lebt, und… das ist… das ist für mich ein Geschenk. Ein unfassbares, unglaubliches Geschenk! Sie wäre wegen mir fast gestorben. Das darf nicht noch einmal passieren, wenn sie… ich kann nicht garantieren, dass sie…“

„Ein langes Leben kannste ihr auch nicht garantieren, selbst wenn de nicht unter Verfolgungswahn leiden würdest.“

Heiji starrte ihn aus Halbmondaugen genervt an.

„Abgesehen davon haben die seit fünf Jahren ihre Köpfe unten gehalten. Glaubste wirklich…“
 

Shinichi sah ihn nicht an, seufzte. Langsam schüttelte er den Kopf, seine Miene wurde ernst.
 

„Sie warten darauf. Darauf kannst du Gift nehmen. Und eines Tages, vielleicht nicht heute, vielleicht auch nicht morgen… aber eines Tages… werden sie kommen. Und sich rächen. Und dann soll es, wenn es denn sein muss, diesmal verdammt nochmal den Richtigen erwischen.“

Er schaute auf, in seine Augen war ein gefährliches Funkeln getreten.

„Er hat es versprochen. Und ich baue darauf, dass er sein Versprechen hält, denn ich hab diese Rechnung noch offen, verdammt!“
 

Seine Stimme war auf ein leises Zischen gesunken. Jenna schaute ihn verdutzt an; sie verstand die Sprache nicht, aber hörte sehr wohl den Ernst… und auch die Angst im Tonfall ihres Chefs.

Und sie sah etwas in seinen Augen glänzen, dass sie dort noch nie gesehen hatte.

Zorn.
 

Heiji hingegen schüttelte den Kopf.

„Die werden umbringen, wen se wollen, egal ob du das willst oder nich‘. Aber egal was du tust oder nicht tust, so wie du grad aussiehst, kauf ich dir nicht ab, dassde in ner Verfassung bist, in der man nen Fall lösen kann. Willste nicht…“
 

Shinichi seufzte, schaute ihn nachdenklich an.

„Du hast ja Recht.“

„Also was?“

„Also…“, Shinichi nickte Jenna zu, die ihn überrascht ansah, „geht ihr schon mal vor. Jenna kann sich ausweisen und weiß, wo die Polizei erwartet wird, ich habe sie im Auto schon informiert. Und ich krieg mich solange wieder ein, in eine Verfassung, in der man einen Fall lösen kann, wie du es nennst. Ich komm in maximal fünfzehn Minuten nach.“
 

Er schluckte, wischte sich über die Augen; als er nun sprach, war nichts mehr in ihnen zu sehen außer die altbekannte Müdigkeit. Jenna schluckte nachdenklich, befingerte die Knöpfe ihrer Jacke mit ihrer Hand.

„Es ist nur… so unfassbar zu sehen, dass sie lebt. Es ist… nach all der Zeit, in der ich dachte, sie nie wieder sehen, ihre Stimme nie wieder hören zu können… mehr, als ich ertragen kann… im Moment.“

Heiji sah ihn nachdenklich an.

„Du bist ein Idiot, das weißte, oder? Ich frag mich, was passieren muss, bis’des endlich kapierst. Eigentlich dachte ich, ich wär in der Hinsicht der Dümmere von uns beiden…“

Shinichi hob den Blick, schaute ihn empört an.

„Bitte?“

„Gib doch einfach einmal nach.“

„Hm?“

Shinichi sah auf, schaute ihn verwirrt an.

„Geh hin, nimm sie in die Arme, gestatte dir das doch einfach… zu fühlen, dass sie lebt. Sie… wird’s dir nicht übel nehmen. Falls es dir nicht aufgefallen ist… das… war das einzige, was in ihren Augen zu sehen war, ihr quer übers Gesicht geschrieben stand. Dieser eine Wunsch, dir endlich nah zu sein.“

Er schüttelte den Kopf, grinste schief.

„Und das sag ich dir, als absoluter Grobmotoriker, was Gefühle und Romantik betrifft. Und Ran hat sich das verdammt nochmal verdient.“

Shinichi schluckte, schien tatsächlich kurz nachzudenken; dann schüttelte er den Kopf.

„Nein.“

„Warum denn nich‘…?! Hör mir doch auf mit dem ganzen Quatsch – ich bin selber Polizist, ich weiß auch, dass Kazuha in meiner Nähe nich‘ immer sicher is, weil’s ein paar Verrückte gibt, aber davon lassen weder ich noch sie uns abhalten, also was willste!? Verdammt, Kudô!“

Heijis Stimme war laut geworden.

„Du hast dich aber nicht mit ihnen angelegt, Hattori. Abgesehen davon finde ich, du kannst erst dann mitreden, wenn in deinen Armen…“

Er brach ab, als er Heijis Blick bemerkte, schluckte, schwieg betreten.

„Entschuldige, das war unangebracht. Aber… ich weiß das doch. Ich weiß das alles, und bis zu diesem einen Moment sah ich das genauso wie du. Aber die sind… einfach eine Nummer größer. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie mir nicht sogar ne Nummer zu groß sind.“

Shinichi rieb sich erschöpft über die Stirn, ließ die Hand kraftlos sinken. Der Osakaner schaute ihn betroffen an.

„Ich wage nicht, ihr zu nahe zu kommen, bis sie nicht wirklich weg sind. Ich will sie nicht nochmal verlassen müssen, das tut uns beiden auch nicht gut…“

„Also dann lieber gar nich‘ anfangen…?“

Heiji schaute ihn ernst an.

„Genau das.“
 

Er räusperte sich, straffte die Schultern.

„Ich sagte es dir, wenn sie weg sind, versuch ich’s nochmal, wenn‘s sein muss kriech ich auf Knien zurück nach Tokio, zu ihr. Aber nicht jetzt.

Und jetzt geh schon vor, ich komm gleich nach. Es sollte… ja nicht schwerer sein, zu verstehen, dass sie lebt, als dass sie tot ist. Und damit bin ich ja auch… irgendwie klar gekommen.“

Er lächelte das aufgesetzteste Lächeln, das Heiji je gesehen hatte. Der junge Kommissar sah ihn betrübt an, kniff die Augen zusammen, massierte sich kurz die Nasenwurzel. Allerdings sah er auch, dass momentan auf kein Durchkommen zu hoffen war, und so drückte er ihm nur die Schulter, ehe er sich umdrehte und Jenna mit sich winkte. Sie warf ihrem Partner, der wieder gegen die Telefonzelle gesunken war und auf die Themse blickte, einen beunruhigten Blick zu.
 

Shinichi wartete, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren, ehe er die Hand hob, sie sich gegen den Brustkorb presste. Stöhnend atmete er aus, versuchte Herr über seine Gedanken, seine Gefühle zu werden. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten und alles, absolut jede Faser in seinem Körper und jede Zelle in seinem Gehirn schrie ihn an, endlich zurück zu gehen und sie in den Arm zu nehmen. Heiji hatte Recht gehabt, was diesen Wunsch betraf; er schien fast übermächtig, und Shinichi fragte sich ernsthaft, welcher Teil in seinem Hirn noch übrig war, der abgebrüht und sachlich genug war, ihn hier eisern stehen zu lassen.
 

Sie ist hier.

Was jetzt?
 

Müde strich er sich über die Stirn, atmete kontrolliert ein und aus, starrte in den wolkenlos blauen Himmel über London.

Dann ging er los, langsam, immer noch darauf bedacht, ruhig zu atmen, machte sich auf den Weg zum Tatort.

Und bemerkte nicht die junge blonde Frau, die zufrieden lächelnd am anderen Ende der Brücke an der Brüstung lehnte, ihr Notizbüchlein wegsteckte.
 

„I hope, you got it, Sean?“

Der pickelgesichtige Fotograf nickte eifrig.
 

„‘course, Vicky.“
 

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Hallo, my dears!
 

Well.

This is it.

Ran ist da und die Welt versinkt im Chaos… *garharhar*
 

Und an der Stelle habe ich eine Ankündigung zu machen. Einige haben mich darauf angesprochen, dass meine Kapitel sehr lang sind (ich weiß T.T) was zwar schön zu lesen ist, weil viel zu lesen ist, aber das Schreiben eines Kommentars schwieriger macht, weil mehr Zeit vonnöten ist. Dazu kommt der in manchen Kapiteln etwas höhere Englischanteil. Deshalb werde ich nun den Ladezeitraum erhöhen – die Kapitel erscheinen nunmehr zweiwöchentlich, nicht mehr wöchentlich. Es wird, wie immer, im Weblog ein Vorgeschmack aufs folgende Kapitel zu lesen sein.
 

Ich hoffe wirklich, das kann euch nun dazu animieren, auch mir ein wenig Auftrieb zu geben, wenn das Tempo hier etwas reduziert ist.Sollte das auf wenig Gegenliebe stoßen, lasst es mich wissen, ich bin flexibel und kann alle verstehen, die gern wöchentlich lesen – aber dann will ich auch was von euch sehen, hier.
 

Klar, ich weiß, die Geschichte wird gelesen, wohl, ich seh ja die Favoritenzahl.

Allerdings, und das muss ich in aller Ernsthaftigkeit betonen, Leute – das, was das Hochladen ausmacht, ist nicht, seine Geschichte im Browserfenster vor lila Hintergrund zu sehen, sondern eure Reaktionen zu lesen! Wie diese Story auf jemanden wirkt, der sie nicht kennt, der nicht weiß, was noch kommt. Die Interaktion mit euch, euer Lob, eure Kritik. Das ist alles, was ich für die viele Arbeit kriegen kann – also bitte – wer das hier gut findet, lasst es mich wissen. Wer das hier schlecht findet, bitte auch – ich bin genauso Amateur wie ihr und für jeden Tipp dankbar. Ich wills nicht ständig wiederholen müssen.

Macht mir die Freude, falls ich euch mit meiner Geschichte eine Freude mache.

Zu diesem Kapitel gibt’s ein Fanart, by the way. Ihr dürft selbst entscheiden, ob es prophetischer Natur ist ;)
 

Beste Grüße,

bis in zwei Wochen,

eure Leira

Kapitel 13: Gin in der Champagnergondel

KAPITEL 13 – GIN IN DER CHAMPAGNERGONDEL
 

„Sir, may I ask you a question?“

Jenna Watson führte ihren Gast durch die Gegend; nicht ganz so souverän wie ihr Vorgesetzter, aber das mochte auch an ihrem Gemütszustand liegen.

„Depends on the question“, murrte Heiji. Ihm gefiel Shinichis Reaktion mit jeder Minute weniger, so typisch sie auch war für ihn.

„For how long have you known Superintendent Kudô? And was the young woman, with the long brown hair that we met at the bridge, his girlfriend?“
 

Heiji wandte den Kopf, sah sie nachdenklich an.

„If I count properly, Jenna, you have asked me two questions. Now let me ask you one – how good do you know your partner, Detective Sergeant?”

Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu.

„His name, his age, his history at Scotland Yard. Would there have been more to know…?“
 

Heiji lachte laut auf.

„More?!“

Er strich sich übers Gesicht.

„Girl, you have no idea… but as I don’t want to be called a blabbermouth, go and ask the omniscient.“

Jenna sah ihn an.

„The omniscient?“
 

Der Osakaner grinste breit.

„Well, Google, Jenna. A web research of the name „Shinichi Kudô“ should find you loads of hits. Or buy a copy of today’s Reporter, to get started on this topic. But the first of your questions I will answer myself; Shinichi and I met about ten years ago. And since then we were friends, until that fateful day five years ago. But I wonder…“

Er schaute sich aufmerksam um, sah „The Gherkin“, Londons Essiggürkchen, in den Himmel ragen.

„… whether I might call him my best friend again soon. I do hope so.“
 

Er räusperte sich verhalten.

„Concerning the girl of the bridge – you may ask him this one question.“
 


 

Shinichi unterdessen nahm den Umweg zum London Eye, näherte sich dem Wahrzeichen Londons von der anderen Seite. Er ging langsam, atmete tief ein und aus und versuchte so, wieder Herr über seine Gedanken zu werden; tatsächlich schien gerade das momentan gänzlich unmöglich.

Ran zu sehen hatte ihn so vollständig aus der Bahn geworfen, dass er sich nicht sicher war, ob er heute noch einmal in die Spur zurückfand; Fakt war allerdings auch, dass ihm nichts anderes übrig blieb.

Sie hatten immer noch diesen Fall, und sie hatten ein neues Opfer.
 

Allerdings…

Er erinnerte sich an ihr Gesicht, an den Ausdruck in ihren Augen und fragte sich ernsthaft, was sich in ihm immer noch so standhaft weigerte, ihr einfach zu sagen, was passiert war, warum er gegangen war, und warum sie jetzt nicht zusammen sein konnten.
 

War wirklich dieses dumme silbergraue Haar der Grund?
 

Fakt war nämlich auch, dass genau dieses Haar ihn seit gestern kaum mehr schlafen ließ. Ihm war völlig klar, dass das irgendein Haar sein konnte. Es gab genug Leute mit langen, hellen Haaren, und am Wahrscheinlichsten war es, dass es das Haar der Schneiderin oder Designerin selbst war; aus irgendeinem Grund wollte er das nicht glauben.

Er dachte nur an ihn.
 

Gin.
 

Und in ihm brach die pure Panik los wie eine Herde wildgewordener Gnus vor einer Gerölllawine, ließ ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen.
 

Ran war hier, und Gin vielleicht auch.
 

Die Katastrophe war eingetreten.

Er hob die Hand, wischte sich mit fliegenden Fingern über die schweißnasse Stirn.

Und eigentlich wäre es logisch, zu ihr hinzugehen und ihr genau das zu sagen. Allerdings hatte irgendetwas in ihm auch dieser Konsequenz den Riegel vorgeschoben; er hatte nicht einmal Shiho eingeweiht.

Shiho, die genauso in Gefahr war, wie er es war, wie Ran es war, wenn sie sich wirklich hier herumtrieben, um jetzt endlich diese offene Rechnung zu begleichen.
 

Die Organisation.
 

Er fuhr sich unwirsch durch die Haare.

Sein hehrer Gedanke war gewesen, sie alle, wie Sherlock seinen Watson, wieder außer Landes zu bringen, ohne sie in Angst und Schrecken zu versetzen; aber irgendwie hatte er das dumpfe Gefühl, dass daraus nichts wurde.

Sie waren hier, und machten keine Anstalten, zu gehen.
 

Ein lautes, frustriertes Stöhnen entfloh seinen Lippen.
 

Was müsst ihr auch alle so stur sein?!
 

Er würde die Augen offen halten müssen. Schauen, ob an der Sache was dran war, oder ob er einfach nur Gespenster sah. Und er würde, ob er wollte oder nicht, auch auf Ran ein Auge haben.

Shinichi schluckte hart.
 

Wie er das anstellen wollte, ohne dabei durchzudrehen, wusste er nicht.

Was ihm aber mit Sicherheit klar war, war, dass er keine Ruhe finden würde, wenn er sie nicht in Sicherheit wusste.
 

Wie schnell sich dieses Blatt wenden würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, als er endgültig den Weg zum London Eye einschlug, seine Marke zückte und damit wie Moses das rote Meer die Schar der Besucher vor sich teilte, um zu Heiji und Jenna zu gelangen, die bereits mit dem Betreiber debattierten.
 


 

Ran stand immer noch da wie betäubt.

Sie hörte immer noch seine Stimme in ihrem Kopf, hatte immer noch sein Gesicht vor ihren Augen, merkte, wie ihr immer noch stumm die Tränen über die Wangen liefen und etwas in ihr so unbegreifbar schmerzte, dass sie es nicht artikulieren konnte – und doch glaubte, an diesem Schmerz umkommen zu müssen, irgendwann.
 

Shinichi.
 

Kazuha stand neben ihr. Sie verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust, warf einen Blick in die Runde.

„Also, was machen wir? Den Rückflug buchen?“

„Vergiss es.“

Sonoko starrte die anderen wild entschlossen an.

„Ich lass diesen Westentaschendetektiven keinesfalls ungeschoren davonkommen. Ich will endlich wissen, warum er sich so aufführt.“

Ran warf ihr einen müden Blick zu, schüttelte den Kopf.
 

„Lass ihn.“
 

Damit drehte sie sich um. Ihr ging der Ausdruck in seinen Augen nicht aus dem Sinn.

Überraschung, Angst und Schmerz.

Pure Überforderung mit der Situation.
 

Und da war noch etwas…
 

Sehnsucht.
 

Ein eiskalter Schauer rann ihr über den Rücken.

Sie hatte das Gefühl sofort erkannt – weil es das war, was sie selbst spürte, seit damals. Manchmal mehr, manchmal weniger, aber niemals war dieses Gefühl von ihrer Seite gewichen, wie ein stummer, treuer Begleiter.
 

Sie wusste, wie jemand aussah, der dieses Gefühl empfand, weil es das war, was sie jeden Tag im Spiegel sah.

Und in seinen Augen hatte sie es sofort erkannt.
 

Irgendetwas war faul an der Sache; sie wusste nur nicht was. Hatte sie bisher geglaubt, er wäre aus purem Schuldgefühl oder auch einem gewissen Egozentrismus gegangen, hatte diese kurze Begegnung gereicht, ihre Überzeugung ein wenig ins Wanken zu bringen.

Gleichzeitig brodelte es in ihr. Auch wenn sie ihm seine Worte nicht abkaufte, bis auf den Wunsch, dass sie die Stadt am Besten gleich wieder verließen, fühlte sie sich dennoch verletzt.
 

Es war einfach zu viel; zu viel der Lügen, zu viel der Zurückweisung - zu wenig des Vertrauens in sie.

Nach fünf Jahren schien er immer noch nicht Willens, ihr endlich die ganze Wahrheit zu sagen.

Ran biss sich die Lippen blutig, Enttäuschung brannte in ihrer Brust, ließ ihr die Hitze ins Gesicht steigen, trieb ihr die Tränen in die Augen, und sie schämte sich dafür und war wütend auf sich zugleich, dass sie ihre Emotionen nicht besser unter Kontrolle hatte.

Dass sie immer noch zuließ, dass er einen solchen Einfluss auf sie ausüben konnte.
 

Wer bist du nur geworden, Shinichi…

Ich dachte, ich kenne dich, aber ich werde… einfach nicht mehr schlau aus dir.

Und irgendwie werde ich auch den Gedanken nicht los, dass du immer noch lügst.
 

Immer noch.
 

Sonoko starrte sie an, konnte förmlich sehen, wie sehr seine Worte ihr wehgetan hatten, ein weiteres Mal – und merkte, wie die Wut weiter in ihr kochte, den Siedepunkt schon längst überschritten hatte.

Es erstaunte sie eins ums andere Mal, wie wehrlos Ran war, konfrontierte man sie mit Shinichi Kudô. Sie fragte sich, ob es andersrum genauso war; allerdings hatte sie bisher immer nur diese Seite der Medaille kennen gelernt.
 

Sag, weißt du eigentlich, was du ihr antust, Kudô?

Warum zum Henker machst du das?

Eigentlich dachte ich, du wärst ihr Freund…

Eigentlich dachte ich, sie wäre mehr für dich als nur… eine Freundin.

Momentan behandelst du sie, als wäre sie nicht einmal mehr das.
 

Keinesfalls würde sie ihn ohne eine Erklärung davonkommen lassen. Es wurde Zeit, dass er das Chaos sah, dass er verursachte. Dass er die Scherben, die er hinterließ, auch einmal auflas. Und sich am besten daran schnitt, damit er spürte, was er angerichtet hatte, dieser elendige Egozentriker.

Von ihrem Entschluss sagte sie Ran wohlweislich nichts; stattdessen hakte sie sich bei ihr unter, bedeutete Shiho und Kazuha, ihr zu folgen.
 

„Komm, Süße. Wir gehen erstmal was einkaufen und dann trinken wir Kaffee, das lenkt dich ein wenig ab. Was wir ja eigentlich auch tun wollten, bevor wir diesem Idioten vor die Füße gelaufen sind.“

Damit zog sie Ran mit sich.
 


 

Shinichi hingegen hatte mittlerweile Jenna und Heiji erreicht, und betrat mit ihnen den Tatort. Er war sich der Blicke, die Jenna ihm zuwarf, wohl bewusst; und genauso klar war er sich der ablehnenden Haltung Heijis. Er beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, während er den Leuten der Spurensicherung zuhörte – oder zumindest so tat, als ob.
 

Ich weiß, dass du willst, dass ich mit ihr rede.

Dir sollte allerdings auch klar sein, dass es meine Sache ist, was ich tue und was nicht, was ich wem sage – und was nicht.
 

Er biss sich auf die Lippen. Shinichi wusste, er hatte ihr wehgetan; und er würde büßen dafür, auch das war ihm klar. Das schlechte Gewissen wühlte jetzt schon in ihm, würde ihn heute Nacht sicherlich kein Auge zutun lassen – das, und die Tatsache, dass sie hier war.

Greifbar nah und am Leben.
 

Ran.
 

Er schüttelte den Kopf, hörte sich dann den Bericht der Spurensicherung weiter an, aufmerksamer diesmal, ehe er die Gondel betrat, in der das Opfer auf dem Boden lag.
 

„Sie muss während der Wartungsarbeiten hier abgelegt worden sein.“

Ein Mitarbeiter trat neben ihm, vorsichtig.

„Uns ist niemand aufgefallen, wahrscheinlich hat er sich einen Arbeitsanzug beschafft und sie irgendwie versteckt hier hereingetragen. Die Gondeln werden jede Woche von Sonntag auf montagnachts gewartet; dafür fährt das London Eye langsam eine Runde und je ein Mitarbeiter überprüft eine Gondel. Diese hier wird als letzte gewartet.“

Shinichi blickte auf, wog nachdenklich seinen Kopf.

„Und Ihnen fiel der neue Mitarbeiter nicht auf?“

Der Mann, Shinichi schätzte ihn um die Dreißig, schüttelte den Kopf.

„Hier arbeiten so viele Leute, dass man sich kaum namentlich kennt. Noch dazu wechselt die Belegschaft durch, sodass man sich nicht ewig an einer Position langweilt.“

„Danke.“

Shinichi nickte, dann drehte er sich um, suchte nach Jenna, die die Angestellten befragte, die die Leiche gefunden hatten. Heiji stand etwas abseits, als Verbindungspolizist hatte er hier keine Befugnisse. Shinichi lächelte säuerlich, als er seinen Freund mit missvergnügtem Gesicht und vor der Brust verschränkten Armen wie bestellt und nicht abgeholt warten sah; dann betrat er die Gondel, ließ seinen Blick über das Opfer schweifen.
 

Es handelte sich um ein sehr hübsches, rotblondes, europäisches Mädchen; die Haare schienen naturblond zu sein, daher vermutete er, dass sie Mittel- oder Nordeuropäerin war. Sie trug sie kinnlang.
 

Shinichi biss sich auf die Lippen, versuchte, ruhig zu bleiben.

Natürlich drängte sich ihm der Vergleich zu Shiho auf – allerdings war sie ihr nicht so frappierend ähnlich wie Ayako Kanagawa Ran. Abgesehen waren helle Haare hier nichts Besonderes. So war es einfach.

Dennoch fragte er sich, ob das irgendeinen Zweck verfolgte – ob man damit rechnete, wer auch immer dahinter steckte, dass er sich um diesen Fall kümmern würde.

Wenn ja, dann mussten die Täter ihn kennen, und das konnte eigentlich nur eines bedeuten.

Er schluckte trocken.
 

Die Organisation.
 

Wenn nein – dann war die erste Ähnlichkeit ein frappierender Zufall – und hier sollte er sich nicht weiter wundern. Er war in Großbritannien; hier auf eine Irin zu treffen, die rotblonde Haare hatte, war trotz der Tatsache, dass diese Haarfarbe in Irland zwar häufiger, aber nun auch nicht inflationär vorkam, nicht verwunderlich.
 

Dennoch war das Bild mehr als beunruhigend.

Er wandte sich kurz um, rief einen der Polizisten, die als erste hier eingetroffen waren, zu sich.

„Do we have any facts about her identity? Her name, origin, date of birth?”

„No, unfortunately, we haven’t.“

Der Mann, ein etwas beleibteres Mitglied der Streifenpolizei, schüttelte den Kopf.

„But we are already on track. We have sent her photo to Scotland Yard, they are checking the missing person file records. The time of death…“

„… almost a day ago, I’d suppose.“

Shinichi runzelte die Stirn.

„Almost no blood, just like it has been with the first victim, which could interfere with the rigor mortis. Additionally, no livores mortis, as there is no blood which could cause any.“

Der Polizist nickte. Shinichi bedankte sich kurz, wandte sich dann wieder dem Mädchen zu seinen Füßen zu. Ihre hellen Augen starrten in die Luft, ihre fast weißen Lippen und ihr rotblondes Haar ließen sie ungeheuer zerbrechlich und engelsgleich wirken. Das Kleid war deutlich heller als das vorangegangene, allerdings aus unverkennbar dem gleichen Material und von ähnlichem Design.

Langsam ging er vor dem Opfer in die Knie, zückte sein Notizbuch – und stutzte. Ein merkwürdiger Geruch war ihm in die Nase gestiegen.

Und daran, dass ihm eine eiskalte Gänsehaut den Rücken hinabrieselte, erkannte er, dass er richtig lag mit seiner Vermutung.
 

Kann das denn sein…?!
 

Wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch, ließ seine Augen unruhig über die Menge schweifen, bohrte seinen Blick in die Schatten, suchte…
 

Und fand nichts. Er schluckte hart, merkte, wie seine Atemfrequenz hochgerauscht war, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen und wurde doch auf einmal das Gefühl nicht mehr los, dass er beobachtet wurde.
 

Heiji starrte Shinichi an. Es war offensichtlich, dass ihn gerade etwas erschreckt hatte; er hatte das ruckartige Auffahren genau beobachtet. Auch der Anflug von Panik in seinen Augen sowie sein angespannter Gesichtsausdruck waren dem Detektiv des Westens nicht entgangen.
 

Shinichi schluckte, fuhr sich über die Augen. Kurz sah er Heiji, der ihn mit fragend in die Höhe gezogenen Augenbrauen anschaute, fluchte lautlos in sich hinein.
 

Verdammt, Kudô, du musst dich besser unter Kontrolle haben.
 

Auch Jenna sah ihn beunruhigt an; seine hektischen Bewegungen waren auch ihr nicht entgangen. Shinichi seufzte, machte das Beste daraus und winkte sie her, da sie offenbar aus der Touristengruppe, die sie gerade interviewte, nicht viel herausquetschen hatte können. Da Paul, der zweite Polizist am Tatort, allein zurecht zu kommen schien, bedeutete er ihr mit Blicken, zu ihm zu kommen.

Er winkte sie zu sich herunter, bedeutete ihr, sich der Leiche zu nähern.

„Anything that attracts your attention?“

Jenna hob den Kopf, sah ihn verwundert an.
 

„Is this… it smells like… Gin?“
 

Shinichi merkte, wie ihm erneut dieser eiskalte Schauer über den Rücken lief.

„Gin, indeed. But the smell is not emerging from her mouth. It is her dress. It…“

„…stinks of Gin.“
 

Sie schaute ihn verwirrt an.

„Why?“

Shinichi bemühte sich um eine ahnungslose Miene.

„Do ask me an easier question.“
 

Als er schließlich die Order zum Abtransport der Leiche gab und zu Heiji trat, um ihn kurz zu informieren, war nichts mehr so, wie es noch vor fünfzehn Minuten gewesen war.
 

Das Haar.

Der Gin.
 

Kann das noch Zufall sein?
 

Er versuchte, Heijis bohrendem Blick auszuweichen, dem mit Sicherheit die gleiche Assoziation gekommen war, als er ihm von dem Geruch erzählt hatte. Netterweise stellte der Osakaner keine Fragen, und er wusste, das war nur Jennas Anwesenheit zu schulden. Ihm war das egal, er war froh um jede Minute, um die er dieses Gespräch hinauszögern konnte.
 

Stattdessen setzte er Heiji in einen Polizeiwagen der Spurensicherung, einerseits um mit der Leiche und dem neuen Gemälde, das sie neben der Toten gefunden hatten, zurück ins Revier zu fahren, andererseits, um sich mit den Eltern des japanischen Mädchens zu treffen; die beiden waren heute Morgen nicht in der Lage gewesen, sich einer Identifikation ihrer Tochter auszusetzen, deshalb hatte man den Termin verschoben. Er selbst wollte mit Jenna an den Gerichtshof fahren. Es wurde Zeit, nach dem Maler zu fahnden, und dafür brauchten sie einen Durchsuchungsbefehl. Von der Spurensicherung hatte er die Fotos von dem neuen Kleid und dem neuen Bild, in seiner Mappe die alten Unterlagen; er hatte vor, Jenna den Campus absuchen zu lassen und die ahnungslosen Modedesignstudenten nach ihrer Arbeit zu fragen, sie sich zeigen zu lassen, unter irgendeinem Deckmantel – er dachte an einen Straßenmodenscout oder eine Inszenierung für irgendein Hinterhoftheater - bis sie den Durchsuchungsbefehl haben würden.
 

Jenna lief wortlos neben ihm her, als er mit ihr den Weg zu seinem Wagen einschlug, völlig in seinen Gedanken versunken, und so erst zu spät merkte, wie eine junge Frau ihm den Weg vertrat. Er blieb stehen, kurz bevor er mit ihr zusammenstieß, wollte sich gerade halbherzig murmelnd entschuldigen und weitergehen, als er bemerkte, wer es war.

Und er ahnte, dass sich diese Frau nicht mit einer unpersönlichen Entschuldigung würde abwimmeln lassen.
 

„Miss Shelley, if I am not mistaken?“
 

Er straffte die Schultern, versuchte gleichzeitig entschlossen und nicht allzu offensichtlich angespannt auszusehen, verkniff sich das säuerliche Grinsen mit Mühe. Die hatte ihm gerade noch gefehlt, auch wenn er fast schon auf sie gewartet hatte. Es überraschte ihn fast, dass sie ihm erst jetzt auflauerte, er hätte wetten können, dass sie ihr schon an der Kunstuniversität begegnen würden.
 

„You are not. It is really nice of you that you remember my name.“

“How could I dare not to remember? I’d be a poor police officer.”

Er schluckte hart, gab sich betont sachlich, wandte sich dann zu Jenna, schaute sie eindringlich an.

„Detective Sergeant Watson, this is Miss Shelley from the Reporter. She was so kind as to provide us with the advert that our first victim has responded to.”

Jenna erwiderte seinen Blick, konnte die Botschaft in seinen Augen nur allzu deutlich lesen.
 

Not one single word about the case to her.
 

Und so lächelte die junge Polizistin nur unverbindlich.

„Hallo. Nice to meet you.”

Die junge Reporterin, die von einem pickelgesichtigen, sommersprossigen Jugendlichen begleitet wurde, der ihre Ausrüstung trug, grinste sie schmal an, ehe sie sich wieder dem Fisch zuwandte, den sie ganz offenbar fangen wollte.

„Did you read our newspaper today?“, fragte sie lauernd, lächelte immer noch.

“I did.”

Shinichi ließ nicht den Hauch einer emotionalen Färbung in seiner Stimme zu, passend zu dem absolut glatten und gefühlsfreien Pokerface, das er aufgesetzt hatte und grinste innerlich, als er merkte, wie er sie mit dieser Gleichgültigkeit aus der Fassung brachte.

„Did you like it?“

Er zuckte mit den Schultern.

„It’s nothing new, is it? It’s my past. Take it for granted, I’m accustomed to it. Besides, it was in the internet for ages, everyone could read it, if he or she wanted. It was written colorfully, nice choice of words, I guess I should feel flattered…”

Ein sehr seichtes Lächeln glitt über seine Lippen.

“But I take it, that’s not the only reason you are tracking me, Miss Shelley.”

“Ah.”

Sie hob die Hand, strich sich kokett eine ihrer weißblonden Strähnen hinters Ohr, klimperte ihn mit sorgsamst getuschten Wimpern an.

„Don’t call me Miss Shelley. My name is Victoria. Call me Vicky.”

Shinichi lächelte immer noch sachlich, verzog keine Miene, als er antwortete.

„Ah, no. I think, I’d rather prefer Miss Shelley, that’s more of a professional behavior, and you know – I am a professional. “

Jenna grinste in sich hinein, konnte genau sehen, wie ein Ausdruck ausgenommenen Missvergnügens über das perfekt geschminkte Gesicht der Reporterin huschte, als ihr Versuch, ihr Opfer zu bezirzen, so formvollendet gescheitert war. Das war definitiv nicht so gelaufen, wie geplant.

Und die Retourkutsche kam prompt.
 

„No. In fact, I saw you leaving the academy and followed you. This…”

Sie deutete auf den Tatort hinter ihnen.

„… was not to be overseen. So we have another victim? “

Shinichi bemühte sich, immer noch keine Gefühlsregung zu zeigen. Er hatte die Frage kommen sehen – dennoch war die Antwort darauf nicht leicht. Das hieß, die Antwort an sich schon – sie damit abzuspeisen und loszuwerden allerdings nicht.

„I am not authorized to give any information to the press, except in a prepared press conference. Besides, I do not give any exclusive info to anyone.”

Er lächelte immer noch, merkte dennoch, wie er zunehmend verspannte. Wenn sie sie seit vorhin schon verfolgte – hatte sie dann auch… hatte sie…?

„Ah, come on!“

Ihre unwillige, auf einmal scharf und ganz und gar nicht mehr schmeichelhaft klingende Stimme drang an sein Ohr, penetrant und bohrend wie das Geräusch des Handwerksgerät eines Zahnarztes. Shinichi versuchte, nicht seine Mine zu verziehen.

„It’s fucking obvious! You were there! This liaison guy as well! Masses of crime scene investigators fenced off that space, the Wheel stood still for almost two hours – there must have been another victim and you do know about it!”

Shinichi schaute sie immer noch stur an, war während ihres Ausbruchs nicht zurückgewichen.

„If you want to gather information, contact the press department of Scotland Yard, please. And if you have no further things to say or ask, I’d rather go and do my work, if that’s okay with you.”
 

Damit ließ er sie stehen, bekam nur im Augenwinkel mit, wie sie entrüstet nach Luftschnappte, schluckte trocken. Jenna neben ihm holte schnell auf, warf ihm einen zweifelnden Blick zu.

„Do you think this was a good idea, Sir?”

“No.“

Er hob die Hand, wischte sich übers Gesicht, riskierte einen kurzen Blick über die Schulter und erkannte, dass sie immer noch da stand, mit säuerlichem Gesichtsausdruck und heftig mit ihrem Assistenten diskutierend.

„No, most certainly not. But what else could I have done? Tell her what we had to discover? This would be, first of all, unprofessional and could get me in big trouble with Montgomery, and, moreover, not at all good for our researches, as we would have never got her shaken off our tails. Now we have to be prepared that they won’t write as nice about me as they did today and they probably will accuse the Yard of being stubborn and uncooperative towards the press, and, let’s face the truth – that’s what they call us every second case.”

Er lächelte bitter.

“We can deal with that. And with the first issue I have to deal myself. I just hope she was not present when this… incident… on the bridge happened.”

Jenna schaute ihn fragend an. Er warf ihr einen Blick zu, schüttelte den Kopf.

„Not now, Jenna. Besides… that was completely private.“

Damit schien für ihn die Sache erledigt – und für Jenna musste sie es damit auch sein, vorerst. Sie bedachte ihn nur mit einem letzten, nachdenklichen Blick, ehe sie sich von ihm erklären ließ, mit was er sie den Nachmittag über zu beschäftigen gedachte.
 

Die Mädchen hatten unterdessen ihr neues Ziel erreicht – und waren überwältigt. Zumindest alle, bis auf Sonoko, für die das Nobelkaufhaus schlicht und ergreifend nichts Neues war.
 

Ran, Shiho und Kazuha standen vor der ägyptischen Treppe im Kaufhaus Harrods, alle dicht um Sonoko geschart, überwältigt von so viel Glanz und Prachtentfaltung.
 

Kazuha schaute sich um, drehte sich einmal um die eigene Achse.

„Gütiger Himmel, habt ihr die Preise gesehen? Und hier wollt ihr Kaffee trinken?“

„Klar.“

Sonoko schaute sie gelangweilt an. „Ich lade euch ein, ehrlich, kein Thema. Aber wenn man in London is, muss man mal bei Harrods gewesen sein. Und wir trinken keinen Kaffee, wir nehmen unseren Afternoon Tea. Da es jetzt allerdings noch nicht ganz Afternoon ist…“

Sie drückte Kazuha eine ihrer Kreditkarten in die Hand.

„…schlage ich vor, wir machen den Laden erst mal unsicher und treffen uns in anderthalb Stunden oben im Café. Damit wir nicht zu viert rumhängen, teilen wir uns auf. Ran, du mit deinem sicheren Gespür für den richtigen modischen Chic gehst mit Kazuha, ich nehme mich dieser armen, schlecht gekleideten Kreatur an.“

Damit zerrte sie die rotblonde Forscherin mit sich, ließ eine verdutzt dreinblickende Ran und eine auf ihrer Zunge kauenden Kazuha zurück.
 

„Was willst du denn?“, zischte Shiho, als sie außer Hörweite waren.

„Ich will wissen, was da läuft.“

Sonoko schaute sie kampfeslustig an.

„Was läuft?“

„Ja!“

Die Blondine nickte.

„Ich will wissen, warum dieser Idiot damals so sang- und klanglos verschwunden is. Und ich will wissen, ob da was mit dieser rothaarigen Hexe läuft, die ihm da heute nachgelaufen ist. Wenn er – ich sag’s dir, wenn er – wenn er Ran einfach so…“
 

Jetzt erst verstand Shiho, worauf Sonoko rauswollte.

„Du willst Kudô hinterher? Den findest du nie!“

„Doch, natürlich. Die sind zum London Eye. Das sind mit dem Taxi zehn Minuten.“

„Shinichi arbeitet da!“

„Vielleicht schon nicht mehr. Oder gerade nicht mehr. Einen Versuch ist es wert. Keine Widerrede!“

Damit zog sie sie aus dem Laden hinaus auf die Brompton Road, winkte sich entschlossen ein Taxi heran. Shiho ließ sich widerwillig mitziehen; und fragte sich, warum ausgerechnet sie zur unfreiwilligen Komplizin wurde – andererseits überraschte sie es auch wiederum nicht. Sonoko wollte nicht alleine gehen, sondern ihm zahlenmäßig überlegen sein; Ran schied von vorneherein kategorisch aus und Kazuha war keine große Hilfe.
 

Ran hingegen kam sich ziemlich verloren vor. Kazuha starrte auf die goldfunkelnde Kreditkarte in ihren Händen.

„Meint se damit, dass ich schlecht angezogen bin?“

„Ha?“

Ran drehte sich um.

„Was? Nein.“

Sie lachte beschwichtigend.

„Sonoko ist manchmal so, sie meint es aber nicht böse. Aber gut, wo wir schon mal hier sind, können wir uns ja ein bisschen umsehen, und vielleicht ein paar Souvenirs im Souvenirshop…“

„Quatsch!“

Kazuha griff Ran fest an der Hand.

„Sonoko hat uns die hier gegeben.“

Sie wedelte mit der Karte vor Rans Nase.

„Also geben wir damit jetzt auch tüchtig Geld aus!“
 

Damit zerrte sie sie hinter sich her zu den Lifts, fuhr mit ihr in die Damenbekleidungsabteilung, ein diabolisches Grinsen auf ihren Lippen.
 


 

Nur ein paar Abteilungen weiter ließ sich Yukiko Kudô gerade von einer zuvorkommenden Angestellten aus der Jacke, die sie gerade anprobiert hatte, helfen, als sie eine entfernt bekannte Stimme hörte. Sie drehte sich um, und tatsächlich – da war sie. Eine junge Frau mit Pferdeschwanz, die enthusiastisch durch den Laden eilte.

Sie stutzte überrascht, winkte Yusaku heran.

„Schau mal. Ich bin mir nicht sicher, es ist fünf Jahre her, aber ist das nicht Kazuha? Ist Heiji vielleicht auch hier? Shinichi…“

Dann sah sie die Person, die hinter ihr um die Ecke bog, offensichtlich den Sichtkontakt zu ihrer Freundin verloren hatte und ratlos suchend stehen blieb.

Und genau dieser Anblick ließ sie alles vergessen, was sie hatte sagen wollen. Yukiko wurde bleich, merkte, wie ihre Knie nachgaben. Haltsuchend klammerte sie sich an Yusakus Arm fest, der sich langsam in Bewegung setzte. Seine Augen fixierten den Rücken der brünetten Frau, die forschend ihre Blicke durch den Raum schweifen ließ, sich für einen besseren Überblick auf die Zehenspitzen stellte, auf der Suche nach Kazuha, die in einem Wald aus bildhübschen Chanel-Jacken verschwunden war.

Er räusperte sich, streckte eine Hand aus, berührte sie sacht an der Schulter.
 

„R-Ran?“
 

Ran drehte sich um, erstarrte. Ihre Augen weiteten sich freudig überrascht, als sie erkannte, wer vor ihr stand, und doch brauchte sie einen Moment, um etwas zu sagen – ihr Mund war schlagartig trocken geworden, mühsam schluckte sie, räusperte sich.

„Herr- Herr Kudô!“

Langsam erblühte ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen.

„Was- was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen! Wie geht es Ihnen?“

Yusaku merkte, wie ihm der Schweiß ausgebrochen war, ehe sich sein Schnauzbart zu einem sanften Lächeln verzog, er es schaffte, langsam zu nicken. Er wähnte sich fast einer fata morgana gegenüber, suchte nach den richtigen Worten, ein ungewohnter Zustand für ihn.
 

„Du sagst es, Ran. Was für eine Überraschung.“
 

Wenn Shinichi das erfährt…
 

Die junge Frau schaute ihn ob des heiseren Klangs seiner Stimme verwirrt an, bemerkte dann den Zustand seiner Frau. Über Yukikos Wangen rann eine Träne.

„Frau Kudô!“

Bestürzt schaute sie Shinichis Mutter an.

„Was… was ist denn?“

Yukiko hob den Blick schüttelte nur entschuldigend den Kopf und versuchte, sich die Tränen aus den Augen zu wischen, schniefte, versuchte gleichzeitig ein Lächeln und versagte kläglich – dann schritt sie auf sie zu, zog die verdutzte Ran in ihre Arme. Ran erstarrte unwillkürlich, in ihren Augen pure Verständnislosigkeit.

Yusaku räusperte sich.

„Yuki.“

Seine Frau schluckte, griff das Taschentuch, das ihr Gatte ihr reichte und tupfte sich die Tränen aus dem Gesicht, fasste sich wieder.

„Tja, Ran, ich denke, ich… bin dir eine Erklärung schuldig. Möchtet ihr… möchtet ihr nicht mit uns ins Café gehen?“

Ran nickte verwirrt, winkte Kazuha zu sich, die gerade mit verblüfften Gesichtsausdruck auf die Kudôs zuschritt.
 

Stumm folgten sie dem Ehepaar Kudô in die oberste Etage. Es wunderte sie nicht, dass die beiden genau wussten, wo es langging; ähnlich wie Sonoko waren sie bestimmt schon öfter in London gewesen, und dank ihres Vermögens bestimmt schon oft genug in diesem Kaufhaus der Superlative gewesen.

Yusaku führte sie in eine etwas abgelegene Ecke des feudal eingerichteten Kaffeehauses. Sie setzten sich, bewunderten stumm die Einrichtung – elegante Holztische und Stühle, chrom- und messingblitzende Servierwagen, Kronleuchter an der Decke, Spiegel und Gemälde an den fein tapezierten Wänden - und schwiegen, bis eine in schwarz und weiß gekleidete Bedienung ihre Bestellung aufgenommen hatte. Ran atmete tief ein und aus, roch den Duft der Rosen auf dem Tisch, des Kaffees, der ständig frisch aufgebrüht wurde, und musterte die beiden Eheleute neugierig. Zu ihrer Überraschung musste feststellen, dass sie sie nur schwer einschätzen konnte, was die Ursache für ihr Verhalten ihr gegenüber betraf. Einerseits schienen sie wie immer. Frau Kudô war immer noch eine ausgesprochen schöne Erscheinung, und Shinichis Vater sah eigentlich genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

Der Ausdruck in ihren Augen jedoch kam ihr gänzlich unbekannt vor.
 

Das erste, was ihr an Shinichis Vater aufgefallen war, als sie ihn kennengelernt hatte, damals, als kleines Mädchen, und was ihr seither als auffallendstes Merkmal und größte Gemeinsamkeit mit seinem Sohn im Gedächtnis geblieben war, war der wache, vor Intelligenz sprühende Ausdruck seiner blauen Augen gewesen. Ähnlich wie in Shinichis Augen lag auch in ihnen immer eine gewisse Neugier auf die Welt – und ähnlich wie aus Shinichis Augen schien sie auch aus den Augen seines Vaters verschwunden zu sein. Stattdessen hatte sich Sorge in ihnen breitgemacht, und ein stummer Ernst, der ihn die Welt nun mit buchstäblich anderen Augen sehen ließ.

Yukikos Augen glänzten immer noch leicht glasig, allerdings hatte sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Sie konnte ihren Blick kaum von Ran abwenden, was selbige sich etwas unruhig auf dem weichen Polster der Sitzbank bewegen ließ, auf der sie Platz genommen hatte.
 

Yukiko merkte es, lächelte entschuldigend.

„Verzeih, Ran, ich bin unhöflich. Ich… freue mich nur, dich zu sehen. Um ehrlich zu sein… hatte ich nicht gedacht, dass…“

Sie brach ab.

Ran schaute von einem zum anderen.

„Was ist los…?“, fragte sie dann leise.

„Ich… ich freue mich doch auch, Sie zu sehen. Aber…“

Sie schluckte, knetete ihre Hände.

„Offengestanden machen Sie mir ein wenig Angst. Ich weiß, wir haben uns lange nicht gesehen, aber…“

Sie brach ab, als sie Yusakus trauriges Lächeln bemerkte, wollte gerade ansetzen, als die Kellnerin ihnen ihre Getränke brachte.
 

„Ich fürchte, das zu erklären ist nicht ganz einfach, Ran.“, setzte er dann an, sobald die junge Britin außer Hörweite war.

„Was meine Frau sagen will, … und warum… wir wirklich so überrascht sind, dich zu sehen ist… dass wir bisher dachten, dass du…“

Er holte Luft, sah so aus, als ob er etwas sagen wollte; schüttelte dann den Kopf.

„Nein. Das sollte nicht ich dir sagen.“

Der Schriftsteller schluckte, spülte den faden Geschmack, der sich in seinem Mund ausgebreitet hatte, mit einem Schluck Earl Grey weg, sortierte sich.
 

„Wir freuen uns, dich zu sehen. Du… warst sehr schwer verletzt, und… Shinichi hat diese Sache damals ungeheuer mitgenommen. Dich… jetzt bei guter Gesundheit zu sehen, das…“

Er lächelte sie warm an.

„… ist ein Geschenk, Ran.“

Ran zog die Augenbrauen hoch. Das war eigentlich die Gelegenheit, einmal nachzufragen, wenn die beiden schon von selbst anfingen.

„Was ist mit Shinichi? Warum ist er einfach gegangen? Ich…“

Ihre Stimme zitterte.

„Bitte lachen Sie mich nicht aus, aber ich… ich dachte, er liebt… liebt mich und dann… dann lässt er mich allein…? Ich war verletzt, und er geht einfach… ohne ein Wort, zu niemandem… ich hab mich nicht einmal getraut, anzurufen. Heiji hat… Sie doch angerufen, und Sie haben ihm gesagt, er soll nicht mehr anrufen, Shinichi wäre nicht zu sprechen…

Ich…“

Sie unterbrach sich selbst, versuchte, wieder strukturiert zu denken.

„Er schien nicht… sehr glücklich, mich zu sehen, vorhin, und…“
 

Yusaku schaute sie perplex an.

„Was – ihr habt euch schon getroffen?“

Ran nickte unglücklich. Kazuha drückte ihre Hand, seufzte leise.

„Er war mit Heiji auf dem Weg zu einem Tatort. Und ja… es stimmt wohl, was Ran sagt, sonderlich begeistert war ihr Sohn nich‘, hat uns ziemlich fix abserviert, aber gut, sie schienen in Eile zu sein, so ne junge Polizistin war uch dabei... Aber um ehrlich zu sein, versteh’n wir ihn alle nich‘ mehr…“
 

Er weiß es also…
 

Yukiko schluckte, nippte an ihrem Tee, warf ihrem Mann einen unsicheren Blick zu.

„Warum?“, fragte Ran leise.

„Warum ist er einfach gegangen, warum verhält er sich so, es kann doch nicht sein, dass sie immer noch der Grund sind. Er wäre doch nie ohne eine Meldung gegangen, nicht nachdem…“

Ihr drängender Blick wanderte von seiner Mutter zu seinem Vater und wieder zurück.

„Das sollte wirklich er dir sagen. Ich kann dir nur versichern, dass er das tat. Er liebte dich. Tut es noch, das weiß ich sicher. “

Ihre Stimme klang rau, als die Erinnerungen an diesen Abend sie einholten. Sie strich sich über die Augen, verschmierte dabei ihr Mascara ein wenig.

„Allerdings hat ihn die Geschichte damals sehr aus der Bahn geworfen. Er brauchte seine Ruhe und er… tat sich schwer damit, euch zu begegnen, danach. Dass du so schwer verletzt wurdest wegen ihm, in Lebensgefahr schwebtest, wegen ihm… das konnte er nicht einfach so stehen lassen. Und nachdem… immer noch ein kleiner Rest dieser Organisation herumläuft, zog er es vor, zu euer aller Sicherheit, sich aus dem Verkehr zu ziehen.“
 

„Und zwar gründlich“, ergänzte Yusaku, nicht ohne einen Anflug von Ärger in seiner Stimme. Yukiko nickte langsam; sie war immer noch blass, ihre Hände bebten, als sie ihre Teetasse erneut anhob und an ihre Lippen setzte.

Ran hingegen horchte auf.

„Aber warum ohne ein Wort, ohne eine Erklärung? Warum… das ist doch gar nicht typisch für ihn, selbst als er Conan war, hat er sich gemeldet, auch wenn er dafür… geschauspielert und gelogen hat.“

Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, als sie daran dachte.

Er hatte ihr das nie erklärt. Es ihr nie selbst erzählt.
 

„Das sollte er dir wirklich selbst sagen, Ran.“

Yukiko lächelte traurig, drückte kurz ihre Finger, wie als ob sie sich noch einmal überzeugen müsste, dass sie tatsächlich kein Trugbild war. Ran erschauderte kurz bei der Berührung; die Finger der Schauspielerin waren fast geisterhaft kühl.

„Shinichi hat darüber kaum gesprochen. Als er ankam, in dieser Nacht, stand er unter Schock. Wir wissen grob, was in dieser Gasse abgelaufen ist, dass man euch aufgelauert hatte, dass du verletzt wurdest. Dass drei von ihnen mindestens entkommen sind, das alles haben wir nach und nach aus ihm herausgequetscht. Er war wohl auch noch im Krankenhaus, mit dir…“

Yusaku hielt inne.

„Meguré hat ihn uns gebracht. Und wir sind mit ihm am nächsten Tag in die USA gereist. Er sagte, er hielte es in Tokio nicht mehr aus. Er hat sich von keinem verabschiedet, und kaum irgendwelche Sachen gepackt. Und ein paar Monate später ist er nach England gegangen, allein.“

Der Schriftsteller fuhr sich mit seinen Fingerspitzen durch den Bart, immer wieder, seufzte still.

„Uns war das nicht Recht. Andererseits hofften wir, ihm würde die Luftveränderung guttun, und seien wir ehrlich, du kennst ihn genauso gut wie wir, wahrscheinlich sogar besser – er hätte sich eh nicht aufhalten lassen. Er wäre mit und ohne unser Einverständnis gegangen. Auch wenn wir besorgt waren, er war gerade erst durch mit…“

Ran schaute ihn fragend an.
 

„Durch mit was?“
 

Yukiko seufzte, schaute ihren Mann unbehaglich an. Ihr Blick wanderte zurück zu Ran, sah ihr besorgtes Gesicht, lächelte matt.
 

„Darüber mit uns zu reden fiel ihm sehr schwer, Ran. Du kannst es dir vorstellen, sie… waren ja nicht eben seine Freunde, er hatte den Deckmantel, unter dem sie arbeiteten, in Brand gesetzt, entsprechend… unangenehm war sein Aufenthalt dort.“

Ran merkte, wie die Wärme ihren Körper verließ, langsam von ihrem Kopf in ihre Füße und von dort nach draußen rann.

Daran, dass ihm dort mehr zugestoßen sein konnte als die Rückverwandlung, hatte sie zwar gedacht- aber als sie ihn gesehen hatte, an dem Abend, schien er körperlich weitgehend unversehrt, deshalb hatte sie den Gedanken nicht weiterverfolgt.

Jetzt im Nachhinein hätte sie sich für ihre Naivität fast ohrfeigen können. Sie hatte es doch gespürt.

Dass da etwas geschehen war, dort drin, mit ihm.

Eigentlich hatte sie es heute auch sehen können.
 

„Was…“, fing sie tonlos an zu flüstern, in ihren Augen ein Blick bangen Entsetzens.

Yukiko hielt ihm nicht stand, blickte zur Seite. Yusaku schaute Ran lange an, ehe er wohlbedacht antwortete.

„Wie gesagt… es fiel ihm schon schwer, uns das zu erklären, ich… will sein Vertrauen nicht missbrauchen, Ran. Es ging ihm ziemlich schlecht, mehr musst du nicht wissen, denke ich.“

„Aber!“, begann Ran, der Ausdruck in ihren Augen wurde zunehmend bohrender, ihre Stimme zitterte hörbar. Sie war blass geworden, griff unwillkürlich nach Yusakus Handgelenk, ließ sie los, als sie merkte, was sie da eigentlich tat. Der Schriftsteller schaute sie betrübt an.

Er konnte sehen, wie sich in ihrem Kopf die Gedanken jagten, sich überschlugen, als sie sie ihr ein Horrorszenario nach dem anderen vor Augen führten, eine Angst nach der anderen illustrierten – Dinge, an die sie nicht gedachte hatte, bisher, weil er es immer überspielte, immer versteckt hatte, immer.

Auch an jenem Abend noch.

Zuerst hatten sie das damals auch gedacht - dass es nur das gewesen war.

Die offensichtlichen Verletzungen, die Strapazen der Umkehrung dieses Gifts und ein Schock, der sich kaum lösen wollte.

Ran war tot.

Das hatte er ihnen gesagt, und sie hatten geglaubt zu wissen, was das für ihn bedeutete.

Sie hatten Angst gehabt, ja. Dennoch hatten sie verstanden, dass er allein sein wollte, als er in sein Zimmer schlich, die Tür hinter sich zustieß.
 

Sie waren erst so wirklich unruhig geworden, als er nach Stunden immer noch nicht zurückgekommen war, Mitternacht gekommen und gegangen war und er sein Zimmer nicht einmal verlassen hatte für einen Schluck Wasser oder eine Dusche.

Zögernd waren sie hochgegangen, sie wollten ihn in seiner Trauer ja nicht stören –

stattdessen fanden sie ihn in einem ganz anderen Zustand vor, als sie sich mit Gewalt Zugang verschafft hatten, als er auf alles Bitten, Rufen und Drohen nicht reagiert hatte.
 

Der Anblick, den er ihnen bot, auf dem Boden liegend, zitternd und schwitzend gleichzeitig, ausgeklinkt aus dieser Welt, empfänglich für nichts und niemanden, hatte sich eingebrannt in ihr Gedächtnis - auf ewig.

Sie waren mit ihm in die Staaten geflogen, am frühen Morgen, im Privatjet seines Verlegers, als Ai ihnen mehr oder minder bestätigt hatte, was es sein könnte. Ihnen war klar gewesen, dass die Presse ihn hier zerreißen würde, dass sie die Geschichte bis zum Exzess ausschlachten würden, dass man nicht geheimhalten können würde, wie es um ihn stand - deshalb entschieden sie sich dafür.

Yusaku schluckte hart.

Er erinnerte sich an die Wochen, die Shinichi reglos im Bett verbracht hatte, weil er viel zu fertig war, um irgendetwas anderes zu tun als da zu liegen und zu atmen – und um stumm seinen Groll gegen die Welt und sich selbst zu füttern und es zuließ, dass er ihn von innen heraus zerstörte, wie ein fauliges Geschwür.

Wochenlang schien er keine Anstalten machen zu wollen, sich selbst wieder in den Griff zu kriegen und alles, was er wollte, war so gern einfach vergessen, gerade in den ersten Tagen…

Um jeden Preis vergessen.
 

Wirklich jeden Preis.
 

„Das kann doch nicht wahr sein… ich habs doch so oft geträumt, es war nie wahr, bitte sag mir, dass es auch jetzt nicht wahr ist, bitte…“

Yusaku starrte ihn an, wagte nicht, ihn anzufassen. Schweiß perlte ihm von der Stirn, alle viere von sich gestreckt lag er auf dem Bett, starrte blicklos an die Decke.

„Was, wenn ich jetzt auch nur träume, und…“

„Shinichi…“

Seine Stimme klang rau.

„Du träumst nicht. Jetzt nicht. Das weißt du…“

Shinichi legte sich müde seinen Handrücken auf die Stirn, schloss die Augen. Seine Züge verzerrten sich, als die Wahrheit ihn einmal mehr überrannte, von ihm nichts weiter übrig ließ als ein niedergetrampeltes Häuflein Elend.
 

„Ich will sie wiedersehen… ich will sie wiedersehen, warum kann ich sie nicht… ich halt das nicht aus, das geht nicht, ich will…“

Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell und ruckartig, unwirsch kniff er die Augen zusammen, wandte sich ihm dann zu.

„Hilf mir doch, bitte…“

„Was soll ich denn tun, Shinichi…“
 

Shinichi drehte den Kopf wieder weg, atmete stockend aus. Yusaku presste die Lippen aufeinander, ballte die Fäuste, so fest, dass sich seine Fingernägel ins Fleisch seiner Handballen bohrten, als er den Blick bemerkte, der sich in die Augen seines Sohns geschlichen hatte. Und niemals, in seinem ganzen Leben nicht, hatte er sich hilfloser gefühlt.
 

„Du willst dieses Zeug haben, nicht wahr…?“
 

Shinichi zuckte ertappt zusammen, hatte er doch nicht gemerkt, wie die Tür auf und wieder zugegangen war, als seine Mutter eingetreten war.

„Das hab ich nicht gesagt. Du weißt…“, wisperte er heiser. Yusaku schüttelte den Kopf, blickte kurz zu seiner Frau auf, die sich auf Shinichis Bettkante niederließ.

„Du bist suchtkrank, Shinichi. Und wenn du diese Zeug nähmst, dann würdest du sie wiedersehen, und es würde dir so unfassbar real vorkommen. Du würdest glauben, dass das alles nicht passiert ist, dass Ran noch lebt… das ist es doch, was du willst…“

In Yukikos Stimme hatte sich eine gewisse Schärfe geschlichen.

„Ich…“

Die Schauspielerin griff seine Hand – Shinichi entzog sie ihr, unwillig, wandte sich von ihnen ab. Yukiko seufzte, strich sich müde über die Augen.

„Gibs doch wenigstens zu… das ist es doch, was du willst. Dich verabschieden von dieser Welt, zurück in dein kleines Paradies, und nicht zurückkehren, am Besten.“
 

Ihr Sohn setzte sich auf, schaute sie stur an.

„Und was, wenn ja? Kann mans mir verübeln?“
 

Patzig klang seine Stimme, er atmete stockend aus.

„Ich ertrag das nicht. Ich...“ Ihm schwindelte.

„Was nutzt mir denn dieses Leben noch, alles wofür ich gekämpft habe, ist fort, und ich bin schuld daran… ich bin selbst schuld…“

„Shinichi, das stimmt nicht. Das weißt du! Das waren Verbrecher, sie…“

„Ich hab sie da reingeritten. Versucht nicht, mir etwas anderes zu erzählen, ihr wisst, dass es stimmt. Ihr wisst es... es war meine Dummheit. Ganz allein.“

Er hatte sie unterbrochen, hielt sich mit zitternden Fingern die Stirn.

„Sie fehlt mir, sie fehlt mir so sehr, ich… alles was ich wollte, war doch, dass sie lebt, vielleicht, dass wir… eines Tages zusammen sein können, und was ist daraus geworden? Wegen mir ist sie tot, sie… ist gestorben, und ich bin hier und… lebe…“

Shinichi spukte das Wort fast aus.

„Ich kann nicht mehr, ich vermisse sie, sie… ich…“

Er hörte auf, als er merkte, wie rau seine Stimme wurde, wie ihn die Schuld und die Trauer buchstäblich abwürgten. Er schnappte nach Luft, fühlte dieses unerträgliche Gewicht auf seiner Brust, unter dem sein Herz langsam aber sicher zerquetscht wurde, so schnell es auch schlug, um diesem Schicksal zu entgehen.

Und es tat weh.

Langsam sank er zurück, hielt sich den Kopf, als der einsetzende Kopfschmerz immer heftiger wurde. Leise stöhnte er auf, versuchte sich die Schläfen zu massieren und merkte doch, wie zwecklos das war, weil ihm jegliches Gefühl in den Fingern fehlte. Yusaku griff ihn am Handgelenk an, fühlte seinen Puls; er raste, und er ahnte, seinem Sohn schlug das Herz bis zum Hals.

Es zerriss ihn fast.
 

„Was soll ich denn ohne sie… ist der Wunsch, sie noch einmal zu sehen, denn so verwerflich… noch einmal ihre Stimme hören, noch einmal in ihre Augen sehen und… und hoffen, dass der Traum nicht aufhört, diesmal… einfach nicht aufhört…“
 

Seine Stimme ebbte ab, sein Blick verlor sich. Yusaku schluckte, wusste, dass jedes Wort jetzt umsonst war. Shinichi war abgedriftet in einen weiteren Fiebertraum, der allerdings nichts Erfreuliches für ihn bereithalten würde.

Er warf Yukiko einen betrübten Blick zu. Seiner Frau rannen stumm die Tränen über die Wangen.
 

„Man hatte ihn zum Reden bringen wollen, Ran, darauf hatte er es ja auch angelegt, als er die Sache ins Rollen brachte… vorgehabt, etwas zu sagen, tatsächlich, hatte er nie, und er tat es auch nicht. Deshalb… holten sie ja dich.“

Yusaku schaute sie betrübt an. Offenbar hatte sie ihn in einem Zustand erlebt, in dem von den Auswirkungen der Droge nichts zu sehen gewesen war – und er würde den Teufel tun und ihr verraten, was Shinichi tatsächlich hatte ertragen müssen.

Sein Sohn, dessen war er sich sicher, würde ihm das nämlich nie verzeihen.

„Du weißt doch, wie die Flucht lief, was passierte. Er blieb mit dir in der Gasse zurück, konnte diese Leute nicht aufhalten, und auch dem FBI und der Polizei gingen sie durch die Lappen. Also wollte er alle Brücken abbrechen und jeden von sich fernhalten – und als er einigermaßen wieder auf den Beinen war, zog er die letzte Konsequenz und kam hierher. Seit fast fünf Jahren ist er nun hier.“
 

Ran öffnete den Mund, wollte einhaken, aber Yusaku schüttelte entschlossen den Kopf.

„Nein, Ran, mehr kriegst du nicht raus aus mir. Das ist seine Sache, er wird es dir erzählen, wenn er das will. Ich will ihm die Entscheidung da nicht aus der Hand nehmen.“

Er räusperte sich kurz.

„Um ehrlich zu sein, seit damals haben wir ihn auch nicht mehr gesehen. Wir telefonieren, aber er besucht uns nicht, vergräbt sich in seine Arbeit, nimmt keinen Tag Urlaub. Hält sich beschäftigt, weil das wohl das einzige ist, das ihn funktionieren lässt.“
 

Yukiko lehnte sich zurück, betrachtete besorgt die junge Frau, die ihr gegenüber saß. Rans Teint war weiß wie das Leinentischtuch der Harrodschen Kaffeetische geworden.

„Und weil wir dachten… dass es jetzt einmal genug sein muss mit dieser… selbst auferlegten Strafe, sind wir hier. Und ich würde sagen…“

Ein entschlossener Ton trat in ihre Stimme, ein kampflustiges Funkeln in ihre Augen, das ihren Mann aufschrecken ließ.
 

Yukiko, was hast du vor?
 

„… du begleitest uns. Heute Abend. Und lässt dir die Geschichte von ihm erzählen.“
 


 

Shiho marschierte neben Sonoko her, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen zu Schlitzen verengt. Seit ein paar Minuten ließ Sonoko aufmerksam ihre Augen über die Menge gleiten – dennoch war es Shiho, die als erste das Objekt ihrer Begierde erblickte. Shinichi bog zusammen mit seiner Kollegin gerade aus einer Seitenstraße auf ihren Gehsteig; von Heiji bemerkte sie nichts. Als sie ihn sah, merkte sie, wie ihr Puls in die Höhe raste, ihre Fingerspitzen zu kribbeln anfingen. Sie verachtete sich dafür und grub sie umso fester in ihren Pullover, um sie nicht mehr zu spüren.
 

Wenn du dich je wirklich gefragt hast, ob du in ihn verknallt bist, ist die biochemische Reaktion, die sich gerade in deinem Körper vom Kopf bis in die Schuhsohle fortpflanzt, die Antwort, Miyano.
 

Gepresst atmete sie ein und aus, bemerkte am Rande den Blick, den ihr Rans beste Freundin zuwarf.

„Ah, du hast ihn gefunden.“

Sonoko grinste breit. Shiho drehte den Kopf, warf ihr einen genervten Blick aus Halbmondaugen zu.

„Ist was?“

Sonoko grinste, zog eine Augenbraue in die Höhe.

„Ach nö.“

Sie lachte leise, beobachtete dann wieder das Objekt ihrer Observation.

„Weißt du, ich fragte mich ja all die Jahre, was er hatte, dass Ran so an ihm hängt. Wenn ich ihn mir allerdings jetzt so ansehe…“

Ihr Grinsen verbreiterte sich so weit, dass es fast schien, als würde sie von einem Ohr zum anderen grinsen.
 

… und wäre es dir anatomisch möglich, würdest du rundherum grinsen, Suzuki.
 

Shiho gähnte.

„Ja, sieht gut aus.“

Sonokos Grinsen wich nicht von ihren Lippen.

„Gut? Na hör mal…“

Sie wandte sich kurz der jungen Chemikerin zu.

„Groß, schlank, umwerfend blaue Augen, dichtes dunkles Haar, das genau den Touch von Widerspenstigkeit hat, der noch nicht ungepflegt, sondern verwegen wirkt…“, fing sie an zu schwärmen.
 

Shiho warf ihr einen langen Blick zu, lächelte dann säuerlich.

„Sag mal, hörst du dich reden? Du bist verheiratet, Frau. Zumindest so gut wie.“

„Jajaja.“

„Aber du musst zugeben, er hat was… ganz eigenes.“

Shiho seufzte.

„Kann sein.“

Sonoko verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf, beobachtete Shinichi, der in gebührendem Abstand vor ihnen herging und auf die junge Frau neben ihm einredete. In seiner Hand hielt er ein Notizbuch und einen Stift, genauso wie sie, die ihm mit hochroten Ohren zuhörte und hin und wieder etwas aufschrieb. Es war seltsam, ihn so zu sehen, musste sie sich eingestehen. In gewisser Hinsicht kam er ihr seltsam vertraut vor; seine Art zu gehen, die Art, wie er die junge Frau neben ihm ansah, als er ihr geduldig erklärte, was Sache war. Die Art, wie er gestikulierte, um das Gesagte zu unterstreichen.

Und dennoch, trotz all dieser Vertrautheit kam er ihr auch fremd vor; fremd, da die Umgebung, in der sie ihn sah, und der er nun mehr angehörte als sie, ihr fremd war. Fremd, weil er blasser wirkte, als sie ihn in Erinnerung hatte, fremd, weil er älter war, weil sich sein Gesicht ein wenig – wenn auch nur ein bisschen – verändert hatte. Fremd, weil er größer war, fremd, weil er diese Klamotten trug, eine Art Business-Anzug, und sie fragte sich, ob alle Detective Superintendents derart gut angezogen ihren Dienst taten; sie standen ihm, verliehen ihm aber nichtsdestotrotz eine Ausstrahlung von Unberührbarkeit.

Sie wusste nicht, ob er sich dessen bewusst war.
 

Und doch war da eine unübersehbare Tatsache, und das war es wohl, was Ran am meisten an ihn band – diese Sicherheit, die ihn umgab. Er strahlte sie aus, die Gewissheit, dass einem nichts passierte, solange er da war.

Ihr war das nie so bewusst gewesen, wie jetzt.
 

Er war die Ruhe selbst, wusste immer, was zu tun war, und tat immer das Richtige, auch wenn er das selbst nicht glaubte.

Er war der sprichwörtliche Fels in der Brandung, und das Bild, das sich ihr bot, unterstrich diese Aussage nur umso mehr. In dieser Umgebung, die schier überquoll von Menschen unterschiedlichster Nationen und Sprachen, von Verkehr, von Licht, Geräuschen und Gerüchen… war er der Fixpunkt, der ruhende Pol, der sich durch nichts von seinem Weg abbringen ließ.
 

Er war schon immer so gewesen.

Und das Paradoxe war – dass er selbst wohl derjenige war, der am wenigsten daran glaubte, irgendjemandem Schutz oder Sicherheit bieten zu können, nach dieser Nacht, in der man sein Leben zerstört hatte - fast.
 

Vor allem für Ran hatte er diese Rolle schon immer übernommen, auch wenn er daran jetzt nicht mehr denken mochte. Was er nicht wusste, und, das war das zweite Paradoxon an der Situation, verhielt es wohl immer noch so – seither wohl sogar erst Recht. Egal, wie verletzt sie gewesen war, sie hatte ihn nicht aufgegeben. Denn sie hatte in ihm etwas gesehen, was er an sich nie wahrnahm – den Menschen Shinichi Kudô.

Nicht den fehlerlosen Detektiv.

Und sie glaubte immer noch fest daran, dass es einen Grund für sein Verhalten gab.

Weil es immer einen gegeben hatte… weil er ihr nie grundlos wehgetan hätte.

Eben, weil er der war, der ihr Halt gab.
 

Deshalb war es für sie auch so schlimm, als du weg warst.

Aber sag, warum bist du gegangen?

Sie wollte es uns nicht sagen, was passiert war damals, aber es muss… tatsächlich ein guter Grund gewesen sein.
 

Sie hat so sehr geweint, Shinichi.

Damals wie heute, und sag mir nicht…

… sag mir nicht, dass dir das egal ist.
 

„Aber ist doch prima. Er ist allein mit seiner Partnerin, Heiji ist anscheinend woanders. Umso besser.“

Möglichst unauffällig gingen sie hinter ihm her, ließen, nachdem sie die beiden eingeholt hatten, etwas Abstand.

„Denkst du, er weiß, dass wir ihm nachspionieren?“, fragte Sonoko, die gerade hinter einem hochgewachsenen Engländer Manndeckung suchte.

„Ich wäre enttäuscht, wenn nicht.“

Die rotblonde, junge Frau warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.

„Er ist nicht umsonst Superintendent, und das grad mal mit fünfundzwanzig Jahren. Er weiß sicher, dass wir hinter ihm her sind. Deshalb beschatten wir auch nicht ihn, sondern sie.“

Sie warf der jungen Frau, die mit unsauber gebundenem Pferdeschwanz und leicht watschelndem Gang, weil sie offenbar das Gehen mit etwas höheren Absätzen noch nicht gewohnt war, neben ihrem Vorgesetzten herlief.
 

„Wir warten, bis sie allein ist. Dann folgen wir ihr, und dann holen wir aus ihr die Infos raus, die wir brauchen, über ihn.“

„Und du denkst, sie hat sie?“

„Wenn nicht, hoffe ich, dass sie wenigstens weiß, wer sie hat.“

Shiho seufzte; dann blieb sie abrupt stehen, als die Ampel auf Rot sprang. Tatenlos mussten sie zusehen, wie sich die ihre beiden Beschattungsobjekte verabschiedeten.

Sonoko schlug sich die Hand vor die Stirn.

„Mist!“
 

Shinichi unterdessen schüttelte milde belustigt den Kopf.
 

„Mädels, ihr seid solche Anfänger.“

„Sir?“

Jenna, die immer noch neben ihm hertrippelte, sah ihn verständnislos an. Er warf ihr einen fast verzweifelten Blick zu.

„As well as you are, Jenna. Didn’t you realize that we are tailed, for a few minutes now? – since we passed Angelas Flowershop, to be precise.“

An der Röte, die ihr ins Gesicht stieg, konnte er die Antwort selber ablesen. Beschämt senkte sie den Kopf.

Er seufzte, klopfte ihr auf die Schulter.

„Well, Jenna, I’m not going to tell you that that’s okay… you should, in your own interest, be always aware if somebody shadows you. In this very special case it is not a catastrophe, though.”

Er seufzte.

„The ladies that are trying there shadowing skills on us are very well known to me – but no criminals. Not yet, that is. God only knows what future brings – and what stupid ideas they might come up with.“

Müde strich er sich über die Augen, grinste verlegen.

„Well, you know what to do and where to go. We meet there in about two hours, I call you to pick you up. You are going to try to find the designer. Keep in mind, that he or she mustn’t know the real reason you are there, cause if he or she is warned, and without proof we have nothing in our hands to justify any action on our side. Just… make them believe you’re looking for a dress, let them show you their collections, from anybody willing to show you anything at all. Let’s hope we know more afterwards. And I… am going to deal with our two shadows now. Good luck! And…”

Er hielt inne. Jenna schaute ihn fragend an, verstaute ihr Notizbuch.

„… be aware of the press, Jenna.“
 

Er nickte ihr zu, beobachtete sie, als sie in die angegebene Richtung davonmarschierte, wartete geduldig im Schatten eines Hauseingangs. Im Gegensatz zu seinen beiden dilettantischen Beschatterinnen war er ein Profi.
 

Sonoko zupfte Shiho aufgeregt am Ärmel.

„Da ist sie ja wieder! Und allein!“

Shiho war nicht ganz so begeistert.

„Und wo ist er?“

„Wen interessierts? Hinterher!!“

Sie lief auf ihren hohen Hacken so schnell sie konnte über die nunmehr wieder grüne Ampel, Shiho, die sie am Handgelenk gepackt hatte, im Schlepptau.

Sie wollte es zumindest.

Stattdessen fiel sie fast hintenüber, als sie etwas abrupt im Lauf stoppte.

Wutentbrannt wandte sie sich um, holte mit ihrer Handtasche aus, die ebenfalls ihr Ziel verfehlte. Stattdessen fühlte sie ihre Arme festgehalten und leicht verdreht.
 

„Hör auf mit dem Blödsinn, Suzuki.“
 

Sie ließ locker, sah auf, und konnte sich ein leises Aufstöhnen nicht verkneifen, während sie Shiho neben sich leise lachen hörte. Unwirsch stieß sie ihr den Ellenbogen in die Seite. Shinichi jedoch, der die beiden mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte, schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„So, und um das Ganze jetzt mal bedeutend abzukürzen, weil ich erstens…“

Er lächelte formvollendet höflich, und konnte dabei dennoch nicht die Note beißenden Spotts in seiner Stimme kaschieren, „eure wertvolle Zeit nicht vergeuden will, und zweitens… ihr vielleicht mitbekommen habt, dass ich an einem wichtigen Fall arbeite und meine Zeit gerade auch etwas… kostbar ist, fragt mich doch gleich, was ihr aus der armen Jenna rausquetschen wollt. Ich versichere euch, sie hat die Antworten nicht, die ihr sucht. Ich geh nicht eben Hausieren mit meinen Problemen, das sollte euch bekannt sein…“

Er seufzte leise, rieb sich die Nasenwurzel, hielt dabei mit der anderen Hand seinen Ellenbogen, was ihm eine nachdenkliche Note verlieh.
 

Sherlock Holmes wie eh und je.
 

Shiho sah ihn nur an, sagte nichts. Sonoko hingegen fand ihre Sprache und auch ihre saloppe Art schnell wieder.

„Und beantwortest du uns auch die Fragen, die wir dir stellen?“

„Kommt auf die Fragen an.“

Er ließ die Hand sinken, vergrub sie in seiner Hosentasche.

„Aber bestimmt nicht auf offener Straße, meine Damen.“

Er wies auf einen Coffeeshop ein paar Schritte vor ihnen, ging ihnen dann ohne ein weiteres Wort voran, um ihnen, Gentleman in Vollendung, die Tür aufzuhalten und sie nach kurzem Blick in die Runde der Gäste, zu einem Tisch im hinteren Bereich des Etablissements zu führen. In den nächsten Minuten ließ er sie dann erst einmal sitzen und im eigenen Saft kochen, als er ohne eine Frage nach ihren Wünschen zur Theke ging und Kaffee holte.

Sonoko beobachtete ihn über ihr Handtäschchen hinweg, das sie vor sich auf dem Tisch aufgebaut hatte. Shiho betrachtete ihre Finger, die leise und sacht den Takt der Musik auf die Tischplatte mitklopften.

Als er wiederkam und ihnen zwei dampfende Becher mit Cappuccino vor die Nase stellte, und sich ebenfalls setzte, schauten sie ihn nur schweigend an, während er einen vorsichtigen Schluck von seinem brühend heißen schwarzen Kaffee nahm. Aus der Nähe betrachtet, fielen die vielen kleinen Veränderungen an ihm erst richtig auf, trübten das Bild, dass sie sich noch vor ein paar Minuten von ihm gemacht hatte, ein wenig.
 

„Du sahst schon mal besser aus.“

Shinichi hob die Augenbrauen, warf Shiho einen Blick über seine Tasse hinweg zu.

„Aha.“

Er stellte die Tasse ab, schenkte ihr ein ironisches Lächeln.

„Dankeschön für diese Feststellung. Ich fass es mal als Kompliment auf. Aber für netten Smalltalk seid ihr doch nicht hier.“

Langsam und gewissenhaft legte er seine Fingerspitzen aneinander, beobachtete Sonoko, die gerade das dritte Päckchen Zucker in ihren Cappuccino einstreute. Shiho entging die Geste nicht; sie lächelte stumm in sich hinein, beobachtete ihn weiterhin genau.
 

In manchen Dingen änderst du dich wohl nie… egal, was in deinem Leben passiert.
 

„Nein.“

Sonoko riss das vierte Päckchen auf.

„Wir sind wegen Ran hier. Und um ehrlich zu sein, hätte ich jetzt gern eine Erklärung für das, was du ihr angetan hast. Angefangen von deinem wenig ruhmreichen Abgang vor fünf Jahren bis hin zu dem nicht minder wenig ruhmreichen Abgang vor fünfundzwanzig Minuten. Ich verstehs nämlich nicht.“

Sie schluckte, hob nun endlich den Blick von ihrer Tasse.

„Ich will wissen, was da läuft. Ich dachte eigentlich immer, du liebst sie. Das dachte ich schon, bevor Ran auch nur ansatzweise daran dachte. Vielleicht sogar schon, bevor du dir klar darüber wurdest. Und dann ziehst du so eine Nummer ab. Du hast…“

„Du kannst dir den Sermon sparen, Suzuki.“

Er schnitt ihr müde winkend das Wort ab.

„Die Predigt hat mir Hattori gestern schon gehalten.“

„Was du nicht sagst.“

Sonoko warf ihm einen Blick aus Halbmondaugen zu; ihre Stimme klang staubtrocken. Dann rührte sie verbissen ihren Kaffee um, wobei sie ihn nicht aus dem Auge ließ. Shiho legte ihre Hände um die warme Tasse, sagte nichts, schaute nur stumm zu.

„Heute schien er dir aber schon wieder sehr den Rücken zu stärken…“

„Weil wir beide seit gestern schlauer sind.“

Shinichi nahm einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht, als er sich Zunge und Rachen daran verbrannte.

„Und? Weihst du uns auch ein?“

„Hat sich das in deinen Ohren heute so angehört, als wäre das meine Absicht?“

Shiho blickte ihn an; sein Ton war auffallend scharf geworden.

„Nein. Deshalb waren wir ja hinter deiner kleinen Freundin…“

„Sie ist nicht meine kleine Freundin.“

Shinichis Stimme klang bestimmt und ließ keine Widerrede zu.

„Jenna ist mir als Partnerin zugeteilt, ich bilde sie aus, und mehr ist da nicht, falls du da etwas Unangemessenes andeuten willst, Suzuki, was ich dir natürlich mit keinem Wort jemals unterstellen würde.“

Ein humorloses Lächeln umspielte seine Lippen.

„Also was ist dann?“

„Was soll sein…?“
 

Sonoko warf ihren Löffel auf den Tisch, als ihr endgültig der Kragen platzte. Feine Kaffeespritzer sprenkelten den ohnehin mit Kekskrümeln bedeckten Tisch.

„Nun hör mal zu, du aufgeblasener Lackaffe, könntest du jetzt endlich mal den Geheimniskrämer beiseitelassen und Tacheles reden? Du hast meine beste Freundin fast zugrunde gerichtet! Du kannst jetzt deine Chance nutzen, und endlich sagen, was dich damals geritten hat, und ich hoffe für dich, dass das ein wirklich guter Grund war, oder aber…“

„Oder was?“

Shinichi schaute Sonoko, die sich vorgebeugt hatte, unbeirrt ins Gesicht.

Er war während ihres gesamten Ausbruchs nicht einmal zusammengezuckt. Shiho lächelte in sich hinein.
 

Suzuki, der Mann war in den Fängen der Schwarzen Organisation und arbeitet beim Yard… glaubst du, den schüchterst du so leicht ein…?
 

Sonoko schnaubte, sank langsam zurück. Sie schüttelte den Kopf.

„Verdammt nochmal, was für ein Bastard ist aus dir geworden, Kudô. Hast du sie nicht gesehen? Wenn du sie schon nicht willst, willst du ihr nicht mal den Grund nennen? Ein Mädchen serviert man nicht so einfach ab… erst Recht kein Mädchen wie Ran.“

Sie hielt inne, als sie die Veränderung auf Shinichis Gesicht bemerkte. Das selbstbewusste Lächeln war ihm von den Lippen gebröckelt wie Farbe von feucht gewordenem Putz, etwas unbehaglich blickte er zur Seite.

Shiho seufzte, schüttelte den Kopf.
 

„Merkst du’s nicht, Sonoko? Das ist das Letzte, was als Grund für sein Verschwinden in Frage kommt. Er will sie. Liebt sie. Immer noch. Und wenn du heute einen Moment nur innegehalten hättest in deinem Wutausbruch, und die Augen aufgemacht hättest, hättest du’s gesehen.“

Shinichi zuckte zusammen, schaute Shiho alarmiert an. Sie lächelte nur.

„Tja, du bist immer noch so ein bescheidener Lügner wie damals, Kudô. Willst du uns nicht einfach den Grund sagen, warum du uns so sang- und klanglos verlassen hast - und dich nicht gemeldet hast, nie zurückgekommen bist? Wenn du schon keine Chance siehst, mit ihr zusammen zu sein, finde ich, hat sie immerhin das Recht, den Grund zu kennen. Sie…“
 

„… zerbricht nämlich daran, ihn nicht zu kennen.“

Sonoko fiel Shiho ins Wort, vollendete ihren Satz, seufzte, drehte ihre Tasse in ihren schlanken, manikürten Fingern.
 

„Du bist und warst ihr ein und alles, Shinichi, du kannst sie nicht so hängen lassen, das ist nicht fair.“

Sie wischte sich über die Augen. Shinichi schluckte, ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Sonoko, die sonst immer so tough war und immer einen frechen Spruch auf den Lippen hatte, nun so niedergeschlagen zu sehen, ließ ihn umdenken.
 

„Ist es… denn wirklich so schlimm, wie ihr sagt…?“

Shiho schaute ihn musternd an, lächelte dann milde, schüttelte dann fast belustigt den Kopf über soviel Blindheit.
 

„Shinichi… wie fühlst du dich? Wie ging‘s dir denn in den letzten Jahren?“

Er hob den Kopf, schaute sie verwirrt an.

„Ist das eine rhetorische Frage?“

„Genauso rhetorisch wie die, ob Ran wirklich so sehr leidet unter deiner Zurückweisung.“
 

Das hatte gesessen, sie konnte es sehen. Er hob die Hand, strich sich über die Augen, ließ sie langsam über sein ganzes Gesicht gleiten.
 

„Ihr habt keine Ahnung, wie’s mir ging…“

„Na, gut offensichtlich nicht, dafür muss man kein Hellseher sein.“, fiel ihm Sonoko ins Wort.

„Was die Details betrifft, musst du schon ein wenig ausführlicher werden. Aber egal wie schwer du’s hattest, ich glaube kaum, dass es rechtfertigt, Ran jetzt immer noch so im Regen stehen zu lassen. Und wenn du jetzt nicht bald deine Klappe aufmachst, mein Freund, dann rücken wir mal ganz anders zusammen. Hab ich mich klar ausgedrückt…?“
 

Shinichi hob die Augenbrauen, schaute sie lange an, ehe er schließlich einlenkte.
 

„Na schön, wie ihr wollt. Ihr erzählt ihr das aber nicht, was ihr jetzt von mir hört. Wenn, dann tu ich das selber.“

Sonoko horchte auf. Seine Stimme klang brüchig, sein Blick war in die schwarzbraunen Tiefen seines Kaffeebechers gerichtet.
 

„Hat sie euch denn je von diesem Abend erzählt?“
 

Beide schüttelten den Kopf. Shinichi seufzte resigniert, massierte sich die Schläfen.

„Na schön. Ich erzähls euch. Ihr unterbrecht mich nicht, und ihr stellt keine Fragen.“

„Gut.“

Sonoko nickte; Shinichi nahm einen weiteren Schluck Kaffee, räusperte sich dann.

„Ihr wisst, ich war dieser Organisation auf der Spur. Weil… sie leider im Laufe der Zeit auch auf meine Spur geraten sind, habe ich mich… gezwungen gefühlt, die Sache ins Rollen zu bringen, um euch… also vor allem Ran und ihre Familie, dich und den Professor…“, er blickte zu Shiho, „zu beschützen. Uninteressant zu machen. Deshalb hab ich mich… finden lassen. Interessant gemacht. Gestellt, sozusagen.“

Er wurde rot.

„Ich weiß nicht, inwieweit man dich über mein… kleines… Altersproblem eingeweiht hat.“

Sonokos Augen verengten sich zu Schlitzen, ihre Augen trat ein ärgerliches Funkeln, das von mühsam unterdrückter Wut sprach. Shinichi seufzte ergeben.

„Also gut, du weißt es also. Das erspart mir, die Geschichte zu erzählen. Nun – ich hatte die Mittel, und ich hab sie genutzt, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Das hat… hervorragend funktioniert.“

Er lehnte sich zurück.

„Sie zögerten nicht, die Einladung, die ich so vollmundig ausgesprochen hatte, anzunehmen. Sie holten mich… und die nächsten Tage über haben sie sich… etwas intensiver mit meiner Person beschäftigt. Was draußen vorging, weiß ich nicht. Ich… brachte den Plan des FBI ins Rollen, das… funktionierte noch gut, durch den Plan meiner Flucht machten sie allerdings einen dicken Strich. Das noch dickere Ende kam allerdings, als sie mit Ran aufkreuzten.“

Er seufzte, rieb sich die Stirn.

„Sie sollte mich zum Reden bringen, wo alles andere versagte, und ich muss dir nicht sagen…“

Er warf Shiho einen Blick zu, den sie mit Mühe erwiderte, geriet kurz ins Stocken.

„… wie einfallsreich die da sind, was solche Belange betrifft. Glücklicherweise half man uns an jenem Abend, als sie Ran holten, bei der Flucht. Was ich nicht wusste, war… dass diese Flucht eine Falle war – und sie ging hervorragend auf. Ich bin denen so dermaßen auf den Leim gegangen, dass…“
 

Shinichi hielt inne, leerte seine Tasse auf einen Zug, verzog das Gesicht, als ihm die Brühe den Rachen runterbrannte, Zentimeter für Zentimeter, hustete kurz.

„Immerhin war der Plan soweit aufgegangen, dass durch die Infos, die ich nach draußen schleusen konnte, und die Infos, die ich ohnehin dagelassen hatte das Hauptquartier gefunden werden konnte - und durch die Ortung von Rans Handy, die damit ja recht nahe an den Ort gekommen war, an den man mich gebracht hatte, bevor man sie aufgegabelt und das Mobiltelefon abgenommen hatte, hatte man mich finden können. Das FBI und die Polizei kamen dort an und nahmen den Laden hoch. Entkommen sind meines Wissens nach nur die Mitglieder, die uns in der Gasse erwarteten. Gin, Chianti, Wodka und Bourbon.“

„Welche Infos...“

„Das tut nichts zur Sache.“

Er schüttelte den Kopf, seufzte.

„Ich brauch euch nicht sagen, dass wir in der Unterzahl waren; ich noch dazu etwas… angeschlagen.“

Shinichi hielt kurz inne, als er Shihos Blick bemerkte, musste sich dazu zwingen, seine Hände ruhig zu halten, um seine Nervosität nicht zu offen zur Schau zu stellen.

„Wir waren Teenager, und das waren ausgebildete Mörder. Auch wenn Ran sich tapfer geschlagen hat, hatten wir doch am Ende nie eine Chance. Und es war auch klar, dass sie uns keinesfalls gehen lassen würden.“

Sonoko starrte ihn an, merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

„Verdammt, in was…“

„Du hast gesagt, du unterbrichst mich nicht.“

Shinichi hob den Blick, fixierte sie mit seinen blauen Augen unter zusammengezogenen Augenbrauen.

„Fein.“

Sie lehnte sich zurück, widerwillig, verschränkte ihre Arme vor der Brust und schnaubte.

„Tut mir Leid. Fahr fort, bitte.“

Shinichi überging den bissigen Tonfall in ihrer Stimme.

„Wodka hatte mich festgehalten, ich bekam kaum Luft. Und da Ran… nicht wollte, dass mir etwas passiert, was total irrational ist, hat sie aufgehört, sich gegen Gin zu wehren, wie er es verlangte. Zum Dank dafür hat er ihr ein katana in den Bauch gerammt.“

Er holte Luft, seine Augen starr in seine Tasse gerichtet, als würde er die Geschichte aus dem Kaffeesatz herauslesen.

„Wie ihr wisst, ist sie an der Verletzung fast gestorben. Was ihr nicht wisst ist, dass sie in meinen Armen tatsächlich starb, bevor der Krankenwagen kam. Sie war tot, als sie sie wegfuhren. Sie atmete nicht mehr. Ihr Herz… schlug nicht mehr. Und ich glaubte…“

Er redete jetzt ohne Punkt und Komma, schenkte Sonoko, der der Kaffeebecher aus der Hand glitt, als sie ihn fassungslos anstarrte, keinen Blick. Shiho schaute ihn an – in ihr begann es, zu wühlen, sie fühlte fast, als würde etwas in ihr brennen, als sie mitansah, wie sehr ihn der Gedanke an Rans Tod aus der Bahn warf.

Ein bloßer Gedanke, der noch dazu nicht einmal wahr war.
 

Großer Gott, Kudô…
 

„… und ich glaubte, bis Hattori mich aufklärte, dass sie tot ist. Ich wusste nichts davon, dass man sie hatte reanimieren und retten können. Ich glaubte fünf Jahre lang, dass sie nicht mehr lebt, wegen mir. Dass ich sie nicht hatte beschützen können, und sie sterben musste, weil ein Irrer seinen perfiden Racheplan ausleben wollte. Ich… wie konnte ich in Tokio bleiben?!“

Shinichi war laut geworden, wollte seine Tasse erneut ansetzen, als er merkte, dass sie leer war, ließ sie mit einem lauten „Klonk“ zurück auf die Tischplatte sinken. Als er sie nun ansah, waren seine Augen ungewöhnlich dunkel. Sonoko starrte ihn an, konnte ihren Blick kaum von seinen Lippen wenden.

„Er hat sie umgebracht, weil er mich damit zugrunde richten wollte. Und das… das hat er geschafft. Ich… wusste nicht, dass sie noch lebt. Ich lebte fünf Jahre mit dem Gedanken, sie nie wieder zu sehen, nie wieder… zu hören, machte mir die Endgültigkeit dieses Verlustes klar, und heute…“

Unwillig wischte er sich über die Augen.

Sonoko atmete tief ein und aus, fühlte, wie ein eiskalter Schauer ihr über den Rücken rann, als sie versuchte, sich hinein zu fühlen in ihren ehemaligen Schulkameraden. Obwohl sie es nicht wollte, merkte sie doch, wie Mitgefühl sich in ihr breitmachen wollte; Mitgefühl mit dem jungen Mann vor ihr, den der Gedanke an seine große Liebe so ungeheuer mitnahm. Sie biss sich auf die Lippen.

Wenn Shinichi geglaubt hatte, Ran sei tot, dann war der Fall klar.

Dann war auch seine Flucht geradezu verständlich. Auch die Tatsache, dass er sich nie mehr gemeldet hatte, und nicht zurückgekommen war, wenn auch die Kompromisslosigkeit, mit der er diesen Entschluss bis heute durchgezogen hatte, sie erstaunte.

Allerdings… drängte sich da doch noch eine winzig kleine Frage auf.
 

„Warum…?“

Shinichi blinzelte, schaute sie erstaunt an.

„Warum hast du das geglaubt? Du warst doch noch im Krankenhaus, warum…?“

Sonoko starrte ihm in die Augen. Ihr Mitgefühl verflog langsam, bohrende Neugier machte sich wieder breit, gepaart mit einer gehörigen Portion Skepsis und dem bestimmten Gefühl, das hinter der Sache noch deutlich mehr steckte, als dieser Geheimniskrämer preiszugeben bereit war.

„Weil es das ist, was man mir sagte.“

„Wer…?“

„Das tut doch nichts zur Sache.“

Er lächelte bitter.

„Das einzige, was zählt, ist, dass sie lebt. Und weil aber… mindestens diese vier von Ihnen noch immer da draußen sind, Sonoko, ist es einfach nicht möglich, dass wir zusammen sind. Ich will sie nicht nochmal in Gefahr bringen. Ich…“
 

… ertrag das nicht.
 

Damit stand er auf.
 

„Damit wisst ihr nun, was ihr wissen müsst. Und ich warne euch, ein Wort davon zu Ran…“
 

Er schluckte, warf Sonoko einen langen Blick zu - und verließ das Etablissement ohne ein weiteres Wort.
 

Und erschrak fast zu Tode, als er neben sich eine Stimme hörte.
 

„Wüsste ichs nicht besser, Kudô, könnte ich glatt glauben, du hast immer noch was zu sagen.“

Shiho lief neben ihm her, überholte ihn, baute sich vor ihm auf.

Shinichi warf ihr einen genervten Blick aus halbgeöffneten Augen zu, wollte an ihr vorbeitreten.

„Nein. Sonst hätte ich es gesagt. So gut…“

„… sollte ich dich kennen. Tu ich auch. Eben deswegen.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, vertrat ihm erneut den Weg.

„Wie geht’s dir…?“

Ihre Stimme klang ernst – der Blick aus ihren Augen ließ ihn sich seltsam nackt fühlen, und das wollte etwas heißen – dieses unbehagliche Gefühl des sich durchleuchtet Fühlens erweckte in ihm kaum jemand.

„Gut.“, meinte er kurz angebunden. Sie schüttelte nur den Kopf.

„Ich hab dich gesehen, in der Nacht, bevor sie mit dir ausgereist sind, Shinichi. Ich… hatte Angst, du überlebst das nicht. Es ist nicht dazu geschaffen, die, die damit in Kontakt kamen, am Leben zu lassen. Der Entzug…“

Sie hielt inne, als sie Shinichis entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte, sehen konnte, wie sie mit ihren Worten seinen Puls nach oben getrieben hatte – sein Brustkorb hob und senkte sich deutlich schneller. Dann ließ er seinen Kopf in den Nacken sinken, atmete einmal tief durch.

„Du warst da?“

„Ja.“

Shiho rieb sich ihren Oberarm.

„Dein Vater hatte mich geholt, als du im ersten Stadium des Entzugs warst. Teilweise noch unter Schock wegen der Sache mit Ran, aber andere Dinge an dir ließen sich damit nicht erklären. Ich… hatte vermutet, sie haben… das HLZG an dir ausprobiert. Eri hat es mir bestätigt…“

„… Eri?“

Shinichi seufzte tief, rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht, schaute sie verwundert an.

„Eri? Warum...“

Er sah, wie Shiho auf ihrer Lippe zu kauen begann – ein so ungewohntes Bild für ihn. Nie hatte er sie derart unsicher gesehen.
 

„Sie war die Pflichtverteidigerin dieser Forscherin, die an dem Zeug gearbeitet hatte, und da sie ihr nichts sagen wollte, wandte sie sich an mich. Ich war nicht eingearbeitet in dieses Gift, ich war ja in einem anderen Forschungsteam, aber… Weißt du, du bist nicht der einzige, der fünf Jahre mit dem Gedanken lebte, einer seiner besten Freunde könnte tot sein.“
 

Sie hatte ihn nicht angeschaut, als sie gesprochen hatte.

„Du vergisst immer wieder – und das ehrt dich irgendwie sogar – dass ich da drin war. Ich weiß, wie die arbeiten. Ich…“

Shiho brach ab.

„Du bist so ein furchtbarer, grandioser Idiot, Kudô! Warum hast du dich nicht gemeldet, nicht ein einziges Mal?! Ich hätte… ich wäre so erleichtert gewesen, und ich hätte dir sagen können, dass sie, dass… dass Ran…“

Ihre Stimme war laut geworden – lauter als sie beabsichtigt hatte, offenbar, denn im nächsten Moment schaute sie sich unbehaglich um.

Shinichi schaute sie blinzelnd an, schluckte hart.

„Es… tut mir Leid, Shiho. Es tut mir Leid, dass du das dachtest.“

Sie schüttelte den Kopf, in ihren Augen ein verbitterter Ausdruck.

„Spar dir dein Mitleid. Ändere jetzt an deinem Verhalten etwas. Jetzt, hörst du! Verdammt, du kannst doch nicht denken, dass es nur in deiner Hand liegt, mit wem du befreundet bist, wer an dich denkt, wem du wichtig bist. Du kannst dich nicht selbst aus dem Leben anderer streichen. Du musst das ändern, hörst du! So läuft das nicht! Das kannst du mir nicht antun, und ihr auch nicht! Du verdammter Egoist…“

Sie schluckte, ballte ihre schlanken Hände zu Fäusten, kämpfte mit Mühe um ihre Selbstbeherrschung.
 

„Und nicht genug. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass du schon wieder so ein irres Ding wie Conan planst. Irgendwas ist doch los. Ich kenn dich, du steckst was weg, aber gerade eben siehst du aus…“

Sie lächelte bitter.

„… als kämst du mit dem Wegstecken nicht mehr nach.“

Shinichi strich sich erneut über die Stirn, ließ dann seine Hände sinken und vergrub sie in den Jackentaschen, schaute an ihr vorbei.

„Es geht dich nichts an, Shiho. Ich hatte meine Gründe damals, und habe sie heute.“
 

Er wollte an ihr vorbei gehen, aber sie vertrat ihm den Weg, erneut. Überrascht hob er den Blick, sah in ihre Augen; Sturheit stand darin zu lesen, Genervtheit. Aber auch Angst.
 

„Wenn deine Gründe schwarz sind, Shinichi… so siehst du entweder Gespenster, oder aber du solltest sie mit mir teilen. Du weißt…“

„… dass ich nie einen von euch in Gefahr bringen wollte und will. Und deswegen seid so gut und befolgt meinen Rat, Shiho – verschwindet aus London.“
 

Damit drückte er sich an ihr vorbei, tauchte ein in die Menge und verschwand.

Sie starrte ihm hinterher, ihre Augen zu Schlitzen verengt. Unwillig umschlang sie ihren Oberkörper mit ihren Armen, dann drehte sie sich um, ging zu Sonoko zurück, die immer noch wie erschlagen im Sessel lag.

Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, musterte die kalkweiße Schwerreichentochter nachdenklich.
 

„Und? Was hältst du von der Geschichte?“

Shiho blickte auf, schien gerade in Gedanken ganz weit weg gewesen zu sein.
 

„Ich denke nicht, dass er lügt.“

Sie fuhr sich übers Gesicht, seufzte laut.
 

„Er dachte, sie ist tot, und ich glaub ihm das, so wie er ausgesehen hat. Mein Gott, Shiho, das muss sie wissen…“

Sie blickte auf. Die junge Forscherin verschränkte ihre Arme vor der Brust.

„Ran muss das wissen!“

„Ja, das muss sie. Aber geben wir ihm eine Chance… wenn er es ihr binnen vierundzwanzig Stunden nicht selbst erzählt hat, dann tun wirs.“

Sie seufzte, strich sich eine ihrer rotblonden Strähnen hinters Ohr.
 

„Und nun komm, und reiß dich zusammen… wir müssen zurück zu den anderen.“
 

Sie fanden Ran und Kazuha allein im Café sitzend. Während Sonoko und Shiho ihren zweiten Cappuccino des Tages schlürften, hörten sie Ran zu, die ihnen mit leiser Stimme von der Begegnung mit den Kudôs erzählte.

„Und? Triffst du sie?“

Sonoko setzte ihren Kaffee ab, trank eilig einen Schluck Wasser nach, als sie merkte, wie ihr das Koffein doch langsam auf den Blutdruck schlug.

Ran verschränkte ihre schlanken Finger ineinander, studierte die Tischdecke, als stünde in den Kuchenkrümeln die Antwort auf all ihre Fragen zu lesen.

Das Orakel schien allerdings zu schweigen, oder sich bestenfalls in Rätseln auszudrücken, denn die junge Anwältin seufzte schwer, blickte schließlich auf. In ihren Augen standen Sorge und Müdigkeit gleichermaßen zu lesen.

Shiho drehte ihren Kaffee in ihren Händen, nahm einen Schluck.
 

„Ja. Ich…“

„Er sah nicht sehr auskunftsfreudig aus, heute.“

Die Stimme der jungen Forscherin klang melodisch-melancholisch, und wie fast immer war sie ohne jegliche weitere emotionale Färbung. Sie hatte sich wieder perfekt im Griff und war darauf sehr stolz. Sie mochte es nicht, dass er sie so aus der Fassung bringen konnte… und wusste doch, dass es immer so sein würde.

Das würde sich einfach nicht ändern.
 

Shinichi.
 

„Erwarte dir nicht zu viel… ich denke, er wird nicht erfreut sein, dich zu sehen.“

Sonoko warf Shiho einen missbilligenden Blick zu, den Ran mit erhobenen Augenbrauen quittierte.
 

„Ich erwarte nur… eine Erklärung… für all das.“
 

____________________________________________________________________
 

Weih.
 

Ich seh grad, da hab ich euch ja einen ordentlichen Happs hingeworfen – 13000 Wörter…

Aber man konnts auch schlecht teilen, irgendwie – nun, ihr könnt es ja portionsweise lesen, ihr habt zwei Wochen Zeit :)
 

An der Stelle möchte ich mich ganz, ganz herzlich bei den Kommentatoren bedanken – ich freu mich über jedes Wort, das ich von euch lesen darf! :)
 

Nun – nächste Woche kommt im Blog die Vorschau aufs neue Kapitel – übernächste Woche dann das nächste Kapitelchen :)

Ach ja - was die Opfer betrifft -

Das erste Opfer wählte natürlich Gin, um, wer hätte das Gedacht, Shinichi den Fall schmackhaft zu machen.

Das zweite Opfer sieht eher zufällig aus wie Shiho. Das Dritte wird damit gar nix mehr zu tun haben, und, ums für Eduard ein wenig "spannender" zu machen, überließ Gin die Wahl der Opfer ab Nummer zwei ihm und seiner Meredith.

Wie es weitergeht, werdet ihr sehen... Die Hinweise auf die Organisation sind, wie ihr ja jetzt lest, anderer Natur. Es lässt sich mit den Mädels keine sinnvolle Reihe machen - nach Ran und Shiho is eigentlich Schluss mit jungen Frauen, die in Shinichis Leben eine Rolle spielen. Kazuha, Sonoko oder gar seine Mum hätte ich als merkwürdig empfunden, deswegen verwarf ich den Gedanken.
 

Beste Grüße,

eure Leira  

Kapitel 14: Fashionista

KAPITEL 14 - FASHIONISTA
 

Jenna verbrachte ihren Nachmittag wesentlich stressfreier als ihr Chef.

Sie befand sich wieder auf dem Campus der UAL, allein diesmal, und versuchte, möglichst unauffällig auffällig auszusehen. Sie hatte versucht, sich binnen einer Stunde so hip und chic anzuziehen, wie es ihr Kleiderschrank hergab; schließlich war sie undercover hier, und sollte sich modisch interessiert zeigen – modisch interessiert und mit ein wenig Geld im Portemonnaie.

Ein lautes Seufzen entwich ihren zartrosa geschminkten Lippen.
 

„Superintendent Kudô, what mess have you gotten me into this time…“
 

… to send me, of all people, the bespoken dummy concerning high fashion, on an operation like this… only because the search warrant won’t be in our hands until tomorrow. Though, maybe this is really a method to learn more about this folk than by browsing their belongings against their wills.
 

Sie schluckte, dachte an ihren Chef und Partner, der in seinen Anzügen immer zeitlos elegant aussah, perfekt angezogen für jeden Anlass… dem würde man modisches Know-how hier deutlich eher abkaufen als ihr.

Jenna zog ihr Jackett zurecht, das sie über ein T-Shirt und Jeans kombiniert hatte, zupfte an ihrem Schlauchschal, den sie als Farbtupfer gesetzt hatte und steuerte auf die nächste Studententruppe zu. Die großen Ohrringe, ein last-minute-Kauf von gerade eben, hingen ungewohnt schwer an ihren Ohrläppchen, als sie sich gutgelaunt vorstellte.
 

Immerhin, dachte sie, nachdem sie ein paar Ateliers besichtigt, Fotos von einigen Entwürfen gemacht und Adressen von hoffnungsvollen Jungdesignern notiert hatte (bei dem Gedanken an die leuchtenden Augen mancher Mädchen meldete sich ihr schlechtes Gewissen mit Macht und einer Menge piksenden Nadeln), war das hier eine deutlich angenehmere Arbeit als das Verhör, das für ihren Chef gerade anstand- er traf die Eltern von Ayako. Die Designerin, die „ihre“ Kleider entworfen hatte, war ihr allerdings noch nicht über den Weg gelaufen – oder sie hatte ihr wohlweislich diese Linie ihrer Arbeit verheimlicht. Sie wischte sich mit einem Papiertaschentuch einen Anflug von Schweiß von der Stirn, puderte nach und sah sich nach einer Erfrischung um. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass sie schon knapp drei Stunden hier auf dem Campus rumschnüffelte – und noch kein Piep vom Superintendent.

Sie bog um die nächste Ecke – und eilte erfreut zu einem Getränkeautomaten, aus dem sie sich eine Dose gekühlten Pfirsicheistee zog. Mit einem leisen Zischen öffnete sie das Getränk und nahm einen Schluck, genoss das Gefühl, als die kalte Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann, einen säuerlich-süßen Geschmack in ihrem Mund hinterlassend. Während sie ihren Durst stillte, sah sie sich weiter um. Offenbar hatte sich die Kunde eines Kaufinteressenten, Scouts, Gönners, Mäzen oder wie auch immer man das bezeichnete, was sie zu sein vorgab, herumgesprochen, denn immer mehr Studenten tummelten sich auffällig unauffällig auf dem Campus. Ihr Blick fiel auf ein streitendes Pärchen, das sich unter einem Baum etwa dreißig Meter von ihr entfernt zankte. Sie, ein engelsgleiches Wesen, schlank, mit einem Kleid aus einem hellen, fließenden Stoff bekleidet, das in ihrer Taille mit einem breiten Gürtel gerafft wurde, das blonde, lange Haar in einem losen Zopf nach hinten geflochten, hielt eine Mappe in ihren Händen – offenbar so etwas wie ein Portfolio. Er, ein etwas ungepflegt aussehender Kerl mit Farbe an seiner zerschlissenen Hose, einer Haartracht, die aussah wie mit Schweizer Krachern frisiert und graublauen Schatten unter den Augen, die von der bleichen Farbe seines Teints deutlich abstachen, redete eindringlich auf sie ein.

Sie zückte ihren Fotoapparat, machte unauffällig ein Foto von den beiden, beobachtete, wie es ihm gelang, ihr die Mappe aus den Händen zu ziehen und in ein Nebengebäude auf dem Campus verschwand. Sie starrte ihm hinterher, sprang dann auf und lief ihm rufend nach.

Jenna zückte ihr Notizbuch, notierte den Namen.
 

Eddie.
 

Irgendetwas war da im Busch. Aber sie hatte keine Ahnung, ob das mit ihrem Fall zu tun hatte, oder ob das einfach nur ein Streit zwischen zwei Liebenden gewesen war. Es konnte nicht schaden, sie zu ihrem Kreis der Verdächtigen zu zählen, allerdings sah sie keinen Sinn darin, ihnen nachzulaufen und sich mit mehr Nachdruck Einsicht in die Mappe zu erbeten… sie wandelte ohnehin schon auf dünnem Eis mit ihrer Geschichte, Kostüme für eine neue Theaterproduktion einer kleinen Hinterhofbühne zu suchen. Sie zuckte mit den Schultern, trank die Dose aus, zerdrückte sie ein wenig in ihrer Hand und warf sie in den Abfalleimer, um sich dann einer weiteren Runde der Besichtigung von Studentenarbeiten zu widmen.
 

„What’s the matter with you?“

Meredith eilte ihrem Freund hinterher, Verständnislosigkeit und kaum verhohlene Verärgerung spiegelte sich auf ihren feinen Zügen, brachte ihre fast farblosen, silberblauen Augen zum Funkeln. Sie baute sich vor ihm auf, verschränkte ihre schlanken Arme vor ihrer Brust und presste ihre Lippen so fest zusammen, dass von ihnen kaum mehr als ein feiner Strich zu sehen war, aus denen alles Blut und somit jede Farbe gewichen war. Eduard blieb abrupt stehen, schluckte hart. Etwas hilflos händigte er ihr ihre Mappe aus, stopfte seine Hände in die Taschen seiner nicht mehr einfach nur Vintage, sondern fast schon antik zu nennenden Jeans.

„Merry…“, begann er zögernd, suchte nach Worten.

„Why don’t you want me to show her my work? We could do with the money, who knows, how long the deal with the two Japanese is still running… who knows even if they are still interested, after what had happened to Aya…”

„They’re still in.“, unterbrach Eduard sie knapp. Meredith zog eine Augenbraue hoch.

„Ah?“

„Yeah. The new girl is already set. I phoned her yesterday. Forgot to tell you.”

Eduard seufzte.

„That’s why we have to return home. She’s waiting at our doorstep. I just… I just didn’t want that the others to notice what we have digged out for us… they would want a slice of that cake too, perhaps, and me, honestly… I don’t want to share, except with you…”

Er grinste etwas künstlich, wischte sich dann über die Stirn, nach hinten durch sein zerzaustes Haar, drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Er hatte das Mädchen schon kontaktiert – und sich dabei wie ein Henker gefühlt. Es wäre ihm lieber gewesen, diese Leute hätten sie selber ausgesucht; aber anscheinend hatte es ihnen gereicht, das erste Mädel auszusuchen.

Er ahnte auch, warum.
 

To make sure, their prey is interested in their bait.
 

„Her name is Juniper, a Latina, she’ll do great in the series. Miss Butterfly said that the boss is in a hurry, he can’t possibly wait till the book is printed, that’s why I am to start working immediately. And you should have a look at the dress, perhaps there is something to be changed… perhaps she has a more female shape than you’d have planned…”
 

Meredith schaute ihn durchdringend an.

„You know, it’s no problem to tighten it, but I can’t make it a bigger size.“

Dann hob sie die Hand, griff ihren Freund am Kinn, drehte sein Gesicht sanft in ihre Richtung, ehe sie ihre Finger sacht wie eine Feder über seine Haut streifen ließ, seinem Wangenknochen entlang über den Hals, bis sie auf seiner Brust kurz liegen blieb, ehe sie seine Hand ergriff, seine Finger drückte. Dabei hatten ihre klaren Augen ihn keine Sekunde losgelassen, hielten ihn fiel fester, als ihre Hand es je könnte.
 

„Is everything alright, Eduard?“

Ihre Stimme war leise, und doch ging sie ihm unter die Haut. Der junge Maler schaute sie überrascht an, musste an sich halten, um nicht allzu ertappt auszusehen.

„Of course. It’s just… I’m a bit stressed… and the faculty director wants a word with me, tomorrow, that’s all, but that’s why I might seem a bit nervous… in fact I am a bit… nervous.”

Er lächelte entschuldigend, strich ihr mit den Fingerspitzen zart über ihren nackten Oberarm.

„The faculty director? Dean Hammersmith?“

Merry trat nun doch beiseite, schlenderte langsam neben ihrem Freund her, ihre Mappe mit einem Arm an ihre Brust gepresst, während sie mit ihrer anderen Hand immer noch die seine festhielt.

„Mhm. Who else? We only have that one director – the unique, inimitable Dean Percival -The Hammer - Hammersmith…“

Er zauberte ein breites Grinsen auf seine Lippen.

„Any idea why he wants to talk to you?“

Eduard zuckte wahrheitsgemäß mit den Schultern.

„Not in the least. Perhaps some kind of exhibition he made up for me.“
 

Damit drehte er sich um, machte sich auf den Weg. Meredith sah ihm hinterher. Zweifel schlich sich auf leisen Sohlen in ihr Herz, obwohl sie sich mit aller Macht dagegen wehrte. Sie kannte Eduard, wenn ihn etwas bedrückte.

Wenn er etwas verheimlichte.

Wenn er in Schwierigkeiten war.
 

Er war all das gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte – bedrückt, heimlichtuerisch, und in immensen Schwierigkeiten.

Dennoch hatte sie sich in ihn verliebt, in ihm den Menschen gesehen, der er sein konnte – der er auch geworden war.
 

Nur jetzt…
 

What’s this, Eddie…
 

There’s something wrong, I know it, I feel it…
 

Why don’t you tell me…?
 


 

Shinichi schrieb seinen Bericht über die den Fund der Leiche und überwachte die Suche nach ihrer Identität am Computer, als Heiji das Büro betrat. Er blickte nur kurz auf, bedeutete ihm, sich zu setzen und kurz zu warten, während er die letzten Zeilen tippte. Heiji war bis gerade eben mit den Eltern von Ayako beschäftigt gewesen, hatte sie in die Autopsie geführt – das anstehende Gespräch würden sie zusammen bewältigen müssen, ehe das Paar in sein Hotel zurückfuhr. Der Kommissar schnaufte, ließ sich nun in den Sessel fallen, der Shinichi gegenüber stand.
 

„Sie wart’n unten. Identität is bestätigt, und jetzt trinken sie nen Kaffee, das alles nimmtse ziemlich mit… eine kleine Pause tut denen gut, bevor wir se genauer befragen. Wenns überhaupt noch was zu fragen gibt.“

Shinichi nickte, ohne aufzusehen, gab den Tastaturbefehl für Speichern und schickte die Datei an den Drucker, der ruckelnd und ratternd zum Leben erwachte und mit Mühe ein Blatt Papier einzog, bedruckte und herauspresste. Shinichi beobachtete ihn schweigend bei seiner Arbeit, zog dann das Blatt aus dem Ausgabefach und setzte seine Signatur darunter.
 

„Was jetzt?“, fragte er schließlich Heiji, der gerade den Zustand seiner Fingernägel zu beurteilen schien. Der blickte auf, betont langsam, schaute Shinichi, der den Laptop herunterfuhr, geradewegs ins Gesicht. Er hatte sofort verstanden, dass es nicht um Ayakos Eltern ging.

Es ging überhaupt nicht um den Fall.
 

„Das frag ich dich, mein Freund.“

Shinichi seufzte, strich sich übers Gesicht, ließ seine Hand ein paar Sekunden auf seinem Kinn verweilen, ehe er sie sinken ließ und zwei Gläser sowie eine Flasche Wasser aus einem Regal auf den Tisch stellte und ihnen einschenkte. Nachdenklich setzte er sein Glas an die Lippen, nahm einen Schluck, während Heiji seins nicht anrührte.

„Ich weiß, worauf du hinaus willst. Aber ich weiß nicht, ob ich darüber reden will.“
 

Heiji lehnte sich zurück, schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust – das alles tat er, ohne seine Augen von Shinichi zu wenden.

„Darum geht’s nich‘. Mit mir musste nich‘ reden. Du musst mit ihr drüber reden, Kudô. Sie is da, sie hat dich gesehen, wahrscheinlich weiß es in en paar Stunden auch ganz Japan, wo de bist, je nachdem, wie schnell die da mit der Presse jetzt sin‘ - es wär nich‘ fair, sie jetzt…“

„Was ist schon fair?“, entgegnete ihm Shinichi gereizter, als er es beabsichtigte. Er biss sich auf die Lippen, trank dann sein Glas auf Ex aus.

„Du kannst es gern abstreit‘n… versuch‘n, ihr aus dem Weg zu gehen… aber glaub mir, lang wird das nich‘ gut gehen. Sie weiß, dassde hier bist. Sie wird Antworten wollen. Du kennstse.“
 

Er beobachtete Shinichi, der mit unfokussiertem Blick auf die Tischplatte starrte.

„Und wie ich weißtde, dass se die Antworten auch verdient hat.“
 

Shinichi ordnete seinen Bericht in die Akte ein, schlug die dünne Kladde zu und legte sie in eine der Ablagen auf seinem Schreibtisch. Dann stand er auf, ohne ein Wort, ging zur Tür. Heiji sah ihm hinterher.
 

„Komm, wir müssen die Eltern befragen. Und danach Jenna abholen.“, meinte der junge Superintendent.

„Kudô…“, fing Heiji an, kam aber nicht weit.

„Heiji, ich weiß, dass ich mit ihr reden muss. Ich mag manchmal starrsinnig sein, aber ich bin nicht blöd. Ich weiß in der Regel, wann der Karren an die Wand gefahren ist. Man merkt’s am Aufprall.“

Ein bitteres Lächeln glitt über seine Lippen.
 

Und der war hart genug.
 

„Ich weiß, dass ich mit ihr reden muss. Aber ich weiß nicht, wie. Und wo. Und wo ich überhaupt anfangen soll.“

Er schluckte, zerfurchte sich kurz die Haare, schüttelte dann den Kopf.

„Bald, das ist das einzige, was mir klar ist.“
 

…oder jemand anderes übernimmt das für mich…
 

Damit drehte er sich um, griff nach dem Geigenköfferchen, das in der Ecke stand. Er hatte es heute Morgen noch holen lassen aus der Wohnung, die sich Ayako mit Delilah Rourke geteilt hatte, um das Stück ihren Eltern zurückzugeben – eine persönliche Erinnerung an ihre Tochter, etwas Greifbares, nun, da sie nicht mehr war.

Er schluckte hart; auch nach all der Zeit hatte er sich an diese Art von Gesprächen nicht gewöhnt, und war sich fast sicher, dass das auch nie zur Routine werden würde; ob er das nun gut fand oder nicht wusste er nicht zu sagen. Energisch durchmaß er den Raum mit langen Schritten und öffnete die Tür. Heiji verdrehte die Augen, gab ein unwilliges Knurren von sich, stand dann aber auf und folgte seinem Kollegen.
 

Sie fanden sie in einer abgelegenen Ecke der Cafeteria, wo sie beide in stummer Zweisamkeit saßen und an ihrem Kaffee nippten. Shinichi schluckte, ordnete seine Gedanken, legte sich seine ersten Sätze zurecht, als sie sich ihnen näherten; er war der federführende Ermittler in diesem Fall, sie würden Fragen haben.

Soviel war wohl sicher.
 

Als sie bis auf wenige Meter näher getreten waren, setzte er ein höfliches Lächeln auf.

„Herr und Frau Kanagawa?“

Der Mann stand auf, half dann seiner Frau auf die Beine, die bleich und verweint aussah. Shinichi streckte seine Hand aus, die der Mann ergriff und schüttelte; seine Frau tat es ihm gleich.

„Detective Superintendent Shinichi Kudô. Ich ermittle im Fall…“

„Shinichi Kudô?“

Herr Kanagawa unterbrach ihn, schaute ihn fragend an.

„Ja.“ Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Warum?“

„Der Shinichi Kudô? Erlöser der Japanischen…“

Shinichi merkte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg, während Heiji neben ihm wirklich Mühe hatte, sich das Lachen zu verkneifen – die Situation und der Grund, warum sie hier standen, war ernst genug. Nun aber zu sehen, wie sein Kollege von seiner Vergangenheit immer mehr eingeholt wurde und sich doch etwas schämte, amüsierte ihn nicht nur ein wenig.

„… Polizei. Sherlock Holmes der Heisei-Ära. Und alles, was sonst so noch dazugehört. Allerdings. Genau den habense vor sich.“

Heiji beendete Herrn Kanagawas Satz galant. Shinichi warf ihm einen schrägen Blick zu, der ihm eigentlich klar bedeuten sollte, dass er lieber die Klappe halten sollte. Er ignorierte es.

„Hier nennense ihn aber eher Sherlock Holmes.“

Ehe er sich noch weiter in seinen Ausführungen auslassen konnte, unterbrach ihn Shinichi mit ruhiger, aber keinen Widerspruch duldender Stimme.

„Es reicht jetzt, Kommissar Hattori.“

Er wandte sich mit immer noch etwas geröteter Stirn den Eltern ihres Opfers zu.

„Also, ja. Ich bin… „der“ Shinichi Kudô. Allerdings arbeite ich jetzt schon eine Weile für Scotland Yard und ich verspreche Ihnen…“

Der junge Superintendent hielt inne, als ihn eine kühle Hand am Arm berührte. Frau Kanagawa sah ihn mit mildem Lächeln an.

„Wir gehen davon aus, dass sie ihr Bestes tun. Hätten wir gewusst, dass Sie…“

Shinichis Verwirrung wuchs.

„Kennen wir uns denn?“

Die Frau lächelte.

„Nein. Ayako hat uns von Ihnen erzählt, Sie waren damals noch ein Oberschüler. Sie haben den Fall um die Ermordung eines jungen Mannes gelöst, der Fall in der Achterbahn und der Perlenkette, sie stand in der Menschenmenge, die aufgehalten wurde und warten musste, als es mit der Achterbahn nicht weiterging…“
 

Shinichi merkte, wie ihm schwindelig wurde, als sich plötzlich alles zu drehen begann.

„Der Mord im Tropical Island Vergnügungspark. Ich… erinnere mich. Ich saß mit meiner… einer Freundin im Zug weiter hinten, als es passierte…“

Heiji starrte ihn überrascht von so viel Zufälligkeit an – und stutzte.

Shinichis Teint war von leicht gerötet zu kalkweiß gewechselt.

Dann hob er den Blick, schaute die beiden an – er war durcheinander, das sahen sie ihm an.

„Und das hat sie Ihnen erzählt…?“

„Richtig.“

Frau Kanagawa nickte traurig.

„Sie hat Sie sehr bewundert, wie souverän Sie den Fall gelöst haben, Superintendent. Den Bericht über diesen Fall hatte sie sich ausgeschnitten. Er hing jahrelang an ihrer Pinnwand. Dann ging sie für ein Auslandsjahr hierher, und nun…“

Shinichi wischte sich über die Stirn, rieb seine Finger, ehe er sich aus seiner Sakkotasche ein Tuch fischte, seine Hände daran abrieb.

„Das… ehrt mich. Nun. Mein Beileid.“

Er hob den Blick, sammelte sich.

„Die hier haben wir aus der Wohnung geholt, die sie sich mit ihrer Mitbewohnerin teilte. Es ist ein teures Stück und schon etwas älter, deshalb nahm ich an, Sie möchten es gerne zurückhaben. Als Erinnerung an Ihre Tochter und weil es wohl…“

„Ein Erbstück ist. Ja.“

Kanagawa nahm den Geigenkoffer mit zitternden Händen entgegen.

„Haben Sie vielen Dank.“, wisperte er ergriffen, presste dann die Lippen aufeinander.

„Haben Sie denn noch Fragen bezüglich des Ermittlungsstandes?“

„Nein.“

Takeshi Kanagawa lächelte freundlich.

„Nein, nun, da wir wissen, dass der Fall in Ihren Händen ist, sind wir sicher, dass er bald gelöst sein wird, und der Mörder unserer Tochter seiner gerechten Strafe zugeführt wird. In allen anderen Belangen hat uns Herr Hattori freundicherweise schon auf den neuesten Stand gebracht. Es bleibt zu hoffen, dass kein weiteres Mädchen Opfer dieser Zeitungsannonce geworden ist…“

Shinichi schluckte hart, sagte nichts, zwang sich ein höfliches Lächeln auf die Lippen.

„Seien Sie gewiss, wir werden nicht ruhen, bis der Fall abgeschlossen ist.“

Ayakos Vater nickte, und langsam trat auch wieder der Schmerz in seine Züge, den die Aufregung um den Ermittler im Fall seiner Tochter verdrängt hatte.

„Wir sind in unserem Hotel und jederzeit für Sie erreichbar, wenn Sie etwas wissen wollen.“

Seine Frau nickte lächelnd. Shinichi schluckte hart, als er die Trauer in ihren Augen las – sie wirkte so tapfer in diesem Moment, und doch ahnte er, dass sie diese Fassade nur mit Mühe aufrechterhielt. Das Pärchen verneigte sich kurz, aber noch ehe Shinichi und Heiji diese Geste erwidern konnten, hatten sie sich umgedreht. Shinichi starrte ihnen hinterher, als sie durch die Halle schritten. Sie hatte ihren Arm um seinen Hals gelegt, er seinen um ihre Taille, stützte sie, als sie sich an ihn lehnte, mit ihrer freien Hand nach seiner tastete, sich festhielt.
 

Und sie sahen so viel älter aus, als sie es wohl waren.
 

Heiji verschränkte seine Arme vor der Brust, als er sich umwandte, um etwas zu sagen – der Anblick jedoch verschlug ihm fürs erste die Sprache.

Shinichi stand da, die Hände bis zum Anschlag in seine Hosentaschen gerammt und biss auf seine Unterlippe, in seinen Augen eine Mischung von Zorn und Ohnmacht.
 

Und erst da ging ihm auf, was damals im Tropical Island passiert war.

Der Osakaner sog scharf die Luft ein, brachte Shinichi dazu, sich umzudrehen.

„Das war… war das…?“

„Der letzte Fall vor Conans Auftritt, ja. Der Tag, an dem ich den größten Fehler meines Lebens gemacht habe.“

Shinichi löste sich aus seiner Starre, wandte sich um.

„Als ich den Fall gelöst habe, hatte ich eigentlich zuerst Gin und Wodka in Verdacht… sie fuhren nämlich auch mit, in dieser Bahn. Schon als ich sie zum ersten Mal sah, traute ich denen alles zu… und dennoch bin ich ihnen hinterher gelaufen. Und hab damit uns alle in Gefahr gebracht, nicht nur mich. Hätte ich Ran an diesem Abend einfach nur nach Hause gebracht, Heiji… hätte ich mich mit diesen beiden niemals weiter befassen müssen. Dann wären Ran und ich wohl irgendwo ein glückliches Paar, ich wär bei der Polizei oder Schriftsteller wie mein alter Herr…“, er lachte humorlos.

„Welch seltsame Zufälle das Leben bereithält.“
 

Heiji schaute ihn an.

„Kudô, ich muss dich das fragen… sind se hier?“

„Ha?“

Shinichi, der gerade hatte den Weg zur Tiefgarage ansteuern wollen, hielt inne.

„Du hast mich verstanden. Sind se hier? Und sag mir nicht, du fragst dich das nich‘. Das silberweiße Haar. Diese Ginfahne vorhin am Kleid der Leiche. Ich kauf dir nich‘ ab, dass du nich‘ daran dachtest.“

Shinichi schluckte, massierte sich die Nasenwurzel.

„War wohl nicht zu… überriechen. Wenn ich das wüsste, Hattori, wär ich ein Stück schlauer. Aber… ich befürchte es. Und deshalb will ich ja, dass sie London verlässt. Ran, und Shiho. Andererseits hab ich keinen echten Beweis, was, wenn ich nur Gespenster seh? Ich will die Pferde nicht scheu machen, bevor ich etwas Genaueres weiß… bis dahin halte ich Augen und Ohren offen, das darfst du schon glauben. Leider sind helle Haare und Alkoholkonsum in Großbritannien nun nicht eben… außergewöhnlich.“
 

Damit drehte er sich um, schaute nicht, ob Heiji ihm folgte. Dass er das tat, wusste er auch so.
 

Etwa eine halbe Stunde später saßen sie mit Jenna in einer Kaffeebar in der Nähe der Akademie. Sie hatten gerade ihre Bestellungen aufgegeben und warteten auf deren Ankunft; währenddessen zeigte Jenna ihnen die Ausbeute ihrer Fotosafari. Sie hatte tatsächlich ziemlich viele junge Studenten mit ihrer Anfrage erreicht; ein Kleid, das in Stoff und Schnitt den Outfits ihrer Opfer nahe kam, hatte sie leider nicht gefunden. Die Anfrage bezüglich der verwendeten Materialien hatte ein paar Treffer gegeben, ein paar der Schnitte und Passformen ähnelten denen der Kleider an den Tatorten, aber der hundertprozentige Treffer war nicht dabei. Sie beschlossen, die Designer, die ihren Kleidern am nächsten kamen, nochmal getrennt zu befragen, als Jenna ihnen noch von dem Pärchen berichtete.

„You couldn’t take a look into the portfolio?“

Shinichi runzelte die Stirn.

„No. He seemed quite agitated and took it from her, ran away with it. She almost couldn’t catch up with him. But I noted the name, she called after him. Eddie.”

Sie tippte in ihr Notizbuch.

„Looked quite battered, the poor lad. The stereotype of the poor but brillant student… That look is nothing that would have made him special, though. I’ve seen at least two dozens of that sort. They cultivate their bohème-stile, those artists.“

Jenna seufzte. Heiji warf Shinichi einen Blick zu.

„We should follow that trace nevertheless, although it would be recommended to do so undercover. We have no proof yet, not even a hint, that would justify a questioning or moreover, a police interrogation. At least we are going to get the search warrant tomorrow, this will allow us to dig a bit deeper; though, the warrant is limited to the rooms of the university. We mustn’t search the flats of the students.“

Shinichi massierte sich die Schläfen.

„You should go there again, tomorrow. Try to get the names of the two students you mentioned. Have a look at their work, if possible.“
 

Er schrak auf, als sein Telefon über den Tisch rutschte, als der Vibrationsalarm anging. Mit einem gezielten Griff fing er das wanderten Gerät ein, nahm das Gespräch an.

„Kudô?“

Konzentriert lauschte er in die Muschel.

„Ah! Very good. Yes, I have something to write with me, Mrs McDermitt. If you just…“

Er fischte seinen Kugelschreiber und sein Notizblöckchen aus seiner Brusttasche, legte beides auf den Tisch und tippte die Spitze des Stifts heraus. Jenna zog die Augenbrauen hoch, beugte sich, genauso wie Heiji, interessiert vor, versuchte über Kopf zu lesen, was ihr Chef notierte. Die Bedienung kam unterdessen, stellte die drei Getränke ab und verzog sich lautlos wieder.

Währenddessen schrieb Shinichi einen Namen auf, darunter einen zweiten, sowie eine Adresse und die dazugehörige Telefonnummer.

„Thanks. Yes. I’ll take care of everything else.“

Mit einem Knopfdruck, der von einem leisen Piepton begleitet wurde, beendete er das Gespräch.
 

„Erin Shaughnessy.“

Shinichi kratzte sich an der Nase.

„The name of our new victim?“, fragte Jenna.

„The name of our new victim.“, bestätigte Shinichi langsam, verstaute Notizblock und Stift wieder in seiner Jackentasche, nachdem er sich die Information eingeprägt hatte.

„She is the fiancée of a certain Cedric Bakersfield, who has reported her missing this morning. Now whe have found her.“

Er seufzte still.

„He’ll visit us tomorrow to identify her, we are going to pick him up, he does not seem to be able to come to London himself, lives in the suburbs. Today the visiting time has ended, McCoy is obviously gone already. Well. It’s almost six p.m.“

Ein unwilliges Stirnrunzeln wanderte über seine ansonsten glatte Haut.

„Curious, though.“

Leise atmete er aus.
 

„Our work for today is finished. Jenna, you can go home from here – you don’t have to go back to the Yard, except you have forgotten something there… und du, Heiji…“

Shinichi versuchte ein Lächeln.

„…hast doch ohnehin Besuch. Kazuha dürfte sich freuen, wenn du mit ihr zum Essen gehst.“
 

Damit nahm er seinen Kaffee, trank ihn kommentarlos aus und ging zur Bar, um für sie zu bezahlen. Heiji warf ihm einen angesäuerten Blick hinterher – Jenna seufzte leise in ihren Milchschaum.

Wahrscheinlich kam sie nicht drum herum, heute mal das Internet bemühen zu müssen, dachte sie für sich. Sie hatte sich vorhin eine Zeitung gekauft und sie kurz überflogen – und auch wenn sie sich dafür verabscheute, die Neugier quälte sie seither.
 

A detective since his teenagerhood… that seems pretty unbelievable.
 

Ihr gefiel der Gedanke nicht, ihrem Partner so nachzuschnüffeln, aber für ihren Geschmack lagen hier jetzt doch zu viele Dinge in der Luft, von denen sie keine Ahnung hatte.
 

Der Gedanke begleitete sie wie ein Schatten, auch noch, als sie endlich in ihre kleine Wohnung mehr fiel, als dass sie durch die Tür trat. Sie wand sich aus ihrer Jacke, warf sie unachtsam über den Garderobenständer, von dem sie ungehorsam herunterglitt, seufzte leise.

Die Geschehnisse des Tages gingen ihr nicht aus dem Kopf; die Erinnerung an das Gesicht ihres Chefs, den Tonfall seiner Stimme ließen sie nicht los. Sie hatte kein Wort von dem verstanden, das er mit Heiji oder der jungen, blonden Frau gewechselt hatte.
 

Ihre Intuition verriet ihr aber, dass hier Gefühle im Spiel waren.
 

Sie ging zur Küchenzeile ihrer Zweizimmerwohnung, brühte sich mit einer Filtertüte eine Tasse Kaffee auf. Während der Kaffee zog, schlüpfte sie in ein paar bequeme Klamotten, schnappte sich ihr Laptop und die Tasse, und pflanzte sich auf ihr Sofa.

Als ihr der Startbildschirm der Suchmaschine ihres Vertrauens entgegenstrahlte, zögerte sie kurz. Es kam ihr immer noch seltsam vor, und unanständig, im Leben und der Vergangenheit ihres Partners und Vorgesetzten zu schnüffeln.
 

Though… if it’s open to public access, it’s no prying at all.
 

Sie seufzte leise. Dann tippte sie den Namen ein.
 

Shinichi Kudô.
 

Die Trefferzahl erstaunte sie nicht; schließlich war ihr Boss auch in London kein unbeschriebenes Blatt mehr. Sie scrollte nach unten, zu den älteren Einträgen, musste einige Seiten weiterklicken, bis die älteren Treffer kamen.
 

Dann sah sie die erste Nachricht; eine Schlagzeile einer japanischen Zeitung. Sie bemühte die Übersetzungsfunktion, der sie immerhin so weit traute, die paar Wörter ordentlich zu übersetzen – und nur wenig später spuckte die ihr das Ergebnis aus.
 

His name is Shinichi Kudô
 

Sie klickte sich durch die Nachrichten, überflog Berichte, die in nunmehr sehr schrägen und bröckligem Englisch von einem fünfzehnjährigen Oberschülerdetektiv aus Tokio erzählten, sah Bilder von ihrem Chef als Teenager, wie er selbstbewusst in die Kamera grinste. Sie hatte weder dieses Grinsen noch dieses Selbstbewusstsein je an ihm gesehen.

Sie klickte sich chronologisch durch, von den alten zu den neueren Beiträgen.

Es schienen schier unzählig viele Berichte zu sein. Sie schluckte, merkte, wie trocken ihr Hals geworden war.
 

A genius.

A master detective.

At the age of sixteen.

Damn it, sixteen! A teenager!

The paper was right…
 

Jennas Finger wurden kalt, als sie nervös von einer Seite auf die andere klickte, Hyperlinks verfolgte, weitere Suchoptionen anwählte, und immer mehr Fälle zutage kamen, in denen Shinichi Kudô die Finger im Spiel gehabt hatte, und merkte, wie in ihr die Achtung wuchs. Dass ihr Partner verdammt brillant war, hatte sie nach den ersten Sätzen geahnt, die sie ihn hatte sprechen hören, dass er seinen Posten zu Recht hatte, nachdem sie seinen letzten Fall in den Akten studiert hatte und die Arbeit mit ihm aufgenommen hatte.

Aber das hier übertraf alles, was sie bisher wusste, oder erwartet hatte.
 

Dann stutzte sie, als die Kriminalfälle, die sich bis gerade eben wie eine Perle nach der anderen auf einen Faden aufgezogen hatten, abrissen. Eine Zeitlang klaffte eine Lücke in den Berichten; ungefähr eineinhalb Jahre schien ihr Partner nahezu nichts getan zu haben, das mit Fallaufklärung zu tun hatte.
 

Dann kam die Bombe.

Die Sensationsmeldung.
 

Sherlock Holmes of Heisei Era destroys Japans largest crime syndicate!
 

Und sie sah das Bild.

Ihr Boss, wie sie ihn kannte, jünger zwar, aber dennoch – so sah sie ihn fast immer.

Ernster Blick, blasser Teint.

Keine Spur mehr von diesem Lächeln, das sie gerade noch angestrahlt hatte, keinen Funken mehr von diesem Triumph, von dem seine Augen gerade noch gesprüht hatten. Und im Gegensatz zu allen anderen Fotos schien dieses Foto nicht mit seiner Zustimmung geschossen worden zu sein. Sie erkannte eine Glasfront in seinem Rücken, und obwohl sie die japanischen Schriftzeichen nicht lesen konnte, so war ihr doch klar, wo er sich befand und einen leeren Blick über die Schulter in die Kamera warf, wohl weil ein aufdringlicher Reporter ihn angebrüllt hatte.
 

Er befand sich vor einem Krankenhaus.
 

Die Menschen, die hinter der Glastür erkennbar waren, sahen in fast jedem Land dieser Welt gleich aus.

Es waren Ärzte in weißen Kitteln, die Menschen auf Tragen, in Betten und Rollstühlen durch die Gegend schoben.
 

Und obwohl das Foto schwarzweiß war, ahnte sie, dass das, was seine Jacke dunkel färbte, nicht der Regen war, der seine Haare bereits ein wenig an seinen Kopf klebte.
 

Sie zog ihre Lippen zwischen die Zähne, kniff die Augen zusammen. Ein eisiger Schauer rieselte ihr über den Rücken. Fast hatte sie Angst zu lesen, was passiert war. Schließlich tat sie es doch, machte sich sogar die Mühe, eine professionellere Übersetzungsmaschine Satz für Satz zu füttern, um einen lesbaren Bericht zu bekommen.
 

Tokio. - Yesterday our city was relieved from a literally black demon. Many of us have never taken notice of them, but they were operating amidst us all. They had postions in politics, the market, the police. They worked as doctors, lawyers, officials – and most of the time we never saw them, furthermore and even worse: we trusted them. Our lives, our rights, our money.

We talk about the members of the Black Organization.

They brought fright and terror upon the citizens of Tokio; they murdered, they stole, and they blackmailed our city. This syndicate did not just operate here in Japan – it had its contacts reaching over the ocean, employing its members even in the U.S.
 

Yesterday our brave police achieved, with the help of the FBI and thanks to a young man, the downfall of this syndicate. This guy, who has rescued our city, our land – who has freed us from these gangsters – is no other than Shinichi Kudô, our Sherlock Holmes of Heisei Era. It has been a long time quiet around him, nothing had been heard of him; now rumors tell that he was undercover, preparing the destruction of the Black Organization.
 

Yesterday he landed the big coup.

Unfortunately he has not shown himself to the public and therefore has not made a statement of his own yet. Police tells, that in the industries area around the Haizawa-Komplex an incident has occurred. We have no more detailed info, but we hope that he was not hurt himself.
 

We cannot do anything else but sit and wait and hope, that no innocent was hurt.

Nevertheless we are grateful that Tokio has become a safer place, thanks to the great work of our policemen and policewomen – and thanks to Shinichi Kudô.
 

Jenna schob den Rechner von sich. Sie ahnte, dass die fromme Hoffnung der Redakteure, dass es keine Unschuldigen getroffen hatte, umsonst gewesen war.
 

Oh, boss…

What has happend…?

Who was hurt?

What made you look like this…

What made you live like this…?
 

Sie schaltete den Rechner aus, blieb noch lange danach sitzen. Und dachte an Heijis Worte; er hatte nicht untertrieben.

Unwirsch fuhr sie sich durch die Haare. Es stimmte; so ein unbeschriebenes Blatt wie sie gedacht hatte, war ihr Chef bei Weitem nicht. Sie hatte angenommen, er habe einfach wahnsinnig schnell Studium und Polizeilaufbahn aufgrund seiner Brillanz hinter sich gebracht. Dass er derart tief ins organisierte Verbrechen verstrickt gewesen war, hatte sie nicht geahnt.
 

Allerdings stellten sich ihr jetzt einige Fragen, die ihr der Bericht der Tokioter Tageszeitung nicht beantwortet hatte.
 

Warum war er aus Tokio weggegangen? So wie sie das sah, hatte ihm dort doch jede Tür offen gestanden, er hätte sich nicht beide Beine ausreißen müssen wie hier, um als Ausländer und noch dazu verdammt junger Kerl eine derartige Position zu erreichen.

Dort waren seine Freunde, seine Familie…

Und wie es aussah, hatte er ja sogar mit ihnen gebrochen. Heijis Reaktion am Flughafen sprach eigentlich Bände; sie hatte nicht geahnt, damals, dass die beiden sich kannten, aber zu erfahren, dass sie eigentlich seit fast einem Jahrzehnt befreundet waren, hatte sie stutzig werden lassen.

Dann die Geschichte mit diesen jungen Frauen vor dem Big Ben.

Die Blondine, die ihn sogar geohrfeigt hatte, und dieses hübsche brünette Mädchen, das ihn einfach nur angestarrt hatte.

Genauso, wie er sie angestarrt hatte.
 

Sie hatte kein Wort verstanden von dem, was gesprochen worden war, aber blind war sie nicht. Die blonde Frau hatte offensichtlich ihren Frust an ihm ausgelassen, und Grund für den Frust war offensichtlich ihre Freundin, die neben ihr gestanden hatte, und zu der sie immer wieder hin gestikuliert hatte.

Die Gute hatte ihn richtig zur Sau gemacht, und er hatte sich nicht im Geringsten gewehrt.

Warum nicht?

Weil er ihr Recht gab?
 

Es schien so.

Aber nicht nur das.
 

Der Blick, der der jungen braunhaarigen Frau gegolten hatte, hatte Bände gesprochen.

Er schien auch viel zu geschockt, um überhaupt reagieren zu können. Geschockt von ihrem Anblick, von ihrer schieren Anwesenheit.

Jenna merkte, wie ihr die Gänsehaut den Nacken entlang über den Rücken lief, die sie auch heute Vormittag gespürt hatte.
 

Love.
 

You love her.

So incredibly deep.

And she loves you. Just as much.
 

So why, for heaven’s sake, don’t you share a life?

Why do you punish yourself like that?

Why, Sherlock, do you live alone, leave your home, your friends, the love of your life…
 

There must be a reason.

A damned good reason, or you’re just the biggest fool I’ve ever met.
 

“You have left them, all of them, and started a new life here. You don’t allow yourself to enjoy any pleasure, you live alone, you care for friendly connections to everyone but you don’t have real friends here, don’t bother to make some friendships besides… me, perhaps, and McCoy – though you could, you are popular. You keep on working all day, probably half of the night, too, and at the weekends. You don’t take a rest, you never go on holiday, free time is a foreign word for you. You protect them, and you surely punish yourself. But what is the reason for this?”
 

Müde strich sie sich über die Augen, zerbiss sich die Unterlippe.

Dann startete sie den Computer erneut. Vielleicht kam sie noch an die Fallakten oder an genauere Berichte über diese Organisation.
 

Kazuha schrak hoch, als das Handy ihres Freundes läutete. Heiji warf einen Blick auf die Nummer – er kannte sie nicht. Shiho und Sonoko, die ihm gegenüber in der Hotelbar saßen, warfen ihm einen fragenden Blick zu – dann nahm er das Telefongespräch mit einem leisen Seufzen an. Er hatte ihnen gerade sagen wollen, für wie fahrlässig und unsensibel (ja, er redete tatsächlich von ihrem mangelnden Einfühlungsvermögen – nicht von seinem, wie sonst immer) er es hielt, seinen besten Freund heute auch noch mit seiner Jugendliebe zu konfrontieren – auch wenn sie wohl nichts dafür konnten. So wie er es verstanden hatte, war der abendliche Besuch, den Shinichi wohl gerade in diesem Moment empfing, auf dem Mist seiner eigenen Mutter gewachsen.

Andererseits fragte er sich auch, worüber er sich beschweren wollte – schließlich redete er selber ja seit heute Nachmittag an Kudô hin wie an einen Toten, dass er endlich mit Ran reden sollte.

Nun war es wohl soweit – allerdings, das gestand er sich wohl ein, hätte man ihm die Wahl des Zeitpunkts überlassen sollen.

Heute zumindest… war das eigentlich einen Tick zu viel.

Jetzt aber hielt er sich das Handy ans Ohr, lauschte – im nächsten Moment zog er seine Augenbrauen überrascht hoch.
 

„Sayonara, Mr. Hattori. I got your number from Mrs. McDermitt. I…”

Jenna, die am anderen Ende der Leitung hing, entschuldigte sich.

„Please excuse my late call, I’m sure you have better things to do than answering my questions, for sure…”

Er lächelte.

„Everything is alright, Jenna. Good evening. What questions do you have? I guess you did it by now…?“
 

Kazuha starrte ihn an – Sonoko grinste, als sie die Eifersucht in ihren Augen las.

„Was hat sie getan? Heiji? Was?“

Heiji grinste sie an, bezeichnete ihr, den Mund zu halten und ruhig zu sein.

„I did it, yeah. I’m flashed, I confess.“

Sie schluckte hart, räusperte sich.

„I have prepared myself for big discoveries, Mr Hattori… but this is… waayyyy beyond my imagination.“

„Heiji, Jenna. Call me Heiji, that’s quite alright.“

Er merkte, wie sie am anderen Ende stutzte, und stellte sich vor, wie sie gerade rot anlief. An dem leichten Stottern in ihrer Stimme, als sie weiterredete, konnte er ahnen, dass er mit seinem Bild Recht haben könnte.

„Oooh- okay. Ah, thank you. Yeah. Well... He’s freaking brilliant.“

Sie holte Luft.

„I mean, solving the first murder case at the age of sixteen?! Do you want me to tell you what I did, when I was sixteen?! Getting on my parent’s nerves with my pupertary behavior, that’s what. Colouring my hair black and purple. That’s what.”

Sie seufzte.

“Solving the case with nothing more than watching closely and think? No medical examination, nothing! Just like that, and that over and over again, in short time, always successful – I mean, now I understand completely, it is no wonder that everybody calls him…“

„Sherlock Holmes. Right. And yeah. He’s got brains, that guy.“

Kazuha, die ihm weiter böse Blicke zugeworfen hatte, hörte auf, Heiji unter dem Tisch gegen das Schienbein zu treten.

„The Black Organization…“, fing sie dann an. Heijis Blick wurde ernst.

„… has almost cost him both, his life and his mind.“

Er hörte sie schlucken, und hörte auch das Zittern in ihrer Stimme, als sie weitersprach.

„A worldwide operating crime syndicate, destroyed as a young man of eighteen, this is… this is…“

Jenna unterbrach sich selbst.

„As far as I could discover, he had tracked them down and gathered info about them for years, until he made his final move. He seemed to have been their hostage for a while, the papers are not that clear about that fact. And somebody was hurt. The last picture that was made of him in Japan depicts him standing in front of a hospital. Now… you will understand, I asked myself, if that was the reason he had left his home. Japan. If this was the reason he ceased every contact with you. I think, it must have something to do with that organization, and with the person who got hurt. But there is just no information to be found about that! So… I wondered if I could ask you… before I talk to him. This organization… does it still exist?“

Heiji seufzte laut.

„In parts, yeah.“

„And they are still hunting him?“

„Very likely, yes.“

Er hörte, wie Jenna pfeifend ausatmete.

„So he left Japan because he thought, he would be safe here?“

„No.“

Heiji kratzte sich an der Nase.

„No. You should know him better by now, Kudô’s no runaway and no coward, and anyway, he pretty well knows for himself, that there’s no place on this earth where he’d be safe from them. His departure had other reasons.“

„The person who was hurt.“

„Yeah.“

Jenna schloss die Augen, wickelte sich das Kabel ihres Telefons so fest um den Finger, dass ihre Fingerspitze blass und kalt wurde; löste es wieder und wickelte erneut.

„The chocolate-brown-haired girl from the bridge this afternoon.“

Heiji schluckte.

„Ran. Yeah. She was stabbed that night.“
 

Sie zerbiss sich die Lippen, merkte, wie sich ihr Magen aufreizend langsam zusammenzog.

„He loves her, doesn’t he?“

Heiji lächelte ein winziges Lächeln.

„Yeah, he does.“

„So that’s why he left? Because he felt guilty that his girlfriend got hurt…?“

Heiji seufzte leise ins Telefon, was sich als Rauschen an Jennas Ohr manifestierte.

„That’s it. For more details you will have to ask him for yourself, Jenna.“

Sie presste die Lippen aufeinander.

„I understand. Thank you for your help…, Heiji.“

Sie zögerte noch einmal kurz.

„Good evening.“

„Good night, Jenna.“
 

Heiji legte auf.

Kazuha schaute ihn fragend an.

„Seine Kollegin?“

Heiji nickte langsam.

„Ja… die ist nicht auf den Kopf gefallen, diese Jenna. Und sie mag ihn halt… ihr ist auch aufgefallen, dass mit ihm was nicht stimmt. Ich frage mich…“

Er griff nach seinem Weinglas, trank einen Schluck.

„… was da gerade vor sich geht.“
 

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Hallo Leute!
 

Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel - ich kann nicht oft genug sagen, wie wichtig eure Feedback für mich ist.

Also bitte - wenn ihr ein paar Minuten erübrigen könnt, mir ein paar Zeilchen zu schreiben, macht ihr mir eine Riesenfreude - und helft mir weiter, ganz nebenbei, dieses Geschichte noch besser zu machen.
 

An der Stelle auch gerne eine Erklärung, warums jetzt mal wieder fast jeder weiß - nur Ran noch nicht...

Nun; weil's doch auch im Manga so läuft. Ich denke, das ist ihr Schicksal - bevor sie es weiß, weiß es die ganze Welt um sie herum, und versucht, es vor ihr geheim zu halten, obwohl sie die Lunte längst riecht; und selbst dann wartet sie, bis er selbst es ihr sagt. Ich erinnere an der Stelle gerne an die Episode, als Conan in der Drachenhöhle angeschossen wurde, und eigentlich fast klar war, dass Ran überzeugt davon ist zu wissen, wer sich hinter Conans Identität verbirgt. Ich will die Spannung aufbauen, ich will dieses "Missverständnis" oder Versteckspiel, dass da seit 5 Jahren läuft, auf die Spitze treiben, deshalb. Aber keine Bange, er wird's ihr sagen, und das wirklich bald *nächstesKapitelFahneschwenk*; was anderes bleibt ihm auch nicht mehr übrig.
 

An alle die seltsam finden, dass seine Eltern 5 Jahre nicht bei ihm waren- ja, das ist wohl wirklich seltsam. Das ist mir auch bewusst; allerdings könnte ich die Geschichte nicht so einfädeln, wie ich es jetzt tue, würden seine Eltern bei ihm ein- und ausgehen. Sicherlich werden sie ihn oft eingeladen haben oder angekündigt, dass sie kommen - er wird sie abgewimmelt haben. Und wenn man dann darüber nachdenkt - 5 Jahre können auch recht schnell vergehen. Andererseits muss ich auch sagen, ich find auch bei Gosho seltsam, dass seine Eltern nie da sind - und ihn mit 13 allein gelassen haben. Also hab ich mir diese künstlerische Freiheit wohl einfach genommen.
 

Ich wünsche euch zwei schöne Wochen - wie ihr euch denken könnt, im nächsten Kapitel geht's rund!
 

Beste Grüße,

eure Leira

Kapitel 15: Konfrontiert

KAPITEL 15 – KONFRONTIERT
 

Er war fertig mit der Welt, als er endlich vor seiner Wohnung ankam, freute sich auf seine Couch, auf die er sich einfach nur fallen lassen wollte, den Kopf endlich ausschalten, diesen Tag ad acta legen, zumindest bis zum Morgen. Er hatte Heiji abgeschüttelt und war Jenna losgeworden, hatte sich noch kurz das neue Gemälde in der Autopsie angesehen, das nun neben dem von Ayako hing - und wollte nun einfach seinen Kopf ausknipsen, bis morgen früh, es zumindest versuchen – bis er sich auseinandersetzen musste mit der Wahrscheinlichkeit, dass die Schwarze Organisation ihm nun tatsächlich wieder auf der Spur war.

Ein Schauer von Angst und Aufregung gleichermaßen rieselte ihm über den Rücken.
 

Was wäre, wenn das nun alles ein Ende fände.

Allerdings…
 

Er schluckte hart.
 

Ran ist hier. Und wenn sie auch hier sind…

Dann…

Nein.

Nein!
 

Er schüttelte den Kopf.
 

Beruhige dich. Du hast noch keine Beweise, nicht einmal einen wirklich stichhaltigen Hinweis, außer die Geister, die du ständig siehst…

Auch wenn du glauben willst, dass sie es sind. Weil du es satt hast, sind wir ehrlich, Kudô… es geht schon viel zu lange so, und stell dir nur mal vor…
 

Du hättest vielleicht eine echte Chance, auf eine Zukunft, jetzt, da…
 

Aber du willst sie nicht besiegen um den Preis, den du das letzte mal fast bezahlt hättest.

Was also nun?

Abwarten, Augen und Ohren offen halten, mehr kannst du nicht tun… vorerst.
 

Umständlich sperrte er die Tür auf, stieß sie auf – und ihm blieb ihm das Herz stehen, für einen Moment.

Auf der Couch saßen seine Eltern.

Und sie schauten ihn an – zwei Paar blaue Augen, den seinen nicht unähnlich, unverwandt auf ihn gerichtet, und schienen zu versuchen ihn zu durchleuchten wie ein Röntgengerät einen gebrochenen Arm.
 

Er wurde blass, merkte förmlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich – um in der Folge vermehrt wieder genau dahin zu strömen. Shinichi atmete aus, laut, schnaubend, drehte sich um, ohne die Tür aus der Hand zu lassen.
 

„Mrs HUDSON!!!“
 

Ungehalten schallte seine Stimme durchs Treppenhaus. Er atmete ein weiteres Mal gepresst aus. Unten hörte man eine Tür aufgehen, dann waren die eiligen Schritte einer älteren Dame, die die Treppe rauftrippelte, zu vernehmen.
 

Schließlich erschien sie, nur ein wenig außer Puste, in der Tür – eine in wolligen Tweed gekleidete, runzelige Gestalt, vom Alter gebeugt und mit schlohweißem Haar, ihre klaren blauen Augen voll mildem Erstaunen auf ihren Untermieter gerichtet.
 

„Yes, Sherlock, darling? You don’t have to shout that loud, I’m old, but not deaf, you know…“

Der Singsang ihrer Stimme brachte ihn fast noch mehr auf die Palme. Er strich sich mit einer Hand über die Augen, versuchte, sich zu beruhigen.

„Mrs. Hudson.“, begann er dann langsam, und merklich leiser.

„Would you please explain this…?“

Er unterstrich seine Frage mit einer bezeichnenden Geste zum Sofa hin. Sie schien ein kleines Bisschen überrascht ob seiner Erregtheit.

„Well, they said, they were your parents, so I let them in.“

Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Oh. Of course. That explains everything.”
 

Yusaku Kudô beobachtete seinen Sohn mit ernstem Blick. Man musste kein Detektiv sein um herauszufinden, dass ihr Besuch Shinichi nicht eben willkommen war. Und so, wie er aussah, ahnte Yusaku auch, warum. Er sah abgehetzt und erschöft aus, und er mochte diesen Anblick bei seinem Sohn nicht – denn bis zu der Sache mit Conan war Shinichi das nie gewesen. Was auch immer das Leben ihm als Herausforderung gestellt hatte, er hatte es mit Links bewältigt, war immer im Reinen mit sich, zufrieden mit seinem Leben gewesen. Vielleicht zu zufrieden.

Dieses Blatt hatte sich gewendet.

Die Brocken, die ihm sein Schicksal mittlerweile zwischen die Beine warf, um zu sehen, wann er stolpern und fallen würde, waren bei weitem größer.

Vielleicht waren sie zu groß.
 

Es will nicht aufhören, nicht wahr, Shinichi…

Dieses Leben will dich keine Minute in Ruhe lassen.
 

Die Stimme seines Sohns riss ihn aus seinen Gedanken.

“Great to know that you’re letting anybody maintaining to be related to me in my apartment. For anything you know, they could be murderers.”

“Oh, come on, Sherlock, you don’t have to be a detective to see that this man looks very much like you, so he must be your father. Anyway, do these people look like killers?”

“Most killers do not look like…”, er suchte sichtlich nach Worten, verdrehte ungeduldig die Augen, schüttelte dann den Kopf, kapitulierend, „whatever a killer should look like in your imagination, Mrs Hudson. There is no scheme, and there exists no factory, where they are produced in masses and series, you know...”

Shinichis Stimme klang immer noch schneidend scharf; dann atmete er aus, gepresst.

“Mrs Hudson, could we agree on that you don’t let anybody unknown to you into my apartment? Never again?”

“Of course.”

“Thank you.”

Shinichi seufzte resigniert, strich sich ein weiteres Mal mit seiner rechten Hand über die Augen, ließ sie kurz an seiner Nasenwurzel verweilen, massierte sie sacht mit Daumen und Mittelfinger um das leise Pochen, das in seinem Kopf dumpf zu hämmern anfangen wollte, im Zaum zu halten.

„But they are your parents…?“, hakte sie nach, als sie sich zum Gehen wandte.

„Unfortunately, they are. Have a nice day, Mrs Hudson.“
 

Shinichi schloss die Tür hinter ihr.

„Unglücklicherweise?“

Yusaku hob eine Augenbraue, runzelte seine Stirn missbilligend. Shinichi zeigte sich unbeeindruckt.

„Ihr kommt nicht unbedingt gelegen, muss ich sagen. Leider.“

Shinichi lehnte sich gegen das Türblatt, langsam, atmete aus.

„Was wollt ihr hier? Und warum könnt ihr euch nicht ankündigen?“
 

Yusaku stand auf, trat einen Schritt näher.

„Ja, Sohnemann, wir freuen uns auch, dich zu sehen. Danke, der Flug war angenehm. Und nein, keine Sorge, der Weg hierher war kein Problem, wir haben ein Taxi genommen, wenn wir auch ein wenig im Stau…“

Shinichi seufzte, starrte kurz an die Decke.

„Danke, hör auf, ja, ich hab verstanden. Herzlich willkommen, schön euch zu sehen. Und nun - Was. Wollt. Ihr. Hier?“

„Uns überzeugen, dass es dir gut geht. Was offensichtlich nicht der Fall ist, Sohnemann.“

Yusaku hatte seinen Tonfall nicht im Geringsten geändert – der Blick aus seinen Augen ließ seine Missbilligung jedoch nur allzu deutlich erkennen.

Shinichi verzog das Gesicht unwillkürlich, versuchte abzuwiegeln.

„Ich bin im Stress, das ist alles. Das ist mein erster Fall als Superintendent, ich will…“, begann er; weiter kam er allerdings nicht. Yusaku schnitt ihm mit einer energischen Geste das Wort ab.

„Womit wir beim Punkt wären, Superintendent… wann wolltest du uns denn sagen, dass man dich befördert hat?“

Er blickte seinen Sohn fragend an; sein Blick war stechend scharf.

„Lass mich raten, du hast es vergessen. Genauso wie du offensichtlich vergisst, zu essen. Oder zu schlafen. Shinichi…“

Shinichi fühlte sich ertappt, allerdings nur kurz – er blickte seinen Vater kalkulierend an, dann schweifte sein Blick zu seiner Mutter.

„Ihr wart also so frei, meinen Kühlschrank und mein Schlafzimmer zu durchsuchen, nicht unbedingt die feine englische Art, um im Kulturkreis zu bleiben, aber nachvollziehbar, wenn ihr herausfinden wolltet, was ich so mache. Das mit dem Essen kann ich ja nachvollziehen, aber der Schlaf?“

„Dein Wecker ist auf halb sechs Uhr früh gestellt.“

Ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen.

„Na und? Ja, ich schlafe schlecht, auch das ist nichts Neues für euch, warum soll ich wach im Bett liegen und die Decke anstarren?!“
 

Yukiko seufzte lautlos. Sie hatte ihren Sohn genau beobachtet – und im Prinzip sah er genauso aus, wie sie erwartet hatte. Durchaus gepflegt, aber einen Tick zu hager; blass, abgearbeitet, gestresst.

Und aufgewühlt.

Das konnte eigentlich nur eines heißen.
 

„Du weißt es.“
 

Shinichi zuckte bei den Worten seiner Mutter merklich zusammen. Langsam trat er in den Raum, sank er auf die Tischkante, starrte zu Boden. Er wusste sofort, worauf sie anspielte – ein Abstreiten war sinnlos. Und auch gar nicht intendiert, eigentlich hatte er es ihnen ja selber sagen wollen.
 

„Heiji ist der Verbindungsmann aus Japan, er ist gestern angekommen. Nun, was soll ich sagen – er hat mich über meinen Irrtum aufgeklärt.“

Seine Stimme klang seltsam rau – dann hob sich sein Blick, in seinen Augen ein fragender Ausdruck.

„Woher wisst ihr es? Ich wollte euch gestern anrufen, aber ihr gingt nicht ans Telefon. Was sich ja mittlerweile selbst erklärt…“

Er gestikulierte ziellos in der Luft, seufzte.

Yukiko sah ihn mitfühlend an, ging nicht auf seine Frage ein.

„Sie ist auch hier.“

„Auch das weiß ich schon.“

Er hörte auf, mit den Händen in der Luft zu arbeiten und steckte sie in seine Hosentaschen, zog seine Unterlippe zwischen seine Zähne, blickte zur Seite.

„Also habt ihr sie getroffen?“

„Hast du mit ihr geredet?“ Yusakus Augenbrauen rutschten fragend nach oben, ging nicht auf seine Frage ein. Ran hatte mit keiner Silbe erwähnt, dass sie sich schon gesehen hatten.

„Nein!“

Shinichi schüttelte den Kopf, heftig.

„Heiji und ich waren auf dem Weg zum Tatort, wir trafen sie auf der Westminster Bridge, zusammen mit den anderen, Kazuha, Shiho und Sonoko. Ich habe nicht mit ihr geredet… nicht über… das. Ich… wollte nicht mit ihr reden. Ich werds auch nicht tun. Ich hab ihr nahegelegt, London zu verlassen, hier läuft ein Mörder rum, der ein Auge auf junge Frauen geworfen hat, und in dessen Zielgruppe sie leider perfekt passen. Davon abgesehen aber… denke ich wirklich, sie ist besser dran ohne mich. Ihr auch. Nach allem was war und immer noch ist, ist wohl jeder besser dran ohne mich.“

Er stand auf, langsam, ging zur Tür, öffnete sie.

„So, ihr habt mich jetzt gesehen, ihr seht, ich lebe noch – also, wenn ihr jetzt gehen würdet? Ich würde gern…“

Yusaku schaute seinen Sohn streng an.

„Du wirfst uns raus?“

„Nein.“

Shinichi schüttelte müde den Kopf.

„Ich bitte euch, zu gehen. Jetzt. Ich nehme an, ihr seid noch etwas länger in der Stadt, vielleicht können wir uns unterhalten, wenn es etwas ruhiger ist, am Besten dann, wenn der Fall vorbei und gelöst ist. Für heute will ich für meinen Teil einfach nur meine Ruhe haben. Der morgige Tag dürfte anstrengend genug sein, auch ohne…“

Er seufzte, schüttelte den Kopf, als er den unglücklichen Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter sah. Hilflos sah er sie an, wusste er doch, was sie wünschte.

„Bitte. Mischt euch nicht ein.“

„Aber sie lebt, Shinichi!“

Nun war es Yukiko, die sich zu Wort meldete. Sie war aufgestanden, berührte ihren Sohn an den Schultern. Shinichi wand sich aus ihrem Griff, Gereiztheit und Abwehr zeichneten sein Gesicht.

„Und damit das so bleibt, werde ich mich fernhalten von ihr. Mindestens so lange, bis der letzte Rest auch eingebuchtet ist, danach vielleicht… melde ich mich bei ihr. Wenn es ein Danach dann noch gibt.“

Er schluckte hart.

„Aber!“

„Nein!“

Shinichi schüttelte energisch den Kopf; seine Stimme war merklich lauter geworden.

„Ich bin erwachsen, das ist mein Leben, also misch dich nicht ein, Mama!“

Er wollte gerade noch etwas nachschieben, als eine Stimme hinter ihm ihn davon abhielt.
 

„Du triffst diese Entscheidung aber nicht allein.“
 

In diesem Moment schien die Zeit still zu stehen.
 

Er hielt den Atem an, wagte kaum, sich umzudrehen, wusste er doch, wem diese Stimme gehörte. Langsam hob er die Hand, griff sich an die Stirn, als ihm mit einem Schlag die Hitze ins Gesicht, in den Kopf stieg, sich in einem leisen, aber beständig intensiver werdenden, schmerzhaften Pochen manifestierte. Er konnte das Adrenalin fast auf der Zunge schmecken, das sein Herz zum Rasen brachte, seine Finger so eiskalt, gefühllos und schweißnass werden ließ.
 

Diese Stimme.
 

Ran.
 

Dann tat er es doch. Drehte sich um, langsam, wie in Zeitlupe fast, nur um bestätigt zu sehen, was er ohnehin wusste. Ran stand in der Tür, die in die Küche führte, trat nun in den Raum. Ihre langen, schokoladenbraunen Haare reichten ihr fast bis an die Hüfte. Ihre kornblumenblauen Augen hafteten an ihm, sahen ihn an mit einer Mischung aus unfassbarer Erleichterung und Mitleid… und Angst.
 

Shinichi fuhr herum, seine Augen suchten Blickkontakt mit seinen Eltern; seltsamerweise wichen sie ihm nun beide aus.

„Warum habt ihr sie hergebracht?“, wisperte er dann leise. Seine Stimme klang gequält; ein Ton, der sie alle schaudern machte. Ran sah ihn aufmerksam an, merkte, wie sie zu frösteln begann; erst langsam begriff sie, was er wirklich durchgemacht hatte. Wie sehr er litt.

Nur worunter genau erschloss sich ihr nicht – waren es Schuldgefühle? Sicherlich.

Aber schließlich hatte er sie doch aus freien Stücken verlassen, eigentlich… das zumindest war es, was sie dachte.
 

Yukikos leises Seufzen durchbrach die Stille und riss sie aus ihren Gedanken.
 

„Weil du sie immer noch liebst, ich weiß das, du weißt das, die ganze Welt weiß das, Shinichi! Und weil es Zeit wirst, dass du wieder glücklich…“
 

In dem Moment, als sie das Wort gesprochen hatte, hätte sie es am liebsten zurückgenommen. Sie biss sich auf die Zunge, sah ihm ins Gesicht, beobachtete, wie er immer blasser wurde und konnte den Ausbruch förmlich kommen sehen. Sie hätte es eigentlich wissen müssen.
 

„GLÜCKLICH?“

Er schrie fast.

„Ich bin glücklich, wenn man mich in Ruhe lässt! Versteht ihr das nicht? Ist das denn so schwer zu kapieren? Ich bin gegangen, aus Tokio, ich bin aus den Staaten weg, ist das denn kein deutliches Zeichen, dass ich allein sein will?! Allein! Ich will…“

Er atmete schwer, versuchte, sich zu sammeln.

„Verdammt, ihr wisst doch, warum ich gegangen bin, warum also tut ihr das!?“

Shinichi schluckte, bekam sich wieder einigermaßen in den Griff. Er wollte sie nicht anschreien, aber die Situation brachte ihn gerade ein kleines Bisschen um den Verstand.

Wie es immer der Fall war, wenn es um Ran ging.

Sein Hirn, sonst ein tadellos funktionierender Apparat, hing sich auf wie ein überforderter Computer, überhitzte und stürzte ab.
 

„Aber du machst dir doch was vor!“

Yukiko schaute ihn drängend an. Ihre Stimme war erstaunlich leise.

„Du belügst dich doch, Shinichi! Du läufst weg, weil du Angst hast –“

„Ja, verdammt, ich habe Angst! Messerscharf analysiert, Mutter.“

Ein bitteres Lachen entfloh seiner Kehle.

„Und du redest dich leicht. Glücklich, ja, klar. Du hast es nie spüren müssen, wie es ist, wenn der Mensch, den du so unfassbar…“

Er hielt inne, begann sich die Schläfen zu massieren, als es in seinem Kopf langsam wieder verstärkt zu pochen anfing. Seine Finger fühlten sich immer noch eisig und steif an; als alles Massieren nichts half, ließ er die Hände wieder sinken. Er spürte Rans Blicke in seinem Rücken fast körperlich, als er sich sammelte, erneut ansetzte.

„Du hast das nie erleben müssen...“

Er hielt inne, als er ein Geräusch hörte, hinter sich. Langsam drehte er sich um. Ran stand hinter ihm, kreideweiß, hatte sich unwillkürlich an eine Stelle knapp unterhalb ihrer Brust gefasst.
 

Dort, wo sein Schwert sie getroffen hatte.
 

Ihre Augen hafteten an ihm, das klare Blau sanft leuchtend in der Abendsonne – und in ihnen stand nur diese eine Frage.

Unausgesprochen.
 

Er schluckte hart, merkte, wie ihm etwas die Luft abschnürte, bei dem Gedanken, der sich ihm aufdrängte, als er versuchte, diesen Blick aus ihren Augen zu interpretieren.
 

Zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, dass sie es vielleicht gar nicht wusste.

Nicht wusste, was in jener Nacht passiert war, nachdem sie bewusstlos geworden war, nachdem sie gestorben war.

Dass sie gestorben war.

Und er fragte sich, ob er nicht der einzige gewesen war, dem man nicht die volle Wahrheit erzählt hatte.
 

Unwillkürlich erstarrte er, fühlte sich, als würde er von innen heraus versteinern, hielt den Atem an und glaubte, keinen weiteren Atemzug mehr tun zu können, als das Gefühl, sich zur sprichwörtlichen Salzsäule zu verwandeln, weiter von seinem Körper Besitz ergriff.

Er riss sich zusammen, wandte sich ab.
 

Weiß sie es nicht?

Warum weiß sie es nicht?
 

Und er entkam ihr dennoch nicht.
 

„Shinichi?“
 

Zögernd hatte sie seinen Namen ausgesprochen, leise, kaum lauter als ein Wispern. Zitternd hing er im Raum und hörte sich in seinen Ohren dennoch an wie ein Schrei. Alles, was er gerade noch hatte sagen wollen, war in seinem Kopf verpufft wie eine Rauchwolke.
 

„Was… was meinst du damit…?“
 

Yusaku schluckte hart, als er den fassungslosen Ausdruck auf dem Gesicht seines Sohns bemerkte. Er musterte ihn eingehend – man konnte ihm förmlich ansehen, wie er haderte, wie er nach Worten suchte.
 

Shinichi holte Luft – dann drehte er sich zu seinen Eltern um, in seinem Gesicht stand der Schock zu lesen, so deutlich, als wäre das Wort in Großbuchstaben auf seine Stirn tätowiert. Yukiko schaute ihn starr an, merkte, wie in ihr das schlechte Gewissen wühlte. Ihn in so eine Situation zu bringen hatte sie nicht beabsichtigt.

Sie hatte zusammenbringen wollen, was zusammengehörte, davon, dass Ran keine Ahnung von den wirklichen Geschehnissen dieses Abends hatte, hatte sie nichts wissen können.
 

Oder etwa doch? Wir hätten mit ihr reden sollen… vorher.
 

Dann riss seine Stimme sie aus ihren Gedanken. Shinichis Ton war merklich leiser und deutlich milder, als er nun sprach. Irgendwer musste mit Ran reden, mit diesem Halbwissen konnte man sie nun so nicht stehen lassen - und er hatte eine dumpfe Ahnung, wer dieser jemand sein würde… aber er hätte einen anderen Zeitpunkt gewählt, einen anderen Ort wahrscheinlich auch. Einen anderen Aufhänger für dieses Gespräch und eine andere Ausgangsposition ebenfalls.
 

Nun konnte er sich keines dieser Dinge mehr aussuchen.
 

Nur eines – er wollte allein sein mit ihr.
 

„Ich… lass das ungern so im Raum stehen.“

Abwesend strich er sich über die Ärmel seiner Jacke, streifte mit seinen Fingern das Band seiner Armbanduhr, rückte es gerade, spürte das Leder auf seiner Haut kleben.

„Ich weiß, ihr wollt nur das Beste für mich. Und ihr wisst, dass ich denke, dass das Beste für alle ist, wenn ich mein Leben allein lebe. Wir können darüber diskutieren, wenn ihr wollt – allerdings, nicht jetzt.“

Shinichi schaute seine Eltern mit ernstem Blick an.

„Ich würde gerne kurz mit Ran allein sein. Ihr könnt gern unten warten, es wird nicht lange dauern.“

Ran starrte ihn an, ihre Arme um ihren Oberkörper geschlungen, als versuche sie, sich aufzuwärmen, nachdem die Anspannung jedes Quäntchen Wärme aus jeder einzelnen Faser ihres Körpers vertrieben zu haben schien - sie hatte den Wechsel des Tonfalls in seiner Stimme wohl bemerkt.

„Würdet ihr… uns also allein lassen? Bitte?“

Yusaku schaute seinen Sohn missmutig an.

„Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen, Sohnemann.“

Shinichi lächelte bitter.

„Und auch das hab ich befürchtet. Wie gesagt. Gleiche Diskussion, andere Zeit, anderer Ort.“

Damit öffnete er die Tür. Er bemerkte sehr wohl die glasigen Augen seiner Mutter, und er konnte nicht abstreiten, dass ihm der Anblick einen Stich versetzte – allerdings, ändern konnte er daran auch nichts. Und langsam, dachte er, gewöhnte er sich fast daran, dass es in seinem Leben so viele Dinge gab, die er nicht ändern konnte.

Er schloss hinter ihnen Tür, drehte sich zu Ran um.
 

„Ich sag dir, wie es ist. Mir wäre lieber, auch du gingst jetzt. Allerdings, ich fürchte…“

„dass du mich so schnell nicht loswirst. Gut geschlussfolgert, Sherlock.“

Sie sah ihm an, dass das gesessen hatte, und frage sich, seit wann es ihm nicht mehr schmeichelte, wenn man ihn so nannte. Das leicht spöttische Grinsen, dass sie sich kurz auf die Lippen gezwungen hat, verzog sich.

Ran war immer noch blass im Gesicht, ihr Herz schien immer noch eine Etage höher als üblich zu schlagen, aber immerhin hatte sich jetzt wieder soweit im Griff, dass sie seine Finger am Türgriff aufbiegen konnte, sie selber ins Schloss drückte und sich vor ihm aufbaute. Lange sagte keiner von beiden etwas, einzig und allein das Geräusch ihres Atmens erfüllte den Raum.
 

„Du hast vorhin deinen Satz nicht beendet.“, begann sie schließlich zögernd.

Er wich ihrem Blick aus, presste die Lippen aufeinander.

Ran sah ihm ins Gesicht, berührte seine Wangen mit ihren Fingerspitzen, merkte, wie er schauderte.

„Stimmt auffallend.“

Shinichi trat einen Schritt zurück, entzog sich ihrer Berührung. Sie blickte kurz auf ihre Fingerspitzen, verwirrt, spürte ein leises Prickeln unter ihren Fingerkuppen. Unwillig zog sie ihre Unterlippe zwischen die Zähne, biss kurz darauf, ehe sie sprach.

„Be- beendest du ihn für mich? Würdest du mir den Gefallen tun...?“, murmelte sie leise, fragend, merkte, wie dieser kalte Schauer, der ihr schon vorher aufreizend langsam den Rücken hinabgerieselt war, erneut seinen Weg über ihre Wirbelsäule suchte. Sie hatte das Gefühl, jedes Härchen ihres Körpers stellte sich einzeln auf, so intensiv war der Schauder, der sie ergriff, als sie in Gedanken den Satz vollendete, den sie eigentlich gar nicht mehr vollständig hören wollte.

Denn, wenn er das gedacht hatte, all die Jahre…
 

„Ich würde es nicht als Gefallen bezeichnen.“
 

Seine Stimme klang tonlos, und als er aufblickte, stand in seinen Augen pure Angst. Sie fing an, zu zittern, schaute ihn nur an, unverwandt, merkte, wie es in ihr wühlte und tobte, eine Macht sie überwältigte, die sie fast in Fetzen riss.
 

Wenn das stimmte… dann hatten sie beide mit einer Lüge gelebt, die ihr Leben für Jahre ruiniert hatte. Sie starrte ihn an ohne zu blinzeln, wartete auf die Explosion.
 

Er schloss die Augen, ließ seinen Kopf nach hinten sinken, kniff die Augen zusammen, als könne er so die Bilder ausblenden, die in seinem Kopf auftauchten, von einer Ran, die in seinen Armen lag, die ihn anlächelte – und doch so unendlich müde aussah.

Von einer Ran, die zitterte und bebte, von einer Ran, die schwer gegen ihn sank.

Von einer Ran, die starb.
 

Er schnappte nach Luft, verscheuchte die Erinnerungen energisch, versuchte es zumindest, ehe er ansetzte.
 

„Ahnst du nicht, wie das Ende lauten muss? So wie du mich ansiehst, weißt du es doch schon…“

Unwillig schüttelte er den Kopf, als sie schwieg, ihn nur ansah, mit blauen Augen, in denen die Furcht deutlich zu lesen war, die Angst vor seinen Worten. Und das Entsetzen.

„Ran, du bist damals in meinen Armen…“

Unwillkürlich brach er ab, rang mit sich. Ein Gefühl von Kapitulation überwältigte ihn. Die letzten Tage, die letzten Stunden, waren einfach zu viel gewesen, und es schien, als forderten sie ihren Tribut, ungeduldig, unnachgiebig, mit lauter, bohrender Stimme, Macht und Gewalt.

Er ballte die Hände zu Fäusten, nahm sich zusammen, für dieses eine Wort.
 

„…gestorben...“
 

Das Wort, gewispert und kaum lauter als ein leiser Atemzug, stand wie eine Wand zwischen ihnen, für Sekundenbruchteile, es verhallte, ehe diese Mauer zusammenkrachte und den Blick freigab auf das Chaos.
 

Gepresst atmete er aus, blickte auf den Boden, merkte, wie alle Spannung von ihm abfiel, ihn einfach hängen ließ wie eine Marionette, deren Fäden man gekappt hatte.

Leer, kraftlos.

Es kostete ihn Mühe, sie wieder anzusehen. Sie knetete ihre Hände, starrte auf einen Punkt vor sich in der Luft, ehe sie ihren Blick hob. Er wusste nicht zu sagen, ob sie verstanden hatte, was er ihr gerade mitgeteilt hatte. Oder ob ihr Geist nun einfach zumachte, sie abschottete, weil die Wahrheit einfach zu grausam war – und zu entsetzlich in ihren Konsequenzen.
 

„Du… bist damals gestorben, Ran… nachdem Gin dich verletzt hatte. Du hast nicht mehr geatmet, und du hattest keinen Puls mehr…“

Unendlich langsam kamen ihm die Worte über die Lippen. Shinichi schluckte, strich sich über die Augen. Er sah sie an, merkte, wie sie unsicher wurde, wie ihre Welt ins Wanken geriet und begriff, dass es hier nicht um ihn ging.

Hier und jetzt ging es nicht um ihn.
 

Sie hatte es wirklich nicht gewusst.
 

„Als der Krankenwagen kam, warst du nicht mehr am Leben. Ich weiß nicht, für wie lange du tatsächlich herztot warst. Aber für mich… warst du es fünf Jahre lang. Bis gestern.“

Und erst jetzt schaute sie auf.

Richtete ihre Augen auf ihn, immer noch atemlos, erblickte ihn, sah ihm an, wie die Erinnerung ihn fast überwältigte, ihn erfasste wie ein Tsunami und mit sich riss, mit Wucht, und er ihr nichts, rein gar nichts entgegenzusetzen hatte. Und dennoch war er es, der sie festhielt, als er merkte, wie ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten, als ihr klar wurde, mit welchem ungeheuerlichen Gedanken er fünf Jahre gelebt hatte.

Langsam zog er sie in den Raum, hielt sie fest, als er merkte, wie unsicher ihre Schritte wurden, ließ sie sich aufs Sofa setzen.
 

„Man hat dir das nicht gesagt.“
 

Sie schaute ihn nur fassungslos an, wirkte wie betäubt als sie dann ganz langsam den Kopf schüttelte, nur ein wenig.

„Nein.“
 

Mehr als dieses kleine Wort schaffte sie nicht. Er biss sich die Lippen blutig, schaute sie lange an, ehe er sprach, versuchte, Worte zu finden, die diese Geschichte nicht ganz so furchtbar klingen ließen, wie sie war, und scheiterte.

Das war einfach nicht zu verharmlosen, nicht schönzureden.
 

Er griff ihre Hände, streichelte mit seinen Daumen unbewusst über ihre Finger. Er wusste, er wollte sie beruhigen, ihr den Rest der Geschichte so schonend beibringen, wie möglich – wenn er es schon tun musste.
 

„Im Wesentlichen war es das.“

Er atmete tief ein und aus, versuchte, sich zu sammeln.

„Du erinnerst dich, dass Gin… dass Gin dir sein Katana…“

Sie nickte, sah ihn dann an. Er war so unendlich blass geworden, dass selbst aus seinen Lippen jede Farbe gewichen war.

„Er… und die anderen sind danach gegangen. Man hat sie bis heute nicht gefasst. Dich… ließen sie zurück mit mir. Ich hab… den Krankenwagen mit dem Handy gerufen, das Sharon mir in die Hand gedrückt hatte, aber er… kam zu spät. Du… hast in meinen Armen aufgehört zu atmen, Ran. Du… du bist gestorben.“

Er blinzelte, als ihm die Erinnerung an diese Sekunden seine Fassung, die er sich gerade so mühsam zurück erobert hatte, verlieren ließ. Unwillig strich er sich über die Augen, rieb seine Finger. Er fühlte fast das Blut an ihnen kleben, dabei war es heute nur Wasser.
 

„Das ist der Stand, auf dem ich geblieben bin. Ich dachte, bis gestern, dass du tot bist. Gestorben, wegen mir. Ich wusste nicht, dass die Sanitäter dich reanimieren konnten. Ich wusste nicht, dass man dich im Krankenhaus hatte retten können. Mir sagte man, dass du tot wärst. Deswegen… bin ich weg, ohne ein Wort. Deswegen hab ich dir nie erklärt, warum ich gegangen bin. Ich… ich wusste nicht, dass ich dir noch irgendetwas hätte erklären können, so… so einfach ist das.“
 

Sie starrte ihn an. Auf seinen Lippen lag das bitterste Lächeln, dass sie jemals dort gesehen hatte. Und sie merkte, wie ihre Augen zu brennen anfingen, wie Scham ihre Wangen glühen ließ. Sie hatte immer gedacht, er hätte sie einfach allein gelassen – nie war sie auf den Gedanken gekommen, er könnte aus diesem Grund gegangen sein.

Eigentlich hatte sie auch geglaubt, er hatte gewusst, dass sie das Attentat überlebt hatte.
 

Wenn er das aber nicht wusste… und er dachte, all die Jahre…
 

Sein Gesicht tauchte vor Rans innerem Auge erneut auf, als sie verstand. Sie sah sein bleiches Gesicht, seine zitternden Hände, seine blutleeren Lippen jetzt – und von heute Nachmittag.

Und ahnte nur vage, wie sich seine Welt heute buchstäblich in seine Einzelteile zerlegt hatte, um ihm dann vor die Füße zu fallen, ein einziger großer ungeordneter Haufen nunmehr ungültiger Fakten, ein wirres Durcheinander.
 

Wie muss sich das angefühlt haben…
 

Sie verstand, warum er sie so angesehen hatte. Verstand, warum er es in Tokio nicht mehr ausgehalten hatte, ohne ein Wort gegangen war, mit niemandem mehr hatte reden wollen.

Hielt man sich vor Augen, dass er sich die Schuld an ihrem vermeintlichen Tod gegeben hatte, blieb nicht eine Frage offen. Selbst seine abweisende Reaktion von vorhin machte Sinn.

Er gab sich immer noch die Schuld, der Schock musste einfach tief sitzen, auch jetzt noch.

Sie strich sich mit zitternden Fingern eine verirrte Haarsträhne hinter die Ohren, merkte, wie in ihr lang verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche traten, Erinnerung an sein Gesicht, an seine Stimme, die sie nur wie durch Watte hörte, seine Worte, deren Sinn sie nicht verstand, wohl aber den flehenden Klang in seiner Stimme und diese Verzweiflung in seinen Augen.

Diese nicht zu begreifende, ein schier überwältigendes Ausmaß annehmende Angst, die ihn in ihren Klauen gehabt hatte, fest, und ihn seither nicht losgelassen hatte, wohl.

Die Angst, dass sie in seinen Armen starb.

Und das seelenfressende Gefühl, daran schuld zu sein.
 

„Das hat man mir nicht erzählt, nein… ich wusste, ich lag im Koma deswegen, aber nicht, dass ich… tot gewesen war.“
 

Er schaute von seinen Händen auf, als ein nasser Fleck auf seiner Haut erschien. Ran sah ihn an, Tränen rannen erneut über ihre Wangen.

„Ich dachte, du wärst einfach so weg…“

Shinichi schüttelte nur den Kopf.

„Aber wer hat dir denn gesagt, dass ich tot bin…?“

Er blinzelte, kurz. Schrecken durchzuckte ihn wie ein Blitz, seine Gedanken rasten.
 

Dein Vater, Ran.

Dein… Vater. Der auch dir offensichtlich nicht einen Ton erzählt hat.

Der… dich von mir so gründlich fernhalten will…

Weil er mich hasst.

Weil er mir das wohl nie verzeihen wird.
 

Und irgendwie kann ihn sogar verstehen.
 

„Ich… keine Ahnung. Ich stand ziemlich neben mir.“

Shinichi seufzte, dann zuckte er mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern.

Er log sie an, und wusste selbst nicht so recht wieso. Nein, doch, er wusste es.

Wenigstens ihrer Familie sollte sie noch vertrauen können, wenn er schon nicht da sein konnte für sie. Er hatte kein Recht, ihr das Vertrauen in ihre Eltern zu nehmen… wegen seiner Dummheit.

„Ich… keine Ahnung, ehrlich. Das ging zum einen Ohr rein… und blieb nachhallend drin. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich nach Hause gekommen bin.“
 

Das ist nicht einmal gelogen.
 

„Das… verstehe ich.“

Unsicher rutschte sie auf dem Sofa.

„Und… ich verstehe jetzt auch… deine Reaktion heute. Du… musst ja fast geglaubt haben, einem Geist gegenüberzustehen.“

Sie lachte – es klang verzweifelt.

Shinichi versuchte ein kleines Lächeln.

„Du weißt, ich glaube nicht an Geister.“

Ein ernster Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit, ihre Augen blickten ihn starr an.

„Warum hast du nie… nachgeforscht? Ich meine… wenn ich tot wäre, dann…“

„Das Gleiche hat mich Heiji auch schon gefragt.“

Shinichi ließ ihre Hände los, stand auf, ging unruhig ein paar Schritte auf und ab, massierte sich die Schläfen.

„Ich… war fertig, einfach. Ich… verstehst du nicht? Ich dachte, du wärst tot. Gestorben, getötet, wegen mir. Wegen meiner Dummheit, meiner Arroganz, meiner… törichten Gedankenlosigkeit, gnadenlosen Selbstüberschätzung, ich… war dabei gewesen, und im Krankenhaus hatte man mir das bestätigt, welchen Grund hätte ich gehabt, das nicht zu glauben. Abgesehen davon… hätte ich es niemals auf deine Beerdigung geschafft, auch wenn ich mich schäme, das zuzugeben, aber… ich meine, erstens… war ich Schuld daran und zweitens… wärst du es gewesen…“
 

Und drittens…
 

Er stockte, atmete tief ein und aus.

„Und ich wollte… will… euch nicht in Gefahr bringen, also die anderen. Ich sagte doch bereits, sie sind noch da… Außerdem…“

Shinichi schluckte hart.

„…wäre es mir in den ersten Wochen kaum möglich gewesen. Ich weiß nicht, wie viel meine Eltern auch diesbezüglich bereits ausgeplaudert haben.“

Er merkte, wie seine Stirn, seine Wangen zu glühen begannen.

„Sie erwähnten… dass es dir nicht gut ging, hinterher.“, murmelte Ran leise. Forschend sah sie ihn an.

„Und mehr musst du auch nicht wissen.“

Shinichi hielt ihrem Blick stand.
 

Ran presste ihre Lippen aufeinander, unwillig, verzichtete aber fürs Erste darauf, nachzubohren.

„Und jetzt?“

„Jetzt will ich, dass du gehst. Du kennst nun meine Gründe, du weißt jetzt, was passiert ist… ich möchte, dass du zurück nach Tokio gehst, zu deiner eigenen Sicherheit, ich weiß nicht, wie genau sie mich beobachten, wie nahe sie vielleicht an mir schon dran sind. Noch dazu scheint die Presse gerade mal wieder einen Narren an mir zu fressen, und ich will dein Bild nicht auch noch in der Zeitung, sonst…“

„Shinichi.“

Sie schluckte, starrte ihn an, streckte ihre Hand aus, berührte seine Brust – und allein dieses Geste reichte, um ihn abzuwürgen.

„Aber ich will nicht gehen. Ich sagte es bereits. Ich…“

In ihren Augen lag ein bittender, fast flehender Ausdruck.

„Ich hatte so gehofft, mich nicht in dir getäuscht zu haben, und jetzt weiß ich, dass ich richtig lag! Wie könnte ich jetzt einfach gehen, dich noch einmal allein lassen…“

Langsam bohrten sich ihre Finger in den Stoff seines Hemdkragens, krallten sich fest.

„Sieh dich an, du kannst mir nicht erzählen, dass dir dein Leben guttut, deine Mutter hat doch Recht, du… machst dich kaputt. Grundlos.“

„Ich glaube kaum, dass ein Katana im Bauchraum seiner Freundin kein Grund sein kann, sich schuldig zu fühlen…“, begann er leise. Ran schien ihm gar nicht zuzuhören.

Sachte zog sie ihn näher, bis ihre Stirn die seine berührte. Shinichi schloss die Augen, fühlte sich auf einmal seltsam wehrlos. Er spürte ihren Körper, fühlte fast ihren Herzschlag, war überwältigt, schlicht und einfach – sie war so… lebendig, sie war am Leben und sie war… ihm so nah.

In ihm erwachte langsam etwas, das er so lange betäubt hatte, weil seine bloße Existenz ihm sein Leben noch mehr zur Hölle machte, als es das ohnehin schon war.

Die Liebe zu Ran, und… die Sehnsucht nach ihrer Nähe. Dieses unfassbar schöne Gefühl, das nur sie ihm gab.
 

Du darfst das nicht. Reiß dich zusammen. Sie ist in Gefahr, wenn sie bei dir ist…
 

„Ich liebe dich. Ich will bei dir sein.“

Er hörte ihre Stimme heiser an seinem Ohr, hörte ihr Verlangen, wusste, dass es wahr war. Dass es stimmte, wenn sie sagte, sie liebte ihn. Immer noch.
 

Nein, nein, nein…
 

Shinichi presste die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, bis Ran ihn mit beiden Händen festhielt.

Und er kapitulierte.

Fest zog er sie an sich, wollte mit jeder Faser seines Körpers fühlen, dass sie am Leben war, kein Traum, kein Trugbild, diesmal. Wollte spüren, wie sie atmete, und nicht aufhörte damit. Er fühlte den Stoff ihres Kleids unter seinen Fingern, erahnte darunter ihre warme Haut; roch den Duft ihrer Haare, der sich um nichts von dem Geruch aus seiner Erinnerung unterschied und merkte, wie es ihn fast zerriss, viel mehr noch, als es ihn ohnehin schon an den Rand des Wahnsinns brachte, wenn er ihr Foto ansah.

Denn er wusste, so sehr er es sich wünschte, es durfte nicht sein.

Dass es jetzt sogar möglich war, aber er sich jeden Weg dahin verbaut hatte, schien ihm schier unerträglich.

Ran blieb fast der Atem weg, als sie sie spürte, diesen Schmerz, das Leid, den Wunsch nach Nähe – nach ihrer Nähe. Sie küsste ihn auf die Nasenspitze, vergrub ihren Kopf an seinem Hals, zog ihn noch fester an sich. Langsam begriff sie, wie es für ihn gewesen war, sie sterben zu sehen. Und fünf Jahre mit dem Gedanken zu leben, dass sie tot war.

Kein Vergleich dazu, ohne ihn wieder aufzuwachen und zu denken, er sei einfach nur abgehauen.
 

„Shinichi…“
 

Er presste die Augen zusammen, sagte nichts. In ihm herrschte Chaos, wie ein Sturm auf hoher See.

Tief atmete er ein, und wieder aus. Dann schob er sie langsam etwas von sich. Er sah ihr an, wie aufgewühlt sie war; und dennoch schaffte sie es, ihm in die Augen zu sehen und zu lächeln.
 

Dein Lächeln…
 

Es fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht, wie ein Fall ins kalte Wasser.

Und dann zerbrach es, das schöne Bild. Der Traum, der Wunsch… zersprungen in tausend Stücke, zerborsten zu seinen Füßen.
 

Kurz blieb ihm die Luft weg, als ihm klarwurde, was er tat.

Weg war dieses selige Wohlgefühl in ihrer Nähe, dieses irre, berauschende Gefühl, das alles andere in den Hintergrund zu rücken schien.

Er sah sie lächeln, kurz bevor sie starb.

Sah, was er angerichtet hatte, damals.

Und wusste, was er zu tun hatte, damit sich das keinesfalls wiederholte – sie lebte, das sollte so bleiben.

Und das hieß, sie lebte – und zwar ohne ihn.

Und er ohne sie.
 

„Ich liebe dich...“
 

Nein…!
 

Die Worte hallten in seinem Kopf wieder. Und er sah ihr Lächeln vor sich, das langsam matter wurde, kraftloser, aber nicht erlosch…
 

Ich liebe dich…
 

Nie erlosch.
 

„Nein.“

Er blinzelte, rieb sich über die Augen. Fast schien es ihm, als würde er aufwachen aus einem Traum. Einem schönen Traum, diesmal, aber nichtsdestoweniger… ein Traum.
 

„Nein?“

Ran sah ihn verwirrt an.

„Es geht nicht. Nein. Ich… ich will das nicht. Sie sind noch irgendwo da draußen, wenn sie erfahren, dass du… dass ich… dass wir beide…“

„Das ist mir egal!“

Rans Stimme klang flehend und trotzig gleichermaßen.
 

„Aber mir nicht!“

Mit einem Mal kehrte die Kraft zurück in seinen Körper. Er drehte sich um, öffnete die Tür, bugsierte sie in den Flur.

„Shinichi!“

Ihr erschrockener Blick versetzte ihm einen Stich. Er presste die Lippen zusammen, schaute sie hilflos an.

„Aber mir nicht! Versteh doch Ran, bitte… ich will nicht nochmal schuld sein, wenn… sie sind immer noch da, und sie werden keine Gelegenheit verpassen, noch einmal zuzuschlagen. Und ich will nicht, dass du nochmal zum Spielball wirst. Nein.“

„Ich kann diese Entscheidung doch wohl selber treffen! Und wer garantiert dir, verdammt nochmal, dass…“

Ran merkte, wie sie langsam wütend wurde.

„Ich liebe dich! Ich will bei dir sein! All die Jahre dachte ich…“

„… dass du tot wärst, wegen mir! Und es war die Hölle!“, fiel er ihr ins Wort, schluckte, zitterte. Sein Atem ging schwer, sein Gesicht war leichenblass.

„Weißt du wie das war? Dieser Ausdruck auf deinem Gesicht, als dieses Schwert dich traf, und ich merkte, was ich falsch gemacht hatte, was ich nicht bedacht hatte, ich erkennen musste, wie verdammt unfähig ich bin, weil ich dich nicht beschützen konnte…“

Seine Stimme klang bitter.

„Als du zu Boden sankst, so schwer verletzt, wegen mir… Ran, und ich dir nicht helfen konnte… nichts… nichts tun konnte.“

Seine Stimme versagte.

„Und du sagtest nur… sagtest nur…“

„… dass ich dich liebe…“

Ran war ebenfalls bleich geworden.

Shinichi nickte stumm, ohne sie anzusehen, dann schüttelte er den Kopf.

„Ich… mach das sicher nicht noch einmal mit. Auf keinen Fall. Halt dich raus aus meinem Leben. Du musst das verstehen, ich bitte dich. Ich bin… ich bin nicht gut für dich. Nicht, solange sie da draußen noch warten.“

Er starrte sie an, sein Atem ging schnell und flach, schaffte es kaum, genügend Sauerstoff in seine Zellen zu transportieren.
 

„Du ahnst nicht, wie froh ich bin, dass du lebst. Wie unsagbar… froh.“

Er lächelte ein verzweifeltes Lächeln, strich ihr über die Haare, zögernd. Ran war den Tränen nahe.

„Aber damit es genau dabei bleibt, lass mich in Frieden. Such dir jemand anderen, Ran, der dich glücklich macht, du hast es verdient, du solltest nicht warten, bis… bis ich vielleicht irgendwann durch mit dieser Sache bin. Ich… werde dich lieben bis zum Ende meiner Tage, du wirst auf ewig die Einzige sein für mich… aber… mehr kann ich dir nicht geben, fürchte ich.“

Er strich sich über die Augen, sah mit einem Mal furchtbar müde aus.
 

„Du weißt jetzt, warum ich gegangen bin. Das muss reichen. Es tut mir Leid...“
 

Er schob sie aus der Tür, schloss sie hinter ihr, lehnte sich dagegen. Er hörte, wie draußen etwas an der Tür schabte, wusste, sie hing genauso am massiven Holz des Türblatts fest wie er.
 

Bitte geh einfach.
 

Er stieß sich von der Tür ab, wankte in den Raum und ging kraftlos zu Boden, als er sie draußen Schluchzen hörte.
 

Und wieder weinst du.
 


 

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Joa, Leute…
 

Ich muss gestehen, langsam isses selbst mir zuviel.

Ich weiß nicht, was ich noch anstellen soll – drei Kommentare in zwei Wochen sind schon ein wenig… wenig. Ich bitte, ich fordere, ich ändere den Laderhythmus, und ich hab das Gefühl, es ändert alles nichts.

Und ich frag mich halt, woran es liegt – seid ihr im Urlaub, ist das Wetter zu schön, denkt ihr, mich interessiert es nicht, was ihr über meine Geschichte denkt?

Ich würde mich wirklich freuen über jeden und sei es auch ein noch so kurzer Kommentar…!

Ehrlich… euer Feedback ist das einzige, was ich hier als Belohnung haben kann, und ehrlich, der, dem diese Geschichte gefällt, könnte das doch auch mal erwähnen.

Lob tut gut – und Kritik hilft einem, zu lernen.
 

Wenn ihr gern öfter lesen wollt, schreibt mir ne Mail – sollte ich genügend Stimmen kriegen, ändere ich das wieder. Allerdings waren bis jetzt die meisten noch für den zweiwöchigen Abstand.
 

Ansonsten – ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen; natürlich kanns nicht ohne Drama gehen 
 

Liebe Grüße,

Eure Leira  

Kapitel 16: Das Leben und Lügen der Mrs. Jane Hudson

KAPITEL 16 – DAS LEBEN UND LÜGEN DER MRS. JANE HUDSON
 

Yukiko Kudô hingegen war noch nicht fertig – noch lange nicht. Yusaku seufzte lautlos, schaute seine Frau an, die neben ihm die Treppen hinunterstöckelte. Ihr war anzumerken gewesen, dass ihr die Sache mit ihrem Sohn nicht schmeckte. Allerdings, und das war offensichtlich geworden und selbst für sie verständlich, hatten sie jetzt wohl nichts zu melden, wenn Shinichi Ran erklären musste, dass sie klinisch tot gewesen war… und er deswegen fünf lange Jahre geglaubt hatte, sie sei nicht mehr am Leben.
 

Wahrlich kein leichtes Gespräch, Shin-chan.
 

Abrupt blieb die ehemalige Schauspielerin stehen, als sie an Mrs. Hudsons Appartement vorbeikamen. Yusaku, der bereits eine Stufe weiter gegangen war, drehte sich um, schaute seine Frau an, bemerkte ihren kalkulierend musternden Blick, mit dem sie die Tür bedachte, sah, wie sie ihre Hände knetete.
 

„Yukiko?“, murmelte er leise fragend.
 

„Geh doch schon mal vor, Yusaku.“

Sie schluckte, sah ihn nicht an.

„Und warte im Wagen auf Ran. Ich fürchte, er macht Ernst und schickt sie uns gleich hinterher…“
 

… und sie wird völlig fertig sein. Was ist das nur, das über euch hereingebrochen ist… warum gönnt man euch eure Liebe nicht?
 

Sie biss sich auf die Lippen, warf ihrem Mann einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu.
 

„Nein.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich komme mit. Ich merk doch, wenn du etwas vorhast.“

Seine Augen verengten sich merklich.

„Na schön“, meinte sie gleichgültig, versuchte, die Nervosität in ihrer Stimme zu kaschieren, „…dann komm eben mit, wenn du meinst.“
 

Wenn wirklich wahr ist, was ich vermute, dann hättest du es ohnehin bald erfahren.

Mich wundert allerdings…

… dass er es scheinbar noch nicht durchschaut hat.

Das spricht eine erschreckend klare Sprache, was den Zustand betrifft, in dem er sich tatsächlich befindet.
 

Dann klopfte sie entschlossen – oder wollte es zumindest. Noch bevor die Knöchel ihres Handrückens das dunkle, alte Holz berührten, ging die Tür auf und Mrs. Hudsons verschrumpeltes Gesicht lächelte ihnen höflich entgegen.

„Oh, I’m sorry.“, knisterte sie leise, als sie Yukikos erhobenen Arm sah, in der Geste des Anklopfens eingefroren. Auf ihrem Gesicht stand ein fragender Ausdruck, der sich jedoch sofort wieder legte.

„I thought I heard someone talk and I wanted to ask whether I could help you or not. I did not intend to surprise you…”

„Never mind, Mrs. Hudson.“

Sie fasste sich schnell wieder. Yusaku stieg die Stufe wieder hoch und stellte sich hinter seine Frau.

„I-“, sie schluckte, besann sich, “We wanted a word with you… about our son. As it happens that he lives in your house, you’re possibly able to give us some information about him. We are worried, as you may see. He possibly is working too much.”

Sie lächelte genauso höflich zurück. Yusaku rann ein kalter Schauer den Rücken hinab – er kannte seine Frau, wenn sie so sprach. Er sah an ihrer Haltung, wie verspannt sie war, er erkannte einzelne Härchen, die sich in ihrem Nacken unter ihrer Hochsteckfrisur aufgestellt hatten, er wusste, was der Tonfall bedeutete, mit dem sie sprach.

Einfach alles verriet sie.
 

Yukiko war auf Konfrontation aus.

Nur mit wem, war ihm schleierhaft.

Mit dieser alten Frau etwa?
 

Diese jedoch nickte nur, ging bedächtig, da ihr leicht vom Alter gekrümmter Rücken wohl keine ruckartigen oder schnellen Bewegungen mehr zuließ, zurück in den Flur, führte das Ehepaar in ihr Wohnzimmer, das leicht nach Sandelholz und frisch aufgebrühtem Earl Grey roch. Sie bedeutete Ihnen, sich zu setzen und reichte zuerst Yukiko, dann Yusaku, eine Tasse Tee, ganz so, als ob sie sie erwartet hatte.

Der Schriftsteller sah sich aufmerksam um – das Ganze schien ihm zunehmend absurd. Dennoch war sein Interesse geweckt worden, und so beobachtete er die Szene, die sich nun vor seinen Augen abspielte.
 

Rein äußerlich schien Yukiko die Ruhe selbst. In den weichen Sessel gesunken, ein Bein elegant über das andere geschlagen, nippte sie in aller Ruhe an ihrer Tasse.
 

„So – what is it, that you want to know…?“
 

Yukiko stellte die Tasse auf ihrem Untersetzer ab, wobei ein leises, klirrendes Geräusch erklang und platzierte beides ruhig auf das runde Tischchen, das zwischen ihnen stand.
 

„Oh, nothing in peculiar. I just wanted to ask you, Sharon, how long you will keep on playing that little charade of yours, and what he knows about it.“
 

Yusaku verschluckte sich, hustete, besprenkelte dabei seinen Anzug und das Polster des Stuhls mit Earl Grey, der zusätzlich aus seiner Tasse schwappte, die er in der Hand hielt.

Die alte Frau jedoch lachte nur – und zog sich zu seinem Entsetzen mit einer Hand eine Silikonmaske von ihrem Gesicht, die sich durch das Dehnen und Zerren, bis sich der Klebstoff löste, fratzenhaft verzerrte.

Dann saß sie ihnen gegenüber, eine Frau in ihren Vierzigern – ein schönes Gesicht auf einem eingefallenen, alten Körper.
 

Ein groteskes Bild.
 

„My lovely Yukiko, I see, I see… I still can’t cheat on you.“

Sharon Vineyard strich sich eine ihrer blonden Locken hinters Ohr, die aus dem zusammengesteckten Haarwust, das ihren Kopf krönte, damit die Perücke darüber Platz hatte, befreit hatte.

„But I am asthonished that your dear husband, the hobby-criminologist, hasn’t smelled the rat.“

Sie lachte amüsiert, laut und offen, fing sich einen genervten Blick von Yusaku ein, der seine Tasse mittlerweile abgestellt hatte und seinen Anzug mit einem Taschentuch trockentupfte.

Yukiko grinste säuerlich.

„But to answer your question – you see, that “little charade of mine” has ended for you now. Concerning your son, the show will take a little longer, I think. And no.“

Sie grinste noch breiter.

„I don’t think he knows about me, he suspects, if anything. Sometimes he looks at me with that gaze, you know what I mean. But one has to admit frankly, I am good. I always was one of the best, you know that. And he… he has been a bit off track for five years, the poor fellow, concerning his private life and social interactions. In his job, though, he is exceptionally successful, I might say, he never was better. So no – he is for sure not overworked, though he is working much. His problem is of other nature.”
 

Sie nippte an ihrem Tee.

„Und warum das alles?“, hakte Yukiko nach.

„Well, I am hiding, isn’t that obvious? They are still out there, Gin, Chianti, Bourbon… this is fact. They should have discovered the double role I have been playing to protect your dear son by now – it was rather obvious the day they escaped.”

Sie schaute Yukiko ernst an.

„They think that I am dead, and I would very much appreciate if this status would not change. Their ignorance of my whereabouts allows me to do what I want – to do what I must.“

Yukiko verzog das Gesicht, verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

„Ich meine das mit Shinichi. Du willst mir doch nicht sagen, dass es Zufall ist, dass er hier wohnt…“

„Oh, no, definitely not. It took me great labor to get him here… that is, to get hold of this place first, it costs me a fortune. He was easily enough to be attracted, though he let me wait a bit… but to live that close to his great idol’s home was just too tempting to resist for him. He could barely believe that he could afford this area, then. Now he could easily move into something bigger and better, but he chose to stay here – he has to maintain a reputation, hasn’t he?”

Sie grinste.

„Mr. Sherlock Holmes. Nowadays the letters for Mr. Holmes arrive at this place, no longer at the museum next door. I don’t think he reads them, though. It seems to me that he does not want to be compared to his former idol any longer. It is getting a bit strenuous for him.“

„Du hast die Frage immer noch nicht beantwortet, Sharon. Warum das alles?“, fragte nun Yusaku, mischte sich langsam auch in das Gespräch ein, nachdem der erste Schock überwunden war.
 

„Well…“, meinte Sharon langsam.

„Well. I have learned about the things that had happened to him, I was… witness to it, you know. I have begun to have a close eye on him, since then, even in L.A., when he was still with you. It broke my heart to see the state he was in, how badly he suffered, and I… I suffered with him, you know, Yukiko, how much I adore Ran… my dear angel.“

Sie stand auf, langsam, trat hinter einen Paravent. Leises Kleiderrascheln und das Geräusch von einem Reißverschluss, der ruckartig aufgezogen wurde, war zu hören.

„It was absolute clear to me, that if they planned a counterstrike to destroy him completely, he was in no constitution to rise up against them, back then. This changed when he came here. He started to work, he started to have a look out, secretly. He wanted to be prepared when they would come, ready to drag them down the Reichenbachfall with him, if necessary, if it couldn’t be helped otherwise. He was determined to extend to every limit he had, to even cross it. A very Sherlockian manner he developed, I found that quite frightening, I must admit. He was willing to do anything to get his revenge for her death, and to know all the others he still loves so much safe, and this includes you two - and if that would cost his own life, it would not matter to him.”

Sharon lächelte, als sie aufsah, in Yukikos schockiertes Gesicht blickte.

„That’s what you dreaded, isn’t it? Him, being driven by his demon, destroying that black pack no matter the cost. You know it’s true. You’ve seen his attitude towards living when he was still with you, though he pretended something else, as he did not want to worry you any longer.”

Yukiko schluckte, ihre Stimme zitterte, als ein bitteres Lächeln über ihre Lippen huschte.

“Er war immer schon ein schlechter Schauspieler…”

„That’s true. And that was, mind you, the statuts quo until yesterday, this ultimate desire for revenge and that capitulation towards his own joy of life. But since he knows that Ran is still alive, pure panic thrives him. And this panic is only able to exist, because there is another feeling pounding in his heart again. Hope.“

Sie hörten ein weiteres, kurzes Kleiderrascheln, und als Sharon jetzt wieder hinter dem Sichtschutz hervorkam, trug sie eine gut sitzende Jeans und einen locker ihre Figur umspielenden, schwarzen, schulterfreien Pullover.
 

„Hope. He had lost it that night, it went away with her, feeling her life draining out of her… but it has come back when he learned about his error. You can see it in his eyes.

He fears again. He did not fear anything during the past years, even his own death was no horror to him, but now, with hope came fear again. Fear… that these things could repeat themselves, happen again. Fear, that he is not able to save her, for a second time. Fear that he might lose her again, fear that the future with her, that he still dreams of, dares to dream of again, could be destroyed once more.

But, mind you… fear and hope make him a so much better detective, and a so much better man. Fear lets him think things over, prevents him from rash action. Hope gives him an aim to fight for. His hope for a living, for being happy again, his hope to be allowed to love at last… unlike Sherlock Holmes. So very much unlike him…”
 

Sie lächelte versonnen. Yukiko schaute sie angewidert an.
 

„It is this fear… nurtured by his love for her… that’s fuelling his mind. That’s inciting him to think, to conclude, to work… to fight. He’ll be on their track in short order, he’ll watch out, he’ll find them – or he’ll be found. I guess, they… won’t wait much longer. I am impressed by Gins sudden patience. He never was that patient, patience… was rather his great gift. Five years are a long time…”
 

Yukiko verzog das Gesicht.

„Du benutzt ihn.”, fauchte sie leise.

„Gib es zu, du hast nur auf ihn aufgepasst, damit er endlich zu Ende bringt, wofür du ihn vorgesehen hast, damals in New York schon, er hat mir gesagt, wie du ihn nanntest, in der Woche als er euer „Gast“ war…“, – sie spuckte das Wort förmlich aus.

„Silver Bullet!“

Sie war aufgestanden, baute sich vor der Blondine auf.

„Wie kannst du es wagen, meinen Sohn nochmal als Instrument für deine Zwecke zu missbrauchen. Und sie als Köder zu verwenden…“, fing sie erneut an, wurde jedoch von Sharon unterbrochen, die sie wütend anfunkelte.
 

„You are doing me wrong, Yukiko.“

Ihre Stimme klang gefährlich und leise.

„You very well know in what horrible state he was in, though he did his best to pretend that he was fine. He could not bear life anywhere, as he could not bear with himself. I took care of him, I protected him, for his owns sake, and for yours. I am concerned about him, I don’t want him to get hurt. Or worse, to get killed.”

Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen.

„Yes, I consider him as the only living person to take it up with this rotten apple. And he almost did it at the age of eighteen, for heaven’s sake! Eighteen! A teenager!”
 

Sie atmete heftig.

“Just think, Yukiko, what he was able to achieve back then! And if this… incident with Ran had not happened, those black demons would not be roaming about these days, be sure about it. He would have finished them off years ago. Unfortunately…“

„Leider aber hast du ihn fast umgebracht! Du hast ihn doch drauf angesetzt! Diese Nachricht war von dir, du hast Bourbon zu Ai geschickt, ihn auf ihre Spur gesetzt und damit auch auf seine, du wusstest, dass Shinichi alles tun würde, um sie zu schützen, du hast… DU HAST…!
 

Sharons Miene verdunkelte sich.
 

„Right. Sherry did not matter to me, I did not care about her, about this little poison witch, she has ruined my entire live, she and her parents…“

Ihre Stimme war zu einem wütenden Fauchen geworden, mit ihren Blicken schien sie fast Löcher in die Blümchentapete brennen zu wollen – Yusaku starrte sie an, kam nicht umhin festzustellen, wie absurd dieses Bild war.
 

Eine femme fatale in Miss Marples Wohnung.
 

Und er hätte viel dafür gegeben, zu wissen, warum Sharon auf Shiho einen derartigen Groll hegte.
 

„But you are doing me wrong by blaming me for this. It is true, I made that stone rolling down the hill, by sending this message. But I am not liable for anything else that happened afterwards. That this fool Akai could not protect him better. I thought, he would, he was an insider, after all.”

Ein fast schon stolz zu nennendes Lächeln schlich sich über ihre Lippen, als ihre Gedanken in die Vergangenheit drifteten.
 

„What Shinichi made of it, was ingenuous, there is simply no better word for it. And this is the very reason, why Gin hates him so much, now, and why the boss himself was so attracted, not to say, impressed. What he was still able to manage under the influence of HLZG 0405… awesome.“
 

Yusaku schluckte. Er hatte erst nach und nach herausbekommen, was sein Sohn eigentlich erreicht hatte – als er es herausgefunden hatte, und sich der ganzen Tragweite bewusst geworden war, wäre er fast in die Knie gegangen.
 

„Er hat sie dazu gebracht, sich selbst zu verraten. Der ganze Plan mit dem Fake-Virus und diesem Trojaner war seine Idee.“

Sharon nickte, lächelte immer noch, ein versonnener Ausdruck glitzerte in ihren Augen, gemischt mit dem Funkeln des stillen Triumphs.

„He staged a fake-escape, and installed a trojan instead, which simulated a computervirus attacking the system. It was just too obvious how many important people gave up their posts and laid down their appointments to save what could be saved, still – and to withdraw themselves from the threatening lawsuit. And at the very moment they wanted to save their data, or they wanted to delete it, no matter what – the little Trojan took it and sent it out, directly to the address of the servers of Tokyo’s Police department, unknown to and unseen by anyone. Lists of names and undercover names, correspondence, data about appointments, orders and missions, about crimes and research results of the laboratories, and, of course, the addresses of all the quarters... it was great. He has exposed them with one blow, dragged them into the light of the public interest, has ripped the masks off their ugly faces, connected every single crime, they had committed, with them. He has ruined them so completely, so absolutely, that escape was their only option – and this they discovered way too late. The silver bullet hit the bull’s eye… it was only one person that could deprive himself from his grasp. Anokata himself. Probably he died in the flames of the explosion he has indicated. He had started the self-destruction mechanism. Probably not.“
 

Sharon lehnte sich gegen den Türrahmen, beobachtete ihren Besuch aufmerksam, ehe sie fortfuhr.
 

„But before doing this, he had set Gin on his trail, to take revenge, and we know how cruel that bastard punished him for his cheekiness. They have discovered too late what danger was emanating from this highschool student, your son. But then they knew, and they wanted to make sure that he will never ever again become that dangerous. They knew how to crush him by watching him dreaming under the influence of that hallucinogenic drug, and that’s what they did. Why they left him alive, I still do not understand. Why they are taking that long to plan their revenge, playing cat and mouse with him, I can only guess. Perhaps they wanted to see him suffer just a bit longer, and did not expect that he could be dragged out of their focus, perhaps they had to search a bit longer, until they find him again… for sure that press does not do Shinichi any goodl. If they haven’t found him yet, they’ll do so in very due time. And no – I don’t know whether they are already here. I am merely guessing.”

Sie lächelte dünn.

“For sure Gin has not forgot about him. He is taking him ill that he has escaped, that he has destroyed the Organization, that he has rescued Sherry from him, that his partner got killed by the police. And, of course, he will never forget that Shinichi destroyed every opportunity to lead a free life…“
 

Sie atmete tief durch.
 

„We all know how much he has suffered, what he has endured. And I tell you now, what you already know, Yukiko – he is still suffering. If it wasn’t for you two and this silent desire for revenge, he’d given in long ago.”

Sie wandte sich ab. Yukiko sank zurück in den Sessel, drückte Yusakus Finger, fühlte, wie er ihre Hand mit seiner umschloss, um ihr Halt zu geben.

„I know that you wanted something else for him. I know that you wanted to visit him earlier and I know that he has pushed you away, always. You know he did not do so to hurt you. He wanted to escape everything that reminded him of his former life, and that included his parents as well. I guess, he just did not want you to see how bad he really is, despite being the glorious detective at work. He’d know that you’d see the truth.”

“Wie willst du –“

“He’s living just above. I heard him argue with you. I heard far more than that, to be plain.”

Sharon schaute sie starr an, in ihren Zügen nicht der Hauch einer emotionalen Regung.
 

„But now… the situation has finally changed. And I am here to help him, when things come to an end. As I have been there to watch over him and help him through all these years since the day we first met… on that rainy day, when he decided to save my live.”
 

He saved far more than that.
 

Dann hörten sie leise Schritte, die die Treppe hinuntergingen, begleitet von leisem Schluchzen. Sharons Blick glitt zur Tür– Yukiko und Yusaku standen auf.
 

Bevor Yukiko allerdings die Wohnungstür hinter sich schloss, drehte sie sich noch einmal um, wollte etwas sagen – aber Sharon schüttelte nur den Kopf.
 

„Close the door behind you, Yukiko.“
 


 

Als sie die Haustür öffneten, stießen sie auf Ran, die auf der Treppe saß. Sie hatte aufgehört zu weinen, schaute stumm in den wolkenverhangenen Sternenhimmel.

„Alles okay, Ran?“

Yusaku schaute sie besorgt an.
 

Ran hob den Kopf, sah die beiden aus glasigen Augen an.

„War mein… mein Tod, von dem ich gar nichts wusste… wirklich so schlimm für ihn? Dass… dass er kein weiteres Risiko mehr eingehen will? Ich…“

Sie schluckte, stand dann auf, wischte sich über die Augen.

„Ich meine, offensichtlich fürchtet er, dass sie noch da draußen sind, ein paar von ihnen; Gin. Wahrscheinlich hat er auch Recht damit.“

Unsicher sah sie die beiden an.

„Er will, dass ich aus London verschwinde und ihn in Ruhe lasse. Er… sagt, er liebt mich, aber noch einmal könne er das nicht durchstehen. Er will nicht, dass ich in Gefahr bin.“

Sie lachte bitter.

„Und ich will nicht am anderen Ende der Welt sein, wenn er es ist. In Gefahr, meine ich. Aber er ist so entsetzlich stur, das war er schon immer, so ein verdammter Idiot, und ich… lass mich auch noch von ihm vor die Tür setzen, ich…“

Sie schluckte, atmete mühsam durch, fühlte den Ärger über sich selbst und ihn in ihr wühlen, beherrschte sich aber.
 

„Weil ich diese Angst in seinen Augen gesehen habe. Ich hab ihn nie so… ängstlich gesehen, nur deshalb bin ich jetzt hier, und nicht noch oben und trete seine Tür ein…“

Sie unterbrach sich erneut.

„Er hat entsetzlich gelitten, man sieht ihm das an, hört es aus jedem seiner Worte, und ich… deshalb frage ich mich… war es wirklich so schlimm…?“

Yusaku und Yukiko schauten einander an, als Rans fragender Blick von einem zum anderen wanderte.
 

„Du willst nicht wissen, wie schlimm es wirklich war, Ran.“, murmelte Yusaku schließlich.

„Aber wenn du eine Ahnung haben willst, dann… überleg dir mal, wie es andersherum für dich wäre.“

Er merkte, wie sie ins Stocken geriet, sich ihre Stimmung von aufgebracht und wütend in völlige Reglosigkeit umwandelte. Schließlich nickte sie langsam, um im Anschluss ihr Nicken in ein Kopfschütteln umzuwandeln.

„Aber dennoch… so kann er doch nicht weitermachen wollen… ich will nicht, dass das so endet… ich…“

Yusaku nickte nur, griff nach der Hand seiner Frau.

„Da hast du Recht, Ran, so geht es nicht weiter – und so endet es auch nicht. Aber ich fürchte, die Lösung dafür zu finden ist von uns allen heute zuviel verlangt. Komm, ich fahr dich in dein Hotel zurück.“
 

Er hob den Kopf, suchte ein Fenster im vierten Stock.
 

Ach, Shinichi.
 


 


 

In Tokio war es gerade mal Mittag.

Eri stand neben Kogorô am Flughafen Tokio-Narita, beobachtete gerade eine Boeing 747, die auf der Rollbahn Anlauf nahm und dann in die Luft glitt, ihr Fahrwerk einzog und in den Wolken verschwand. Sie wusste, so glatt und geschmeidig, wie es aussah, war es in Wirklichkeit nicht. Sie war schon öfter geflogen, kannte das Gefühl, wenn einen die Geschwindigkeit in die Sitze drückte, wenn der Vogel rumpelnd Anlauf nahm, um genügend Schwung zu holen, der ihn in die Lüfte katapultieren sollte. Sie kannte das Ruckeln und Zittern, dass den Flieger schüttelte, wenn er durch die Regenwolken glitt, die seltsame Empfindung von kurzer Schwerelosigkeit, wenn das Flugzeug in Etappen immer höher stieg.
 

Neben ihr wartete Kogorô, schaute auf die Anzeigentafel.

Sein Flug blinkte – das Boarding hatte begonnen.
 

„Es ist nett von dir, dass du nach London fliegst.“

Eri riss sich von der großen Fensterwand ab, blickte ihren Mann nachdenklich an.

„Es wird bestimmt leichter sein für die Kanagawas, wenn du da bist. Heiji ist ein fähiger Polizist, aber dich kennen sie immerhin. Und es geht schließlich um Ayako…“

Kogorô wandte sich seiner Frau zu. Eri blickte ihn immer noch an, ihre Augen wie immer wach und aufmerksam hinter den großen Brillengläsern.

„Wir haben Glück, dass Meguré mich gehen lässt. Eigentlich reicht ein Verbindungsoffizier, und das wäre Hattori. Er kommt aus der momentanen Heimatstadt des Opfers.“

Er griff nach seinem Handgepäck, sein Blick verriet, wie ernst er die Sache nahm.

„Holt dich jemand vom Flughafen ab?“

Die Anwältin schob sich den Riemen ihrer Handtasche auf ihrer Schulter zurecht.

„Ja. Ein Beamter von Scotland Yard. Den ermittelnden Beamten kenne ich allerdings noch nicht, ich hab den Namen wegen der schlechten Verbindung kaum verstanden… mal sehen, wie die Typen da drüben arbeiten.“

Er grinste schief, lachte. Eri zog eine Augenbraue hoch.

„Ordentlich, nehme ich an, wir reden von Scotland Yard, die haben einen Ruf zu verteidigen.“

Ein feines Lächeln kräuselte ihre Lippen.

„Vergiss nicht, Ran zu besuchen. Hier ist die Adresse ihres Hotels. Ihre Handynummer hast du.“

Eri drückte ihm eine Karte in die Hand; dann berührte sie ihn an der Wange, zog so seinen Kopf ein wenig zu sich, gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange.

„Pass auf dich auf.“

„Sicher.“

Er gab ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen.

„Bis in ein paar Tagen, hoffe ich. Sei brav.“

Er grinste breit, wich Eris Handtasche aus und beeilte sich, zum Schalter zu kommen. Sie sah ihm noch nach, bis er in der Gangway verschwunden war, dann drehte sie sich um, stöckelte durch die große Marmorhalle Richtung Ausgang.

Sie war kaum auf die Straße getreten, als ihr Telefon klingelte.
 

Ein erstaunter Ausdruck zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie den Anrufer vom Display ablas. Ihr geschmackvoll graubraun lackierter Fingernagel, passend zu dem Ensemble, das sie heute trug, traf den Hörer auf dem Display, als sie abhob.
 

„Hallo, Mama?“
 

Eri schluckte, suchte sich eine Bank im nahegelegenen Park. Unruhe war in ihr hochgekrochen, als sie Rans Stimme vernommen hatte – und erst Recht, der Tonfall, in dem sie sprach.

Der Beigeschmack, der sich unter ihre Worte mischte.
 

Tränen.
 

„Ran, was ist passiert?“

Sorge klang in ihren Worten.

„Ran?“
 

Die Sonne blendete ihre Augen, Mittagshitze legte sich wie ein schweres Tuch auf ihr Haupt, ihre Schultern, und dennoch wagte sie nicht, sich zu bewegen. Fest umklammerte sie ihr Smartphone, ein Zugeständnis an den Rang, den sie in ihrem Beruf bekleidete, presste es an ihr Ohr, fühlte kaum, wie Schweiß sich in feinsten Tröpfchen auf ihre Stirn legte, unter ihren Haaransatz, auf ihre Nase.
 

Sie hörte nur ihre Tochter, die am anderen Ende der Welt am Telefon saß und weinte, kaum Luft bekam dabei.

Und das konnte nur einen Grund haben.
 

Nur. Einen. Einzigen.
 

Sie hatte ihn gefunden.
 

Shinichi Kudô.

Eigentlich kaum überraschend, dass du Zuflucht in der Stadt deines Idols gesucht hast.
 

Eri schloss die Augen, atmete tief durch, versuchte es zumindest. Ihre Hände wurden kalt, sie verlor jegliches Gefühl in ihren Fingerspitzen, als sie sich ihre perfekt geschminkten Lippen zerbiss.
 

Dann riss sie sich zusammen.
 

„Ran? Alles in Ordnung?“
 

Die Worte klangen selbst in ihren Ohren hohl. Ihre Tochter heulte ins Telefon, und sie fragte allen Ernstes, ob alles in Ordnung sei.
 

Eine wahre Königin des Gerichtssaals, Eri.
 

Sie versuchte, ruhig und mitfühlend zu klingen. Noch wusste sie nichts, und vielleicht…

„Was ist passiert, Süße?“
 

Ran holte geräuschvoll Luft.

„Ich… hab ihn nie so blass gesehen.“

Ihre Stimme klang heiser.

„Mama, ich…“, sie suchte nach Worten.

„Wen, Ran?“, unterbrach Eri sie kurz, obwohl sie die Antwort wusste.
 

Wer sonst, Ran. Um wen sonst würdest du so weinen, wer sonst kann dich so durcheinanderbringen…
 

Ran schluckte, zog ihre Beine unter ihren Körper. Sie saß auf ihrem Hotelbett, Sonoko lag neben ihr, schaute sie nachdenklich an.
 

Kudô, du Verbrecher.

Hättest du es ihr nicht irgendwie schonender beibringen können?

Dass… dass aus euch nichts wird?
 

Ran hatte ihr mit knappen Worten von ihrem Gespräch erzählt, nachdem sie zurückgekehrt war. Sie hatte ausgesehen wie ihr eigener Geist, kaum Farbe im Gesicht, zitternd und frierend und die Augen glasig von den letzten oder den nächsten Tränen – Sonoko wusste es nicht zu sagen.

Sie ahnte zwar, dass es auch ihm nicht gut dabei ging, dass er ähnlich zerschlagen wie Ran zuhause lag – das Bild von ihm, seine Worte, seine Stimme heute Nachmittag hatten eine sehr deutliche Sprache gesprochen von dem, was tatsächlich in diesem Menschen vorging, der so viel Mühe darauf verwendete, diese perfekte Fassade vom toughen Ermittler aufrecht zu erhalten.
 

„Shinichi...“

Rans Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Nachdenklich schob sie sich ein Stück Schokolade in den Mund, gab Ran eins, die es automatisch in den Mund steckte und zu lutschen begann, ins Telefon lauschte, ehe sie einen ganzen Satz formulieren konnte.
 

„Shinichi ist hier.“
 

Eri war erstarrt, fing sich nur langsam, obwohl sie ja damit eigentlich gerechnet hatte – ihr war schlagartig so kalt geworden, dass sie nicht einmal mehr die Hitze der Sonne spürte, die alles daran setzte, ihre weiße Haut zu verbrennen.

Sie merkte davon nichts.
 

Sie hatte die Worte kaum verstanden, ahnte sie mehr, als sie sie wirklich hörte.

Dennoch hallte der Name dieses jungen Mannes in ihren Ohren nach wie ein Echo im Grand Canyon.
 

„Bist du dir sicher?“

Die Anwältin ärgerte sich fast im gleichen Moment über ihre Worte; dennoch konnte sie kaum etwas dagegen unternehmen, als sie ihre Lippen verließen.

„Ja.“ Die Stimme ihrer Tochter klang farblos.
 

Gut nur, dass Ran meine fehlende Redegewandtheit heute wohl auch nicht wahrnimmt… sonst würde sie mich längst ganz anders aufs Korn nehmen.
 

Eri schluckte, strich sich mit ihrer freien Hand über den Hals.
 

„Ja. Ich hab mit ihm gesprochen.“

Die Anwältin hielt in ihrer Bewegung inne, merkte, wie ihr heiß und kalt gleichzeitig wurde.

„Hör zu, Ran, bevor du etwas sagst…“, fing sie an, langsam, zögernd.
 

Das wars jetzt.

Es ist raus.
 

„Zuerst wollte er gar nicht mit mir reden. Wir haben ihn getroffen, ihn und Heiji auf der Westminster Bridge, und sein Blick, Mama, allein… sein Blick…“

Ihre Stimme kippte. Eri schluckte hart.
 

Oh, Shinichi…
 

Alle Gedanken an das, was Ran ihr entgegnen würde, wenn sie darauf kamen, dass sie und Kogorô es gewesen waren, die ihm diese Lüge verkauft hatten, verschwanden mit einem Mal.

Sie dachte nur noch an den Jungen, den sie an jenem schicksalhaften Abend gesehen hatte, erblickte noch einmal diese Leere in seinen Augen, als er das Krankenhaus verlassen hatte. Da hatte sie noch nicht gewusst, was Kogorô ihm gesagt hatte.

Er war blass gewesen, Blut hatte an seinen Händen, seiner Kleidung geklebt, und er hatte…

… geweint.
 

Und sie erinnerte sich, wie froh sie gewesen war, als sie gesehen hatte, dass Meguré ihn ins Auto gezogen hatte, dass man ihn nicht allein ließ.

Sie kannte Menschen mit diesem Ausdruck im Gesicht. Sie waren zu allem fähig, ohne nachzudenken darüber, was sie taten.

Er erschien ihr fast wie ein Geist, kaum mehr am Leben, in seinen Reaktionen hölzern und leblos, als die Reporter seinen Namen gerufen hatten.

Kein Lächeln, kein Winken, nur ein automatisches Funktionieren des Bewegungsapparats, ein Schritt vor den anderen setzen… zu mehr schien er nicht fähig zu sein.

Und der Anblick hatte sie zutiefst erschreckt – und verstört.

Und die Furcht vor dem Grund für diese Veränderung an ihm geschürt.
 

Dann war sie im Krankenhaus angekommen, und, erleichtert zu hören, dass ihre Tochter überleben würde, war ihr erster Gedanke gewesen, warum er so wenig erleichtert ausgesehen hatte.

„Weiß Shinichi das schon? Er…“

„Nein.“

Kogorôs Stimme hatte nie so kalt geklungen.

Und als er ihr dann gesagt hatte, was er ihm erzählt hatte, war ihre erste Reaktion, ihm eine Ohrfeige zu geben. Dann hatte sie ihn angeschrien, wollte raus, ihm nach, das klarstellen – aber er hatte sie festgehalten.
 

„Weißt du, was du ihm antust, Kogorô, du…“
 

… bringst ihn um.
 

„Er hat sie fast getötet, weil er sie mit in seine Schwierigkeiten gezogen hat, Eri. Ich lass nicht zu, dass er nochmal die Chance dazu bekommt. Das Leben meiner Tochter ist mir wichtiger…“
 

Seine Stimme war erstaunlich kühl gewesen, sein Blick ernst und verbohrt – und er hatte gezittert, am ganzen Körper, seine Hände zu Fäusten geballt und in seine Hosentaschen gerammt. Sie hatte ihn angestarrt, versucht, in seinen Augen eine emotionale Regung zu lesen, sah etwas, aber konnte es nicht deuten.

Sie wusste nicht, ob es Reue war. Ob er an die Konsequenzen für Shinichi dachte.

Ob es Wut war, Zorn, weil seine Tochter fast umgebracht worden war wegen diesem Kerl. Sie ahnte, dass er mit sich haderte, aber momentan war ihm sein eigenes Kind das nächste.

Nicht das Kind anderer.

Nicht Shinichi.
 

Er hatte geschwiegen.
 

Genauso wie sie.

Irgendwie hatte sie gehofft, dass sie ihn vergessen würde. Und dass sie für ihn nicht mehr als seine Jugendliebe gewesen war, er den Gedanken an sie begraben könnte, abschloss, glücklich wurde mit einer anderen.

Irgendwo hatte sie gehofft, dass es nur eine dieser überschwänglichen Teenagerliebeleien gewesen war, um mit dem Gedanken leben zu können, was sie den beiden mit ihrem Schweigen antat.
 

Und irgendwo in ihr drin war ihr bewusst, wie absurd diese Hoffnungen waren. Sie hatte sich gewundert, warum er nicht anrief, nie nachgefragt hatte, was mit ihr passiert war – es gab nur zwei Erklärungen dafür.

Die eine Option war, er glaubte er immer noch an diese Lüge.

Die andere Option war… sein Tod.
 

Nun wusste sie, was zutraf.
 


 

„Ich dachte, er kippt um, als ich ihn gesehen habe, und er mich. Ehrlich, ich…“

Rans Stimme zitterte.

„Ich hab ihn nie so blass gesehen. Und ich konnte mir nicht erklären, warum er… sich so abweisend verhielt. Er wollte, dass wir wieder gehen, weil hier wahrscheinlich ein Serienmörder rumläuft, mehr hat er nicht gesagt.“

Eri rieb sich den Oberarm, merkte, wie sich ihre Härchen aufstellten.

„Dann haben Kazuha und ich beim Shoppen seine Eltern getroffen. Mama, Frau Kudô hat geweint, als sie mich gesehen hat…“
 

Eris Kopf sank in den Nacken.
 

Oh Gott, Kogorô, was haben wir angestellt… klar, sie sind mit ihm weggegangen, und… glaubten auch, dass Ran gestorben ist. Es hat niemals jemand nachgefragt… sie glaubten es einfach.

Sie haben es alle geglaubt…
 

„Sie haben mir erzählt, was in den letzten fünf Jahren los gewesen ist, und was sie von der Zeit wissen, in der Shinichi weg war. In der Organisation war.“

Ihre Stimme zitterte.

„Ich wills nicht wiederholen, es geht… eigentlich keinen was an, aber wusstest du… wusstest du, dass die ihm da drin nicht einfach nur ein Gegengift gegeben haben…?“
 

Eri zerbiss sich die Unterlippe.

Tatsächlich wusste sie das. Sie war damals als Pflichtverteidigerin der Forscherin berufen gewesen, die ihm das Halluzinogen verabreicht hatte, mit vollem Wissen, was sie ihm damit antat.

Sie wusste, wie es wirkte, weil sie mit Ai darüber geredet hatte; ihre Mandantin hatte sich als mehr als nur verstockt erwiesen, aus einem Anfall stumpfsinnigen Gehorsams dieser Organisation und ihrem Boss gegenüber heraus hatte sie kein Wort gesagt.
 

Shinichi war bei der Verhandlung nicht anwesend gewesen, seine Eltern hatten einen Verteidiger geschickt – ihr Sohn sei nicht in der Lage gewesen, persönlich zu kommen, und nach dem, was sie erfahren hatte, glaubte sie das auch aufs Wort.
 

„Es heißt HLZG 0405. Kannst du mir darüber etwas sagen, Shiho?“

Die junge Forscherin seufzte leise, knetete ihre schlanken Finger.

„Nun, als ich dort noch arbeitete, am APTX, gab es eine Gruppe von Forschern, die an diesem Gift arbeiteten, dieser Droge. HLZG 0405. Oder werewolf, wie sie es nannten.“

„HLZG?“, wiederholte Eri, zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Halluzinogen.“, erklärte die erdbeerblonde junge Frau.

„Und „werewolf“ deswegen, weil das Zeug in zwei Phasen wirkt – zuerst der Rausch, der einem sein größtes Glück zeigt – und das tut es wirklich. Süße Träume, auf jeden Fall. Euphorisch, beglückend, süchtigmachend. Der Himmel auf Erden. Das Mittel ist in der Lage, jemandes Unterbewusstsein so zu manipulieren, dass wirklich das Verborgenste ans Tageslicht kommt… oder auch das Offensichtlichste, manches ist da ja kongruent.“

Sie lächelte sanft, doch ein bitterer Geschmack breitete sich auf ihren Lippen aus.

„Nachdem der Höhepunkt dieses Trips erreicht ist, kehrt eine Klarphase ein, die variabel ist. In dieser Zeit werden die Delinquenten in der Regel verhört. Danach verkehrt die Wirkung sich ins Gegenteil, sobald der Entzug einsetzt. Der Dämon kommt ans Licht, reißt den Delinquent ins Dunkel, lässt ihn seine größte Angst durchleben.“

Sie schluckte kurz, blickte aus dem Fenster.

„Der physische Entzug setzt in unterschiedlichen Abständen danach ein und dauert lange. Während der Körper nach der Droge schreit, gaukelt einem das Unterbewusstsein in immer neuen Versionen den Alptraum vor, sodass man nicht nur körperlich, sondern auch psychisch abhängig wird – irgendwann tut der Proband alles, nur damit diese Bilder verschwinden, diese Gefühle von Angst, Schmerz und Verzweiflung abgestellt werden. Es zerstört den Geist, die Seele desjenigen, der ihr ausgesetzt ist. Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Aussichtslosigkeit, Dunkelheit, Verlust, Schmerz… das sind Waffen, die einen Menschen viel endgültiger zerstören können, als jeder physische Schmerz es könnte.“
 

Eri merkte, wie ihr schlecht wurde, und sie war keine Frau, die sich leicht in dieser Hinsicht beeinflussen ließ oder sich reinsteigerte. Aber sie dachte an Shinichi, an den Blick in seinen Augen, als sie ihn gesehen hatte, an jenem Abend.

Sie hatten nichts mehr von ihm gehört. Unsicher blickte sie zu Shiho- auch sie war keine übermäßig emotionale Frau, aber auch ihr sah sie an, wie sie mit sich kämpfte, wie sie abmühte, sachlich zu bleiben und nicht an ihn zu denken, wenn sie abspulte, was diese Substanz mit ihm wohl angestellt hatte.

Mühsam räusperte sich die Anwältin, tippte mit ihrem Kugelschreiber auf ihre Unterlagen.

„Wie endet es…?“, fragte sie schließlich leise.

Sie sah, wie die junge Forscherin schluckte, sich sammelte.

„Manche sterben an den Entzugserscheinungen, je nachdem, wie stark sich die psychischen Symptome psychosomatisch auswirken. Es zerreißt ihnen das Herz, buchstäblich, rasender Puls, zuerst viel zu hoher, dann viel zu niedriger Blutdruck – sie kennen die Spirale, die sich abwickelt, wenn man nicht dagegenwirkt. Innere Blutungen, Aufbrauchen der körpereigenen Energiereserven, weil das Herz sich selbst zu Tode hetzt… Exitus.“

Eri schloss die Augen, atmete gepresst aus.

„Und die anderen?“

„Nehmen sich das Leben.“
 

Sie starrte Eri an, die sie anblickte, kaum atmete, als sie an ihn dachte.

„Realitätsverlust nach der ersten Einnahme, Suchtverhalten nach der zweiten oder dritten, je nach Intensität der Angst in der zweiten Phase. Letztendlich entkommt man ihr aber nicht. Dass er die Flucht geschafft hat, grenzt an ein Wunder, darüber, was er gesehen hat, kann nur spekuliert werden. Aber gemessen an der Tatsache, wen sie sich geschnappt haben, um ihn endgültig in die Knie zu zwingen, und daran, was sie mit ihr gemacht haben… liegt die Vermutung nahe, dass es um ihre Tochter ging, Frau Mori. Wie es… in Shinichis gesamtem Leben immer nur um ihrer Tochter ging. Ihr Leben, ihre Sicherheit, ihr Glück.“
 


 

„Er dachte, ich wäre tot.“

Die Anwältin sackte auf der Bank zusammen. Rans Worte klangen geschlagen, waren kaum mehr als ein Flüstern.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Das hab ich aus ihm herausgekriegt, als ich mit seinen Eltern bei ihm zuhause war, das war vor knapp einer Stunde. Da… hat er es mir gesagt. Warum er gegangen ist, warum er sich nicht gemeldet hat, und was… eigentlich passiert war, mit mir.“

Sie merkte, wie ihre Hände zu zittern anfingen, krallte die Hand um das Mobiltelefon.

„Mama, ich bin gestorben an dem Abend! In seinen Armen, warum… warum habt ihr mir das nie gesagt?! Er ging in dem Glauben, dass ich tot bin, gestorben, wegen ihm…! Er wusste nicht, dass ich… überlebt habe, dass man mich offenbar hatte retten können im Krankenhaus…

Hast du eine Ahnung, wie das für ihn gewesen sein muss? Ich…“
 

Tränen liefen ihr übers Gesicht.
 

Eri saß wie zur Salzsäule erstarrt da, fühlte sich wie gänzlich erfroren.
 

„Hat er… gesagt, wer ihm das erzählt hat, im Krankenhaus?“
 

Ran hielt inne in ihrem Wortschwall, blinzelte.

„Ja. Er sagte, er wüsste es nicht mehr, habe es nicht… richtig mitgekriegt, er sei ziemlich neben sich gestanden, schließlich war ich ja gerade… gestorben.“
 

Die Anwältin schloss die Augen, presste sie fest aufeinander, merkte, wie sich ihr Kiefer verspannte, sie kaum Luft bekam.
 

Du hast es ihr nicht gesagt.

Du… hast sie schon wieder angelogen, Shinichi…
 

Warum?
 

„Wusstet ihr davon?“, hörte sie dann Rans leise Stimme in ihrem Ohr.

„Ich meine… stell dir vor, was man ihm hätte ersparen können, fünf Jahre diese Hölle… zu leben mit dem Gedanken, dass ich wegen ihm hab sterben müssen, diese Schuld, ich… seh sie immer noch in seinen Augen, und er…“
 

Sie ließ ihrer Mutter keine Luft für eine Antwort.
 

„Er sagt, er liebt mich, er… würde mich immer lieben, aber ich… müsse gehen, weil sie immer noch da wären, und er es nicht erträgt, wenn ich nochmal…“
 

Eri seufzte.

„Und was wirst du tun?“

Sie hörte Ran schlucken.
 

„Mit ihm nochmal reden. Ich… ich liebe ihn. Du… du weißt das. Ich hab ihn immer so sehr geliebt, Mama, ich… ihn so zu sehen, bricht mir das Herz, und ich weiß jetzt, dass er mich gar nicht allein gelassen hat, er…“
 

Ran biss sich auf die Lippen, ein wenig Trotz klang in ihren Worten, als sie sprach.
 

„Ich hab mich nicht in ihm getäuscht. Das… hatte ich nie. Ich werd‘ ihn nicht mehr loslassen.“
 

Sie hatte noch ein wenig mit Ran geredet, ehe sie aufgelegt hatte. Nun saß sie da, merkte, wie sie langsam auftaute, betrachtete ihre geröteten Arme und seufzte still.

Dann rief sie die Auskunft an.

„Den Anschluss von Shinichi Kudô, Großbritannien, London, bitte.“
 


 

Als das Telefon schrillte, lag er immer noch auf dem Boden. Er hatte keine Ahnung, wie lange eigentlich schon, aber er hatte es schlicht nicht über sich gebracht, aufzustehen.

Nun rappelte er sich mühsam hoch, schlich in den Flur, griff sich das Telefon und stutzte, als er auf das Display blickte.
 

Unknown member
 

Er fuhr sich durch die Haare, räusperte sich, weil er der Festigkeit seiner Stimme nicht traute, hob dann ab.
 

„Shinichi Kudô, how may I…“
 

Sie brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass sie ihn wirklich am anderen Ende der Leitung hatte.

“Hallo, Shinichi.”

Eris Stimme klang rau, krächzend fast, und er hätte sie fast nicht erkannt. Fünf Jahre war das her… und noch länger, seit er Rans Mutter das letzte Mal gehört hatte.

Er räusperte sich, fuhr sich übers Gesicht, bemerkte, wie seine Hand zitterte.
 

Na, prima. Anscheinend hat Ran keine Zeit verstreichen lassen.
 

„Frau Kisaki.“

Er versuchte höflich zu klingen, riss sich enorm zusammen, und Eri hörte ihm das auch an.

„Môri, mittlerweile.“

„Ah. Wie schön.“

Seine Stimme klang noch eine Spur trockener.

„Ich bin mir sicher, Ran wird das sehr gefreut haben. Wie aber kann ich Ihnen helfen?“
 

Eri hob eine Augenbraue, schluckte hart. Mittlerweile hatte sie sich all ihren Lippenstift von ihrer Unterlippe gekaut.
 

Irrsinn, wie sachlich er immer noch bleiben kann.
 

„Wie… du dir denken kannst, hat Ran mich angerufen. Gerade eben. Sie klang recht aufgewühlt.“

Shinichi schluckte, merkte, wie in ihm nun doch ein wenig Wut aufkochte.

„Kaum verwunderlich nach dem Gespräch, das wir geführt haben, was ihm übrigen unsere Sache ist – sowohl Ran als auch ich sind erwachsen. Abgesehen davon denke ich nicht, dass Sie Grund zur Beschwerde haben, Frau Mori, ich hege keine Absicht, Ihrer Tochter noch einmal zu nahe…“
 

„Darum geht es nicht, Shinichi.“

Er hörte das Bedauern in ihrer Stimme und sein Zorn verrauchte schlagartig.

„Worum dann?“, murmelte er, ließ sich langsam aufs Sofa sinken. Eri seufzte schwer, um irgendwie den Druck auf ihrer Brust loszuwerden, der ihr das Atmen schwer machte - erfolglos.

„Du hast es ihr nicht gesagt. Wer dir diese Lüge aufgetischt hat, Shinichi. Du…“
 

Shinichi schloss die Augen.

„Ach. Das.“

Seine Stimme klang heiser und er räusperte sich erneut.
 

„Ich wollte ihr einfach nicht noch eine Beziehung ruinieren, das ist alles. Nachdem ich nicht da sein können werde für sie, als… Freund… den Grund dafür hat sie Ihnen vielleicht bereits genannt…“

„Hat sie.“

Eri schluckte, als sie die Trauer in seiner Stimme hörte. Shinichi holte tief Luft, um sich wieder zu fassen, und auch das hörte sie.
 

Du liebst sie wirklich.
 

„Ich wollte, dass sie zu Ihnen weiterhin Vertrauen hat. Es ist meine Schuld, dass sie dieses Leben jetzt führt, mit einem so furchtbaren Erlebnis zurechtkommen musste, da sollte sie wenigstens in ihrer Familie Halt finden. Den sie nicht mehr haben wird, wenn sie wüsste, was ihr Vater – und wohl auch Sie, wenn ich das richtig sehe – ihr über Jahre für ein Märchen erzählt haben. Sie wissen, wie sie… wie sie für mich…“

Er brach ab, strich sich über den Hals, als ihm die Stimme versagte.

„Abgesehen davon… bin ich ihr Kindergartenfreund. Sie kannten mich seit ich vier Jahre alt war, ich hab zwei Jahre bei Ihrem Mann gewohnt, mich dann so…“

Er brach ab. Eri griff sich an den Kopf, hielt sich die Stirn, als sich Kopfschmerzen ankündigten, die ihr leise hinter den Augen stachen.

Es stimmte… was sie ihm angetan hatten war weit mehr, als ihm einfach nur eine Lüge zu erzählen.

Er hatte sie gemocht. Und ihnen bedingungslos vertraut.

Und sie hatten ihn angelogen.

Seine Stimme klang leise an ihr Ohr, als er weitersprach.

„Aber gut. Auch ohne das alles standen Ran und ich uns nahe, und zu wissen, dass die eigenen Eltern den besten Freund so hängen lassen…“
 

„Um nicht zu sagen, niederknüppeln und liegen lassen, Shinichi.“

„Das… sind jetzt aber Ihre Worte.“

Seine Stimme klang rau, ganz kurz nur.

„Wie dem auch sei. Ich werde ihr nichts sagen… Sie können also ganz beruhigt sein.“

Der beißende Sarkasmus seiner Stimme stach ihr in den Ohren.
 

„Das ist… edel von dir.“

Shinichi schüttelte den Kopf, lachte bitter. Eri merkte, wie ihr ein Schauer über den Rücken rieselte.
 

„Nein, ist es nicht. Ich tu das nicht für Sie oder Ihren Mann, machen Sie sich da keine falschen Hoffnungen. Ich mache das nur für Ran. Ich will, das sie glücklich ist, das war alles, was ich im Leben wollte, und wenn das heißt, dass ich sie anlügen muss, dann soll es eben so sein.“
 

Eri erstarrte. Der bittere Unterton und die Wahrheit, die dahinter steckte, waren ihr nicht entgangen.
 

„Wäre ja nicht so, als hätte ich mittlerweile nicht ein bisschen Übung…“

„Shinichi…!“
 

„Nein.“

Er räusperte sich.

„Danke, aber nein danke, weiter will ich darüber nicht reden. Ich denke, damit ist alles gesagt. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen, Frau Mori.“
 

Damit legte er auf, starrte auf den Hörer – und warf ihn mit einem Schrei der Frustration gegen die Wand.
 

Verdammt!!!
 

Eri hingegen steckte ihr Handy gezwungen langsam und mit Bedacht weg.

Sie wusste, sie hatte falsch reagiert, all die Jahre.

Sie hätte Ran die Wahrheit sagen müssen… die Frage war allerdings, ob sie ihn gefunden hätte.

Ihr war bekannt, dass Heiji versucht hatte, mit seinen Eltern zu telefonieren – ein einziges Mal hatten sie seinen Anruf angenommen, mit ihm geredet ohne ihm die Chance zu geben, etwas zu sagen, und danach hatten sie die Nummer geändert und waren umgezogen. Sie waren nicht mehr zu erreichen gewesen, für niemanden.
 

Und jetzt war er in London, arbeitete bei Scotland Yard.
 

Im selben Moment, als ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, riss sie die Augen auf, merkte sie, wie ihr Herz kurz stolperte.
 

Kogorô!
 

Sie schluckte trocken, starrte in den Himmel. Sein Flieger war bestimmt schon weg.

Sie würde ihn nicht mehr erreichen.
 

Aber vielleicht… vielleicht war nicht ausgerechnet er der leitende Ermittler in dem Fall…
 

Sie knetete ihre Finger, ließ ihren Blick unruhig über ihre Umgebung schweifen. Leute gingen zügig ins Flughafengebäude oder kamen heraus – einige sammelten sich an einem Kiosk gegenüber, holten sich einen Kaffee und eine Zeitung. Sie stand auf, merkte, wie zittrig ihre Beine waren, wollte zu ihrem Auto gehen, als ihr Blick auf einer englischsprachen Zeitung hängenblieb.
 

Sie las die Schlagzeile und wusste, dass all ihr frommes Hoffen umsonst war.
 

THE ARTIST TERRIFIES LONDON – NEW CASE FOR SHERLOCK HOLMES?
 


 


 

Er gähnte, als er sich seinen Morgenkaffee von seinem Vollautomaten zubereiten ließ, genoss den Duft des frischgebrühten Kaffees, als der braune Bohnensaft leise plätschernd und mit appetitlich haselnussbrauner Crema in die Tasse lief. Er summte fröhlich, als er die Tasse auf sein Frühstückstablett stellte, um es zusammen mit den Marmeladenbrötchen, dem weichgekochten Ei, dem Stückchen Kuchen und dem Orangensaft ins Wohnzimmer zu tragen. Es war spät geworden gestern, als er an dem neuen Roboter gearbeitet hatte – weit nach Mitternacht war er ins Bett gefallen und so genoss er jetzt ein sehr spätes, sehr reichliches, sehr süßes Frühstück - das ihm Shiho niemals so erlaubt hätte – und deshalb genoss er es ganz besonders.
 

Und als er schließlich auf seinem großen Sofa saß, und die Nachrichten anstellte, fiel dem armen Professor Agasa sein Kaffeebecher aus der Hand. Er besudelte in seinem Fall das cremefarbene Sofa mit dicken, braunen Klecksen und hinterließ eine große, braune Pfütze auf dem Teppich.

Agasa bekam all dies gar nicht mit.

Seine Augen starrten ohne zu blinzeln auf den Bildschirm, seine Hand immer noch in Griffhaltung erhoben, eine nunmehr nutzlose Geste.

Ein Bild puren Entsetzens.
 

Die aufgeregte, helle Stimme der blonden, süß zurechtgemachten Morgenshow-Sprecherin mit Lippen zuckrig-pink wie rosa Marshmallows, bohrte sich in seine Ohren.
 

„Das hat lange gedauert, nicht wahr, Yosuke? Man hätte meinen können, Shinichi Kudô sei vom Erdboden verschluckt. Aber was berichten uns die Kollegen aus London…? Die haben sich unseren Sherlock geschnappt! Was sagt man dazu?“
 

Yosuke, ein smarter Typ in seinen Dreißigern, lächelte sein weißes Zahnpastawerbungslächeln, strahlte in die Kamera.
 

„So sieht es aus, Mica. Shinichi Kudô, in jungen Jahren bekannt und beliebt als Sherlock-Holmes der Heisei- Ära, der Kerl, der vor fünf Jahren durch die Zerschlagung der sogenannten „Schwarzen Organisation“ von sich reden machte, hat sich tatsächlich nach Großbritannien abgesetzt. Wir hielten ihn ja fast für tot, nach dem Abschluss seines Falls war er für kein einziges Statement zu kriegen– total untypisch für den damaligen Oberschüler, der sein Gesicht auf den Zeitungen doch sichtlich genoss…“
 

Agasa schluckte hart, wollte seinen Kaffee an die Lippen setzten, um sich zu beruhigen, und merkte erst jetzt, dass in seinen zitternden Fingern keine Tasse mehr war. Irritiert nahm er es zur Kenntnis, blickte dann wieder auf, hielt merklich den Atem an, als er Bilder sah, von Shinichi, der in die Pressekonferenz ging, an der Seite eines graumelierten Mittfünfzigers, der dem Bild vom typischen Briten bilderbuchmäßig entsprach.
 

Shinichi…

Da bist du also.
 

Sie berichteten über das Opfer eines Mordfalls drüben in London – interessant war der Fall für die hiesigen Medien, weil es sich um ein japanisches Opfer handelte.

Er war kurz im Bild, man sah ihn nur, hörte ihn nicht sprechen. Dennoch schaffte allein Shinichis Anblick, ihm einen Schauer über den Rücken zu jagen.

Fünf Jahre hatte er sich gefragt, was aus ihm geworden war.

Was aus seinen Eltern geworden war, die ebenfalls den Kontakt zu ihnen allen abgebrochen hatten.
 

Und nun sah er ihn im Fernsehen, zweifellos bald wieder in der Zeitung, man zerriss sich jetzt schon das Maul über ihn, wie er am Rande mitbekam, als er den beiden hippen Moderatoren oberflächlich folgte.

Sie würden gnadenlos sein, in Großbritannien und hier, jedes Detail seines Lebens aufdecken – drüben wohl seine Vergangenheit, und hier…

Er schluckte hart.
 

Dann traf ihn ein Gedanke, der ihn endgültig aus der Bahn warf.
 

Ran.
 

Ran ist in London…
 

Wie einer seiner Roboter griff er ohne zu denken nach seinem Smartphone, das vor ihm auf dem Tisch lag, wie ein Schlafwandler, tippte eine Nachricht, wählte einen Empfänger und schickte sie ab, ehe er sich kraftlos in sein Sofa sinken sah.

Mit zitternden Fingern schaltete er den Fernseher ab, schaute auf das Spiegelbild seiner selber in der schwarzen Mattscheibe, ohne sich wirklich zu sehen.
 

____________________________________________________________________________________________
 

Leute!!!!
 

Wow, ich danke euch für das großartige Feedback zum letzten Kapitel. Ich hoffe, ich muss euch nicht nochmal so auf Knien anflehen - ich liebe es einfach, von euch zu lesen, und ich bin wirklich dankbar für jeden Satz, sei er noch so kurz, und ganz egal ob lobend oder kritisch. Ganz besonders jedoch freut es mich, zu sehen, dass auch ein paar der "alten Hasen" wieder mit von der Partie sind - ich hoffe, es lohnt sich für euch! Ich bin von den Socken, ehrlich. :)
 

Meine Lieben -ich werde jetzt noch einmal eine Umfrage starten, was den Laderhythmus betrifft. Und ich bitte wirklich jeden, der dazu eine Meinung hat, sie auch abzugeben. Sie läuft zwei Wochen - das ist eure Chance jetzt. Bitte gebt eure Stimme offen und ehrlich ab. Ich hoffe, allerdings, dass sich bei einem einwöchigen Rhythmus nicht wieder Funkstille hier einstellt, weil die Kapitel zu lang werden...
 

Bis die Tage,

eure Leira :)

Kapitel 17: Rausch

Kapitel 17 – Rausch
 


 

Irgendwann hatte er sich aufgerafft, das Telefon wieder aufgesammelt, den Akku, der herausgefallen war, als er es gegen die Wand geschleudert hatte, wieder eingebaut, widerstrebend.
 

Er war durch mit dieser Welt, für heute.
 

Langsam schlich er ins Badezimmer, machte sich nicht die Mühe, sich im Spiegel anzusehen – er hatte auch so ein gutes Gefühl dafür, was für einen Anblick er abgab - sondern entledigte sich gleich seiner Klamotten, um sich unter die Dusche zu stellen.

Sich den Staub dieses Tages abzuwaschen, tat besser, als er geahnt hatte. Er ließ das kalte Wasser über seinen Kopf laufen, in der Hoffnung, nicht nur der Dreck Londons würde von seiner Haut, sondern auch seine Gedanken würden ein wenig aus seinem Kopf gespült werden – und ein wenig erfüllte sich seine Hoffnung sogar.
 

Als er gefühlt ein paar Grad an Körpertemperatur kälter aus der Dusche trat, fühlte er sich deutlich frischer – und abgeklärter.
 

Dennoch, der Kopfschmerz, der vorhin schon eingesetzt hatte, war immer noch da, wenn auch etwas weniger heftig.

Er seufzte, rubbelte sich mit seinem Handtuch Körper und Kopf leidlich trocken, schlüpfte in seinen Pyjama und tappte in sein Schlafzimmer. Er hatte keinen Hunger, nach diesem Tag.
 

Müde fiel er ins Bett, grub sich in seine Kissen, atmete tief ein und schloss die Augen.

Er fühlte, wie seine Glieder sich langsam entspannten, einfach schwer wurden, sich in die Matratze drückten, hörte nichts mehr außer seinem eigenen, gedämpften Atem und schloss die Augen.
 

Ruhe und Stille.

Es tat so gut.
 

Er driftete ab, schneller, als er geahnt hatte, schlief einfach ein.
 

Und fand sich an einem Ort wieder, den er eigentlich hatte vergessen wollen.
 

Es wunderte ihn, dass sein Schädel noch ganz war, als er wieder zu sich kam.

Der Schlag gegen die Tischkante hatte sich angefühlt, als hätte jemand versucht, seinen Kopf daran aufzuschlagen, ganz so, wie ein ambitionierter Bäcker es mit den Eiern, die er für seinen Kuchenteig verwenden wollte, am Schüsselrand machte. Immerhin hatte er den Trojaner installiert – jetzt hieß es abwarten und…
 

Shinichi schluckte trocken, kniff die Augen, die er eben einen Spalt weit zu öffnen gewagt hatte, leise stöhnend wieder zu, als das grelle Licht, das auf ihn gerichtet war, ihm die Netzhaut versengen zu wollen schien und seinen Kopfschmerz schier zum Explodieren brachte.

Langsam atmete er aus, wollte aufstehen, von wo auch immer er lag – und konnte nicht.

Er riss die Augen auf, trotz des Lichts, wollte an sich herabschauen, sich umschauen – und konnte kaum seinen Kopf bewegen, noch seine Hände.

Auch nicht seine Beine.
 

Lederne Bänder schnitten in seine Handgelenke, fixierten sie, genauso wie ein Gurt um seine Körpermitte und weitere um seine Knie und Fußgelenke.
 

Er lag auf dem Tisch, ganz ähnlich dem, den er am Tag seiner Ankunft gesehen hatte, und über ihm brannte ihn eine OP-Lampe zu Staub und Asche – oder schien es zumindest zu versuchen.

Der Raum allerdings war ein anderer. Die Fliesen waren andere, und auch die Einrichtung unterschied sich.

Er war woanders.

Er keuchte, versuchte, seine Panik zu verbergen.

Geblendet blinzelte er in das Licht, fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Als er den Kopf drehte, das einzige, was ihm noch möglich war, erkannte er, dass alles um ihn herum in einem diffusen Dämmerlicht lag… nur diese vermaledeite Lampe brannte auf ihn runter, setzte ihn zweifellos spektakulär in Szene. Er schloss die Augen, weil das Licht seine Augen langsam tränen ließ, und die hämmernden Kopfschmerzen, die in seinem Schädel sein Hirn wohl gerade in Trümmer schlugen, immer noch verstärkten - doch nun sah er den beunruhigenden roten Schein durch seine Lider.
 

>Auch nicht signifikant besser.<
 

Er seufzte laut, streckte seine Finger und ballte sie wieder zur Faust, immer wieder, bemerkte dabei nicht, wie ihn seine eigene Nervosität zu dieser Übersprungshandlung trieb.
 

>Guter Gott. Ich bin wohl in Frankensteins Labor angekommen. Was haben die vor…?

Ist es nicht sinnlos, an mir herumzudoktern, wo sie doch wohl schon alles über APTX herausgefunden haben?<
 

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, hörte er Schritte. Lange Schritte, die ein lautes Klack-Klack begleitete, ihren entschlossenen Gang akustisch untermalte.

Shinichi drehte den Kopf soweit es ging, machte die Augen wieder auf – und wie erwartet erschien Sharon im Blickfeld, verdunkelte seine Sicht. Und obgleich ihr Gesicht kaum erkennbar war, weil es im Gegenlicht lag, meinte er zuerst fast, jetzt doch gestorben zu sein. Sie sah aus wie ein Engel – ihre Haare an ihren Konturen von der Lampe angestrahlt und golden leuchtend, das Licht selbst wie eine Aureole um ihren Kopf.
 

>Aber was für ein Himmel wäre das denn, bitteschön… <
 

Er fühlte eine kalte Hand in seinem Gesicht.

„You are the biggest fool I’ve ever met. I wouldn't have warned you, had I known that you are up to such bollocks, you senseless stupid. The result would have been just the same - or better.“

Shinichi schluckte trocken.

„Ich wäre tot jetzt.“

„Which would have been definitely the more attractive option of those two choices you had.“

Ihre Stimme klang giftig und harsch.

„I wanted you to hide yourself, I wanted you to hide angel... not Sherry…!“

„Sie hat…“

„…earned everything that awaits her.“

Er hatte Sharons Stimme noch nie so kalt gehört. So völlig emotionslos.
 

„But you'll have to endure now what he'll do to you, and believe me, this won't be easy at all. I cannot help you here.“
 

Shinichi zog fragend eine Augenbraue hoch, stöhnte dann leise auf, als sogar dieser minimale Muskeleinsatz seinen Kopf mehr strapazierte, als er derzeit auszuhalten bereit war.
 

„You’ve made him so curious with all your promises in that video.

He is so immensely looking forward to have a chat with you… or two or three. He seldom finds a mind that matches his intellect so well. But he’ll force it from you. He’ll try to break into your mind, he will turn you inside out…”

Shinichi starrte sie an, schluckte hart.

„Wie kann er von mir etwas erfahren, das ich nicht sagen will? Gibt es denn wirklich noch etwas Schlimmeres als die Tortur von gestern? Es war doch gestern, oder?“
 

Sie hörte ihn lachen, hohl, resignierend.

„Irgendwie mag ich das kaum glauben. Und ich bin keiner, der…“

„Shinichi…“

Sie lächelte fast spöttisch über so viel Heldenmut und Opferbereitschaft.

Über so viel pure Dummheit.
 

„There are other means than force and pain, and you should know this. He wants to break into your mind, drag out every single thought, every small feeling that is in there. He wants to learn about your fears and your hopes, and so he'll get to know which poison to use on you to destroy you. Everybody has such a weak spot... and once he has found it he’ll tear you apart… until there is nothing more left of you than shattered pieces."
 

Sie lächelte immer noch, wenn auch deutlich dünner.
 

Und in ihm schrie Panik auf.
 

>Ran!<
 

Dann drehte sie ihren Kopf, als sie Schritte hörten, die sich ihnen näherten.
 

„Silver bullet…“, flüsterte sie, beugte sich nahe an sein Ohr.

„Do never forget… no matter what you'll see, it is not real. It is not happening. I swear, I’ll keep her safe… I'll try, at least.“
 

Und das war der Moment, in dem er Angst bekommen hatte.

Wirkliche Angst.
 

Dann waren sie gekommen.
 

Er hatte sie anhand ihrer Umrisse erkannt.

Gin.

Wodka.

Bourbon.
 

Anokata.
 

Und mit ihnen war eine weitere Frau gekommen, ihm unbekannt.

Mit einem Tablett, auf dem eine Injektion lag.
 

Bei dem Anblick war in ihm pures Entsetzen ausgebrochen, hatte seinen Fluchtinstinkt, den er für gewöhnlich so gut im Griff hatte, angefacht – die Vorstellung, wozu dieses Instrument gut war, die Unwissenheit über das, was folgen würde, zerrte an seinen Nerven, gab seiner Angst neues Feuer. Er zog an seinen Fesseln, wollte sich freiwinden, hörte sie nur lachen – es klang laut in seinen Ohren, und schmerzhaft.

Schnell merkte er, wie sinnlos das alles war, ließ es wieder bleiben, schluckte nur hart.

Normalerweise hatte er sich besser im Griff und er wollte sich nicht anmerken lassen, wie furchteinflößend das hier auf ihn war.
 

Davor hatte ihn keiner gewarnt.
 

Und egal was jetzt kam, er würde es aussitzen müssen. Er saß in der Falle.
 

„Hallo, junger Freund.“
 

Anokatas Stimme hallte durch den Raum, und das seltsame Gefühl, dass ihn ergriffen hatte, als er sie das erste Mal gehört hatte, stellte sich auch nun wieder ein.

Ernst klang sie, bedauernd fast, und dennoch eiskalt.
 

„Ich muss gestehen, ich bin enttäuscht. Wenn auch nicht überrascht…“
 

Er trat näher, ein schwarzer, scharf umrissener Schatten eines Mannes im Anzug, hochgewachsen und schlank, scheinbar alterslos.
 

„Aber gut, da du recht deutlich gemacht hast, dass du dich vernachlässigt fühlst, werde ich mich, meiner Rolle als Gastgeber folgend, nun etwas eingehender um dich kümmern.“
 

Shinichi hielt still. Anokata machte eine Kunstpause.
 

„Nun, du wolltest reden, junger Detektiv, jetzt ist deine Chance. Sprich dich ruhig aus.“

Shinichi schwieg ihn an, wandte den Kopf ab, starrte in die Lampe, versuchte, ihn zu ignorieren.

Seine Stimme klang dennoch leise drohend an sein Ohr, biss und bohrte sich in sein Trommelfell.
 

„Ich möchte dich zudem darauf hinweisen, dass du dich nicht mehr im Hauptquartier befindest. Wie auch immer deine Freunde vom Bureau und du es euch ausgedacht hattet, dich wieder aufzugabeln, dieser Plan ist hiermit gescheitert. Wenn du dich nun zierst, zögerst du das hier nur in die Länge – das wird amüsant und unterhaltsam für mich, für dich… eher weniger.“
 

Shinichi konnte das dünne, sarkastische Lächeln auf seinen Lippen nicht sehen – wohl aber glaubte er, es herauszuhören.
 

„Nun, entscheide. Willst du das hier bedeutend abkürzen oder unser Match über die volle Distanz gehen lassen?“
 

Shinichi schluckte hart.

„Ich bin Fußballspieler. Meine Kondition ist damit recht gut.“

„Hah!“

Laut hallte das Gelächter Anokatas von den Wänden wieder, selbstsicher, amüsiert… triumphierend.
 

„Nun gut; mal sehen, was dir das bringt. Eine Kampfsportart wäre wohl die bessere Wahl gewesen… oder Poker.“
 

Shinichi drehte den Kopf, schaute das Gesicht im Schatten an, versuchte, herauszufinden, wer es war. Nur ein paar Gesichtszüge zu erhaschen wäre schon ein Gewinn gewesen – aber Anokata tat ihm den Gefallen nicht.
 

>Poker?<
 

„Also gut. Runde eins. Wohin, mein schlauer Freund, hast du Sherry bringen lassen? In welchem Loch versteckst du die kleine Verräterin denn?“

„Keine Ahnung, wer das ist.“

Shinichi versuchte, gelassen zu klingen. Ungerührt.

„Ach komm…“

Er hörte ihn leise lachen.

„Komm, Detektiv, wo sind deine Manieren… natürlich weißt du, wer das ist. Sie hat dir deinen Zustand eingebrockt.

Ihr wart zusammen in einer Klasse an der Teitan, und dort sah man euch fast immer miteinander „abhängen“, wie man in eurer Jugendsprache sagt. Das zumindest bestätigen deine kleinen Freunde auf freundliche Nachfrage dieser hübschen Dame hier.“

Er nickte zu Sharon, lachte leise.
 

„Ai Haibara lautete ihr Name… wie sieht’s aus, klingelt’s da bei dir?“

Shinichi zuckte unwillkürlich zusammen.

„Ganz richtig. Das wissen wir bereits. Also… kein Grund, weiter den Helden zu spielen. Du hast sie weggeschickt, bevor du dich schnappen hast lassen. Das war sehr nobel von dir, aber zwecklos, nichtsdestotrotz. Wo ist sie?“

Er trat näher. Shinichi blinzelte, als ihm die Augen zu Tränen anfingen, erneut. Die OP-Lampen brannten immer ärger in seinen Augen, und er fürchtete, dass er dieses Nachbild nie mehr loswerden würde.

„Und du weißt auch, wer hier drin ein Maulwurf ist. Das zumindest hast du behauptet…“

„Vielleicht war das gelogen…“, erwiderte der junge Detektiv schnippisch.
 

Der Boss lachte immer noch. Shinichis Beunruhigung wuchs.

„Nun. Wie auch immer, wir werden es herausfinden – und selbst wenn das alles nur eine riesige Blase aus Lügen ist, die du uns hier aufgetischt hast, um Sherry zu schützen… was offen gestanden niemand glaubt, immerhin wusstest du diese Adresse…- du wirst uns dennoch von Nutzem sein.“
 

Sein Lachen verstummte. Stattdessen winkte er der jungen Frau, die die Spritze vom Tablett nahm, sich ihm näherte.
 

„Das ist Lillet. Sie wird deinem Gedächtnis mit Freuden etwas auf die Sprünge helfen.“

Shinichi sah, wie ein Tropfen auf der Spitze der Nadel im Scheinwerferlicht glomm, aufblitzte.

„Ach ja. Und wie? Ich glaube kaum…“, fing er an, als seine Stimme auch schon wieder erstarb, als jemand seine Hand griff und mit der Handfläche nach unten auf den Tisch drückte. Er bemerkte, wie die Aufmerksamkeit aller auf die junge Frau geschwenkt war, und auch er kam nicht umhin, mit unruhigem, unstetem Blick zu verfolgen, wie sie sein Handgelenk mit Alkohol säuberte. Er merkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat – Angstschweiß, oder Schweiß, den ihm das zunehmend heiß werdenden Licht aus den Poren drückte, beides, schätzte er – und als sie sich mit der Nadel näherte, hing sein Blick daran wie hypnotisiert. Als er beobachtete, wie die Stahlspitze in seinem Fleisch versank, hielt er den Atem an, atmete scharf aus, als er den Einstich spürte. Dann hob er den Blick, suchte Sharon, schluckte trocken. Er konnte ihren Blick auf sich fühlen, auch wenn er ihren Gesichtsausdruck nicht sah.
 

Im nächsten Moment verließ ihn jegliches Gefühl in Armen und Beinen – er schnappte entsetzt nach Luft, rang nach Atem, merkte, wie sein Gehirn panisch seinen Gliedmaßen Befehle erteilen wollte, sich dich gefälligst zu melden, zu rühren.

Und diese Stimme wurde immer leiser.

Er fühlte, wie etwas die Kontrolle übernehmen wollte, sich etwas über seine Gedanken legte, sie alle einsammelte und in einen dunklen Sack stopfte, die Schnur zuzubinden schien…

Er wollte sich wehren, wollte wach bleiben, das nicht zulassen, als er merkte, wie ihm die Kontrolle nicht nur über seine Gliedmaßen, sondern über sich selbst entglitt.
 

>Nein! Was ist das… was ist das…?!<
 

Er kämpfte, blinzelte angestrengt in die Lampe, die sich immer mehr zu dimmen schien, sah die Schatten, die sich um ihn versammelten und ihm bei seinem Kampf um sein Bewusstsein zusahen, konnte ihre Neugier, ihre Anspannung spüren, die ihr Netz über ihn webte, um ihn darin einzuhüllen. Er versuchte, ruhig zu atmen, das war es doch, was sonst auch half, wenn man ohnmächtig zu werden drohte – nicht hyperventilieren, denn das raubte einem den Sauerstoff und beschleunigte die Ohnmacht.

Und doch, das ahnte er, hatte er keine Chance.

Was auch immer es war, das durch seine Adern kroch, jeden Nerv auf seinem Weg einzeln lahmlegte, schaltete auch seinen Kopf zuverlässig aus, bis auf die wenigen Funktionen, die ihn am Leben hielten.

Atmung, Herzschlag.
 

Und das… hörte, spürte er überdeutlich.

Ein dumpfes Domm-domm, sein Herz, das gegen sein Brustbein klopfte, untermalt von unnatürlich lautem Rauschen, als er mühsam Luft holte, sein Atem seine Lungen verließ, neue Luft zurückströmte.

Dann wurde es dunkel.
 

Nicht für lange, allerdings.

Er war sich nicht sicher, ob er träumte oder wach war – es schien hier alles so erstaunlich real. Der Wind in seinen Haaren, der Geschmack des Flusses auf seiner Zunge, der Geruch von Abgasen in seiner Nase.

Verwirrt blickte er um sich, drehte sich einmal um die eigene Achse.

Die Houses of Parliament, das London Eye, die Westminster Bridge. Rote Doppeldeckerbusse, schwarze Taxen.

Kein Zweifel.
 

>London?!<
 

Und dann war sie da.

Plötzlich, wie aus dem Nichts stand sie da, in ihren Augen diesen anklagenden Blick, das wässrige Glitzern, das ihre Tränen ankündigte, Tränen aus Wut – auf ihn, weil er sie so getäuscht hatte, angelogen hatte, was tat er schließlich auch hier?! Sie machte sich die Mühe und Gedanken, für ihn möglichst viele Souvenirs zu sammeln und er sagte ihr nicht, dass er selbst hier war? – und auf sich, weil sie es immer zuließ, vor ihm so dermaßen schwach zu werden. So tough sie sich ihm gegenüber auch immer gab – in Wirklichkeit hatte sie ihm nie etwas entgegenzusetzen. Er zog ihr den Boden unter den Füßen weg, jedes Mal wenn er sie nur ansah, und war doch der einzige, der sie auffangen, der ihr Halt geben konnte, wie kein anderer.

Und so stand sie da und zitterte, das Herz schlug ihr bis zum Hals.
 

Hinter ihnen schlug der Big Ben vier Uhr nachmittags, ließ die so bekannte Melodie seines Glockenspiels erklingen – sie ging ihnen beiden zum einen Ohr rein und zum anderen raus, ohne dass sie weiter Notiz davon nahmen. An ihnen liefen die Menschen vorbei, schauten teils verwundert, als sie den aufgelösten Zustand des asiatischen Mädchens bemerkten, das mit brennenden Blick den Jungen anstarrte, der vor ihr stand – aber auch das ging an ihnen komplett vorbei.
 

Ran starrte ihn einfach nur an, eine einzelne Träne lief ihr immer noch über die Wange. Er wagte nicht, die Hand zu heben, um sie ihr weg zu wischen. Starr blickte sie ihn an.
 

„Shinichi, wenn du wirklich so ein großer Detektiv bist, sollest du wissen, wie es in meinem Herzen aussieht!“
 

Unüberlegt schmetterte sie ihm diese Worte ins Gesicht – es war einfach zuviel, es war genug, es… es reichte. Sie konnte nicht mehr. Sie hatte genug der Geheimnistuerei, genug des Versteckspiels, und dieses Gefühl von Übersättigung all dieser Gefühle, die sich in ihr mischten, ihr den Kopf verdrehten, wenn es um ihn ging, noch dazu, wenn er vor ihr stand – vor ihr stand! – ließ sie diese Worte äußern, die sie in nüchternem, ruhigerem Zustand niemals über die Lippen gebracht hätte.

Und im nächsten Moment bereute sie es.

Sie wurde blass, schlug sich die Hand vor den Mund, schaute ihn mit großen, blauen Augen erschrocken an.
 

Sie hatte ihm gestanden, dass sie ihn liebte, in ihrer Rage.
 

Ihre Beine gaben fast nach.

Seine wohl auch.
 

Er starrte sie an, fühlte sich wie von einem dieser Doppeldeckerbusse erfasst.
 

>Ran!?<
 

Sein Puls beschleunigte sich, trieb seine Atemfrequenz in die Höhe, schaltete seinen Kopf aus. Alles, was er ihr hatte gerade erklären wollen, jede noch so fadenscheinige Ausrede, was zum Henker er hier suchte und wie er nach London kam, war mit einem Mal weg.

Weg.
 

Shinichi holte Luft, blinzelte.
 

„Sag mal, geh’s noch? Wie denkst du, soll ich das schaffen? Du bist… du bist schlimmer als jeder verdammte Fall, den ich je zu lösen hatte! Selbst wenn ich so gut wäre wie Holmes, wie soll ich dieses Rätsel lösen können, das du bist, für mich, mit all diesen…“

Er schluckte hart.

„… Gefühlen.“

Kurz stockte er, merkte, wie ihm heiß wurde, das Blut ins Gesicht geschossen war.

„Ich meine, das Herz, des Mädchens, das man liebt… wie soll man denn herausfinden, wie es in ihm aussieht…? In diesem Chaos… sieht man doch nichts…!“

Er straffte die Schultern, schüttelte entschieden den Kopf.

„Und was dieses Liebe ist Zero-Gedöns angeht… Null ist doch er Ort, wo alles beginnt, mit Null fängt man immer an! Ohne Null gäb es keinen Punkt, an dem man beginnen kann…“
 

Shinichi atmete schwer, stopfte seine Hände unwirsch in seine Hosentasche, wagte nicht, sie anzusehen. Er hatte viel gesagt, in nicht einmal einer Minute, und langsam wurde ihm klar, dass er nichts mehr würde zurücknehmen können… kein einziges Wort.

Jetzt hieß es warten, auf ihre Reaktion.

Er schluckte, ließ seine Hand sinken, fühlte das Blut in seinen Wangen pochen. Konnte sich vorstellen dass sie glühten vor Nervosität, Aufregung und Scham und hasste es, dass er sich nicht besser im Griff hatte.
 

So hatte er sich das eigentlich auch nicht vorgestellt.
 

„Das Mädchen, das man liebt… Shinichi?“
 

Leise drang ihre Stimme an sein Ohr. Er sah auf, unsicher. Ran schaute ihn an, ihre Unterlippe zitterte leicht.

„Das Mädchen, das du… liebst?“

Er nickte nur; zu einer anderen Reaktion war er nicht mehr imstande. Ran starrte ihn an, schluckte trocken, fuhr sich mit zitternden Fingern durch die Haare.

Shinichi stand da - ihr Shinichi! - und seine Unsicherheit stand ihm quer übers Gesicht geschrieben, als er auf ihre Reaktion wartete. Sie hatte ihn nie so erlebt. Zitternd atmete sie ein, versuchte, ihr nervös flatterndes Herz zu beruhigen, als die Erkenntnis über die Bedeutung seiner Worte sie endlich aufweckte.
 

„Also…“, begann sie leise.

„Also.“, murmelte er nur.
 

„Dann… dann hatten wir… die gleichen Schlussfolgerungen…?“

Rans Stimme zitterte immer noch.

„Scheint so.“

Er blinzelte, merkte, wie langsam die Wärme in seine Gliedmaßen zurückkehrte. Er schaute sie an, merkte, wie ihr eine zarte Röte auf die Wangen geschlichen war.
 

Das Glücksgefühl, das sich langsam in seinem Kopf ausbreitete, seine Gedanken umnebelte, war unbeschreiblich. Vergessen war die Tatsache, dass da immer noch sein kleines Größenproblem war, vergessen war all die Aufregung von gerade eben, vergessen war sogar die Organisation.
 

Jetzt, in diesem Moment zählte nur das Lächeln in ihrem Gesicht, das langsam auf ihren Lippen erblühte, als sie ihn schüchtern ansah. Er merkte, wie er es erwiderte, ganz automatisch, fühlte diese unglaubliche Last von sich abfallen, dieses Geheimnis mit sich herumzutragen, fühlte dieses Hochgefühl, endlich etwas richtig gemacht zu haben, sie endlich glücklich gemacht zu haben.
 

Er traute sich fast nicht, die Hand auszustrecken, und tat es doch – wischte ihr unendlich zärtlich die letzte Träne von der Wange, spürte ihre warme, weiche Haut unter seinen Fingern, genoss das Gefühl. Kurz nur – denn nun kam auch in sie Bewegung, und Ran war deutlich weniger zögerlich. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, zog ihn an sich, legte ihre Arme um ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Brust, atmete tief ein. Er spürte, wie sie ihre Finger in sein Hemd grub, fühlte, wie sein Herz raste, einmal mehr, als er ihre Umarmung erwiderte, ihren Kopf langsam auf ihren sinken ließ, den Duft ihrer Haare einatmete…
 


 

Mit einem Ruck wachte er auf. Desorientiert blinzelte er in die Lampe, die immer noch über ihm hing, schluckte, oder wollte es zumindest. Sein Mund fühlte sich trocken an, seine Zunge klebte am Gaumen, und halb war er noch in London, auf dieser Brücke, hatte den Geruch ihres Shampoos in der Nase. Er seufzte, der Schleier über seinen Gedanken hob sich nur langsam. Er fühlte, dass seine Finger kalt und nass waren, spürte sein Herz gegen seinen Brustkorb schlagen, schnell, zu schnell, immer noch.
 

Sie war nicht hier.
 

>Ran…?<
 

Und er wusste nicht, ob er erleichtert sein darüber sollte, oder enttäuscht.

Sein Puls raste immer noch, seine Finger prickelten, unter ihren Spitzen spürte er immer noch die Wärme ihrer Haut, nicht das blanke, kühle Metall des Tischs, auf dem er lag.
 

Was war das gewesen?

Träge schwammen seine Gedanken in seinem Hirn, wie die Nudeln in Instant-Ramen, nur mühsam gelang es ihm, Traum und Realität auseinander zu sortieren, merkte, wie irrationale Enttäuschung sich in ihm breitmachte, als er erkannte, dass er nur geträumt hatte. Dass sie nicht da war, niemals dagewesen war, dass dieses Gespräch auf der Brücke nie so geendet hatte, sie nicht…
 

Und langsam realisierte er, wo er war.
 

Und mit der Erkenntnis kam die Anspannung zurück.

Anspannung, die sich intensivierte, als er das hämische Lachen auf Gins vernahm – und er war nicht der einzige, der lachte.
 

Dann hörte er seine Stimme.
 

„Ah. Nun wird es… interessant.“
 

Shinichi blinzelte träge. Anokata klang zufrieden, zumindest soviel bekam er mit. Irgendetwas hinderte seinen Kopf immer noch daran, in normaler Geschwindigkeit zu denken, dennoch, die Unruhe wuchs. Wenn sich dieser Mann über etwas freute, konnte das nichts Gutes bedeuten, für ihn.
 

„Gibt es da etwa ein Mädchen in deinem Leben, Detektiv?“
 

Die Stimme schlich sich an, leise und lauernd.
 

Und in Shinichi explodierte die Angst.
 

>Ran! Ich hab geträumt – von ihr! Ich hab doch wohl nicht, bitte, ich hab nicht…

Ich darf nicht…<
 

Seine Augen starrten ihn angsterfüllt an, suchten Gesichtszüge in der schemenhaften Gestalt um herauslesen zu können, wie viel er verraten hatte.

Was er nun dachte.
 

Er sah nichts.
 

Er hörte ihn nur lachen, erneut, leise und heiser, durch und durch hocherfreut.
 

„Dass du dir diesen Luxus leisten magst, mein Freund? Ich dachte, du wärst schlauer…“
 

Stille herrschte.
 

„Menschen, die wir lieben, sind unsere Schwachstelle, das weißt du, nicht wahr? Das weißt du…“
 

Das Lachen ertönte erneut, lauter, stechender, diesmal.
 

„Und je mehr wir sie lieben, desto mehr würden wir geben, um sie zu schützen…“
 

Shinichis Gedanken rasten, überschlugen sich.
 

>Gott, wie viel haben die gehört? Was hab ich gesagt? Woher…<
 

Und diesmal sah er das Grinsen fast auf den Lippen der Schattengestalt.
 

„Du liebst sie sehr, nicht wahr? Fang gar nicht an, es abzustreiten, du hast dich verraten…

Wie war das doch gleich?“

Er schien zu überlegen, tat grübelnd, genoss zusehends, seinen Delinquenten auf die Folter zu spannen.
 

„Ich meine, das Herz, des Mädchens, das man liebt… wie soll man denn herausfinden, wie es in ihm aussieht…? In diesem Chaos… sieht man doch nichts…!“
 

Er hörte, wie Gin wieder leise zu lachen anfing, merkte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg.

Sie hatten wohl so gut wie alles gehört.

Alles.
 

>Nein…!<
 

„Sehr poetisch. Des Sohnes eines Schriftstellers würdig, würde ich meinen.“
 

Shinichi fing an zu zittern. Er wusste nicht, woher das rührte, fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn, stöhnte leise auf, als sein Herz spürbar gegen seinen Brustkorb schlug, sein Puls an Geschwindigkeit zulegte, ohne dass er etwas dazu tat, merkte, wie seine Sicht flimmerte, als ihm der Gestank vom kalten Rauch ekelhafter Zigarren in die Nase stieg.
 

>Gin.<
 

Er blinzelte angestrengt, und konnte doch schon nichts mehr sehen, hörte nur wie durch Watte, was er sagte, in seine Ohren wisperte.
 

„Ich dachte nicht, dass es so einfach werden würde, dich bei den Eiern zu kriegen, Kudô… warte nur ab, was wir machen werden, wenn wir sie erst…“
 

Leises Gelächter, kaum mehr als heißer Atem an seinem Ohr, in seinem Gesicht.
 

„Gin.“
 

Anokatas Stimme schnitt ihm das Wort ab. Gin schwieg, trat zurück.
 

„Ach, Detektiv…“

Säuselnd erreichte sein Name sein Ohr.

„Du hast noch nichts zu befürchten, noch nicht. Solange du uns nur ein wenig erzählst…“

Er war nahe gekommen; Shinichi schluckte, als ihm ein bisher fremder Geruch in die Nase stieg. Ein Aftershave, schätzte er; herb, aromatisch, schwer.

„Mein lieber Junge, das liegt dir schon lange auf dem Herzen, nicht wahr? Ihr zu sagen, was du für sie fühlst, für dieses Mädchen… und konntest es doch nicht, noch nicht, nicht wahr?

Wir wissen ja warum, du warst in einer etwas… misslichen Lage.

Conan konnte keine Liebeserklärungen machen, nicht wahr? Und deswegen musstest du so lange warten, und von Tag zu Tag wurde es schwerer, hab ich Recht?

Tu dir keinen Zwang an, junger Freund, sprich dich aus… wir hören dir zu…“
 

Lauernd und lockend schmeichelte sich die dunkle Stimme in sein Ohr, schien in seinem Kopf nach den dazu passenden Gedanken zu suchen. Shinichi stöhnte auf, versuchte, sie auszusperren, doch es fiel ihm schwer – hatte sie doch Recht.

Sie hatte so Recht.

Und er dachte an Ran, Ran, der er nicht hatte sagen können, was er für sie empfand, Ran, die es vielleicht nie hören würde.

Kurz flackerte ihr Gesicht vor seinem Auge.
 

Dann griff Dunkelheit erneut nach ihm, aber mit ungleich viel mehr Gewalt als der sanfte Schlaf von vorhin. Und mit ihr wuchs die Angst, vor dem, was jetzt kam.

Er durfte nicht reden, wenn er ohnmächtig wurde oder schlief, was auch immer das war.

Er durfte nichts sagen, keinesfalls den Namen nennen.

Niemals den Namen, wenn er schon…
 

>Ran…<
 

„Sag uns, wer ist denn die Glückliche…?“
 


 

Und mit einem Ruck fuhr er hoch.

Fühlte die Scham in seinem Gesicht brennen, immer noch.
 

Keuchend atmete er aus, schaute desorientiert um sich, sah nichts als die Finsternis in seinem Schlafzimmer. Mit fliegenden Fingern strich er sich übers Gesicht, über die Augen, versuchte zu schlucken, und merkte, dass es ihm wie im Traum nicht gelingen wollte.
 

Nur ein Traum…
 

Shinichi kämpfte sich aus dem Bett, taumelte in die Küche, drehte den Wasserhahn auf, ließ das kühle Nass in seine Hände laufen, klatschte sich eine Ladung ins Gesicht, ehe er etwas davon in der hohlen Hand auffing und ein paar Schlucke trank. Schwer atmend stützte er sich am Spülbeckenrand ab, sortierte sich.

Anokatas Lachen klang immer noch in seinen Ohren, trieb ihm auch heute noch die Schamesröte ins Gesicht, wenn er daran dachte, was er wohl preisgegeben hatte, in diesen Minuten und jedesmal wieder, wenn sie ihm das Zeug verabreicht hatten. Müde wischte er sich über die Augen.

Er hatte von seinem ersten Rausch geträumt.

Aber warum?
 

Wegen der Ereignisse heute?

Wegen Ran?
 

Unwirsch drehte er das Wasser wieder ab.
 

Kann das nicht einfach mal ein Ende haben?

Langsam wird es richtig nervig…
 

Er erinnerte sich unerfreulich klar an jenen Tag, als er zum ersten Mal die Bekanntschaft mit HLZG 0405 gemacht hatte. An dieses so reale Glücksgefühl, das er gespürt hatte, viel intensiver noch als gerade eben schon.

Und er erinnerte sich an das Gefühl von Scham, das ihn jedes Mal gepackt hatte, als er sie hatte lachen hören, allen voran, ihn.
 

Anokata.
 

Und an die Wut, die ihn ergriffen hatte, jedes Mal, hinterher, über sich selber – dass er es zuließ, dass er sich schämte, weil er sie liebte. Dass er das mit sich machen ließ, dass er nicht darüber stand, dass er nicht stärker war.

Auch wenn er immer gegen dieses Gefühl gekämpft hatte, wusste er doch, dass sie es provozierten, er hatte sich verachtet, hinterher.

Für seine Schwäche.
 

Er erinnerte sich nur zu gut an die Angst vor jedem neuen Rausch, weil er befürchtete, ihnen einmal doch zu viel preiszugeben, mehr noch, als er ohnehin schon erzählte, was in seinen Augen schon viel zu viel war, auch wenn er schnell gelernt hatte, es einzudämmen, zumindest.

Jedes einzelne Wort, das er redete, war eins zu viel gewesen. Jedes Lächeln auf seinen Lippen war zu viel gewesen.

Es war niemals für andere zu hören bestimmt gewesen, was er empfand, nur für sie.
 

Seine Gefühle gegen ihn zu verwenden, ihn nur damit schon zu verletzen, zu foltern, war grausam genug gewesen. Die Angst davor, dass sie sie holten, ihr wirklich wehtaten, wegen ihm, ein schier unerträglicher Gedanke.
 

Und all das war Tag für Tag, Mal für Mal, so real gewesen.

Jedes Glücksgefühl, jedes Schamgefühl, jede Angst.

Und die Angst… war mehr als berechtigt gewesen.
 

Shinichi ballte die Hände zu Fäusten, entspannte sie langsam wieder.
 

Es hatte sich so echt angefühlt, jedesmal wieder, aber kaum ein Traum war ihm so im Gedächtnis haften geblieben wie dieser.

Wahrscheinlich, weil es der Londonfall gewesen war – er hatte Wochen danach noch nachgedacht darüber, was auf dieser Brücke wirklich passiert war, was sich geändert hatte, zwischen ihnen.

Ob sich etwas geändert hatte, zwischen ihnen.

Wie er es besser, anders machen würde, hätte er eine zweite Chance dafür bekommen.

Die, die er heute gekriegt hatte, hatte er nicht wirklich gut genutzt.
 

Er schluckte, seufzte.

Mittlerweile war Shinichi hellwach – und sonderbarerweise meldete sich nun auch sein Magen knurrend zu Wort. Kapitulierend zuckte er mit den Schultern, schaltete das Licht in der Küche an und zog seine Vorratsschranktür auf, um zu sehen, was er hergab – bis auf ein angebrochenes Päckchen Reis und eine Schachtel Glasnudeln gähnte ihn schwarze Leere an. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um ins hinterste Eck spähen zu können, meinte, etwas in der Dunkelheit ausmachen zu können, fischte mit seiner Hand hinein – und zog ein Päckchen Instant-Ramen heraus.
 

Na, damit lässt sich doch arbeiten.
 

Er schmiss den Wasserkocher an, füllte die Kanne mit frischem Wasser voll und riss das Päckchen auf, schüttete den trockenen Inhalt in eine kleine Suppenschüssel, angelte im gleichen Zug nach einer Tasse und Tee.
 

Und als er darauf wartete, dass das Wasser kochte, wanderten seine Gedanken zum heutigen Nachmittag zurück.
 

Diese Brücke…

Scheint unser Schicksalsort zu sein, was, Ran?
 

Ein leises Seufzen rang sich aus seiner Kehle, als er sachte den Kopf schüttelte.
 

Er hatte es unterschätzt.
 

Der Wunsch, bei ihr zu sein, war stärker, als alles, was passiert war. Allein ihr Lächeln ließ ihn die fünf Jahre vergessen, in denen er gelitten hatte unter der Schuld, ihr den Tod gebracht zu haben, ließen ihn den Schmerz vergessen, den ihr Verlust ihm bereitet hatte, die Wut auf ihren Vater, der ihn angelogen hatte, die Demütigung, weil sie sich lustig gemacht hatten, darüber, weil er so empfand für jemanden.
 

Dieses Gefühl war stärker als all das.
 

Weil es die Wahrheit ist.
 

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.
 

Doch die Wahrheit selbst kann genauso wehtun…

So Unrecht hatte Holmes nicht, was die Frauen betraf, wenn auch aus anderen Gründen.
 

Ran, ich wünschte… das hier wär anders gelaufen.

So wie du mich das alles vergessen lässt, genauso erinnerst du mich daran.
 

Es fegte alles andere aus seinen Gedanken, zumindest für einen Augenblick.
 

Vergessen kann ich es nur für einen kurzen Moment, das weißt du… denn ich weiß doch, sie sind noch da.

Und sie haben dich… schon einmal gegen mich verwendet.

Meine Gefühle für dich gegen mich verwendet.

Und es hat so unglaublich gut funktioniert.

Ich hätte nie geglaubt…

Ich hätte nie gedacht, so verletzbar zu sein.

Allein den Gedanken, dass man dir etwas antut, schon so wenig ertragen zu können.
 

Seine Mundwinkel verzogen sich.
 

Es ist unfair, dass… ausgerechnet du es bist, mit der man mich kleinkriegt. Dir das aufzubürden ist nicht gerecht… wo ich doch weiß, dass der Gedanke dir unerträglich sein würde, wüsstest du um meine Schwäche.

Ich weiß, dasss du dir dasselbe für mich wünschst wie ich mir für dich.
 

Glück.
 

Er seufzte, griff nach der Kanne des Wasserkochers, als er das Klacken des Einschaltknopfes vernahm, der ankündigte, dass das Wasser nun kochte, goss den Tee und die Instantnudeln auf und setzte sich damit an den Tisch, wartete, bis beides etwas abgekühlt war.
 

Der Tag war irr gewesen.

Und er fragte sich, wie es Ran ging – wahrscheinlich konnte sie genauso wenig schlafen wie er. Kurz fiel sein Blick auf das Telefon, das vor ihm auf dem Tisch lag – dann verwarf er den Gedanken wieder.

Er seufzte, hob die Tasse an die Lippen, trank vorsichtig die heiße Flüssigkeit.

Er würde mit ihr noch einmal reden müssen, dessen war er sich sicher. Und wenn Ran immer noch der Sturkopf war, der sie gewesen war vor fünf Jahren, dann würde das bald sein.

Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen.

Wenn morgen irgendetwas in der Zeitung stand, was er stark befürchtete, noch eher. Er runzelte die Stirn, verfluchte einmal mehr die Presse.
 

Dennoch, das musste er sich eingestehen, war es schön gewesen, sie zu sehen. Ihre Stimme gehört zu haben, sie im Arm gehalten zu haben, gefühlt zu haben, dass sie immer noch da war, ihn immer noch… liebte.
 

Ein so schönes Gefühl ist das…

Hätte Holmes seine Meinung geändert, hätte er es einmal spüren dürfen?
 

Shinichi seufzte leise.
 

Ach Ran…
 

_____________________________________________________________________
 

Hallo Leute!
 

Dankeschön für die Kommentare zum letzten Kapitel :)

Nun – in der Umfrage kam recht deutlich zum Vorschein, dass ihr gern wöchentlich lesen wollt. Ich mach das, kein Thema, aber gebt mir noch bis Ende September, bevors losgeht; sprich, das nächste Kapitel in 2 Wochen, dann wöchentlich.

Und ich möchte an der Stelle schon anbringen, dass sich das wieder aufhört, wenn wieder so große gähnende Stille hier herrscht; denn jeder, der eine Geschichte schreibt, weiß, wieviel Arbeit das ist, und jeder, der noch keine Geschichte geschrieben hat, dem sei gesagt: es ist verdammt viel Arbeit. Und sehen wir der Wahrheit ins Gesicht – wir publizieren hier, um die Reaktion des Publikums zu lesen. Also scheut euch nicht und tut mir den Gefallen – jeder Kommentar, und sei es nur ein kurzer Satz, tut einfach unglaublich gut!

An die ausführlichen Kommieschreiber möchte ich an der Stelle mal meinen Respekt ausdrücken – der schiere Wahnsinn, was ihr macht. Und ich danke euch so sehr dafür, denn euer Lob beflügelt mich und eure Kritik hilft ernsthaft weiter. Oft bestätigt ihr mir, was ich auch schon dachte, und lasst mich den Mut finden, was zu ändern.
 

In diesem Sinne, viel Spaß, bis nächste Woche – dann kommt Kogorô… jaaaaa… und ein neuer, bezaubernder Artikel von Miss Shelley ;)
 

Eure Leira

Tag 5 - Kapitel 18: Befragungen

KAPITEL 18 – BEFRAGUNGEN
 


 

Es war nicht der Wecker, der ihn an diesem Morgen aus dem Schlaf riss.
 

Es war sein Handy.
 

Shinichi fuhr hoch – und stöhnte einmal kurz auf, als er merkte, wie verspannt sein Nacken war. Er war am Tisch eingeschlafen, neben sich die Reste seines nächtlichen Imbisses. Schlaftrunken griff er nach dem Störenfried, seufzte, als er den Anrufer erkannte, nahm dann das Telefongespräch an.
 

„Kudô, sag mal, WO BISTE EIGENTLICH?!“
 

Der Angesprochene hielt sich das Smartphone vom Kopf weg, als seine Ohren klingelten, schluckte trocken, räusperte sich, ehe er antwortete.
 

„Auf dem Weg.“

„Lügner.“

Heiji klang nervös.

„Was…?“

„Hab schlecht geschlafen, bin am Küchentisch eingenickt, du hast mich grad geweckt.“

Er wischte sich den Schlaf aus den Augen.

„Wie spät isses?“

„Halb neun, verdammt!“
 

Und mit einem Schlag war er hellwach.

„Wie viel?!“

„Sag mal, hörste schlecht?“, maulte Heiji ungeduldig.

„Halb neun! Du solltest längst hier sein! Und haste den Reporter schon gelesen?! Du hast…“

„… dich gestern nicht beliebt gemacht.“, vollendete Shinichi seinen Satz.

„Das dacht ich mir schon…“

„Das is dein kleinstes Problem.“

Heijis Stimme klang säuerlich.

„Diese Tussi hat nämlich deine tragische Lovestory…“

Shinichi verdrehte die Augen, merkte, wie Ärger in ihm hochbrodelte.

„Nein.“

„Doch.“

Shinichi atmete tief durch.

„Hat Ran…“

„Ja.“

Heiji seufzte leise, sein Gemüt war merklich abgekühlt.

„Kazuha hats mir erzählt, vorhin. Scheint, sie nimmts mit Fassung, du kennstse, aber…“

Shinichi stand umständlich auf, merkte, wie es in seinem Kopf zu hämmern begann.

„Gut, ich komme… ich bin in einer halben Stunde da. Was sagt... hat…?“
 

„Dein Chef schon Wind bekommen? Keine Ahnung.“, antwortete Heiji wahrheitsgemäß.

„Mach, dassde deinen Hintern herschwingst, Kudô.“
 

Shinichi legte auf, hielt das Telefon noch kurz in seiner Hand, atmete ein – und wieder aus.
 

Verdammt.
 

Fünfundzwanzig Minuten später schlug er im Yard auf – und musste nicht lange fragen, um herauszufinden, dass bereits das ganze verdammte Department den Reporter gelesen hatte. Allein die Blicke, die sie ihm zuwarfen, sprachen Bände – ihm, dem großen, einsamen Wolf von Scotland Yard, traute man eine derart tragische Romanze eigentlich nicht zu; und nun lasen sie es schwarz auf weiß – das war das Highlight des Tages.
 

Ach was, der Woche.
 

Sherlock Holmes war den Frauen wohl doch nicht so abgeneigt, wie sie immer gedacht hatten, und sie brannten darauf, mehr zu erfahren, das sah er ihnen an.
 

Den Teufel würde er tun und ihnen den Gefallen machen.
 

Er lächelte sie also alle unverbindlich sachlich wie immer an, grüßte kurz angebunden und bahnte sich seinen Weg, wie jeden Morgen. Er sah Heiji von weitem, winkte ihm zu, machte sich dann ohne Umweg zügig auf den Weg in das Büro seine Chefs, wo er ohne Zweifel erwartet wurde. Jillian schreckte hoch, als sie ihn sah.
 

„Superintendent! Here are you! The Assisstant Com…“

„Wants to see me, I suppose.“

Shinichi schluckte trocken. Die Chefsekretärin nickte nur, verbiss sich sichtlich ihre Frage, ob an den Gerüchten um dieses Mädchen auf der Titelseite etwas dran war, winkte ihn durch.
 

AC Jackson Montgomery hatte sich bemerkenswert gut im Griff, als er das Büro betrat.

„You are late.“

Shinichi blieb stehen, schluckte.

„I… know. I was held up by… researches.“

Er versuchte, seine Notlüge glaubwürdig klingen zu lassen, nahm auf dem Stuhl Platz, der dem seines Chefs gegenüberstand.

„I guess you want to hear my statement concerning the newspaper article. Frankly, I haven’t read it yet.“

„Oh.“

Der AC lächelte schmal.

„Don’t worry. I’ve got a copy at hand. Here you are.“

Shinichi griff sich die Zeitung, biss sich auf die Lippen, als er das Bild sah – Ran und er selber waren zu sehen – sie standen schon relativ nah beieinander, also war es wohl der Moment gewesen, als er ihr gesagt hatte, dass sie ihn vergessen sollte und wieder heimfliegen. Er konnte trotz des Druckrasters die Tränen in ihren Augen sehen.
 

WHO IS THAT WOMAN?, prangte darüber.

Darunter, der wenig schmeichelhafte Untertitel: OR SHOULD WE ASK… WHO ARE THOSE WOMEN?
 

Shinichi ließ die Zeitung auf den Tisch sinken, hielt sich den Kopf, als er die folgenden Zeilen überflog.
 

The solution of that thrilling murder case about the death of a young Japanese girl by a ferocious guy called “The Artist” seems to stagnate and the press department of New Scotland Yard remains silent about questions concerning a new victim, that might have been discovered in one gondola of the Giant Wheel - but that does not mean, that there is nothing going on in New Scotland Yard!
 

Our reporter has witnessed a very peculiar scene yesterday, a scene including every character a good theatre play needs.

There are four good-looking women – young, Japanese of origin, obviously visiting London to spend their holiday here.

There is Mr. Hattori, our liaison officer from the Far East, emanating the attractiveness of a young samurai, being well-trained and sunburnt.

And, last but not least, there is him.

There is the lonely wolf, starring our dearest Mr. Sherlock Holmes. We know, that he has not much friends – we never see him roam around with anyone else than a colleague while doing his work. Everybody we asked tells us the same, sad story – he is, what he is, a lonely man, living just to do his work. We feel with that guy, we pity him, we are wondering why he leads this unhappy life – he is smart, he is young, and he is fairly handsome – so, either he really leads a very mysterious, very lonesome life or he is just a fabulous actor, hiding his real self from the public as well as from his employers.
 

Why do we assume the latter?
 

Because of mentioned scene, we have witnessed.

There was a meeting at the Westminster Bridge, there was one woman, rushing towards him, slapping him hard in his face – and what did he do? Nothing at all.

He just stood there, petrified, while his attacker, a slim, blonde girl, kept on shouting at him. Two of the others followed, and there was this one girl, the forth of them, a stunning beauty, crying.

And cried even more, when he finally approached her, telling her words we could not hear – but one must be blind not to guess what he has told her.
 

All of this tells a thrilling story of love, of loss - of betrayal?
 

Is he, whom we all saw so similar to Sherlock Holmes, lonely and only living for his work, bothering his mind not with such trivial human feelings like love and friendship, but only feeding it with facts and mysteries, not at all what we wanted to see in him?

We see that pretty face of that brown-haired girl, we see a hurt soul, we see love and longing, such a strong desire to be close to him – and we see him, pushing her away, in a most cruel manner.
 

Is he not more than a heart-breaker in the end, confronted with one or more of his ex-girlfriends?

How many girls has he been disappointing here, the past five years? Or worse, how many hearts has he broken, betrayed?

Is he using his looks, this aura of mystery which is wafting around him, the air of danger which is constantly clinging to his heels to get himself a nice companion to fill those lonely hours, without ever wanting…
 

Shinichi legte die Zeitung beiseite, war nicht in der Lage, weiter zu lesen; er hatte über die letzten Absätze angestrengt versucht, seine Fassung zu bewahren, hatte sie auf keinen Fall fahren lassen wollen, nicht vor Montgomery, aber die letzten Sätze setzten dem Ganzen einfach die Krone auf.
 

Er lachte.
 

Bitter, und aus vollem Hals, und merkte doch, wie Wut ihn schüttelte, über so viel Dreistigkeit, ihm in aller Öffentlichkeit so etwas zu unterstellen.

Montgomery hingegen sah ihn perplex an, runzelte die Stirn so sehr, dass tiefe Furchen zu sehen waren.

Shinichi bekam sich mit Mühe wieder unter Kontrolle, schluckte hart und wischte sich übers Gesicht. Im Anschluss schaute er auf, blickte seinem Vorgesetzten in die Augen, scheinbar gelassen, auf seinen Lippen jedoch immer noch ein zynisches Lächeln.
 

„Honestly, Sir – do you believe this crap? One single word of this? I would have hoped, you knew me better.”
 

Montgomery schwieg kurz. Er hatte den Artikel gelesen, und war wütend geworden; derartige Presse konnte er für diese Institution nicht brauchen. Andererseits sah er auch, was das hier war - eine Seifenoper, wie sie im Buche stand. Mutmaßungen wurden geäußert, wer sie war; warum sie weinte; warum sie gestritten hatten, warum er einfach so gegangen war, ob sie das einzige gebrochene Herzchen war, das in seinem Fahrwasser dümpelte und so weiter und so fort. Man las so etwas täglich, und selten genung war es wahr – die Leute liebten Drama, das war alles.

Und die britische Yellow Press war berühmt für Drama.
 

Shinichi beobachtete seinen Vorgesetzten stumm. Zwar hatte er über diese absurden Unterstellungen, er wäre nichts weiter als ein rücksichtsloser Herzensbrecher, der sich mit seinem Aussehen, seiner mysteriösen Aura und dem Hauch von Gefahr, der ihm anhaftete – diese blumige Umschreibung seiner selbst entlockte ihm erneut den Hauch eines bitteren Grinsens – herzlich lachen können – was ihn allerdings schockierte, war die Schnelligkeit, mit der Ran in die Presse gelangt war, und was diese in der Lage war, daraus zu machen.

Was nun zu lesen war, waren Mutmaßungen, die zwar ein Kernchen Wahrheit enthielten, das allerdings aufgebläht worden war wie Popcorn – schließlich hatte ihre Konversation in Japanisch stattgefunden, und obgleich die Kamera ihren Job ordentlich gemacht hatte, konnte Shinichi doch erkennen, dass ein ordentlicher Zoom zum Einsatz gekommen war.

Das Bildrauschen des digitalen Zooms war minimal, aber für das geübte Auge durchaus erkennbar. Sie konnten kein Wort mitgekriegt haben, wie sie auch zugegeben hatten.

Und wenn die eine Story erfinden konnten, dann konnte er das wohl auch.
 

„Ah, well, now. I guess, you want an explanation, nevertheless.“

So ruhig wie er konnte, legte er die Zeitung auf den Tisch.

Montgomery blickte ihn an.

„I would appreciate this, yes.“

Shinichi verschränkte die Finger, legte seine Hände ruhig vor sich auf den Tisch.

„A very… tragic story. Well written, though a bit too much of a soap opera in it to meet my taste, to be honest. I like crime novels most, as you might have guessed.“

Montgomery schaute ihn abwartend an.

„So. Who is that woman? Or who are these women, and what relationship are they bearing to you? “

„How am I to know?“

„Sherlock.“

Die Stimme seines Chefs klang harsch.

„Don’t think I am a fool. That picture…“

„… shows a very pretty Japanese girl. Which is about to cry. And it shows me, talking in a rather serious manner to her. That’s it.“

„So you don’t know her.“

„I don’t. Not well, that is. She seems to be a friend of Mr. Hattoris fiancée, the girl next to her.“

Er tippte auf Kazuha.
 

Die beste Lüge ist die, die möglichst nah an der Wahrheit bleibt.
 

„We advised them to go home. There is a serial killer among us, and he seems to pick girls like them. The girl here was emotionally agitated, frightened, that’s all. I advised her to fly back home, as I should know best what’s safe for them, being the investigating detective in that case.“
 

Er seufzte.

„Honestly, Sir, didn’t you see that coming? Since that last case the press is only waiting for something sensational happening around me – every kind of tragedy would be welcome to them. They saw us and invented the obvious, it just isn’t the truth. They made up a nice tale about a good looking girl and a rather attractive, mysterious guy of approximately the same age, who appears to be the face of Scotland Yard at the moment. That’s what they are dreaming of. Love within the Yard. Dangerous, forbidden love, in the best case.“

Shinichi sortierte sich, überlegte sich seine nächsten Worte genau.

„Look. They began digging into my past only two days ago, and, as we very well know, this past is… kind of exceptional. You knew that when employing me. I expect my parents to appear in the next issues. They have come to London yesterday, so don’t be surprised.“

Ein müdes Lächeln schlich über seine Lippen.

„So – what am I to tell the press?“

Montgomery schaute ihn abwartend an.

„Nothing. It’s the Reporter after all. I am to meet that girl and tell her to remain quiet as well. Me or Mr Hattori.“

„Whom you knew and didn’t tell me either.“

Shinichi verdrehte die Augen.

„Was that so important?“

„Everything that concerns our work here is important, Sherlock. I did not know that I had to mention that at all.“

Montgomerys Stimme hatte an Schärfe gewonnen. Shinichi sah ihn ruhig an.

„Well. I wanted to have a word to him before talking to you. I would have told you then.“

„Why not in the moment I told you his name?“

„Because…“

Shinichi seufzte.

„You… know, why I have left. I haven’t talked to anyone of them since then. I just… wanted to handle that first. But as you can see, there is no problem at all.“
 

Jackson Montgomery erhob sich langsam, beugte sich vor.
 

„I don’t like it very much to be informed by the newspapers about the going-ons in my bureaus.“

Seine Stimme klang hart und kalt. Shinichi atmete tief durch, erhob sich dann ebenfalls.

„I promise, that won’t happen again. I apologize for any inconveniences.“
 

Montgomery drehte sich um, trat ans Fenster.

„Well then. Go and do what you are paid for.“
 

Shinichi zuckte kurz zusammen, warf ihm einen verwirrten Blick zu, zog es dann vor, kommentarlos das Büro zu verlassen. Der AC war angespannt, das war deutlich zu merken. Und der Grund dafür war sein leitender Detective im laufenden Mordfall, der sich zu einem Serienmord auswuchs.

Wer konnte ihm das verübeln.
 

Fakt war, er musste mit Ran reden, und das bald. Also machte er sich auf den Weg in sein eigenes Arbeitszimmer, um von dort aus zu versuchen, sie anzurufen. Danach würde er schauen müssen, wo Heiji abgeblieben war.

Er hatte sich kaum hinter seinen Schreibtisch gesetzt und sein Handy hervorgezogen, als Jenna das Büro betrat – und er merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

Oder besser gesagt… dass sie es nun wusste. Es sollte ihn nicht wundern – schließlich konnte die Frau auch lesen.

Jenna hatte ihren ganzen Mut zusammen genommen; sie wähnte sich als seine Freundin, zumindest auf irgendeine seltsame Partner- und Partnerin- Ebene, und als solche wollte sie nicht weiter unwissend sein und tatenlos zusehen, wie er sein Leben wegwarf. Oder an sich vorüberziehen ließ, wie auch immer man es sehen wollte.
 

Musternd glitten seine wachen Augen über das Gesicht von Jenna Watson, um herauszufinden, wie viel sie denn nun wusste – und so wie er das sah, wusste sie wohl alles, zumindest das, was herauszufinden gewesen war. Jenna war Polizistin, immerhin, sie würde bei ihren Recherchen nicht bei der Hälfte aufgegeben haben. Langsam ließ er die Hand mit dem Handy wieder sinken.

„Close the door behind you, Jenna.“

Die junge Frau starrte ihn an, und er konnte sehen, dass sie mit Gewalt nach einem Gesprächseinstieg suchte, und ihn auf Teufel komm raus nicht fand, als sie mit einer Hand und ohne hinzusehen die Tür hinter sich ins Schloss drückte.

Ein gequältes Lächeln umspielte Shinichis Lippen; unsicher fuhr er sich durch die Haare am Hinterkopf, lehnte sich gegen den Tisch. Dann sah er ihr in die Augen, fest.
 

„Well, Jenna… what does Google know about me? I hope, you found a decent translating engine?“

Blut schoss ihr in die Wangen, und fast amüsierte ihn der Anblick; wenn Jenna eine Schwäche hatte, dann war es wohl die, dass man ihr ihre Gefühle immer augenblicklich ansah. Er konnte in ihr lesen wie in einem offenen Buch.

„Well, Sir…“, begann sie zögernd, räusperte sich.

„I didn’t want to pry, but… after the happenings of yesterday, the article in the Reporter… Mr Hattori insisted it would be appropriate to have a look…“

„Come on, Jenna.“

Shinichi winkte ungeduldig ab.

„Reading the google records of someone is not the same as prying after him. You haven’t cleared out my closet, have you? But, to be honest, I wonder that you didn’t think of trying this by yourself, or that it didn’t seem to interest you earlier, who I was. Who I am. On the other hand, I found it quite… relaxing.“

Er seufzte.

„It was nice to work with somebody who did not look at me like you do now. Someone who started at zero with me, without any expectations. But well, these times are over, I see you are about to burst. Come on, let’s get over this, finally.“

Jenna merkte, wie ihr immer heißer geworden war, verknotete ihre Finger.

„High-school detective, Saviour of the Japanese police forces…“, fing sie schließlich an.

„Good Lord, well… now the whole city of London knows that stupid titles…“, Shinichi stöhnte auf, wischte sich genervt über die Augen.
 

…warum löscht nicht mal endlich wer diesen albernen Titel aus meinen Annalen…
 

„… participating at the solutions of countless crime cases, and that as a teenager, among those cases some major crimes and bigger fish… and…“

Erneut brach sie ab, studierte scheu die Mimik ihres Vorgesetzten.

„… the very person who has provoked the downfall of the Black Organization, a crime syndicate of international size.“
 

Er wandte seinen Blick ab, während sie weiterredete, Fakten herunterbetete, die Zeugnis darüber ablegten, wie genau sie sich eingearbeitet hatte. Sie musste sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen haben. Genau genommen sah sie so auch aus; unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, ihr Teint war fahl und in ihrer Hand bestimmt die dritte Tasse Kaffee des Tages, wie er anhand der Lippenstiftspuren, die rund um den Becherrand kreisten, ablas. Sehnsüchtig sah er sie an – er hätte jetzt auch gern eine Tasse gehabt.

„The coup lasted well over a week, and you were disappeared for about ten days, without a trace. You have never talked about what had happened to you these days. When you escaped, most of the members of the Organization where still in the building for the police to take into custody, as the strike came out of the blue and completely unexpected, but some of them could track you down. And as one reads those lines, you did not expect this, because if you did, you would have never ever allowed…“
 

Sie merkte, wie in ihr die Übelkeit erneut hochkam, die sie gestern Nacht noch ergriffen hatte, nach ihrem Gespräch mit Heiji. Jenna sah ihn nicht an, als sie sprach; sie drehte ununterbrochen die Tasse in ihren Händen. Shinichi seinerseits merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er fragte sich, woher sie diese Infos hatte; sofern er wusste, war das nie veröffentlicht worden. Er selbst hätte ja sonst schließlich gewusst, dass sie nur verletzt und nicht getötet worden war.
 

„Okay, Jenna, I think, this will do. You have researched well, but…“

Er sah auf, in seinen wasserblauen Augen ein stechender Blick. Jenna erwiderte ihn, hielt ihm stand, was ihn stutzig machte.

„That brown-haired girl the paper is talking about today… the girl on the bridge yesterday… that was your girlfriend…“

„Jenna… I do mean that seriously. This is enough…“

„She was stabbed that night, because you were led into a trap. Her name is Ran, and she is…“

„Jenna!“

Sie fuhr zusammen, starrte ihn erschrocken an. In seinen Augen glomm leichte Wut.

„How on earth do you come to know this? This fact never appeared in the news, otherwise I would…“

„I…“

Sie schluckte hart.

„I have called your friend Hattori last night. I wanted to know why you have left your old life as if you were running away from it. Why you have left your friends without a single word, obviously, measured by the anger of Mr. Hattori the day you met again. I did not think that you left on friendly terms, as I have told you before. And he has told me. That you were trapped, that your girlfriend was stabbed. Nothing else.“

Shinichi strich sich übers Gesicht.
 

Heiji… du Idiot! Was geht dich mein Leben an, du weißt es doch jetzt, du weißt doch, warum… lass mich doch einfach in Frieden, warum setzt du sie auch noch darauf an…
 

„And now she is here, your girlfriend, and your life seems to go completely off the rails. You have left her, but why, on earth did you do this?“

Er merkte, wie in ihm immer mehr die Wut hochkochte. Er wollte sich nicht darüber unterhalten, nicht hier, nicht mit Jenna, nicht nach der Szene mit Ran gestern.

„I mean, good lord, it’s pretty obvious that you love her – even the Reporter…!“

Scheinbar unbeirrt fuhr sie fort, begann gestikulierend auf und ab zu gehen, blind für die Reaktionen ihres Gegenübers, als sie ihre Schlussfolgerungen zog.

„You have, during all the time you work here, rejected every girl that showed only the slightest interest in you! You haven’t even looked at them! That’s enough proof for me that you still have feelings for her, so why did you…“
 

„I THOUGHT SHE WAS DEAD!“
 

Jenna drehte sich erschrocken um, merkte erst jetzt, was sie mit ihrem Monolog provoziert hatte. Und eigentlich, schalt sie sich in Gedanken, hätte sie es besser wissen müssen, genau das gleiche Spiel spielten sie doch immer mit ihren Zeugen, wenn sie sie verhörten. Shinichi schien genau das Gleiche zu denken in diesem Moment; er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, schloss die Augen und atmete tief ein und aus.

„Because I thought, that she had died that night“, wiederholte er deshalb leiser, schluckte, räusperte sich.

„Jenna, I thought that she had died in my arms. Hattori has told you that she was stabbed. She ceased breathing in my arms, before the ambulance arrived, finally. I thought she was dead. Because of me. How could I’ve stayed in Tokyo after this…“

Seine Stimme brach; das Bild in seinem Kopf war immer noch übermächtig, auch wenn er nun wusste, dass es falsch war.
 

„And now, please, let that topic rest. That’s my private life, and none of your business.“

Er schaute sie ernst an.

„But as you now know who she is and in what kind of relationship we’re in, I must beg you to keep that for yourself. I’ve told Montgomery just now that I don’t know her. That there is no romance, no love, no friendship, not even a better relationship at all. We must get her out of the newspapers.“

Jenna schluckte.

„You lied to him, Sir?“

„I did. And I know, that’s a favour I should not ask you for. Will you… keep silent, for me?“

Jenna schaute ihn an, merkte die Spannung, die sich über sie gelegt hatte. Und sie ahnte, dass sich in diesen Minuten das Verhältnis zu ihrem Partner grundlegend änderte. Vor ihr stand ein komplett anderer Mensch als noch gestern um diese Zeit.

„Of course I will.“

Leise sagte sie es, aber ihre Stimme wankte nicht im Geringsten.

Er nickte mit zusammengekniffenen Lippen, wandte sich zum Gehen, als sie sich hinter ihm noch einmal zu Wort meldete, zögernd.
 

„One last question…? Sir?“
 

Shinichi drehte sich nicht um.

„What is it?“

„Why are you still rejecting her? Why are you two not a couple, and happy…? I thought you’d have to burst with relief, but instead you look, and please excuse this, more worried than ever.“

Er atmete aus, stopfte seine Hände in seine Jackentaschen.

„For the same reason I have just lied to Montgomery, for the same reason I do not want public attention on her. Because they are still there, Jenna. Some of them are still waiting for their time to come, you have mentioned it, some of them have trapped me and escaped - and they are preparing their revenge.“
 

Er drehte sich um, lächelte bitter.

„And when this time finally comes, I want them to attend to the right one.“

Sie bemerkte das gefährliche Funkeln, das kurz in seinen Augen aufgeglüht war – ein Leuchten, das sie bei ihm noch nie gesehen hatte, und das ihr einen Vorgeschmack auf den Shinichi Kudô bescherte, zu dem er sich verwandelte, wenn man ihn mit seinem Erzfeind konfrontieren würde.

Entschlossen und bereit, bis zum Äußersten zu gehen.
 

Just like Sherlock Holmes and James Moriarty.
 

Das Glimmen war so schnell verschwunden, wie es gekommen war – und vor ihr stand ihr Chef, abgeklärt und ruhig wie eh und je.

„Besides, there is still a case wanting to be solved. Erins fiancée needs to be talked to, McCoy surely has some new results for us, I want to have a closer look at that picture, and where is Heiji, by the way?“

Die letzten Worte waren gar nicht mehr an sie gerichtet, sondern eher an den Quadratmeter Londoner Luft vor seinem Fenster, aus dem er hinausschaute, als könne er ihn die Straße entlangeilen sehen.

Er zuckte mit den Achseln, dann griff er nach seinem Sakko, schlüpfte mit einer geschmeidigen Bewegung hinein - und hielt inne, als das Telefon läutete. Shinichi warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie mit einem Achselzucken beantwortete.
 

„Detective Superintendent Shinichi Kudô speaking, how may I – oh, hallo Jillian. Ah. Really? This is… kind of strange. Has Mr Hattori been informed? He is standing right in front of you, ah. Well. Tell him and AC Montgomery I’ll be there at once.“
 

Damit drehte er sich um.

„Jenna, as it seems, we are being accompanied by another Japanese liasion officer. Please go down into the lobby and get him into your care.“

Er lächelte dünn.

„I have to meet with the AC because of this, it seems he wants yet another word with me today.“

Jennas Augenbrauen waren unter ihren lockigen Pony gerutscht.

„A second liasion officer? Why that?“

Shinichi schüttelte ahnungslos den Kopf, verdrehte die Augen.

„How would I know? We’ll learn about that in a few moment’s time, I am sure.“

Damit öffnete er die Tür, ließ sie vor sich auf den Gang treten und schloss sie hinter sich.

Unwillig schaute er auf das Handy in seiner Hand. Das Telefonat mit Ran würde er noch ein wenig verschieben müssen, auch wenn ihm das gar nicht schmecken wollte.
 

Er gabelte Heiji vor dem Tisch der Chefsekretärin auf. Der Osakaner warf ihm einen ebenso fragenden Blick zu, wie er ihm.

„Ich weiß es seit gerade eben. Wie du. Anscheinend wollten die Kanagawas jemand anderen hier haben, ich reich‘ anscheinend nich‘…“

Seine Lippen verzogen sich zu einem säuerlichen Grinsen, ein Mundwinkel zuckte – und Shinichi wusste genau, wie sehr das seine Polizistenehre kränkte, dass er anscheinend nicht ausreichte als Verbindungsmann, dass man ihm anscheinend nicht genügend vertraute.

Shinichi grinste.

„Mein Freund, erstaunt dich das? Du warst mir schon immer suspekt, kein Wunder, dass…“

Der Rest seines Satzes ging in einem erstickten Keuchen unter, das ihm entwich, weil Heiji ihm seinen Ellenbogen in die Seite gerammt hatte. Ein Blick auf ihn zeigte Shinichi jedoch, dass sein Manöver gefruchtet hatte – Heijis Wut und der kleine Selbstzweifel, der an ihm genagt hatte, waren offenbar verschwunden.

„Wahrscheinlich kennen sie ihn persönlich.“, meinte Shinichi leise, während er mit einem leisen gemurmelten Dankeschön die Tasse Kaffee aus Lady McDermitts Händen entgegennahm, einmal kurz auf die Oberfläche pustete und dann einen Schluck trank, genoss, wie die warme Flüssigkeit seine Finger etwas wärmte, sich der Geschmack in seinem Mund ausbreitete.

„Arabica.“, nickte die Sekretärin als er fragend zu ihr schaute.

„Du bist doch immer noch dran an dem Fall, oder?“

„Ja.“

Heiji nickte nachdenklich, stopfte eine Hand in seine Hosentasche, nippte seinerseits an seiner Tasse Kaffee.

„Darf ich dich was anderes fragen?“

Shinichi blickte von dem Kalender, der auf dem Schreibtisch stand, auf.

„Spielt es eine Rolle, ob ich ja oder nein sage?“

„Ne.“

Heiji schaute ihn an, versuchte ein schmales Lächeln.

„Wie wars gestern?“

„Fantastisch. Eine Nacht voller Romantik.“

Heiji starrte ihn genervt an.

„Kudô….!“
 

Shinichi stöhnte leise auf, ließ sich gegen die Wand sinken.

„Müssen wir wirklich über dieses Thema sprechen?“

„Na… Ich mach mir Gedanken. Und Jenna…“

„Ja, die weiß es jetzt auch. Danke für Backobst, im Übrigen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Wie solls schon gewesen sein? Furchtbar.“

Shinichi schluckte.

„Um nicht zu sagen, desaströs. Ich glaubte ja zuerst, nur meine Eltern wären da, weil Ran in der Küche gewartet hatte, und ich war nach den Ereignissen gestern auch nicht wirklich erfreut, meine Eltern zu sehen und mich mit ihnen über mein Leben auseinanderzusetzen. Und dann kommt sie…“

Shinichi setzte die Tasse an seine Lippen, trank sie auf Ex aus, merkte, wie ihm der heiße Kaffee die Speiseröhre entlang brannte, hustete kurz.

Jillian McDermitt, die gerade von einem kurzen Gang zum Kopierer zurückkam, warf ihm einen milde entsetzten Blick zu.

„Better drink it, when it’s still hot.“, brachte Shinichi hustend hervor, lächelte gezwungen, wandte sich dann rasch Heiji zu.

„Sie wusste nicht einmal, dass sie überhaupt gestorben ist, wussest du das?!“

In seiner Stimme lag jetzt unterdrückte Wut.

In Heijis Gesicht spiegelte sich Entsetzen – dann schüttelte er den Kopf.

„Ne, wusst‘ ich nich‘. Du weißt ja, nich mal ich wussts, wie soll ich wissen, dass sie’s nich‘ wusst‘. Wir haben mit ihr nie über diesen Abend geredet… ich dacht‘, ihre Eltern…“

„Haben sie nicht. Also hab ich ihr das gestern erzählen müssen, neben der schwierigen Aufgabe, ihr zu erklären, dass ich sie zwar liebe, aber nicht mit ihr mein Leben teilen will.“

Er schluckte.

„Ich brauch dir nicht sagen, dass sie geheult hat, als ich sie vor die Tür gesetzt hab.“

„Du hast was…?! Kudô, ernsthaft, deine Paranoia in allen Ehren…“

Shinichi schluckte, biss sich auf die Lippen.

„Du verstehst das nicht.“

Er wischte sich über sein Gesicht, fahrig.

„Ich… ich liebe sie.“

„Das weiß die ganze Welt, Kudô.“, meinte Heiji trocken. „Aber du hast ne sonderbare Art, das zu zeigen, wenn du das Mädel rauswirfst-…“

„Du verstehst das nicht. Ich… jetzt versetz dich mal in meine Lage. Ich dachte, sie wäre tot. Sie erkennt, dass ich nicht der skrupellose Aufreißer und Feigling bin, der Typ, der sich verdrückt, wenn‘s ernst wird oder wenn mal was nicht nach Plan läuft. Sie war so… froh darüber, sich nicht getäuscht zu haben, und hat gleichzeitig so gelitten, weil sie sich ausmalen konnte, wie es mir ging, mit dem Gedanken, sie wäre tot. Und ich sah wirklich schrecklich aus, gestern, ich war nervlich echt durch.“

„Du bist schwach geworden.“

Heiji grinste – und nun war es Shinichi, der ihm einen Tritt auf den Fuß verpasste.

„Grins nicht so bescheuert. Das ist nicht lustig. Sie hat… woahh.“

Er verdrehte die Augen.

„Da soll man nicht schwach werden. Große, blaue Augen, Haare wie geschmolzene Schokolade, und sieht einen an… und ich… ich meine, das war es doch. Seit Jahren wollte ich nur das, diese eine Chance, sie noch mal zu sehen, sie nochmal zu hören, sie noch einmal… in die Arme zu nehmen, und als sie…, da wars einfach rum.“

Shinichi drehte sich um, ließ seinen Kopf gegen die Wand sinken, schloss die Augen.

„Und ich streit gar nicht ab, dass es fantastisch war, dass es… Aber es geht nicht. Ehrlich, noch einmal überleb ich das nicht, wenn ihr wegen mir was passiert. Deshalb hab ich sie… rausgeworfen, danach. Sie ist mit meinen Eltern wieder heimgefahren.“

Er atmete tief ein und aus, straffte die Schultern.

„Aber bevor du jetzt anfängst mich zu bemitleiden, warte, bis die Geschichte zu Ende ist.“, sagte er, als Heiji zu einem Kommentar ansetzen wollte.

„Nach unserem Gespräch hat sie mit ihrer Mum telefoniert.“

Shinichi drehte sich wieder um, blickte Heiji stur ins Gesicht.

„Und dreimal darfst du raten, wen Eri Kisaki, nunmehr wieder Eri Mori, nach diesem Telefonat mit ihrer Tochter ihrerseits angerufen hat.“
 

Heiji ächzte, stellte seinen Kaffee mit einem lauten „Klonk“ auf den Schreibtisch, so heftig, dass die Brühe überschwappte. Er beachtete es nicht.

„Dich?“

„Nein. Das Sandmännchen.“

Shinichi schaute ihn aus Halbmondaugen an.

„Natürlich mich. Um sich zu bedanken, stell dir vor… dafür zu danken, dass ich ihre Tochter wieder einmal angelogen hab, als ich ihre Frage nach der Person, die mir erzählt hat, dass sie tot sei, damit beantwortet habe, dass ich mich nicht mehr erinnern kann. War damals ja auch recht durch mit den Nerven undsoweiterunsofort.“

Shinichi fuhr sich über die Augen.

„Ich brauch keine halbe Stunde und lüg sie an, ohne mit der Wimper zu zucken.“

Heiji schüttelte verständnislos den Kopf.

„Aber du weißt doch…“

„Klar weiß ichs. Aber wenn ich ihr das sage… dann ruinier ich ihr Leben komplett. Ich kann nicht mit ihr zusammen sein. Und wenn ich ihr sage, dass ihre Eltern ihren besten Freund, den… Mann, den sie liebt… so dermaßen angelogen haben, dass es ihn fast in seinen persönlichen Ruin getrieben hätte, nur, damit er nicht mit ihr zusammen ist, aus welchen noblen Gründen und Sorgen um ihre Sicherheit auch immer, dann… glaubst du, sie hat dann noch ein Zuhause, in dem sie sich wohl und sicher fühlt? Gerade Ran?“

Langsam schüttelte Heiji den Kopf. Entsetzen spiegelte sich in seinen Zügen, gemischt mit Zorn.

„Deshalb. Ich… wollt ihr nicht alles nehmen, was sie hat. Sie braucht ihre Eltern. Ich bin doch der Grund überhaupt, warum Kogorô gelogen hat. Nun… Eri schien’s zumindest Leid zu tun.“

Er lächelte bitter.
 

„Du siehst also, mein Abend gestern war ein echtes Highlight.“
 

Das Telefon der Sekretärin klingelte, ließ die beiden jungen Männer herumfahren. Jillian McDermitt nahm ab.

„Yes, Sir. They are already waiting. I’ll send them straight away.“

Sie legte auf.

„The AC awaits you.“

Wortlos machten Heiji und Shinichi sich auf den Weg ins Montgomerys Büro.
 

„I am afraid, this is growing into dimensions we could never have anticipated.“

Jackson Montgomery schaute seinen Mitarbeiter über seine Brille hinweg bedauernd an. Shinichi hatte mit Heiji gegenüber Platz genommen, wartete nun auf die neuesten Erkenntnisse hinsichtlich des zweiten Verbindungsoffiziers.

„I am happy to see that the two of you are working well togehter…“, er schenkte Shinichi ein leicht angesäuertes Lächeln, ehe er sich dann wieder sammelte, „but it seems that your police is not satisfied with sending just one officer, or at least, the parents of the vicitim weren’t. They insist that a police officer, who is a friend of them, takes part in the investigation of the murder of their daughter. That’s why Tokyo sends another officer, as their parents live there. He’ll arrive today. He should already have arrived, to be plain.“

Heiji schaute den britischen Polizeichef fragend an.

„Is it allowed to ask for the name of the man, Sir?“

„Oh, you may, of course.“

Montgomery lächelte schmal.

„Unfortunately I cannot tell you. I do not know his name either.“

In dem Moment klingelte das Telefon. Der Polizeichef seufzte, hob ab. Shinichi und Heiji warfen einander einen fragenden Blick zu.
 

Aus Tokio?
 

Dann riss die Stimme des Engländers sie aus ihrer stummen Zwiesprache.

„He is here? Wonderful. Tell him to wait for us. We have just talked about him.“

Damit hängte er ein, erhob sich, wobei er beide Hände auf den Tisch aufstützte.

„Your colleague is here. Let’s welcome him.“
 

Damit verließ er das Zimmer, Heiji und Shinichi im Schlepptau, und machte sich auf den Weg in die Lobby. Shinichi hörte Jennas Stimme, die ihren Gast wohl aufgegabelt hatte, schon von weitem; sie versuchte gerade, mit sehr langsamem und deutlichem Englisch einem Mann in den Endvierzigern klarzumachen, wer sie war. Der Mann stand mit dem Rücken zu Ihnen, trug einen dunkelgrauen Mantel mit hochgeklappten Kragen. Shinichi hob irritiert seine Hände; sie waren auf einmal kalt geworden, sein Herzschlag hatte sich beschleunigt, und er wusste nicht warum.
 

„Good afternoon Sir. My name is Jackson Montgomery, I am the Assistant Commissioner of New Scotland Yard.“

Montgomerys sonore Stimme brachte den Ankömmling dazu, sich umzudrehen.

Shinichis Augen weiteten sich, als er erkannte, wer vor ihm stand. Er verfehlte die nächste Stufe, trat ins Leere, als er die Treppe herunterging, wäre fast gestürzt – er konnte sich gerade noch so am Geländer abfangen.

Der Mann, der ihnen gerade sein so typisches smartes, fast etwas arrogantes Lächeln schenkte, erstarrte ebenfalls mitten in der Bewegung. Shinichi ignorierte den verwunderten Blick, den Montgomery ihm zuwarf und hoffte inständig, nicht auch noch beantworten zu müssen, ob er den Mann etwa auch kannte. Heiji taxierte ihn beunruhigt, und auch Jenna musterte ihn unwillkürlich. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie noch nie auf dem Gesicht ihres Partners gesehen.
 

Shinichis Miene war eisig, der Blick seiner klaren Augen kühl, starr und verriet in keinster Weise, wie sehr es in ihm zu kochen begonnen hatte, in ihm dumpfer Hass loderte, auf diesen Mann, der vor ihm stand, und dem sein gerade noch so lässiges Lächeln zusehends von den Lippen bröckelte.
 

Vor ihm, in der Lobby von Scotland Yard, stand Kogorô Môri.

Und der geriet unter seinem Mantel wohl gerade ziemlich ins Schwitzen.

Kogorô schluckte, bewegte sich unbehaglich. Er hatte Shinichi sofort erkannt, und wusste auch, dass er ihn so noch nie erlebt hatte. Ebenso war ihm klar, dass der Grund für diese Ablehnung nur er selbst war.

Was nur eines heißen konnte.
 

Shinichi wusste bereits, dass Ran noch lebte.
 

„Welcome to London, Mr…?“
 

Kogorô fuhr zusammen, riss sich von Shinichis Gesicht los und wandte sich dem hochgewachsenen Mann mit den graumelierten Schläfen im Nadelstreifenanzug zu, der ihm die Hand entgegen streckte. Kogorô schluckte, dann verneigte er sich kurz, ehe er die Hand ergriff und sie schüttelte.
 

„Môri. Und ich…“

Er blickte unsicher zu Shinichi, seufzte, fühlte sich zunehmend unwohl.

„… muss gestehen, mein Englisch ist etwas eingerostet.“

Shinichi schluckte, widerstand dem Drang, sich über die Stirn zu wischen, weil ihm der Schweiß aus allen Poren zu brechen schien. Stattdessen riss er sich am Riemen, räusperte sich abgeklärt und wandte sich zu seinem Vorgesetzten um.
 

„He says, his English is a bit rusty. If you don’t mind, Sir, I’ll translate to avoid any misunderstandings.”

“Ah!”

Montgomery lächelte jovial.

“That shouldn't be a problem - we consider ourselves lucky as we can provide an investigator being a japanese native speaker as your partner. Therefore I'll leave you alone now - SI Kudô will show and explain everything to you.“

Damit ergriff er Kogorôs Hand ein weiteres Mal, drückte sie, immer noch lächelnd, und hob die Hand zum Abschied, ließ Jenna, Heiji, Kogorô und Shinichi in der Lobby zurück. Shinichi atmete tief ein und aus, ballte seine Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder, um sich in den Griff zu kriegen. Kogorôs Anwesenheit hier beschäftigte ihn mehr, als er es wollte.

Kogorô Môri bemerkte es. Er sah ihm an, dass er sich nur mit Mühe davon abhielt, ihn anzuschreien und ihm seine ganze Wut und Frustration ins Gesicht zu schleudern.
 

„Hör zu, Shinichi, ich…“, fing er an.

„Nein.“

Shinichi drehte sich um, sah ihn an, und allein sein Blick hätte gereicht, um Kogorô zum Verstummen zu bringen. Sein Teint war blass, seine Augen glitzerten zornig.

„Nein.“, wiederholte er. Sein Tonfall klang frostig, aber bestimmt.

„Ich will von Ihnen jetzt kein Wort hören. Keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung, nichts. Nichts! Keine Silbe. Keinen Ton, der sich nicht mit diesem Fall beschäftigt, weil ich sonst für nichts garantieren kann. Haben Sie mich verstanden?“

Sein Tonfall war zum Ende seines Satzes immer beißender und schärfer geworden; nun atmete er mühsam ein und aus, um sich wieder zu beherrschen. Er war hier in der Arbeit, ein derartiges Verhalten war unangebracht und unprofessionell.

Abgesehen davon wollte er keine Aufmerksamkeit auf sie lenken, davon hatte er heute ohnehin schon genug. Er bedeutete den anderen, ihm zu folgen und machte sich seinerseits auf den Weg aus der Lobby hinaus auf den Vorplatz.

Erneut atmete er tief durch, ehe er weiterredete – merklich leiser, deutlich gefasster diesmal, und ohne Kogorô dabei anzusehen, der neben ihm her schritt, und dem sein Unbehagen anzusehen war.

„Was Ran betrifft, ja, ich hab sie gesehen. Und ja, ich hab auch mit ihr geredet, sie wollte sich nicht abwimmeln lassen. Und nein, ich hab ihr nicht gesagt, wer mir erzählt hat, dass sie tot ist.“

Er stieß die Tür zum Parkplatz auf, heftiger, als es nötig gewesen wäre.

„Nicht, dass ich Ihnen Rechenschaft schuldig wäre – aber seien Sie ganz beruhigt. Ich hab sie weggeschickt und… werde mich auch weiterhin von ihr fernhalten.“

Der beißende Zynismus war deutlich zu hören, selbst für Jenna, die keins der Worte verstand, das ihr Partner sprach.

Shinichi hingegen blinzelte unwillig in die Sonne, die London in strahlende Helligkeit tauchte. Er griff sich an die Stirn, als ein unangenehmes Pochen einsetzte, ihm das klare Denken noch schwerer machte, als es ihm dank Kogorôs Anwesenheit ohnehin schon fiel.

„Und was das betrifft – ich sagte es Ihrer Frau gestern schon, die es für nötig hielt, mich anzurufen, nachdem Ran sich bei ihr über - wer hätte es gedacht: mich - ausgeheult hatte; ich werde ihr auch weiterhin nicht sagen, warum ich wirklich gegangen bin. Wer mich dazu brachte.“

Kogorô starrte ihn an, wie vom Donner gerührt.

„Warum nicht? Sie…“

„Weil ich nicht mit ihr zusammen sein kann, weil sie immer noch da sind… nicht viele, aber… es reicht ja eigentlich schon einer.“

Er schluckte, fuhr sich müde über die Augen, merkte, wie sich in ihm etwas rührte, bei dem Gedanken, niemals… niemals mit ihr sein Leben verbringen zu können.

Niemals.

Weil er immer noch eine Gefahr war, für sie.

Unwillig zerbiss er sich die Unterlippe, schüttelte harsch den Kopf, um sich zur Raison zu bringen. Er starrte stur auf den Boden, als er sprach.

„Und sie braucht aber eine Familie. Eine, von der sie sich möglichst nicht betrogen fühlt.“

Er schluckte den bitteren Geschmack runter, der ihm auf der Zunge lag.

„Die sie nicht mehr haben wird, wenn sie weiß, dass Sie es waren, der…“

Er brach ab, drehte er sich um, schritt zügig los, ohne sich noch einmal umzuwenden. Jenna warf Heiji einen fragenden Blick zu.

„They know each other?“

Heiji seufzte, rammte seine Hände in seine Hosentaschen.

„Yeah. Pretty good.“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, musterte dann Kogorô, der auf seiner Zunge zu kauen schien.

„This is her father. The very man who told your partner, that his girlfriend has died in his arms, and that this was his own fault.“

Jenna ächzte, merkte, wie etwas in ihr zu brodeln anfangen wollte, Wut, die aus Sympathie zu ihrem Partner hochkochte. Sie war von einer Minute auf die andere blass geworden.

„We should let them handle this alone, Miss Watson.“

Heiji war ihr Blick nicht entgangen.

„That’s only their business – and Ran’s, if necessary.“

Damit winkte er sie mit sich, folgte Shinichi und Kogorô, die das Gebäude bereits verließen.
 

Kogorô ging schweigend neben Shinichi zum Auto. In ihm meldete sich etwas, und er brauchte ein paar Augenblicke, um es einordnen zu können, ehe er erkannte, was es

war.

Sein schlechtes Gewissen.

Reue.
 

Er sah Shinichi an, musterte ihn eingehend. Hochgewachsen, schlank, gut gekleidet.
 

Sicher das, was man als attraktiven Kerl bezeichnen würde. Als Frau, zumindest.

Heißt man Ran Môri, auf jeden Fall.
 

Kogorô seufzte – dann studierte er das Bild, das sich ihm bot, genauer.

Der wache, intelligente Blick seiner klaren, blauen Augen war ihm sofort aufgefallen. Das war es, was ihm an Shinichi – und auch an Conan – immer und sofort ins Auge gestochen war.

Der ungeheuer scharfe Verstand, der sich in diesen Augen spiegelte – und das Nacktsein, das man verspürte, ruhten sie zu lange auf einem.

Shinichi war der ideale Ermittler – er hatte die Kombinationsgabe dafür, war hartnäckig, konnte genauestens beobachten und zwang jeden Verdächtigen in die Knie, schaute er ihn nur lange genug mit diesen Röntgenaugen an – und stellte er ihm die richtigen Fragen, mit genau der richtigen Portion Schärfe und Eindringlichkeit in seiner Stimme.
 

Und doch waren es diese Augen, die den Unterschied zwischen heute und vor fünf Jahren am deutlichsten machen – dunkler, irgendwie. Nicht matter oder lebloser, aber…
 

Sie scheinen, als hätten sie sich durch das, was sie sehen mussten, verfärbt.

Irgendwo hinterlassen wohl auch an dir die Schrecken, die du siehst und erlebst, ihre Spuren.
 

Abgesehen davon war sein Teint auffallend blass, verriet dem geschulten Polizisten (und Ehemann und Vater einer Tochter), dass er nur mit Mühe unterdrückte, wie es in ihm brodelte.

Wie wütend er wirklich war.
 

Wie sehr er mich hasst, für das, was ich ihm angetan habe. Ihm und Ran.
 

Kogorô hatte eine ziemlich gute Ahnung, was ihm der junge Superintendent gerne an den Kopf geworfen hätte – und genauso ahnte er auch, dass nicht eine Silbe über seine Lippen kommen würde, solange sie in der Arbeit waren.

Das hier war sein Job.

Den er offenbar exzellent machte, so wie er in seinem Leben niemals halbe Sachen gemacht hatte.
 

Nicht umsonst bist du in deinem Alter da, wo du jetzt bist… Superintendent beim Yard.
 

Vor seinem Auto blieb er stehen.

„Well.“

Er wartete, bis Jenna und Heiji herangekommen waren.

„We meet with Erin’s fiancée at one p.m. Besides, there is the checkup in that fashion school and the UAL. As you have been there yesterday, Jenna, I want you to go there with Heiji, you are already accustomed to that place. Here is the search warrant for the ateliers.“

Er zog eine Akte aus seiner Umhängetasche, händigte das Dokument aus.

„Kogorô und me will visit Erin’s former future husband…“, er schluckte, „…and ask him our questions. We meet again after this. Please be careful and watch out for everything. You knew what matters to us, and please try to find that Eddie and his girlfriend – we do know nothing for sure, but perhaps this is worth a second look.“
 

Jenna schaute ihren Partner unbehaglich an – Heiji sprach aus, was sie dachte.

„Und das hältste für ne gute Idee?“

Shinichi lächelte bitter, vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen und studierte seine Schuhspitzen, ehe er aufblickte.

„Nein.“

Er schüttelte den Kopf, atmete seufzend aus.

„Durchaus nicht. Aber welche Wahl haben wir? Beides muss heute erledigt werden, in jedem Team muss ein Beamter von Scotland Yard sein, und Jenna kennt dich bereits.“ Damit wandte er sich zu seiner rotgelockten Kollegin, lächelte ihr aufmunternd zu.

„Jenna, you’ve got to take your car, I need mine for myself.“

Die junge Frau nickte kurz.

„Okay, Sir. Good luck!“

Damit drehte sie sich um, vergewisserte sich, dass Heiji ihr folgte, der lange immer wieder über seine Schulter zu seinem Freund blickte.

Kogorô stand neben ihm, blickte den beiden nach, sah Shinichi nicht an, als er sprach.

„Und wo fahren wir hin?“

Shinichi sperrte den Wagen mit einem kurzen Drücken der Fernbedienung am Schlüssel auf.

„Nach Watford, unseren Mann befragen. Steigen Sie ein.“
 

Die Fahrt nach Watford, wo der junge Mann namens Cedric Bakersfield wohnte, dauerte eine gute halbe Stunde – und sie verlief in völligem Schweigen. Shinichi fuhr hochkonzentriert, ließ sich durch nichts ablenken – und Kogorô zog es vor, aus dem Fenster zu schauen, um seinen Fahrer nicht zu irritieren.

Und während vor seinen Augen die Straßen Londons, die an ihm vorbeizogen, langsam weniger hektisch wurden, die Häuser langsam kleiner und die Gärten drumherum größer wurden, kam er dennoch nicht umhin, aus den Augenwinkeln immer wieder zu ihm zu spähen. Er fühlte, wie sein Gewissen ihn piesackte mit tausendundeiner weißglühenden Nadel.

Auch wenn Shinichi nicht eine einzige Silbe gesagt hatte – noch nicht – so ahnte er, dass es irgendwann passieren würde.

Irgendwann kam das Gespräch zwischen ihnen beiden.

Würden die Anschuldigungen kommen.

Bestimmt.
 

Nur den Zeitpunkt… bestimmte wohl der junge Superintendent neben ihm allein.
 

Cedric Bakersfield wohnte in einem kleinen Reihenhaus, besaß das Eckgrundstück – ein hübsches kleines Häuschen, mit einem Vorgarten, der gepflegt war wie ein Schmuckkästchen.

Das Hobby der Hausherrin, schätzte Shinichi – ein sorgsam gekiester Weg führte zur Tür, belegt mit großen Granitplatten, daneben zwei Blumenrabatte, in denen in schwarz gemulchten Beeten rote Rosen wucherten, eingerahmt mit weißen, roh behauenen Marmorsteinen – das ganze eingebettet in einem samtig-saftigen, grünen Rasenteppich und gekrönt von dem alabasterweißen Standbild einer Katze, die auf der ersten Stufe zur Tür hockte. Im Fenster darüber starrte ihnen eine echte Katze entgegen, schwarz wie die Nacht mit Bernsteinaugen, miaute ihnen lautlos entgegen, zeigte dabei ihren roten Rachen und ihre weißen, spitzen Zähne.

Shinichi schritt, immer noch stumm, voran, stieg die eine Stufe hoch, kramte seine Marke heraus, bevor er klingelte – und merkte, wie in ihm das Unbehagen wuchs. Kogorô blieb einen Schritt hinter ihm stehen.

Shinichis Finger berührte kaum den Klingelknopf, als die schwere Holztür auch schon aufschwang.

Offenbar wurden sie erwartet.
 

Allerdings, so stellte sich heraus, als sie drinnen um einen kleinen Tisch gruppiert saßen, hatte nicht Cedric ihnen geöffnet, sondern dessen Mutter. Mary-Ann Bakersfield, eine kleine, äußerst zierliche Frau in ihren Endfünfzigern, bot ihnen Earl Grey mit Zitrone und Shortbread an und fing ungefragt an zu reden, noch ehe Shinichi eine Frage stellen konnte.
 

„Ceddie is devastated.“, meinte sie, als sie sich schließlich zu ihnen setzte, nachdem sie das übrige Geplänkel über das Wetter, die Royals, das Wetter, die Rosen, das Wetter, den neuen Premier und das Wetter endlich abgeschlossen hatten.

Shinichi hatte gerade zu einer Frage ansetzen wollen, als sie nun von selber auf das Thema kam. Kogorô seufzte lautlos, stopfte den fünften Shortbreadfinger in sich hinein, wobei ihm langsam der buttrige Geschmack leichte Übelkeit verursachte, und versuchte, den zunehmend genervten Gesichtsausdruck von seinen Zügen zu vertreiben, sowie milde interessiert und leicht anteilnahmsvoll auszusehen. Er verstand nicht viel, aber ein paar Namen kamen ihm immerhin aus der Presse ein wenig bekannt vor.
 

Na endlich. Ich dachte schon, sie hört nie auf über Herzogin wieheißtsiedochgleich zu schwadronieren.
 

„Absolutely devastated. They wanted to marry, you know. Next weekend.“

Shinichis Schultern strafften sich unwillkürlich – aber noch sagte er nichts.

„She already got her wedding dress from the shop. Her mother showed it to us yesterday. We are thinking about burying her wearing it. We are not decided yet, of course. It’s too… it’s just too…”

Die alte Frau schaute Shinichi ins Gesicht. Eine Träne begann, ihre Wange runterzulaufen.

Shinichi schluckte hart, griff in seine Sakkotasche, zog eine Packung Taschentücher hervor, reichte ihr eines, drückte dann kurz ihre Hand, während sie versuchte, ihre Tränen zu trocknen. Ihre Lippen zitterten, etwas, das sie versuchte zu verstecken, indem sie sie fest aufeinanderpresste.
 

„I am very sorry, Mrs. Bakersfield.“
 

Shinichis Stimme klang leise. Kogorô stutzte – er hatte das echte Bedauern in seiner Stimme sehr wohl gehört.

„If you don’t mind, we’d like to talk to Cedric now. I promise, we’ll be very tactful. We only have a few questions.”

Mary-Ann Bakersfield fixierte ihn mit ihren wässrigen Augen.

Lange schaute sie ihn einfach nur an, ihre Miene unbewegt.
 

Gerade als Kogorô sich fragte, wie lange Shinichi noch warten wollte, nickte die Frau, kaum wahrnehmbar. Sie schlug die Augen nieder, schaute kurz gedankenversunken in ihren mittlerweile lauwarmen Tee.
 

„I guess, you must do this.“

Die Worte klangen rau, leicht kratzig.

„And I know, that you just want to help us. You want to find Erin’s murderer. We want him to be found, too… so it seems, we have to help each other.“
 

Shinichi nickte.

„That is true.“

„Then go and talk to him. But please, really behave as tactful as you can, just as you have promised… as he is not himself, at the moment. Please don’t mind, if he …“
 

Sie hielt inne, als sie das traurige Lächeln auf Shinichis Lippen bemerkte.

Und dann geschah etwas, das er nicht hatte vorhersehen können.
 

„Oh. Did you also… lose somebody beloved…?“
 

Shinichi starrte sie an, kurz zeigte sein Gesicht einen erschrockenen Ausdruck. Kogorô zog die Augenbrauen hoch.

“No.”, presste er schließlich hervor.

„Fortunately not.“
 

Sie schaute ihn an, sagte nichts mehr. Er ahnte, dass sie sich ihren Teil dachte, und war im Moment mehr als froh, dass Kogorôs Englisch so dermaßen dürftig war.

Er kippte das Tröpfchen Tee, das noch in seiner Tasse schwappte, runter, stand auf.

„Last door, on the right hand side.“
 

Der junge Superintendent nickte kurz, bedeutete dann Kogorô, der die Unterhaltung schweigend verfolgt hatte, mit ihm zu kommen.
 

Cedric Bakersfield lag rücklings ausgestreckt auf seinem Bett, als sie eintraten. Er schien von ihnen keine Notiz zu nehmen; sein Blick war ausdruckslos an die Zimmerdecke gerichtet, wo das Modell eines Doppeldeckerflugzeugs der Gebrüder Wright hing. Das Zimmer sah aus, als hätte man sie etwa zehn Jahre in der Zeit zurückgeworfen – eine Wand mit einer hellblauen Tapete, auf der das Sonnensystem abgebildet war, komplett mit den Sternbildern der westlichen Hemisphäre, großzügig überpflastert mit Postern von Rockstars und Autorennfahrern, deren Zeit gekommen und längst wieder gegangen war; ein weiterer Modellflieger, der auf dem Schrank zwischengelandet war und dort einer Horde arg angestaubter Dinosaurier Gesellschaft leistete. In einer Vitrine standen Automodelle, daneben Bilderrahmen, in denen Urkunden und Zeugnisse gerahmt waren, ein paar Pokale und Medaillen, die von seiner Fußballkarriere in seiner Schulzeit kündeten. Regale voller Ordner und medizinischer Fachliteratur, definitiv die jüngsten Objekte in diesem Zimmer, sowie ein Schreibtisch, über dem eine Pinnwand hing und auf dem ein Laptop stand, daneben verstreut Stifte und ein Notizblock.
 

Dies war ganz offensichtlich Cedrics ehemaliges Kinderzimmer.
 

All das hatte Shinichi in sich aufgenommen, als er in das Zimmer getreten war, nachdem auf sein Klopfen kein „Come in!“ gefolgt war.
 

Hängen blieb sein Blick jedoch an etwas anderem.
 

Auf dem Boden vor dem Bett lag ein Foto, gerahmt.

Ein Pärchen in einer Gondel des London Eye.

Er sah gut aus – Haare blond und kräftig wie Stroh, kurz geschnitten und verwegen frisiert, dazu sanfte, braune Augen die in der Sonne bernsteinfarben schienen. Markante Gesichtszüge, ein breites Kinn, ein ebenso breites, glückliches Grinsen – und in seinem Arm Erin, diese Elfe mit ihren hellen, graublauen Augen, den hohen Wangenknochen, dem fröhlichen Lächeln und den kinnlang geschnittenen, rotblonden Haaren.
 

Ein Foto aus glücklichen Tagen.
 

Sie beide hielten ein Champagnerglas hoch, in ihrem schwamm deutlich ein kleines, rundes, funkelndes Schmuckstück – offenbar ihr Verlobungsring.
 

Shinichi schloss die Augen, merkte, wie sein Puls zu rasen begann. Er atmete scharf die Luft ein, hielt sie an, zählte leise bis zehn, versuchte, seinen Kopf wieder klar zu kriegen, indem er sich auf den Rhythmus seines Atems konzentrierte. Kogorô schaute ihn an – und erst jetzt begriff er.
 

Wie nah ist das hier dran an… deiner Situation vor fünf Jahren…?
 

Shinichi stieg über die leeren Bierdosen, die unzähligen vollgerotzten Taschentücher und die Flaschen hinweg, die den Boden übersäten, bis er am Bett angekommen war. Die Luft war geschwängert vom Gestank des Alkohols und dem Geruch eines Menschen, der eben jenen konsumiert hatte. Er ging um das Bett herum, zog den Rollladen hoch, legte damit das ganze Elend, das das schmeichelhafte Dämmerlicht, in dem das Zimmer bis jetzt gelegen hatte, versteckt hatte, offen und öffnete das Fenster – und diese Handlung war es schließlich, die den bisher reglosen Bewohner dieses Zimmers aufschrecken ließ.
 

„What the…“, begann er mit schwerer Zunge zu sprechen, als er inne hielt und dem jungen Mann mit den Augen folgte.

Shinichi hatte das Foto aufgehoben, blickte es mit undefinierbarer Miene an. Sorgsam klappte er dann den Standfuß aus dem Rahmen, stellte das Bild auf dem Nachtkästchen ab, sich des Blickes, mit dem ihn Cedric bedachte, wohl bewusst.

Dann zog er seine Marke aus seinem Sakko, klappte sie auf, hielt sie dem Mann, der sich mittlerweile auf seine Ellenbogen hochgestemmt hatte, vor die Nase. Von dem jungen, erfolgreich aussehenden Mann auf dem Bild war nichts mehr geblieben. Fahle, blasse Haut, eingefallene Wangen, dunkle Schatten unter seinen Augen, die ihnen sämtlichen Glanz zu rauben schienen, das Haar wirr und strohig.

Der junge Kerl war nicht einmal mehr ein Schatten seiner selbst.
 

Und für diese Veränderung reicht diese eine Nachricht, dass einem das Liebste auf der Welt gewaltsam genommen wurde.
 

„Detective Superintendent Shinichi Kudô, Scotland Yard. We have a few questions concerning your fiancée, Erin Shaughnessy, Mr. Bakersfield.”
 

Kogorô schluckte, schaute den jungen Detective an. Shinichi hatte sich bemerkenswert gut im Griff – dennoch entging ihm die Anspannung im Körper des jungen Mannes nicht. Er kannte Shinichi gut genug, um zu wissen, wann ihn eine Situation mehr angriff, als er es wollte – er hatte ihn beobachten können, jahrelang.

Er kannte den Mann, der vor ihm stand, fast genauso gut wie er seine Tochter kannte.

Und er wusste, dies her war eine solche Situation.

Definitiv.
 

Cedric Bakersfield hingegen hatte der Name seiner Geliebten wieder zurück ins Bett geschlagen.

Er starrte die Decke an, sein Blick leicht neblig und unfokussiert.

„She’s dead.“, raunte er heiser.

„That’s right.“

Der junge Beamte schluckte, ließ seinen Blick über die Anzahl der Dosen streifen.

Irgendetwas war sonderbar hier, und irgendetwas beunruhigte ihn. Er wusste nur noch nicht, was.

„She was murdered, as you might know. We are here to ask you some questions. Could you perhaps tell us about the last time you saw her? Has she told you something about that job with these dresses?“

Er zog ein Bild heraus.

„She was found wearing this one. Has she…“
 

„Doesn’t interest me…“, murrte der junge Mann. Er verzog das Gesicht, krallte seine Hände in seine Bettdecke.

„She’s dead. Dead! Murdered. And nobody’ll bring her back to me. Nobody, nobody, fucking nobody… What the hell do you want here, you can’t bring her back to me, too, ‘cause such a goddamned bastard has…”

Shinichi schluckte hart.

„Right. But we are able to stop this bastard, as you call him…“

„Stop doing what? Committing new crimes, killing another young woman? Ha!“

Er richtete sich etwas auf, schaute Shinichi wütend und mitleidig zugleich an.

„You poor freak. You really believe you can do anything… who knows, perhaps you can, perhaps you can’t. It just doesn’t interest me. My Erin is gone. My Erin. My…“

Kraftlos fiel er zurück in die Kissen, seine Augen wurden matt.

Shinichi wandte sich alarmiert um – Kogorô wusste sofort, was er meinte. Hektisch begann er, den Boden abzusuchen, während Shinichi zum Bett trat.

„What substance did you swallow, Cedric…?“

„What is left, what is it, that this live could give me, now, that my Erin is dead…“, gurgelte der Angesprochene heiser, als Shinichi ihn an den Schultern griff, nach vorne zog und sein Kopf dabei nach hinten kippte.

„I don’t want this anymore… we wanted to marry, we planned kids… She had this beautiful dress already… and now…“

Er fing an zu husten, als Shinichi ihn weiter nach vorne beugte, ihn zwang sich aufzusetzen. Und gerade als Kogorô die Pillenschachtel aus dem Mülleimer zog, hörte er ein Würgen – dann das spritzende Geräusch von Erbrochenem auf Teppichboden.

Als ihm der Geruch in die Nase stieg, kämpfte er selbst mit der Übelkeit, schaffte es aber immerhin noch, zum Fenster zu gehen und es ganz zu öffnen, riss beide Flügel weit auf. Shinichi seinerseits stand neben Cedric, hielt den Mann an der Schulter fest, damit er nicht von der Bettkante stürzte, als er sich übergab.

Er schluchzte hemmungslos, hustete, spuckte und verschluckte sich immer wieder, was ihn nur noch weiter zum Würgen brachte. Shinichi redete leise und auf Englisch auf den Mann ein, schaute dann zu Kogorô, der am Fenster stand.

„Fragen Sie seine Mutter, ob sie etwas zu trinken hat für ihn. Ich ruf den Krankenwagen. Was war in der Schachtel?“

„Schlaf… Schlaftabletten.“, murmelte Kogorô. Er konnte den Blick kaum von dem jungen Mann abwenden, der mittlerweile seinen Kopf in seine Hände gestützt hatte, trocken hustete und weinte.

„We need a glass of water. Können Sie sich das merken?”

Shinichis erstaunlich sachliche Stimme riss ihn aus seiner Starre. Er nickte.

„Klar.“
 

Anscheinend hatte er die Botschaft überbringen können – fast im nächsten Moment kam eine kalkweiße Mrs Bakersfield mit einem Glas Wasser ins Zimmer gestürzt, das sie ihrem Sohn in die Hand drückte und an die Lippen setzte, begann mit Engelszungen auf ihn einzureden, streichelte ihm übers Haar, knöpfte ihm das beschmutzte Hemd auf und zog es ihm aus. Shinichi hatte ihn mittlerweile auf die Fensterbank gesetzt, damit ihm vom Geruch seines eigenen Erbrochenen nicht noch einmal übel wurde. Er selbst hingegen telefonierte offenbar schon mit dem Krankenwagen, bemerkte Kogorô. Unsicher blieb er im Gang stehen, überließ es dem jungen Mann, mit der Mutter zu reden, mit Cedric noch einmal zu sprechen, und dann anschließend den Sanitätern die Situation zu erklären, sowie ihnen die Schachtel der Tabletten in die Hand zu drücken.

Und zog innerlich den Hut, als er sah, wie gefasst Shinichi mit all dem umging.
 

Er wollte sich umbringen, weil er ohne sie nicht mehr leben wollte.

Und du…

Du behältst die Nerven, lässt dich nicht aus der Ruhe bringen, wie…

Wie schaffst du das?

Wie wird man so… wie du?
 

Cedric ließ alles ohne Gegenwehr über sich ergehen. Ihm war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen und sämtlicher Glanz aus den Augen.

Stumm rannen ihm immer noch die Tränen über die Wangen, mit seinen Händen umklammerte er das Foto seiner Freundin, als man ihm in den Krankenwagen half.
 

Als der Krankenwagen abgefahren war und sie im Freien standen, schien der Schock ihn erst so richtig zu fassen zu kriegen.

Kälte kroch Shinichi in die Glieder, als er an die zerschlagene, gebrochene Gestalt dachte, die sie soeben in den Krankenwagen gehoben hatten.

Er ballte die Fäuste, kämpfte gegen die Erinnerung an, die sich ihm aufdrängen wollte – Bilder jener Nacht, der Film in seinem Kopf, der ihm zeigte, wie Ran gestorben war.

Und das schier übermächtige Gefühl der Tage danach, als ihm erst richtig klar wurde, was es für ihn bedeutete, sie nie wieder zu sehen.

Weil sie tot war.
 

Er schloss die Augen, versuchte durchzuatmen, die Bilder zurückzudrängen, in die Ecke zurückzuschieben aus der sie hervorgekrochen gekommen waren, sie wegzusperren.
 

Sie sind ohnehin falsch, Idiot. Sie lebt doch. Ran lebt! Du weißt das. Du hast sie gesehen.

Nimm dich zusammen, verdammt.

Gerade vor ihm.
 

Dennoch konnte er das Zittern kaum unterdrücken, das ihn schüttelte.

Kogorô neben ihm war blass geworden, blieb auf dem Gehsteig stehen.

„Shinichi…“

Der Angesprochene fuhr auf, wich der Hand aus, die Kogorô ihm auf die Schulter legen wollte.

„Danke, aber ich brauch ihr Mitleid nicht. Nicht mehr, heißt das.“

Shinichis Stimme klang nüchtern, als er die Beifahrertür öffnete, Kogorô bedeutete, einzusteigen. Seine Hände zitterten kaum mehr, als er den Motor anließ, und darauf war er fast stolz.
 

Kogorô hingegen war kalter Schweiß auf die Stirn getreten.

Und ihm wurde jetzt erst klar, was er beinahe angerichtet hätte, damals, vor fünf Jahren.

Er sah den jungen Mann neben sich an und brach fast in Panik aus.
 

Vor seinen Augen tauchte dieses eine Bild wieder auf – dieses eine Bild, das ihn hatte kaum schlafen lassen, in den ersten Wochen danach.
 

Das Bild von Shinichi, vom kalten Regen bis auf die Haut durchnässt, besudelt mit ihrem Blut, in seinen roten, glasigen Augen das pure Entsetzen, die nackte Angst, und sein Gesicht nass von seinen Tränen.
 

Und er hörte seine eigene Reaktion dazu – in dieses Bild der Verzweiflung, der Trauer, mischte sich seine Stimme, hart, unbarmherzig und voller Wut.
 

Was hast du ihr angetan?!

Sie ist tot, wegen dir!

Das hier ist deine Schuld!

Geh weg von meiner Tochter, hörst du! Lass sie los, fass sie bloß nicht wieder an!

Verschwinde!

Verschwinde, und lass dich nie wieder blicken!
 

Verschwinde!
 

Er hatte es vergessen. Verdrängt.

Damals schon.

Wollte ihn nicht sehen in seinen Träumen, wollte sich nicht vorwerfen, dass er ihn in sein Verderben getrieben hatte, dass er ihn niedergetreten hatte, als er seine Hilfe gebraucht hätte.

Es war ihm egal gewesen, wie es Shinichi ging, alles was gezählt hatte, war seine Tochter, die um ihr Leben kämpfte, das zumindest hatte er sich eingeredet. Shinichi war selbst Schuld an seinem Elend, nicht er.

Dass Shinichi es auch tat, um sein Leben, seinen Verstand, kämpfte, hatte ihn nicht interessiert.
 

Shinichi hatte ihn nicht interessiert.
 

Und nun hatte er sehen dürfen, wie es ihm vielleicht gegangen war.

Schuld wühlte in seinen Eingeweiden, schien sein Innerstes nach Außen stülpen zu wollen, und nur mit Mühe bekam er die Übelkeit, die in ihm aufsteigen wollte, in den Griff. Allein der Gedanke, wenn Ran je erfahren hätte, dass er sich etwas derartiges hätte antun könne, wegen seiner Lüge, das…
 

Eine Katastrophe.

Und er dankte Gott in diesen Minuten, dass er es nicht hatte bis zum Äußersten kommen lassen. Dass offenbar irgendjemand da gewesen war, um Shinichi beizustehen, ihn zu halten, ihm wieder aufzuhelfen.

Dass es jemanden gegeben hatte, der dazu in der Lage gewesen war.
 

Dann wandte er sich um, blickte Shinichi, der das Auto die Straße hinunterlenkte, lange an. Langsam krochen ihm die Worte über die Lippen, langsam und leise, aber dennoch… irgendetwas trieb ihn dazu an, sie auszusprechen. Er musste es wissen.

Wenn er sich mit seiner Tat endlich auseinandersetzten wollte, dann musste er auch diesen Aspekt kennen.

Dann musste er wissen, wie es Shinichi wirklich gegangen war.
 

„Shinichi?“
 

Shinichi blinzelte, wandte dann kurz den Kopf von der Straße, um Kogorô einen Blick aus den Augenwinkeln zuwerfen zu können.
 

„Shinichi, wie hast du… damals, als… hast du…“ Der Rest seines ohnehin konfusen Satzes ging in unbestimmten Gurgeln unter, als der Mut ihn verließ.
 

Shinichi stöhnte innerlich auf.

„Was?“, hakte er dann ein. Seine Stimme übertönte kaum das Geräusch des Motors.

Er wusste genau, worüber Kogorô nun offenbar reden wollte – aber wenn er dieses Gespräch führen wollte, dann sollte er das ordentlich tun und die Dinge beim Namen nennen, so sehr er sich vor ihnen auch fürchtete.

Ein lautes Aufstöhnen signalisierte ihm, das seine Rechnung aufging.

„Das weißt du. Das gerade eben.“

Kogorô schluckte.

„Ich… kenne dich gut genug um zu wissen, dass dir das gerade eben nahegegangen ist, auch wenn ich zugeben muss, dass ich neidisch darauf bin, wie gut du dich im Griff hast…“

„Kommt mit der Zeit.“

Shinichi lächelte bitter. Kogorô überging den Kommentar.

„Ich kann nur mutmaßen, wie nahe das wirklich dran war an deiner Situation damals… und da…“

„Denken Sie sich, um Ihr Gewissen zu erleichtern, fragen Sie mich, ob ich mich umbringen wollte, wie der arme Teufel gerade eben.“

Shinichi starrte ihn an, die Wut noch immer in seinem Blick, allerdings riss er sich zusammen.

„Meine Antwort? Es geht Sie nichts an. Ich habe Sie damals nicht interessiert, und wahrscheinlich tu ich‘s heut noch nicht. Und nur, damit Sie nachts besser…“
 

Er setzte den Blinker, bog sachte um die Ecke, wollte die Auffahrt zur Autobahn nehmen.
 

„Shinichi…“

Kogorôs Stimme klang geschlagen.

„Ich weiß, das war nicht richtig…“
 

Shinichi trat scharf auf die Bremse, fuhr links ran. Zornig presste er seine Lippen aufeinander, atmete einmal tief ein.
 

„Nicht richtig.“, wiederholte er dann leise, schaute seinen Beifahrer dabei nicht an.

„Nicht richtig, das ist alles, was Ihnen einfällt? Sie haben mir verdammt nochmal mein Leben zur Hölle gemacht. Und nicht nur meins. Auch das meiner Eltern. Und jetzt erdreisten Sie sich…“
 

Er schloss die Augen – dann öffnete er die Tür, stieg aus, trat in das Feld neben der Auffahrt, versuchte, die frische Luft wirken zu lassen, mit ihrer Hilfe seine Fassung wieder zu erlangen, die Kontrolle über sich und seine Emotionen zurückzuerlangen. Er wollte dieses Gespräch nicht führen und er wollte sich von Kogorô nicht in diese Ecke seines Kopfes drängen lassen, all die Türen öffnen, hinter denen er die Erinnerungen an diese Zeit so sorgsam verschlossen hatte.

Er wollte nicht.

Dann hörte er die Beifahrertür zufallen und ahnte, dass dieser fromme Wunsch umsonst war.
 

„Ja. Verdammt, du hast ja Recht.“, hörte er Kogorôs aufgebrachte Stimme auf sich zukommen.

„Ich gebe zu, die ersten Wochen konnte ich nicht so wirklich gut schlafen, aber meinen Entschluss, dir die Unwahrheit zu sagen, habe ich nicht angezweifelt. Ich war wütend. Du… wegen dir ist meine Tochter fast gestorben!“

Kogorôs Worte hämmerten sich in sein Ohr. Shinichi vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen, hatte die Schultern hochgezogen, der Wind blies ihm kühl ins Gesicht, während hinter ihnen die Autos vorbeirauschten.
 

„Verdammt, denken Sie, das weiß ich nicht?! Wenn ich Sie erinnern darf: ich war dabei! Ich. War. DABEI! Verdammt!“
 

Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen. Er hatte sich Kogorô zugewandt, seine Augen funkelnd vor Zorn.

„Und ich sehe auch den Grund, warum Sie mich angelogen haben, ich bin doch nicht blöd, verdammt, und das wissen Sie auch. Sie wollten Ihre Tochter beschützen. Mich aber jetzt zu fragen, wie ich damit zurechtgekommen bin, ist…!“

„Es tut mir Leid.“

Kogorô nuschelte die vier Wörter in seinen nicht vorhandenen Bart. Shinichi, der gerade ausholen wollte, um seinem gegenüber quer ins Gesicht zu schmettern, was er von ihm hielt, hielt inne.

„Ach. Jetzt auf einmal.“

Seine Stimme klang staubtrocken.

„Nur, weil Sie jetzt gesehen haben…“

„Ja.“

Der Polizist nickte.

„Ja, verdammt. Weil ich jetzt gesehen habe. Weil ich… weil ich weiß, dass ich es damals einfach nicht sehen wollte.“
 

Er schluckte hart.

„Ich weiß, warum ich dich angelogen habe. Ich hab‘s mir leicht gemacht, ich redete mir ein, du wärst selbst Schuld an deinem Elend. Du hattest dich mit diesen Leuten angelegt, und du hattest auf sie nicht besser aufgepasst, du hattest dir das also selber eingebrockt.“

Shinichi schnappte nach Luft, starrte ihn fassungslos an.

„Ja, so einfach hab ich es mir gemacht. Versucht, zumindest, und es klappte die meiste Zeit ganz gut.“

Kogoro murmelte die Worte leise, schaute auf den Boden, weil er den Blick aus seinen Augen nicht ertrug.

„Aber ich habe jetzt gesehen, dass ich fast… dass auch ich fast einen Menschen auf dem Gewissen hätte haben können. Deshalb…“
 

Er rieb sich übers Gesicht.

„Für einen Moment sah ich… ich…“
 

Shinichi biss sich auf die Lippen, wandte den Blick ab, ließ ihn über die Felder schweifen, schluckte hart.
 

„Ich muss es wissen. Hast du… daran gedacht, dir… Wäre ich fast…“
 

Der junge Detektiv strich sich über den Hals mit einer Hand, als er merkte, wie sich ein Kloß zu bilden schien. Langsam ließ er sich gegen das Auto sinken, spürte das kalte Metall der Karosserie im Rücken.

„Warum…“, murmelte er leise.

„Weil ich meinen Fehler einsehe, Shinichi. Zu spät, ich weiß. Aber ich sehe ihn ein! Und ich wollte nie, dass du… ich dachte gar nicht daran, dass du…

Ich dachte nur an Ran. Ich wollte sie in Sicherheit, und das war sie ohne dich.“

„Da haben Sie Recht.“

Kogorô fuhr herum, als hätte er sich verhört.

Shinichi bemerkte den überraschten Blick auf seinem Gesicht, merkte, wie sich seine Mundwinkel zu einem traurigen Lächeln verzogen.

„Deshalb habe ich sie auch weggeschickt gestern. Deshalb wäre ich auch damals gegangen… ich hätte ihr gern den Grund dafür genannt, und ich hätte zweifellos gern die letzten Jahre nicht in dem Wissen verbracht, dass sie tot ist.“

Sein Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals, und der Wunsch, Rans Stimme zu hören, jetzt gleich, war fast übermächtig.

„Aber ich hätte sie immer weggeschickt.“
 

Er riss sich zusammen, ließ sich ins Gras sinken.
 

Auch für mich gibt es kein Happy End in dieser Geschichte… ich weiß das. Aber wann… wann finde ich mich damit ab?

Gerade jetzt.

Jetzt, wo ich weiß, dass sie lebt.
 

Kogorô nahm neben ihm Platz. Shinichi holte Luft, schob seine Gedanken beiseite, setzte neu an.
 

„Auf jeden Fall wäre ich gegangen. Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen. Das wollte ich nie. Ich… hab immer alles getan, was ich konnte, um sie zu schützen. Um sie da raus zu halten. Ich hab sie angelogen, nur deswegen. Damit sie in Sicherheit ist. Und dann…“

Er biss sich kurz auf die Lippen.
 

„Dann hatten sie mich, und verhörten mich, und wie sie so über mich forschten, bekamen sie auch…“

Er schluckte, blinzelte. Er wollte unbedingt vermeiden, Kogorô von dieser Droge zu erzählen.

„… raus, wer sie war. Wer Ran war. Und wo alles andere versagt hatte, wussten sie nun, was funktionieren würde, um mich kleinzukriegen, mich zum Reden zu bringen. Mit welchem… Mittel man mir wirklich beikam.“

Er brach ab. Kogorô schluckte, schaute ihn abwartend an.
 

„Sie fanden es wohl über Shiho raus, wer ich bin, meine ich. Wer Conan war. Ich meine, es ist… dumm gelaufen, damals. Die Sache mit dem Ausflug, die Tatsache, dass die Kinder sie als Erwachsene gesehen hatten, und dass Sie sie suchen sollten – mit diesem Video.“
 

Kogorô nickte langsam. Er erinnerte sich an dieses Filmchen, sah es beinahe vor seinem inneren Auge flimmern.
 

„Bitte, liebe Dame, melden Sie sich bei uns! Wir würden Ihnen gerne danken…“
 

Der Chor der Detective Boys hallte ihnen wie ein Richterspruch in den Ohren.
 

„Sie schickten Shiho eine Drohung und mir eine Warnung. Und ich wusste, dass ich nun handeln musste. Der Bell Tree Express war nur der Anfang gewesen, das war mir klar. Also brauchte ich einen Plan.“

Kogorô betrachtete ihn wortlos. Shinichi wich seinem Blick aus, schüttelte stur den Kopf.

„Ich…“, fing er an.

„Ich war ein relativ kleiner Fisch in ihren Augen, bis dahin. Richtig interessant war immer schon Shiho gewesen, als Ex-Mitglied und Chemikerin der Organisation, und sie war eine Verräterin; sie hatte das Gift erfunden, das mich in diese Lage gebracht hatte. Und hätte es funktioniert, wie es hätte funktionieren sollen, dann säßen wir jetzt ohnehin nicht hier. Dann läge ich jetzt in einem Loch auf dem Tokioter Zentralfriedhof, würde mir Blümchen von unten ansehen und alles wäre in bester Ordnung.“

Shinichis Lippen kräuselten sich zu einem bitteren Lächeln – seine Augen blickten ernst auf die trockenen Grashalme vor ihm. Hinter sich hörte er nichts außer dem leisen, regelmäßigen Klicken der Warnblinklichtanlage. Kogorô sagte nichts, holte nur eine Zigarette aus seiner Sakkotasche, steckte sie an und nahm einen Zug.
 

„Da ich Shiho auf keinen Fall als Köder benutzen wollte, musste ich aus mir einen größeren Fisch machen. Einen, der so groß war, dass man ihn lebend fängt, um ihn zuerst ein wenig im Aquarium schwimmen zu lassen und anzuschauen, bevor man ihn schlachtet, ausnimmt und verspeist.“

Kogorôs Augen wurden groß.

Er hatte von der Email gehört – gesehen oder gelesen hatte er sie nie.
 

Shinichi wandte den Kopf.
 

„Ich hab… den Professor darum gebeten, es aufzunehmen, wenn aus… Conan Shinichi wird. Wie das Gift wirkt. Man musste glauben, was ich sagte. Dass der berühmte Schülerdetektiv, der seit Jahren mehr oder minder verschwunden war, gerüchteweise sogar tot, noch lebte, mitten unter ihnen, als Grundschüler. Also nahm ich das Gegengift und ließ den Professor draufhalten.“

Er biss sich auf die Lippen.

„Irgendwie muss ich das auch noch wiedergutmachen…“

Mit einer fahrigen Bewegung fuhr er sich durch die Haare.

„Gut. Ich brachte also meine Mutter dazu, mit Ai und dem Professor nach Sapporo zu verschwinden, und Sie und Ran fuhren, wenn Sie sich erinnern, zur Preisverleihung eines Gewinnspiels, dessen Teilnahme Sie vergessen hatten, in ein Hotel außerhalb Tokios.“

Er überging Kogorôs überraschten Gesichtsausdruck, als ihm aufging, wer ihn tatsächlich ins Hotel eingeladen hatte, damals, vor fünf Jahren. Shinichi fuhr unbeirrt fort.

„Dann, nachdem ich… alle nötigen Vorbereitungen getroffen hatte, schrieb ich meinen Text, hängte mein Video in den Anhang und gab bekannt, dass ich die Emailadresse des Bosses hatte und, das war gelogen, seine Identität, und dass ich sie ausplaudern würde, wenn man außer mir noch jemand anderen holen würde. Ich schickte diese Mail einmal ans FBI, dann zur Polizei, und schließlich zur Organisation, zum Boss selbst.“

Shinichi biss sich auf die Lippen.

„Sie kamen noch am selben Tag.“
 

Kogorô stöhnte auf.

Shinichi schluckte hart.

„Leider… ging der Plan dann ein wenig schief, wie Sie ja wissen. Sie und Ran kamen früher wieder, weil Ran Wind davon bekommen hatte, dass ich in Tokio gewesen war und nun in Schwierigkeiten steckte. Das machten die sich zunutze. Und so kam es zu diesem Abend, überhaupt… sie lauerten uns auf, verletzten Ran schwer, sie erlitt einen Herzstillstand… und dann kamen Sie und haben mir fast einen Trommelfellschaden gebrüllt, zugegebenermaßen mein kleinstes Problem an diesem Abend. Nun also zu Ihrer Frage – wollte ich mir etwas antun…?“
 

Shinichi zupfte einen Grashalm, drehte ihn in seinen Fingern.
 

„Fassen wir mal zusammen. Sie haben einem neunzehnjährigen Teenager, dem man seit Tagen durch die Mangel gedreht hatte, und der gerade miterlebt hatte, wie seine Freundin stirbt, erzählt, dass eben jene tot ist – dass jede Rettung für sie zu spät war.“

Er atmete aus, langsam.

„Ich muss Ihnen nicht sagen, dass ich Ihnen ohne Wenn und Aber glaubte. Sie kannten mich, seit ich klein war, mit Ran noch im Sandkasten gespielt habe. Wir wurden größer, und Sie begannen, mich nicht mehr so zu mögen – wohl aus dem Beschützerinstinkt heraus, den jeder Vater gegenüber seiner Tochter zu haben pflegt. Ran war Ihr Ein und Alles, und das respektierte ich. Ich bin ihr nie zu nahe gekommen. Ich hätte mich nie getraut, sie war mir wichtig, sie kannte mich – sie kannte mich wirklich, jede Seite von mir, nicht nur den eingebildeten, arroganten Krimifreak, und sie war nicht nur wegen meiner Eltern mit mir befreundet. Sie war meine beste Freundin.“

Seine Stimme war leise geworden, sein Blick in die Ferne geschweift, ehe er sich wieder sammelte, Kogorô wieder fixierte.

„Dann wurde ich zu Conan und ich wohnte zwei Jahre bei Ihnen… und als Sie mir diese Lüge auftischten, wussten Sie all das. Sie wussten, dass ich Rans bester Freund war. Sie wussten, dass ich Rans… dass Ran in mich verliebt war, und dass… dass ich sie auch liebte. Und Sie kannten mich, weil ich zwei Jahre bei Ihnen gelebt habe, und abgesehen von der Riesenlüge, auf der das alles fußte, so dachte ich, und nennen Sie mich jetzt ruhig naiv, dass wir… irgendwie auskamen, miteinander. Ich dachte, vielleicht bessert sich unser Verhältnis, nachdem Sie mir wegen Conan den Kopf abgerissen hätten, selbstverständlich – aber immerhin kannten Sie mich jetzt gut, Sie kannten mein wahres Ich, ich dachte… das hilft.“

Kogorô schluckte hart, strich sich übers Gesicht.

Shinichi atmete schwer, kämpfte sichtlich mit sich.

„Dann passierte also diese Katastrophe. Ich konnte verstehen, dass Sie wütend waren. Dass Sie mich von Ran fernhalten wollen, weil ich es war, der sie in Gefahr gebracht hatte. Und hätten Sie mich gebeten, ich wäre gegangen. Ich wäre so oder so gegangen, ich war, verdammt nochmal, ein körperliches Wrack, nach der Behandlung, die man mir hatte angedeihen lassen, und ein Teenie, dessen Freundin grad fast umgebracht worden wäre wegen seiner eigenen Dummheit. Ich wollte mich so ohnehin keinem antun, und Ran nochmal in Gefahr bringen – nie im Leben. Niemals. Ich… Sie hätten mich also nicht anlügen müssen, eine Bitte hätte gereicht. Nicht einmal das wäre nötig gewesen.“

Er stand auf, blickte ihn von oben herab an, in seinen Augen pures Unverständnis.

„Ich war ihr Freund! Ich wollte nie, dass ihr was passiert, das müssen Sie doch gewusst haben! Sie kannten mich doch als Conan, ich hab immer auf sie aufgepasst, ich war immer da für sie, ich… und dann erzählen Sie mir, dass sie tot ist, und ich… ich…“

Er griff sich an die Stirn, blinzelte, als leiser Kopfschmerz sich bemerkbar machte. Kogorô starrte ihn bestürzt an. Shinichi sammelte sich.

„Ich hatte Ihnen also vertraut, es gab keinen Grund für mich, Ihnen nicht zu glauben. Ich hatte Sie doch auch kennengelernt in diesen zwei Jahren…“

Shinichi räusperte sich, schüttelte den Kopf.

„Ich hatte Ihnen geglaubt. Und auch wenn ich Sie dafür verabscheue, was Sie mir angetan haben, meine Eltern deswegen durchmachen mussten, indem sie mich irgendwie wieder auf die Beine bringen mussten, und das war ein hartes Stück Arbeit… so verstehe ich es. Sie hatten Angst um Ihre Tochter und wollten, dass ich sie nie wieder in Schwierigkeiten bringe. So ist das doch.“

Er schaute Kogorô an, fest. Kogorô nickte unmerklich.
 

„Also bekommen Sie von mir jetzt eine Antwort. Ja, ich dachte ans Sterben, anfangs. Ich hab mir oft gewünscht, einfach einzuschlafen, und nicht mehr aufzuwachen, und gleichzeitig hätte ich es als unfair empfunden, weil das doch ein so viel sanfterer Tod gewesen wäre als ihrer. Aber nein, an Selbstmord dachte ich nie. Und seien wir ehrlich, hätte ich es versucht, dann stünde ich nicht hier.“

Er lachte bitter.

„Ich bin schließlich kein Anfänger, und wenn ich etwas anfange, dann ziehe ich es durch. Aber ich… hab meine Eltern gesehen, die Sorge in ihren Augen, den Schmerz, den sie fühlten, weil sie mit mir litten. Ich wollte ihnen nicht das antun, was ich Ihnen angetan hatte. Ich wollte nicht noch jemandem sein einziges Kind nehmen.“

Shinichi schloss die Augen, atmete aus.

„Außerdem wollte ich nicht feige sein. Sah das Schicksal vor, dass ich leben sollte, gut, dann würde ich eben leben – aber auch nicht mehr als das. Abgesehen davon hatte ich diese Rechnung noch offen. Habe ich immer noch.“
 

Er wischte sich über die Augen, räusperte sich. Sorgsam zog er sein Sakko glatt, klopfte Grashalme und Dreck von seiner Hose, ehe er sich Kogorô erneut zuwandte.
 

„Jetzt beantworten Sie aber auch mir eine Frage.“

Kogorô zog sich am Auto hoch, streifte sich die Grassamen von der Hose.

„Was du willst.“

Er schaute den jungen Mann vor sich an. Shinichi biss sich kurz auf die Lippen, sah in die Sonne, überlegte kurz, ehe er seine nächsten Sätze formulierte.
 

„Ich verstehe, warum Sie mich belogen haben. Was ich nicht verstehe ist, warum Sie Ran belogen haben.“
 

Kogorô wich seinem Blick aus.

„Ich wollte, dass sie dich vergisst, dich nicht sucht. Ich wusste, wie sehr sie dich liebt, wie sehr sie an dir hängt, ich wollte… einfach sichergehen, dass sie nie wieder durch dich in Gefahr gerät.“

Shinichi blickte zu Boden, hatte die Hände in die Hosentaschen gerammt.
 

„Ich wäre doch aber gegangen, ohne ihr zu sagen, wohin.“

Er lächelte traurig.

„Ich hätte auch nicht gewollt, dass sie mir folgt. Aber ich… wollte nie, dass sie glauben muss, ich hätte sie einfach weggeworfen wie ein kleiner Junge sein kaputtes Spielzeug, einfach liegen gelassen, nachdem das Spiel zu Ende war. Sie war doch alles, was mich das überhaupt hat durchstehen lassen. Sie…“

Shinichi verstummte, atmete keuchend ein und aus, wurde nur mit Mühe Herr über seine Gefühle. Kogorô ächzte, schaute ihn an. Sah einen jungen Mann, der fünf Jahre durch die Hölle gegangen war. Wegen ihm.

Shinichi hob den Kopf, und ihre Blicke kreuzten sich. Jeglicher Vorwurf und jegliche Wut waren aus seiner Stimme gewichen, als er nun sprach.

„Sie kannten mich doch… fast besser als meine Eltern mich kannten, und deshalb verstand ich es nicht. Ich lag am Boden, und Sie…“

Er beendete seinen Satz nicht. Kogorô wusste dennoch, was er hatte sagen wollen.
 

… und ich hab nachgetreten, völlig grundlos.

Eri hatte Recht.

Ich hätte dich fast umgebracht. Und anstatt dir endlich Vergeltung zu holen, indem du sie mir auf Immer entreißt, verzichtest du darauf.
 

Auch wenn es dich auf ewig unglücklich macht.
 

„Aber gut.“

Er räusperte sich.

„Damit… ist dann wohl alles gesagt.“
 

Shinichi drehte sich wortlos um, wanderte um den Wagen herum. Kogorô hörte die Fahrertür auf- und wieder zuschlagen. Als er seinerseits einstieg, seine Bewegungen starr und hölzern, fühlte er sich seltsam leer.
 

Als sie zurückfuhren, sprach keiner von ihnen ein Wort.


 

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Ein heikles Teilchen, dieses Kapitel. Nun, ich hoffe, ich habe es geschafft, einigermaßen IC zu bleiben.

Über euer Feedback wäre ich sehr dankbar! Vielen, vielen herzlichen Dank auch für die Kommentare zum letzten Kapitel - ehrlich, das ist ungeheuer wichtig und wertvoll für mich - und es macht so viel mehr Spaß!

Nächstes Kapitel also nächste Woche, ab da dann wöchentlich weiter. Ich hoffe, der Rhythmus macht euch dann nicht doch zu viel Stress, aber ihr habt es euch so gewünscht ;)
 

Beste Grüße,

Eure Leira

Kapitel 19: Die feinen Künste

KAPITEL 19 – DIE FEINEN KÜNSTE
 

Heiji und Jenna standen nun schon seit geschlagenen zehn Minuten im Büro des Dekans und warteten.

Seite an Seite, still schweigend, Augen geradeaus.

Und seufzten synchron, als die Uhr wieder um eine Minute weitertickte, die sie beide nun seit elf Minuten im Auge behalten hatten – die große Pendeluhr, die ihnen gegenüber hinter dem Schreibtisch über dem schweren Ledersessel des Dekans hing.
 

Jenna drehte sich zu Heiji, entlockte dabei dem alten Parkett mit ihrer Gewichtsverlagerung ein leichtes Knarzen, und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er konnte sehen, wie sie mit sich haderte, ihren Satz im Kopf vorformulierte, umwarf, neu formulierte, ehe sie die wahrscheinlich vierte oder fünfte Version endlich für spruchreif erachtete.
 

„What do you think… what’s going on there?“

Heijis Lippen kräuselten sich zu einem schiefen Grinsen, während sich seinen Augen zu Halbmonden verengten. Er wusste sofort, worauf sie anspielte.

„They are about to batter in their heads, I suppose.“

Er wandte sich ihr zu.

„Something I’d like to do now, to be honest, especially with this odd saint of a dean here, or principal, or whatever the title is called that he maintains. Kudô was right, he is a rather tough nut. Any idea where that guy has vanished just now? Could’nt be possible that he lets us wait almost half an hour, just to fetch the atelier plans and lists of students who are using them?!“

Jenna schaute ihn an, strich über die Mappe mit dem Durchsuchungsbefehl.

„True.“
 


 

Dekan Hammersmith seinerseits eilte durch die Gänge, getrieben von Panik, als wäre er die sprichwörtliche arme Seele, hinter der der Teufel höchstpersönlich her war. Tatsache war, dass er wohl eher eine arme Seele retten wollte – er war auf der Suche nach Eduard Brady. Der Junge hatte sich bei ihm noch nicht blicken lassen – und nun musste er auch noch aufpassen, dass ihm die Polizei hier nicht zuvor kam. Seine Studenten starrten ihm überrascht hinterher – so eilig sah man die Vogelscheuche im Anzug, wie er scherzhaft wegen seiner hageren Statur und seiner Vorliebe für Anzüge genannt wurde, selten durch die Gänge fliegen. Am Ende des Ganges des Werkstättentrakts riss er eine Tür auf, die in ein kleines Kabuff führte, das aus zwei Räumen bestand – einer kleinen Abstellkammer und einem etwas größeren Raum, in dem ein bildhübsches, blutjunges, lateinamerikanisches Mädchen saß. Sie war wirklich ausgesprochen schön – schwarz und glänzend rollten ihre Locken über ihre Schultern, aus ihrem Gesicht blickte ein Paar haselnussbrauner Rehaugen, umrahmt von dichten Wimpern. Sie lächelte ihn an mit sinnlichen Lippen, trug einen Traum von einem hellgrauen, bestickten Wildseidenkleid. Eduard hatte sich umgedreht, stand mit Pinsel und Palette vor seiner Leinwand, und wollte offenbar gerade anfangen, die Untermalung auf die Vorzeichnung aufzutragen.
 

„You. Go home.“

Hammersmith deutete mit seinem Zeigefinger auf das Mädchen, wedelte mit der Hand. Eduard starrte seinen Dekan verständnislos an, legte dann den Pinsel beiseite.

„It’s okay, Juniper. You can change clothes behind that curtain. Could you come back at about eighteen o’clock?”

“Sure.”

Die junge Frau nickte, verschwand dann hinter dem Vorhang, legte die gelbe Fenchelblüte, die sie in ihrer Hand hielt, auf das Dreibein, auf dem sie Platz genommen hatte für die Porträtsitzung.

Eduard seinerseits wandte sich dem Dekan zu.

„What is the reason for your visit, Dean Hammersmith? I know, you wanted a word with me, I wanted to visit you in the evening…“

Hammersmith schluckte hart. Er war blass geworden, als er das Mädel in dem Kleid gesehen hatte.

„Make a guess who is waiting in my bureau to search the ateliers. The police, Eduard. Scotland Yard. And I suppose it is you, they are looking for. They have been here yesterday, Eduard, Sherlock Holmes himself was here, searching for students who paint portraits in the manner of the old netherlandish masters. He showed me the fotos. The pictures looked very much like this.”

Er wischte sich über seinen fliehenden Haaransatz. Der Schweiß war ihm aus allen Poren getreten, seine Augen hafteten auf dem Bild, das auf der Staffelei stand. Dann wandte er sich um, fixierte seinen Studenten mit ernstem Blick.

„I do not know what the hell you are doing here, Brady. I do not even know if I want to know into what kind of trouble you have got yourself into again. But you will follow me now. And take that… thing… with you.“

Hammersmith gestikulierte in Richtung der Leinwand, die immer noch auf ihre Bestimmung wartete.

Eduard war bleich geworden, nickte nur, griff sich die Leinwand. Juniper, die mittlerweile wieder ihre Alltagsklamotten trug, verabschiedete er mit einem kurzen, sehr gezwungenen Lächeln, dann trat er mit dem Dekan auf den Gang, wollte sein Atelier abschließen, als ihn Hammersmith zurückhielt.

„If it is locked, they’ll break in the door. You go and hide in my flat, this is the key for the door. You will wait there, until I come home. And don’t you dare to go anywhere else. Now, leave!“
 

Der alte Mann schaute dem jungen Künstler mit ernster Miene hinterher, als der um die Ecke bog. Ihm war der Wechsel seiner Gesichtsfarbe nicht entgangen, auch nicht der Anflug von Schweiß auf seiner Stirn. Er war einfach ein zu guter Beobachter – geschult, jedes Detail aufzunehmen, denn es waren die Details, die das Bild ausmachten.

Er hatte schon beim ersten Besuch des Superintendents erkannt, wer das Bild gemalt hatte. Bradys künstlerische Handschrift war unverwechselbar – derart klar und scharf malte nur er. Gestochen realistisch jede Pore zeigen, jeden Makel offenlegen und dennoch jeden Menschen wunderschön darstellen, das schaffte nur er. Er zeigte sein Modell von seiner schönsten Seite, ließ jeden, der seine Bilder sah, ergriffen davor stehen bleiben. Man verliebte sich in die Menschen auf den Bildern, wollte sie kennenlernen, begann, sich für sie und ihr Leben zu interessieren, zu erfahren, was sie zu denen gemacht hatte, als die das Bild sie zeigte.
 

Good lord, Eduard. Into what mess have you got yourself this time?

Murder… murder!

Dead girls…
 

Offenbar war er irgendwie in diese Mordfälle verwickelt – dass es zwei waren, wusste er von der jungen Polizistin, die ihm gerade den Durchsuchungsbefehl unter seine lange Hakennase gehalten hatte.

Zusammen mit den Bildern und den Fotos von den Kleidern. Er ahnte, wer sie geschneidert hatte – sie trugen einfach zu deutlich Meredith Rowlings Handschrift, für jemanden, der sie kannte.

Diesen Balanceakt zwischen elfenhaften Stoffen und gesellschaftsfähigen Schnitten und Verarbeitungsweisen bekam nur sie hin.
 

But you two are no murderers, Eduard.

Not you, and not Merry Rowling either. Of all people… she could’t even hurt a fly. Literally.
 

Er würde mit ihnen reden müssen. Zuerst aber… würde er in den sauren Apfel beißen müssen und die beiden Beamten seine Schule auseinander nehmen lassen.

Sie hatten jedes Recht dazu.

Und er dankte Gott auf Knien, dass er heute nicht dabei war.
 

Mr. Sherlock Holmes.
 

Als die Tür zum Büro wieder aufging, und er zusammen mit ein paar leicht geknitterten Blättern in seiner linken Hand wieder eintrat, wunderte es den Dekan nicht, dass sich ein leicht genervter Ausdruck in die Gesichter der Beamten geschlichen hatte.

Zwar war dieser Ausdruck bei keinem von beiden wirklich offensichtlich – er als Japaner war die Höflichkeit selbst, sogar, wenn er eigentlich vor Ungeduld überkochte, und das verriet dem geschulten Auge ein Blick auf die Haltung des jungen Mannes – und ihr war als Britin höfliche Gelassenheit mit der Muttermilch eingeflößt worden. Dennoch, das wusste er aus ihren Blicken zu deuten, würden sie nicht länger warten.
 

„Were you able to find the plans you were looking for?“, fragte Heiji höflich in so sauberem, akzentfreiem Englisch, dass Jenna ihm einen verblüfften Blick zuwarf.
 

„Yes. Yes, indeed.“

Der alte Mann im schwarzen Anzug reichte ihm ein großes Stück Papier, das Heiji an Jenna weiterreichte, die es auseinanderfaltete.

„All floors, with all atelier rooms, along with the names of those who are using them, as far as they have occupied them officially. Some just take every empty room they can get. You may keep the copy. I hope you find what you are searching for, if you busy yourself with that Sisyphus’ task…”

„Yeah.“

Heiji winkte ab, zeigte nun doch etwas deutlicher sein angegriffenes Nervenkostüm.

„Thank you. We’ll find the door for ourselves.“

Jenna lächelte, nickte höflich.

„Goodbye, Sir. We will, of course, stay in touch with you, if necessary.“

Der Dekan sah sie an, unbehaglich.
 

Sure.

You’ll stay in touch with me if necessary. That means, if you need more information from me…

Where he lives, for example…
 

Er schluckte, sah die beiden aus seinem Büro verschwinden und kam nicht umhin zu merken, dass sich ein sehr flaues Gefühl in seiner Magengegend auszubreiten begann.
 

Jenna blieb stehen, nachdem die Tür zum Büro des Dekans ins Schloss gefallen war.
 

„He has been alerting someone.“

Heiji schaute sie an, grinste breit.

„I’d bet he has, Jenna. So what does that mean for us?“

„That those ateliers, which seem currently abandoned, are most interesting for us. Ateliers, where no picture is shown or worked at.“

Heiji grinste noch breiter.

„Exactly.“

„And why are you grinning, Sir?“

Heiji grinste noch breiter, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, atmete aus und wieder ein, schaute sie aus dem Augenwinkel an.
 

„You know, I can understand why Kudô likes working with you. You are, for sure, a bright brain.”

Langsam ließ er die Arme sinken, nahm Jenna die Karte ab, die vor Verlegenheit glühte wie ein Stückchen brennende Kohle und studierte sie kurz.
 

„Well, let’s begin to investigate, Sergeant Watson!“
 

Bis zu diesem Moment hatte Heiji keine Ahnung gehabt, was ein Kunststudent eigentlich den lieben langen Tag machte. Jetzt, nachdem er geschätzte zwanzig Ateliers durchgeforstet hatte, und mit dieser Sorte Mensch sehr rege Kontakte hatte knüpfen können, wusste er, soviel musste er sich eingestehen, immer noch nicht wirklich besser Bescheid.

Einige der Studenten waren sauer gewesen, fühlten sich offensichtlich in ihrem künstlerischen Schaffen und ihrem Tänzchen mit dieser launischen Göre namens Muse gestört. Sie ließen sich auch durch die Marke wenig beeindrucken, gaben patzige Antworten und hatten Heiji und Jenna schneller wieder rauskomplimentiert, als sie „Durchsuchungsbefehl“ sagen konnten. Andere lagen halbkomatös auf einem mehr oder weniger heruntergekommen Sofa (die in Form, Farbe, Größe und Erhaltungszustand wirklich stark differierten) und schliefen ihren Rausch oder etwas anderes aus.

Dritte wiederum arbeiteten in völliger Stille im fast keimfreien Reinraum, mit minutiöser Genauigkeit, Engelsgeduld und haarfeinen Pinseln, Kratzern und Stiften, gelenkt von einer Akribie, die Heiji Staunen machte. Von einer vierten Spezies rührte ein orangener Farbspritzer her, der wie ein Wundmal quer auf seiner Brust prangte – als er die Tür geöffnet hatte, hatte der junge Kerl, der dahinter stand, gerade sehr gestisch seine Leinwand bearbeiten wollen, die an eben jener Tür hing – wie jeder Zentimeter dieses kleinen Ateliers mit Leinwand zugepflastert worden war.
 

Einen Porträtmaler, wie sie ihn suchten, hatten sie noch nicht gefunden.

Und nun standen sie hier, in Zimmer Nummer 331.

Auf den ersten Blick sah es aus wie jedes andere Atelier jedes anderen konventionellen Malers hier.

Und roch auch so.
 

Heiji betrat den Raum als erster, sog die Atmosphäre auf. Jenna folgte ihm auf den Fuß, bog als erstes in den kleinen Nebenraum ab, aus dem sie bald wieder auftauchte.
 

„Nobody here.“
 

Heiji nickte unmerklich, trat dann ans Fenster, musterte es gedankenverloren. Ein wenig Staub wallte auf, als er den Raum durchmaß, das alte Parkett knarrte unter seinen Sohlen.

Der Raum war fast leer, das Fenster etwas abgehängt mit einem weißen Tuch, das das Licht filterte und es milchig-dunstig auf die Einrichtung fallen ließ. Auf einem Tisch an der Wand lagen Farbtuben verschiedener Größe und Farbe, standen zugedeckelte Blechbüchsen mit Aufschriften wie „Balsamterpentin“, „Verdünner“ und „Firnis“.

Und genau das, schätzte Jenna, war es auch, was die Luft hier drin schwängerte. Wie das Licht hier drin etwas dichter, schwerer zu sein schien, fühlte sich auch die Luft in ihren Lungen träge an, benebelte ihre Sinne ein wenig.

Sie trat an den Farbtisch, begutachtete die Paletten. Eine davon war noch klebrig, die Farbe frisch herausgedrückt.

Sie hob sie hoch, zeigte sie Heiji. Der zückte seinen Fotoapparat, schoss ein Foto.

„Take a sample, Jenna. Write down the colours and chemicals, their brands as well. Perhaps…“

Sie nickte nur.

Heiji unterdessen trat an die Staffelei. Ein Stückchen Kohle lag auf der Ablage. Sein Blick fiel auf das kleine Dreibein, das in der Mitte des Raums stand, dort, wo das Licht vom Fenster sich sammelte.

Eine Fenchelblüte lag darauf. Seine Augenbraue rutschte hoch, als er näher trat, damit ihm der Geruch des Gewürzkrauts in die Nase stieg. Erneut holte er seinen Fotoapparat, fotografierte die Blüte, ehe er sie mit seinen behandschuhten Händen hochhob, die gelben, kleinen Blüten genauer besah.
 

„Jenna. You may have them better in mind than I. Didn’t the girls in the pictures carry …“

Jenna hatte sich umgedreht, als er sie angesprochen hatte, klemmte sich ihren Stift hinters Ohr, trat näher.

„Flowers in their hands. Indeed, Sir, they did. It was that pansy for Ayako and rosemary for Erin.“

Ihre Blicke trafen sich.
 

„Whose atelier is this?“

Die junge Frau zog das Blatt Papier aus ihrer Umhängetasche. Heiji beobachtete sie dabei, sah das Licht auf ihren Locken tanzen, bemerkte die Weichheit ihrer Haut, die dieses samtene Licht zauberte – und wusste, ohne zu fragen, dass hier auch ihre beiden Bilder gemalt worden waren.
 

Das hier war der Raum.
 

„Eduard Bradys, Sir.“
 

Jennas Augen wurden groß, als sie den Namen erkannte. Heiji lächelte bitter.
 

Eddie.
 

Bestückt mit Farbproben, Fotos und den Namen der Farbherstellern verließen sie das Atelier, ließen sich jedoch nichts anmerken. Als sie um die Ecke bogen, um in den Trakt mit den Schneidern zu gelangen, bemerkte Heiji aus dem Augenwinkel eine schwarze Gestalt – natürlich konnte er sich täuschen, aber er ahnte, dass es der Dekan gewesen war. Er hatte keinen Plan, was der alte Mann mit diesem Brady hier zu tun hatte, und inwiefern er in ihre Mordserie verwickelt war – aber ganz offensichtlich hatte er ihn gewarnt. Da drinnen war bis vor kurzem noch gearbeitet worden. Die frische Farbe und die vom Verdünner noch nassen Pinsel hatten eine deutliche Sprache gesprochen.

Und kein Künstler verließ freiwillig seinen Schaffensort, wenn er sich gerade seine Farbe zurechtgemischt hatte.
 

Die junge Schneiderin zu finden gestaltete sich wesentlich schwieriger. Jenna hatte sie nur aus weiter Entfernung gesehen – und, das musste sie wohl einsehen, leider passte auf die Beschreibung „jung, schlank, blonde Haare“ mehr als nur ein Mädchen auf dem Campus. Sie gaben dennoch nicht auf, ließen sich von allen, die da waren, ihre Sachen zeigen – Kleider, wie sie sie suchten, waren nicht darunter.

Als sie schließlich heraus aus dem muffigen Bau in den sonnenbeschienen Innenhof traten, war ihre Freude über ihren Fang etwas gedämpft.

„We cannot prove anything. Even, if the colour of his atelier matches the colour the pictures were painted with. If we just had found a picture…“

„Yeah.“

Heiji seufzte, nickte langsam.

„A picture would have been the ultimate proof. But there was nothing. Not even an empty canvas. And I dare to bet that he has taken his latest work with him, our dear friend Brady - this is completely out of question. And I’m sure that someone has taken his girlfriend and brought her somewhere else, before we came to look for her.”

Er rieb sich die Nase unwillig.

„Though, better than nothing. We have a name, nevertheless. And if necessary, we go and fetch this guy and ask him some questions…“

Er schaute auf die Uhr, zuckte mit den Schultern.

„It’s almost five o’clock. Let’s go and look after Kudô. They will have returned by now, too.“
 

Jenna nickte, schlug mit ihm gemeinsam den Weg zu ihrem Wagen ein.
 


 

Sie waren fast am Scotland Yard Hauptquartier angekommen, als ihm einfiel, was er noch hatte tun wollen.
 

Shinichi seufzte, fuhr den Wagen auf den Parkplatz, schaute Kogorô einen Moment lang schweigend an.

„Sagen Sie, Herr Môri…“

„Nenn mich Kogorô.“

Der ehemals schlafende Meisterdetektiv schaute ihn sachlich an. Er ahnte, dass er sich auf eine Ebene begab, die zu betreten Shinichi ganz sicher noch nicht bereit war; immerhin hatte er ihm und Ran durch seine Lügen das Leben so ziemlich ruiniert. Andererseits fand er es gerade deswegen unpassend, dass er ihn immer noch siezte.

Sie beide sollten auf Augenhöhe sein, und ebenso auch kommunizieren.

„Mir ist klar, wir werden nicht die besten Freunde.“

Er nuschelte die letzten Worte, blickte ernst geradeaus.

„Aber du bist ein erwachsener Mann und ich duze dich immer noch. Also entweder tust du’s jetzt auch, wir kennen uns lange genug, oder ich geh über zu Herr Kudô.“

„Herr Kudô ist mein Vater.“

Shinichi lächelte müde.

„Wenn, dann Superintendent Kudô. Oder…“

Er zögerte, verdrehte die Augen.

„Mr. Holmes. Das haben die hier besonders gern – und das ist, was ich mit Ihnen besprechen muss.“

Er fing sich Kogorôs Blick ein, seufzte dann leise.

„Also schön. Mit dir besprechen muss.“

Shinichi klopfte kurz mit den flachen Händen einen Rhythmus auf das Lenkrad, ehe er anfing.

„Ich weiß nicht, ob… du… die Zeitung schon gesehen hast, aber seit vorgestern wühlen sie ein wenig in meiner… Vergangenheit. Wie die Presse so ist, tut sie ihre Arbeit gründlich – was auch darin seinen Niederschlag findet, dass sie hinter mir herschnüffelt, in Form einer sehr karriereorientierten jungen Frau namens Victoria Shelley von der ausgezeichneten und durch ihre äußerst sachliche Berichterstattung bekannten Zeitung Reporter.“

Shinichis Stimme troff vor Zynismus. Kogorô schaute ihn ironisch grinsend an.

„Seit wann stört dich das?“

„Ganz konkret seit heute Morgen, als das Bild Ihrer – deiner – Tochter auf der Titelseite erschien.“

Er merkte, wie die Anspannung, die er seit heute Morgen mit Mühe kontrollierte, sich in seinem Körper ausbreitete; es kribbelte unter seinen Fingerspitzen, in seinem Nacken prickelte einen Anflug von Kopfschmerzen, der nur darauf brannte, sich auszubreiten.

Ihm war sehr wohl klar, was er fürchtete.
 

Wenn es heute ganz London weiß, und morgen vielleicht Japan, dann werden auch sie Wind davon bekommen.

Wenn sie es bis jetzt noch nicht wussten, dass sie noch lebt, dann werden sie es spätestens morgen erfahren. Es sei denn, sie… sind bereits hier.
 

Sein Mund wurde trocken.
 

Aber es hilft nichts, jetzt kopflos zu werden. Ich muss die Augen aufhalten und Ran aus den Nachrichten wieder rausbekommen. Mit etwas Glück erkennen sie sie einfach nicht wieder…

Wobei…

Wem versuch ich hier, etwas vorzumachen.
 

Er hob die Hand, massierte sich die Stirn, die sich in unwillige Falten gelegt hatte. Kogorô verschluckte sich, hustete, starrte ihn an.

„Doch wieder das Sie, Herr Môri?“

Shinichi schaute ihn ruhig an, wandte dann nachdenklich den Blick ab.

„Ich hatte keine Gelegenheit mehr, mit ihr darüber zu reden. Wir… haben uns gestern auf dieser… Brücke, auf der Westminster Bridge, zum ersten Mal wieder gesehen, seit… du weißt schon.“

Er schluckte hart.

„Ich war nicht sehr… ach, Mist.“

Shinichi lächelte bitter.

„Ich war vollkommen überfordert und wollte, dass sie geht. Ich sagte es Ihnen“, er unterbrach sich, „dir ja schon, ein paar von denen laufen immer noch rum, und als ich sie gestern sah, da gingen die Pferde mit mir durch. Nun, sie hat geweint, und genau den Moment haben sie abgelichtet. Was heißt, ich habs im Prinzip nur noch schlimmer gemacht; wäre ich nicht gewesen hätte Ran sie gar nicht interessiert. Jetzt aber kann ich mir sicher sein, sie werden versuchen, mit ihr zu reden, und…“

Er rieb sich die Finger, schüttelte den Kopf.

„Kaum ist sie auch nur zehn Meter in meiner Nähe bring ich sie in Schwierigkeiten. Also, worauf ich hinauswill – hast du etwas dagegen, zu schauen, wo sie ist, damit ich das kurz klären kann…?“

Kogorô antwortete nicht – er schnallte sich wortlos wieder an, was Shinichi als Zeichen deutete, wieder vom Parkplatz zu fahren.
 

Sie hatten Glück – sie trafen die vier jungen Damen an, als sie gerade das Hotel verlassen wollten.

Und an Sonokos wenig begeisterten Blick, als sie ihn sah, las er ab, dass auch sie die Zeitung sehr wohl schon gesehen hatte. Shinichi seufzte, trat zögernd näher; Kogorô überholte ihn glatt, schloss seine Tochter in die Arme, die seine Umarmung erwiderte und dabei ihre Augen nicht von Shinichi ließ. Sie schien nicht überrascht, ihren Vater hier zu sehen, und so schlussfolgerte er daraus, dass Eri es ihr am Telefon erzählt hatte, irgendwann.

Shinichi wurde zunehmend heiß unter Rans Blick - er bemerkte die Hoffnung in ihren Augen, die Freude darüber, dass er gekommen war. Er kniff die Lippen zusammen, seufzte, trat erst dann zu ihr, als Kogorô beiseitegetreten war.
 

„Ich nehme an… du hast die Zeitung heute schon gelesen, Ran.“, fing er an, ohne Umschweife, seine Stimme jedoch erstaunlich leise – die unausgesprochene Bitte um Entschuldigung schwang in ihr mit. Er wollte das Gespräch hier so kurz wie möglich halten und er legte auch keinerlei Wert darauf, dass es unter vier Augen stattfand. Allerdings, als Sonokos wütende Stimme in seine Ohren stach, bereute er das kurz.

„Ja, hat sie, sag mal konntest du nicht besser…“

Shinichi zuckte zusammen. Ran legte Sonoko ihre Hand auf den Oberarm, brachte sie so zu schweigen.

„Es war sicher keine Absicht. Und gerade du solltest wissen, wie die Zeitungen arbeiten, Sonoko, deine Familie hatte auch schon oft genug Ärger mit diesen Klatschblättern.“

Sie warf ihrer Freundin einen milden Blick zu, wandte sich dann wieder ihm zu.

„Ja, ich hab sie gelesen, Shinichi.“

Sie lächelte traurig.

„Ich… kann mir denken, dass das nicht gerade das ist, was man bei euch haben möchte…“

Er schüttelte den Kopf, schnitt ihr damit das Wort ab.

„Das auch, aber darum geht’s mir nicht. Ich will, dass du so schnell wie möglich aus dem Fokus ihres Interesses verschwindest, damit nicht noch wer anderes auf euch aufmerksam wird.“

Er schluckte hart.

„Du glaubst…“, murmelte Ran leise.

„Ich glaube gar nichts.“

Shinichi seufzte.

„Was ich… sagen will, ist, dass… du weißt, was ich die letzten Jahre dachte. Mit etwas Glück waren andere genauso blind. Ich hätte gerne, wenn dem so ist, dass es dabei bleibt. Abgesehen davon käme es meinem Chef wohl wirklich gelegen, wenn sich die Presse nicht über seinen Superintendent und seine amourösen Abenteuer das Maul zerreißt.“
 

Er lächelte sie beruhigend an, stopfte seine Hände jedoch in seine Hände in seine Hosentasche, um seine Nervosität zu verstecken.

Ran schaute ihn nachdenklich an; ihr war die Geste keineswegs entgangen, und sie ahnte, dass mehr dahinter steckte, als er zuzugeben bereit war; allerdings wusste sie auch, dass er nichts sagen würde, was er nicht sagen wollte, erst Recht nicht vor so vielen Mithörern.

„Was… möchtest du also, dass ich sage, wenn sie auf mich zukommen sollten?“

Ran sah ihn an, mit so viel Verständnis im Blick, dass ihm heiß und kalt wurde.

„Streite bitte ab, das wir uns kennen.“, murmelte er leise. Ran starrte ihn an, und er hielt diesem Blick einfach nicht stand. Er sah ihr an, dass sie es hatte kommen sehen, dass er sie darum bitten würde. Und Shinichi erkannte auch, dass sie verstand, warum er das verlangte, dennoch fühlte er, wie weh ihr das tat.

Er atmete tief durch, schüttelte traurig den Kopf.

„Ich will das klarstellen, es ist… mir völlig egal, welche Märchen die über mich schreiben. Damit komm ich klar, kam ich immer, das weißt du, damit bin ich aufgewachsen. Ich will, dass dein Bild so schnell wie möglich raus aus der Presse ist, Ran. Und dein Name am besten gar nicht erst reinfindet. Ich will kein Risiko eingehen, wenn die erfahren, dass du…“

Shinichi ballte unruhig die Fäuste.

„Das ist es auch, was ich meinem Chef heute morgen berichtet habe; er ist sauer genug, weil ich ihm verschwiegen habe, dass Heiji und ich uns kennen, bis es ihm dann ein Journalist auf der Pressekonferenz unter die Nase gerieben hat. Ich will aber nicht, dass du mehr von diesem Fall, von meinem Leben, betroffen bist, als es sein muss, also bitte… antworte nicht auf die Fragen, die man dir stellt, geht den Reportern aus den Weg. Und wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, erzählt ihnen, dass ihr Heijis Bekannte seid und wir uns nur flüchtig kennen. Über ihn. Punkt. Ich hoffe, so verlieren sie das Interesse am schnellsten.“

Ran blinzelte, war blass geworden. Sie sah ihn an – und auf einmal sah er nicht mehr so aus wie der toughe Ermittler von Scotland Yard, als der er gestern aufgetreten war.
 

Vor ihr stand einfach nur Shinichi.
 

„Wenn ich dir damit helfen kann.“, flüsterte sie leise. Er sah auf, sein Blick traf den ihren; er sah die Angst, die Sehnsucht und die Sorge in ihnen und schauderte. Er lächelte traurig, schüttelte den Kopf.

„Es geht nicht darum, mir zu helfen, Ran, sondern dir. Ich habs dir gestern gesagt. Ich… wünsche mir nichts mehr, als das du gehst und irgendwo in Sicherheit bist und glücklich wirst. Nur… dieser Ort ist einfach nicht hier. Und er ist wohl… niemals in meiner Nähe.“
 

Er schluckte hart.
 

„Danke für dein Verständnis.“
 

Damit drehte er sich um. Kogorô folgte ihm schweigend.
 

Erst im Auto brachte er es über sich, etwas zu sagen.

„Und du glaubst, das funktioniert?“

Shinichi schaute ihn aus den Augenwinkeln kurz an, ehe er den Rückwärtsgang einlegte.

„Hast du eine bessere Idee?“

„Nein.“

Kogorô seufzte.

„Aber musst du es ihr so schwer machen? Siehst du nicht, wie sehr sie dich… vermisst… sich…“

Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden. Es hatte ihn selber völlig aus dem Tritt gebracht, seine Tochter, seine Ran, in seiner Gegenwart zu erleben. Er hatte gewusst, sie liebte ihn immer noch. Sehnte sich nach ihm.

Das aber zu sehen, wenn der, den sie so sehr vermisste, greifbar und für sie doch unerreichbar vor ihr stand, nicht weil jemand sie zurückhielt, sondern weil er sie nicht ließ, weil die Angst ihm nichts anderes erlaubte, hatte ihn wie ein gut gezielter Haken eines Profiboxers in der Magengrube getroffen.
 

Mausebein…
 

Ein bitteres Lachen ließ ihn aus seinen Gedanken hochschrecken.

„Das sagt der Richtige.“

Shinichi blickte über die Schulter, fädelte den Wagen ein.

„Schließlich warst du es doch, der ihr fünf Jahre verkauft hat, die Liebe ihres Lebens hätte sie eiskalt im Stich gelassen. Und jetzt verurteilst du mich dafür, dass ich sie von mir fernhalten will, weil ich eine Gefahr für sie darstelle?“

Er sah, dass der Satz gesessen hatte, schüttelte den Kopf.

„Ich dachte, du willst, dass sie sicher ist? Du weißt es doch genauso wie ich… das ist sie nicht bei mir. Nicht, solange die noch rumlaufen. Das ist… etwas, das ich hart gelernt habe.“

Shinichi seufzte bedrückt, Sorge umwölkte seinen Blick.

„Ich kann sie nicht beschützen, vor ihnen…“
 

Damit schwieg er. Stumm fuhren sie zurück zu Scotland Yard, gingen in sein Büro und beschäftigten sich still, jeder für sich, mit dem Fall, warteten auf die Rückkehr von Jenna und Heiji.

Die beiden kamen etwa eine halbe Stunde später, fanden Shinichi und Kogorô in Shinichis Büro, sich immer noch anschweigend; während Shinichi seinen Bericht tippte, saß Kogorô ihm gegenüber, hielt Einsicht in die Fallakten und schlürfte an seiner Tasse Kaffee, als Heiji und Jenna eintraten. Shinichi blickte auf, zog fragend eine Augenbraue hoch.
 

„Bitte sag mir, dass euer Tag besser war als unserer.“
 

Heiji zog sich einen Stuhl heran.

„Inwiefern?“

Shinichi seufzte.

„Warte kurz. Ich mach das hier grad noch fertig.“

In den nächsten paar Minuten hörten sie nur das schnelle Klappern der Tastatur, und das sprudelnde Geräusch von Mineralwasser, als Jenna ihnen etwas zu trinken besorgte. Als schließlich das abschließende Klopfen auf zwei Tasten gleichzeitig zum Speichern der Datei hörbar wurde und hinter Shinichis Schreibtisch der alte Drucker rumpelnd zum Leben erwachte, um widerwillig ein DIN A4 Blatt zu bedrucken und aus sich heraus zu schieben, legte Kogorô seinen Ordner beiseite. Shinichi nahm dankend das Wasser, das Jenna ihm reichte, trank einen Schluck.

„We went to interview Erin’s fiancée, as you might remember. That… interview turned out to be very short. We just came in time to prevent him committing suicide. I doubt the amount of sleeping pills and beer would have been sufficient to poison him, but he could have suffocated by his own vomit rather easily.“

Er wischte sich über die Augen.

Dann beschrieb er in aller Kürze und für Jenna in recht schnellem Englisch in welchem Zustand sie Erin Shaughnessys Verlobten gefunden hatten und wie der Tag diesbezüglich verlaufen war. Heiji griff nun ebenfalls nach seinem Wasserglas, als er merkte, wie ungeheuer trocken sein Mund wurde. Sein Blick wanderte zu Kogorô, der mit größter Aufmerksamkeit seine Fingerspitzen zu studieren schien.
 

„Wow.“, murmelte er dann.

Heiji nickte knapp. Kogorô reagierte praktisch nicht – er hob nur den Kopf, schaute Shinichi lange an. Der seufzte wiederum, fuhr sich kurz über die Augen, schaute dann Heiji und Jenna abwechselnd an.
 

„Well, this was it. How was your day?“
 

Heiji kratzte sich am Hinterkopf, warf Jenna einen fragenden Blick zu.

„Well, I have gathered proof for what I knew before… I will never become a friend of the fine arts. Not in this life, at least.“

Er machte eine bezeichnende Geste über sein Sakko – Shinichi beugte sich an seinem Bildschirm vorbei, sah erst jetzt, wie es um die Klamotte seines Freundes bestellt war, grinste dann breit.

„Looks awesome. How is it called? Art Saccó? Why didn’t you let the artist sign it, eh? What, if he becomes famous…“

„Idiot.“

Heiji warf ihm einen genervten Blick zu – in seiner Schläfe pochte es. Shinichi hingegen grinste immer noch, lehnte sich dann zurück und legte seine Fingerspitzen aneinander. Jenna zog die Augenbrauen hoch.
 

Sherlock Holmes, listening to the report of his Bakerstreet Irregulars…
 

“Danke für dein Mitleid, mein Freund. Da geht man mit vollem Körpereinsatz an die Lösung des Falls und was bekommt man dafür? Höhnische Worte, Spott, einen feuchten Händedruck als Dankeschön…“

„Heiji.“

Shinichi schaute ihn etwas ungeduldig an.

„Ich habs kapiert. Noch was gefunden außer einer Horde verrückter Selbstverwirklicher?“

„Nein. Ach ja, doch. Vielleicht, heißt das.“

Nun war es an Heiji, breit zu grinsen, während er Jenna auf die Schulter klopfte, und seinen nächsten Satz extra wieder für Jenna in wohl gesetztem Englisch vom Stapel ließ.

„Your extraordinary well educated Watson and me, well… we have possibly found the painter of your pictures…”

Shinichi fuhr hoch.

„Was sagst du da?“

Nun war es an Heiji zu grinsen. Jenna tat es ihm gleich.

„Wie?“

„Wir waren in seinem Atelier. Gut, wir können es ihm noch nicht beweisen. Aber immerhin haben wir Farbproben von seinen Farbtuben und Malmitteln genommen und ins Labor gebracht. Und wir haben den hier…“

Er zog seinen Fotoapparat heraus, drehte ihn in der Hand um und streckte seinen Arm quer über den Tisch, so dass Shinichi das Bild betrachten konnte.

„… gefunden.“
 

Shinichi sog scharf die Luft ein, und Heiji wusste, er dachte sofort das gleiche wie er.
 

„Eine Blume.“
 

Wir müssen endlich herausfinden, was es mit diesem Symbol auf sich hat. Ich kann nicht glauben, dass das nichts weiter zu bedeuten hat…
 

„Und wie heißt unser Mann?“
 

Und diesmal verstand Jenna die Frage auch auf Japanisch. Sie zog ihren Block heraus, las den Namen ab.
 

„Eduard Brady.“
 

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Nun denn :)

Viel Vergnügen damit! Ich danke euch sehr für die Kommentare zum letzten Kapitel und hoffe, das Duo Hattori/Watson hat euch gefallen ;)
 

Beste Grüße,

eure Leira

Kapitel 20: Geständnisse

KAPITEL 20 – GESTÄNDNISSE
 

Als die Tür nach einer halben Ewigkeit endlich wieder aufging, starrte er immer noch auf sein Handy.
 

Eduard seufzte tief, war in das weiche, aber schon etwas abgewetzte Leder der völlig durchgesessenen Couch des Dekans gesunken. Gerade hatte er mit Meredith telefoniert. Er wusste, wenn die Polizei nach den beiden Herstellern dieser Kleider suchte, dann durften weder er noch Merry zu finden sein. Und so hatte er sie von dort weggelockt – ihre Kleider für die Shootings nähte sie ohnehin zuhause, aber sie durfte diesen Beamten nicht in die Hände fallen. Nach einem, wie er hoffte, unauffälligen Telefonat hatte er ihr einen besonderen Abend vorgeschlagen, einen Besuch im Kino oder ähnliches, als Entschädigung für sein sonderbares Verhalten in den letzten Tagen. Sie solle doch schon einmal nach Hause fahren und sich hübsch machen– sie würde es tun, das hatte er an ihrer Stimme sofort gehört.

Weil sie ihn liebte.

Weil sie sich auf einen Abend mit ihm freute.

Die Erleichterung in ihrer Stimme hatte ihn ganz unangenehm ins Ohr gestochen und malträtierte sein Gewissen jetzt noch.
 

Eduard merkte, wie bei dem Gedanken an sie ihm die Hitze in den Kopf stieg. Sie hatte ihm den Kopf verdreht, schon als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Und sie schaffte es auch heute noch mühelos, dass er alles Stehen und Liegen ließ, für sie.
 

Nun aber stand der Dekan vor ihm.
 

Und starrte ihn an, von oben herab, mit unerbittlichem Blick aus seinen wässrigen, grauen Augen.
 

„New Scotland Yard, Eduard. Sherlock Holmes himself. What the hell did you do this time?“

Er schlug ihm die Tageszeitung vors Gesicht auf den niedrigen Couchtisch.

„Having them standing in my bureau, showing me photographs of your paintings! Do you consider me to be blind? I knew at once that you made them! What do you have to do with that crime?“

Der hagere Mann ließ sich ihm gegenüber in den zur Couchgarnitur passenden Ledersessel fallen, starrte ihn an wie der Sensenmann höchstpersönlich, sein Haupthaar hellgrau und schütter, seine Wangen hoch und eingefallen, seine grauen Augen fast völlig farblos und von einer Schärfe, die Eduard sich jedes Mal, wenn er ihm in die Augen sehen musste, seltsam gläsern fühlen ließ.
 

„Nothing.“, presste Eduard schließlich über die Lippen.

Er hatte geahnt, dass es irgendwann einmal soweit kommen musste – allerdings, dass es so schnell ging, und dass es ausgerechnet Hammersmith war, der ihm auf die Schliche gekommen war, überraschte ihn etwas. Er hatte mit Meredith gerechnet – so sehr er sie von all dem auch abschirmen wollte, Meredith war zwar gutgläubig, aber nicht blöd, und wenn sie die Nachricht über Erin erfuhr, die er ja irgendwie vor ihr geheimzuhalten gedachte, ein ambitioniertes Unterfangen, wie er wusste, war es ohnehin vorbei.

Dann würde sie eins und eins zusammenzählen.
 

Hammersmiths Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
 

„Don’t you dare to make a fool of me, Eduard Brady! What mess have you brought yourself into this time, for heavens sake!“, herrschte der alte Mann ihn erneut an. Seine Stimme unterstrich den Blick, mit dem er ihn immer noch musterte – sein Tonfall war dabei nicht laut, aber duldete keine Widerrede und forderte unnachgiebig eine Antwort.

Die Wahrheit.

Eingeschüchtert knetete Eduard seine Hände in seinem Schoß, rubbelte an der Farbe an seinen Fingern.
 

„No-…“, wollte er ansetzen, verstummte, als er den eisigen Blick des Dekans kreuzte.

Hilflos schnappte der junge Student nach Luft, gestikulierte ziellos in der Luft herum, als wolle er die Worte, die er suchte, mit beiden Händen einfangen.

„Honestly. I’ve got nothing to do with it. I – I sold the pictures, I don’t know…“
 

Dekan Hammersmith schürzte die Lippen. Sein Student saß ihm gegenüber wie ein Häuflein Elend, blass, zusammengefallen und… ängstlich.

Und auch wenn der alte Mann sich über seine autoritäre Ausstrahlung im Klaren war, so war ihm auch bewusst, dass sich Eduard Brady keineswegs vor ihm so fürchtete.
 

„I ask you again, Eduard Brady, and I strongly advise you to tell me the truth… what is the matter with you - with this? I have seen you today, with a beautiful girl, in one of Meredith’s dresses. You know very well that I know my students works, their artistic handwriting, their inspiration, their motives.

I have seen her dress – and you, painting it. I have seen the photos of the pictures found with the corpses, your portraits, Eduard. You say, you’ve sold them? Who is the person you have sold them to? Who gave the commission for them?“

„I…“

Eduard biss sich auf die Lippen.

„An asian… couple.“, murmelte er dann, sich sehr wohl bewusst, dass die Beziehung dieser beiden wohl kaum eine Liebesbeziehung war – allerdings spielte das keine Rolle. Wahrscheinlich war es einfacher, sie einfach als Paar zu verkaufen. Hammersmith atmete auf – immerhin kamen sie jetzt endlich weiter.
 

„I swear, I didn’t kill the girls…“, flüsterte der Junge. Der alte Mann griff seine Hand, kurz, spürte, wie klamm und kalt sie war.

„I do know this, Eduard. But if… if you know, who might have committed those murders, you have to talk to the police. Immediately. Do you understand? Eduard?“
 

Der junge Maler schaute auf. Gütig ruhten Percival Hammersmiths Augen nun auf ihm, und er hasste sich selbst dafür, dass er die Gutgläubigkeit des Mannes nun so ausnutzen würde. Tatsache war aber, der Dekan hatte keine Ahnung, wer diese beiden Menschen waren. Und was sie bereit zu tun waren, wenn er nicht parierte.

Und so setzte er ein mühseliges, tapfer wirkendes Lächeln auf, zwang es regelrecht auf seine Lippen.

„Yeah.“

„You won’t finish that new painting.“

Eduard blinzelte, riss sich aber zusammen.

„Okay.“

Hammersmith nickte.

„Fine. Now, promise me that you will visit the police today. I do not want another search of them within the walls of my university. Tell them all you know. Tell them what you have told me right now. You will feel much better afterwards, for sure.“
 

Freundlich lächelte der alte Mann seinen Schützling an.

„I would accompany you, but we have a conference today. You will have to go there by yourself.”
 

Damit stand er auf.

„Tell Meredith my warmest greetings.“
 

Eduard nickte nur, griff nach der Tüte, in der seine angefangene Leinwand steckte, ließ sich vom Dekan nach draußen führen. An der Türschwelle angekommen drehte er sich noch einmal um.
 

„Thank you, Mr. Hammersmith.“
 

Dann wandte er ihm den Rücken zu, verließ das Gebäude, das Gelände – und fing zu rennen an, wurde erst langsamer, als er die Hauptstraße erreicht hatte.
 

Zu spät bemerkte er den schwarzen Porsche, der neben ihm herfuhr – erst, als die Autoscheibe im Fond herunterglitt und der kurzgeschnittene, akkurate Bob der Frau mit dem Schmetterlingstattoo erschien, wurde er sich gewahr, dass sie ihm gefolgt waren.
 

„Hallo, Eduard.“
 

Good lord… how could they possibly know…?!
 

„How nice to meet you so… incidentally.“

Eduard blieb stehen.

„Don’t make me laugh. Incidentally, sure…“

Das süßliche Lächeln auf Chiantis Zügen verschwand.

„Good to see we understand each other. Get in.“
 

Er starrte sie an, merkte, wie er zu zittern anfing.

„Why should I…?“
 

Ein süffisantes Lächeln erschien auf ihren Lippen, und kurz kniff sie ihr tätowiertes Auge zu, ließ den Schmetterling mit seinem Flügel schlagen.

„Because of this.“

Sie hob ihr Smartphone, zeigte ihm ein Bild.
 

Meredith, beim Aufsperren ihrer Haustür in der Morton Street, wo sie zusammen eine Studentenwohnung bewohnten.
 

Sie sah ihn bleich werden, grinste noch breiter.

„Oh, don’t you worry, sweetheart. She is fine. For now. She is at home and gets her hair done for your date… And if you want to attend this date as well, my lovely boy, you will. Get. In. Now.“
 

Ihm rieselte ein eisiger Schauer über den Rücken. Wie an Marionettenfäden gezogen umrundete er den Sportwagen, der mittlerweile stehen geblieben war, öffnete die zweite Tür zum Fond, stieg ein. Und genoss das Gefühl, in einem so teuren und exquisiten Wagen herumchauffiert zu werden, nicht eine Sekunde.
 

Während sie zum Loft fuhren, zumindest vermutete der junge Engländer, dass sie dahin unterwegs waren, sprach keiner von ihnen ein Wort. Gin saß am Steuer und lenkte den Wagen scheinbar gleichgültig durch den Londoner Verkehr – es war fast seltsam für Eduard, ihn an einer roten Ampel halten zu sehen. Er konnte sich denken, wie ungern sich dieser Mann, der anscheinend doch so gern die Regeln für andere machte, sich seinerseits Regeln anderer unterwarf.

Der graue Qualm der Zigarette, die er rauchte, schwängerte die Luft, trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Ein Blick zu Chianti, die teilnahmslos irgendetwas an ihrem Smartphone tippte, zeigte ihm, dass es ihr anscheinend nichts ausmachte, hier gleich an Sauerstoffmangel draufzugehen.
 

Er blickte nach draußen, seufzte stumm.
 

„So why am I to come with you?“, wagte er zu fragen, blickte zuerst zu Chianti, dann zu Gin. Der Blick seiner kalten Augen streifte ihn durch den Rückspiegel, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

„Make a guess, Eddie. To paint your picture, of course, what else are you good for?“
 

Er gab ihm die Antwort, ohne seine Zigarette aus dem Mundwinkel nehmen zu müssen. Eduard sah zu, wie er daran zog, sich die Glut weiter in den Tabak und das Filterpapier fraß – dann nahm er sie doch zwischen die Finger, und ein bösartiges Lächeln schlich auf Gins Lippen.

„Why else would we need you, Eduard Brady…“
 

Sein Lächeln steigerte sich zu einem leisen, frostigen Lachen.
 

„You know that we are not finished yet. And you know, what we are aiming at – the person we are aiming at. This is why you are not yet suspended from your service for us. We got to know that, unfortunately, you seem to lack, let’s say… the calm and quietness to do your wonderful work – so we have decided on giving you another place to paint.”
 

Eduard schluckte hart, bekam damit allerdings nicht den Kloß weg, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Ihm schwante Übles. Wie übel tatsächlich, sollte er gleich sehen, als der Porsche 365 A mit dröhnendem Motor in die Tiefgarage einbog und Gin den Wagen abstellte.
 

„Get out.“, befahl er knapp. Eduard tat, wie ihm geheißen, die Leinwand fest an seine Brust gepresst. Er war froh, dem blauen Dunst aus dem Wageninneren zu entkommen, obgleich der Geruch in der Tiefgarage, in der sie sich nun befanden, nicht viel besser war. Unsicher schaute er sich um – spähte durch die blanken, grauen Betonpfeiler, die die Decke hielten, sah sich nach einem anderen Wagen um – und fand keinen.

Sie waren allein hier.
 

Das hieß – nicht ganz.
 

Gin war ebenfalls ausgestiegen, warf seinen Zigarettenstummel mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk fort. Er prallte auf dem Asphalt auf, hüpfte als funkensprühendes, orange leuchtendes Glühwürmchen in der Dunkelheit davon und verglomm.

Mit langen Schritten umrundete er seinen Wagen, sein Mantel durch die ausgreifenden Bewegungen hinter ihm her flatternd. Vor dem Kofferraum blieb er stehen, öffnete die Klappe schwungvoll. Eduard erstarrte, als er erkannte, was genau dieses graue Bündel, das er im dämmrigen Zwielicht der Garage erkannte, war.
 

Sie schaute ihn mit rotgeweinten Augen an, ihre Haare klebten ihr zum Teil schweißnass im Gesicht.
 

Es war Juniper – in Merediths Kleid.
 

Er fiel fast um, so weich drohten ihm seine Knie zu werden, sich in eine Portion Wackelpudding schien zwischen Ober- und Unterschenkel zu verwandeln, kaum in der Lage, ihn gerade stehen zu lassen. Und dennoch folgte er ihnen zum Aufzug, wich dem Blick der jungen Latina, so gut es ging aus. Er wusste, sie würde dieses Gebäude nicht mehr lebend verlassen.

Und einzig und allein der Gedanke an Meredith, die jetzt wohl daheim stand und sich ihre Haare frisierte, ein Kleid aussuchte und Make-up auflegte, ließ ihn nicht zusammenbrechen, sondern ihnen wortlos folgen, rein in den Aufzug, ekelhaft eng eingepfercht, und raus ins Loft.
 

Dort stand bereits ein Stuhl, auf den Gin seine Fracht gleiten ließ. Er zog ihr mit vorgehaltener Waffe das Klebeband von den Lippen. Sie wimmerte nur kurz, rührte sich ansonsten nicht, blieb eingeschüchtert sitzen, auch als man ihr die Hände von den Fesseln befreite. Sie ließ sich die Fenchelblüte in die Hand drücken, ließ es zu, dass Eduard sie in Position dirigierte, sanft, mit langsamen Bewegungen und leiser Stimme.
 

Als er schließlich sein Bild auf die Staffelei stellte, es festkeilte und in Position brachte, den Pinsel in die Farben drückte, die man ihm reichte, mit dem Trockungsbeschleuniger mischte, damit er überhaupt den Hauch einer Chance hatte, rechtzeitig fertig zu werden – sie hatten offenbar sein Atelier in seiner Abwesenheit besucht und die Farben mitgenommen, die sich dort befanden – brach ihm der Blick aus ihren Augen das Herz.
 

Die Angst.

Die Hilflosigkeit.

Und diese Hoffnung, hier lebendig rauszukommen, wenn sie einfach nur mitmachte.

Wenn sie brav war und sich nun malen ließ, ohne zu zicken.
 

Er wusste, sie hoffte umsonst.
 

Und so setzte er den Pinsel auf, mischte schwarz und weiß und grün zu einem warmen Grauton und fing an, seine Untermalung fortzuführen. Schaute nur auf, um sie anzusehen, und wusste, wie das Bild aussehen würde, wenn es fertig wäre.
 

Es würde jedem, der es ansah, das Herz brechen.
 

Eduard ahnte, er würde es nicht schaffen, diese Angst aus ihren Zügen zu merzen, es würde ihm nicht gelingen, die Qual zu verstecken, die sie durchlitt.
 

Man würde es dem Bild ansehen, wenn er es fertig gemalt haben würde und, das Inkarnat rosig frisch und nass auf der Leinwand glänzend, ihre Lippen rot schimmernd und ihr Kleid in hellem silbergrau erstrahlend, von der Staffelei abnahm. Dann würde ihn der glasige Blick ihrer vom Weinen geröteten Augen von diesem Bild heraus anschauen.

Die Tränen, die ihr stumm über die Wangen rollten, konnte er weglassen.
 

Die Traurigkeit in ihren Augen jedoch nicht.
 


 

Gin hingegen hatte an seinem Schreibtisch Platz genommen, sah ihm kalt lächelnd dabei zu, wie er gezielt seine Striche setzte, ehe er einen schwarzen Umschlag hervorzog. Chianti lehnte sich gegen die gläserne Tischplatte, beugte sich nach hinten, sah ihm interessiert zu. Gin war gerade dabei, einen Zeitungsausschnitt in einen Umschlag zu schieben, als ihre schwarz manikürten Fingernägel danach griffen.

Ihre Augen wurden groß, als sie die Person erkannte, die darauf abgebildet war. Scharf sog sie die Luft ein, betrachtete das Mädchen, aus zusammengekniffenen Augen.

Ein hübsches Ding, ihre schokoladenbraunen Haare flatterten leicht im Wind, genauso wie ihr rotoranger Rock, der mit seiner lebensfrohen Farbe den Frühling bereits begrüßte, der in der Stadt Einzug hielt. Sie stand am Big Ben, ihre Augen auf etwas gerichtet, das sich außerhalb des ausgeschnittenen Zeitungsbildes befand, in ihnen ein Verlangen, das fast greifbar schien. Sie glänzten wässrig, ihre Lippen waren halb geöffnet, als würden sie einen Namen formen, lautlos und gefangen in einer dünnen Farbschicht auf Makulaturpapier.
 

„Sie lebt also.“
 

Gin lachte leise.

„So ist es.“
 

Chianti blinzelte; der Schmetterling flatterte kurz, als sie ihn verwundert anschaute.

„Nicht zu fassen. Ich dachte, du erträgst es gar nicht gut, wenn deine Opfer deine Tötungsversuche überleben, Gin, mein Lieber. Deshalb hast du ja auch so eine Wut auf unseren kleinen Schnüffler, neben der Breitseite, die er uns verpasst hat, selbstverständlich. Und nun stellt sich heraus, dass seine kleine Mieze auch noch lebt? Obwohl du ihr doch so formvollendet dieses hübsche Ding hier…“

Ihre Augen glitten kurz bewundernd über das Katana, das hinter ihnen in seiner Halterung vor der Sichtbetonwand ruhte, geschützt durch eine Glasscheibe, funkelnd und gefährlich, nichtsdestotrotz.
 

„… in ihr Fleisch gestoßen hast.“
 

Eduard, der immer noch malte, hielt kurz inne – verfluchte sich zum ersten Mal, keinen Brocken Japanisch zu sprechen - und setzte alles daran, das leicht schabende Geräusch des Pinsels auf Leinwand nicht abreißen zu lassen.
 

„Das macht sie zu etwas besonderem. Sie beide… und mir noch verhasster. Deshalb habe ich mir auch etwas besonders Schönes ausgedacht. Ich habe mir erlaubt, unseren ursprünglichen Plan etwas abzuwandeln, was die Auswahl unserer Opfer betrifft.“

Chianti schaute ihn immer noch unüberzeugt an.

Er schüttelte den Kopf, immer noch leise lachend.

„Schau sie dir an. Unser Engelchen.“

Gin streckte sich, beugte sich dann nach vorne, sah seine Mitstreiterin lüstern an.

„Sieh in dir an, jetzt ist sie hier… und sein Albtraum beginnt von neuem. Ich wette, er denkt nur daran, Tag und Nacht, die Erinnerung ist so präsent, wie ich es mir nur wünschen kann… und das entschädigt mich doch erheblich.“

Er blickte auf den Rest des Fotos, das auf seinem Schreibtisch lag, sah den Schrecken, das Entsetzen und das Erstaunen in den Zügen seines Widersachers – und die Angst.

All das in nur ein paar Quadratzentimetern eines Londoner Klatschblattes.
 

Köstlich.
 

Langsam zog er eine Flasche zu sich, entkorkte sie, ließ etwas von der Flüssigkeit in ein Glas laufen, nahm einen großen Schluck.

„Tatsächlich finde es fast umso schöner…“
 

Er lehnte sich zurück, nahm Chianti das Foto aus der Hand, betrachtete es mit kühlem Blick, kalkulierend.

„… umso schöner, ihn noch einmal in diesen Abgrund zu stürzen, aber noch tiefer als das letzte Mal. Ich will in ihm die kalte Angst zu schüren, die nackte Panik sehen. Ich wette, er ahnt es bereits… ich hab ihn beobachtet, gestern, als er ins Yard zurückkehrte.“
 

Sein Grinsen wurde langsam immer breiter, entblößte eine Reihe makelloser Zähne.

„Und du hast keine Ahnung, wie sehr er sie immer noch liebt. Es wird ihn umbringen, sie noch einmal zu verlieren. Und es wird ein Genuss sein… ihn endlich zu zertreten, wie einen Wurm, diesen Bastard Kudô, der uns ins Licht gezerrt hat, der uns unser Leben genommen hat…“
 

Er schaute auf, schob das Foto in den Umschlag.

„Er soll dafür bezahlen.“
 

Fest drückte er die Blätter aufeinander, so dass der Umschlag zusammenklebte.
 

„Fahr zu seinem Haus, schieb ihm den Umschlag unter der Wohnungstür durch. Er soll ihn finden, wenn er heimkommt.“

Chianti nickte kurz, griff sich den Umschlag und verließ, begleitet von dem scharfen Klack-Klack der Absätze ihrer Stiefel, das Loft.
 

Als sie wiederkam, setzte er die letzten Pinselstriche der Untermalung.

Chianti strich an ihm vorbei wie eine Katze, für Eduards Geschmack einen Tick zu nahe, als er die Pinsel auswusch. Er sah ihr nach, kurz, und fand den Vergleich durchaus passend. Diese Frau war ein Raubtier, ein lautloser Panther – er hingegen war die personifizierte Katastrophe.

Der Tod in Menschengestalt, und er machte keinen Hehl daraus, kein Geheimnis, er schlich sich nicht an – er tauchte auf, stand vor einem wie aus dem Nichts, und richtete sein Unheil an.

Riss Leben mit sich und erfreute sich daran.
 

Nein, wenn er es genau bedachte, war er schlimmer als der Tod.

Der Tod machte dem Leben ein Ende, weil das sein Job war. Um das Gleichgewicht auf Erden zu wahren.

Gin tötete aus anderen Motiven.
 

Gier, Rache, pure Freude daran.
 

Der Mann war der Teufel.
 

Und genau derselbe trat nun hinter ihn, atmete ihm seinen Rauch in den Nacken und ließ Eduards Atem stocken.
 

Dann hielt er ihm eine weitere Kopie des Zeitungsbilds vor die Nase.
 

„You’ll start with this one at your flat. Take care that nobody sees it.“

Eduard schluckte, nahm das Bild entgegen.

Zu sehen war eine hübsche, junge Japanerin, Ayako sehr ähnlich.

Er sah auf, eine üble Vorahnung habend. Gin grinste, blies ihm die nächste Rauchwolke mitten ins Gesicht – Eduard hielt die Luft an, um nicht husten zu müssen.

„Your thoughts are quite right, Brady. Better don’t ask – and now take your ass out of here, your sweetheart is awaiting you, for sure… and we do not want her to have to wait, do we?“
 

Eduard sagte nichts mehr. Er verkniff es sich, einen Blick zu Juniper zu werfen, die weinend auf ihrem Stuhl saß. Sie blickte wohl der letzten Nacht ihres Lebens ins Auge, auch wenn sie es wohl noch verdrängte. Sobald er morgen den letzten Pinselstrich gesetzt hatte, würde sie tot sein.
 

Und ihr nächstes Opfer hielt er bereits in seinen Händen, schob das Foto mit zitternden Fingern in seine Sakkoinnentasche, als er ging.
 

Was er nicht ahnte, war, dass zuhause nicht nur Meredith auf ihn wartete.
 

Sie saßen neben ihr auf der Couch – die junge Frau, die ihm am Campus aufgefallen war, und die sich nun nicht als Talentscout, sondern als Polizistin entpuppte; und ein Japaner mit dunklem Teint.
 

Er jedoch stand am Fenster, drehte sich erst um, als er die Tür aufgehen hörte und Eduard bereits im Zimmer stand.
 

Sherlock Holmes.
 

Eduard wurde bleich. Seine Augen huschten zu Meredith, die ihn verängstigt anstarrte.
 

„They… are police officers of Scotland Yard, Eddie. They… say, they… want a word with you.“

Ihre Stimme war heiser. Eduard schluckte, merkte, wie bei ihrem Anblick sein schlechtes Gewissen in ihm wühlte. Sie hatte sich hübsch gemacht, ihre Haare geflochten, Makeup aufgetragen, ein Kleid angezogen - das sah er – sie hatte auf ihn gewartet, schließlich hatte er ihr einen schönen Abend versprochen.
 

Shinichi trat vor, bedachte Eduard Brady mit ernstem Blick.
 

„I would like to make it very clear – this is no arrest, Mr. Brady. Do you understand? You are not being accused of having committed a crime - yet.“

Er zog dann ein Blatt Papier aus seiner Akte.

„This is why you will not hear the admonition about your rights now. You are a witness, not more. I would therefore like to ask you to accompany us to New Scotland Yard.”
 

Eduard wich zurück, bemerkte aus den Augenwinkeln, wie die zwei anderen Beamten aufstanden. Auch wenn der Mann vor ihm so ausgesprochen höflich und mit sorgsam gewählten Worten gesprochen hatte, so war ihm doch klar, dass keinesfalls zur Diskussion stand, ob er nun mit ihnen aufs Yard ging oder nicht.

„I didn’t do anything!“, brach es aus ihm hervor, Angst ließ ihn sein Hochschulenglisch völlig vergessen.

„If that is indeed the case, Mr Brady, then there is nothing you might be afraid of.“
 

Shinichi blieb immer noch ruhig, trat zur Seite und bedeutete dem jungen Mann, mitzukommen. Eduard starrte ihn an, bemerkte die wachen, blauen Augen, den Ausdruck von Entschlossenheit, der ihnen innewohnte. Blickte in ein Gesicht, kaum älter als seins, scharf geschnittene Züge, durchaus attraktiv. Sah die Haltung, gerade und aufrecht, gespannt, aber nicht angespannt. Ein irres Motiv für ein Porträt, schoss es ihm durch den Kopf.
 

Yes, it is true.

You are the modern Sherlock Holmes.
 

And you are the very person he is hunting. What have you done to him, that he loathes you that deep…?
 

Dann trat er an ihm vorbei, raus aus dem Haus. Die beiden Beamten geleiteten ihn zum Wagen, während Shinichi Kudô, so hieß er ja, ein paar kurze, beruhigende Worte mit seiner Freundin sprach.

Er blickte kurz zurück, über die Schulter, sah die Sorge in ihren Augen.

Und er ahnte, dass sie es nun wusste.

Dass hinter dieser ganzen Geschichte weit mehr steckte, als er ihr hatte weismachen wollen.

Und dass er sie angelogen hatte, als er ihr versichert hatte, sie beide hätten nichts damit zu tun.
 

Die Fahrt ins Yard verlief schweigend. Brady saß hinten im Fond bei Jenna – Heiji saß neben Shinichi, schaute ihn beunruhigt an. Shinichi wirkte übermüdet, was nicht verwunderlich war. Gestern die Konfrontation mit seinen Eltern, dann mit Ran, heute der Artikel in der Zeitung, das Gespräch mit Kogorô – irgendwann verlangten all diese nervenaufreibenden Gespräche ihren Tribut.

Kogorô hatten sie bei Ayakos Eltern abgesetzt, immerhin – er wollte heute Abend Ran treffen, also war es nicht schwer gefallen, ihn loszuwerden.

Der Blick, den er Shinichi hinterhergeworfen hatte, hatte dieser nicht bemerkt – Heiji allerdings sehr wohl.
 

Ihn hat das schlechte Gewissen gepackt. Worüber habt ihr geredet? Hast du ihm erzählt, wie schlecht’s dir ging?
 

Kurze Zeit später saßen sie in einem Verhörraum, zu viert. Hinter der Scheibe saß niemand, und es lief auch kein Diktiergerät; Shinichi schrieb mit, das war alles.

Sie hatten hier, und das hatte er noch einmal wiederholt, keinen Verdächtigen vor sich sitzen.

Sie wussten nicht, in welcher Verbindung er zu den Morden stand.

Ob die Bilder von ihm waren.

Ob er selber der Mörder war, oder ob er die Bilder an die Mörder verkauft hatte, ob er in ihren Diensten stand, wenn überhaupt.
 

Dann riss Shinichis Räuspern sie aus ihren Gedanken in die Realität. Er stieß den Kugelschreiber mit dem hinteren Ende auf den Tisch auf, was die Miene zum Vorschein brachte, zog dann den Umschlag mit den Laborergebnissen der Farbtests, den Fotos der Bilder und den Fotos aus dem Atelier heran.
 

Letztere zeigte er ihm zuerst.

„Your atelier, right?“

Brady nickte. Diese Frage schien ungefährlich. Verschiedene Ansichten seines Ateiliers tauchten vor seinen Augen auf, von jeder Wand, aus seinem Vorbereitungsraum, von der Staffelei und von dem kleinen Hocker, der mitten im Raum stand und auf dem…

Sein Atem stockte kurz, nur ganz kurz – dann war das Bild weg, ein weiteres Bild der Werkbank mit seiner Palettensammlung und seinen Pinseln tauchte auf, und er nickte nur weiter, wortlos. Shinichi notierte kurz etwas, zog dann die nächsten Bilder heraus.

„Those pictures show the colours you use, is that correct?“

Eduard stutzte. Nun wurde er doch etwas nervös.

„But why is this of importance? Those colours are not of an exclusive brand. Better studio quality, I cannot afford more expensive paint…“

Shinichi hob den Kopf von seinem Notizblock, schaute ihn ruhig an.

„So this is indeed your paint?“

Heiji grinste in sich hinein. Der typische Fehler von Leuten, die etwas zu verbergen hatten.

„Yeah.“

Eduards Stimme klang säuerlich.

„But as I told you, I am by no means the only one that uses them...“

„Be sure, I am aware of that fact.“

Ein kurzes Lächeln schimmerte über Shinichis Lippen.

Dann zog er die Fotos von den Gemälden aus seinem Umschlag.
 

„Are those paintings made by you or could you possible give us any hints leading to the person who might have created them?“
 

„No.“
 

Jenna hob den Blick, schaute ihn an, und auch Heiji horchte auf. Die Antwort war einen Tick zu schnell gekommen – nur ein Tick, zu wenig, um es genau sagen zu können. Eduards Stimme klang absolut ruhig, sein Blick war fest, und er fragte sich, woher er plötzlich diese Abgeklärtheit nahm. Er wusste nur, wenn er hier versagte, war Meredith tot. Er musste hier rauskommen, ohne dass Verdacht auf ihn fiel.

Begründeter Verdacht auf ihn fiel, hieß das.
 

„Well, now. I am afraid, but I doubt that I can be of any help to you, Superintendent.“

Langsam zog er die Bilder zu sich heran, studierte sie erneut, tat zumindest so, als ob – schüttelte dann erneut den Kopf.

„No. Nothing. I am sorry.“

Shinichi beobachtete ihn aufmerksam. Dann lächelte er, zog die Bilder wieder zu sich heran, schob sie zurück in die Akte.

„Well then. Thank you for your time, Mr. Brady. That was it.“

Er stand auf, war sich der ungläubigen Blicke Heijis und Jennas voll bewusst. Gelassen zog er eine Visitenkarte aus seiner Sakkotasche, reichte dem jungen Maler eine.

„If you might recall something that might be of help to solve the case, please don’t hesitate to contact me. I wish you and your friend a pleasant evening, please apologize the inconveniences. Sergeant Watson is guiding you to the door.“
 

Jenna unterdrückte ein Husten, nahm den Zettel entgegen, den Shinichi ihr beiläufig reichte und geleitete den Mann kommentarlos hinaus. Heiji hingegen fuhr hoch, als die Tür hinter ihm zugefallen war.
 

„Und das ist Sherlock Holmes?! Kudô, verdammt, ich weiß, man kann ihm nix nachweisen, aber…!“
 

Shinichi hob den Kopf.

„Ich versteh deine Aufregung nicht. Wir haben einen ersten Eindruck und Jenna wird ihn beschatten, heute und morgen. Stand auf dem Zettel den ich ihr reichte.“

Langsam erhob er sich.

„Natürlich ist er unser Mann. Er hatte sich enorm gut im Griff, aber hast du nicht auch bemerkt, wie er unmerklich zusammenzuckte beim Anblick des Fenchels?“

Er zog das Foto unter den anderen hervor.

„Ich hab ihn bewusst nicht danach gefragt und das Foto ganz beiläufig unter die anderen gemischt – aber der Schrecken in seinen Augen, ganz kurz, als ihm klar wurde, dass er ihn liegen hatte lassen und dieses dürre, unscheinbare Ding ihm das Genick hätte brechen können…“

Shinichi lächelte bitter.

„Ausgerechnet eine Fenchelblüte. Stiefmütterchen, Rosmarin, Fenchel. Ich muss wirklich herausfinden, was das mit den Blumen zu bedeuten hat. Nun, aber wie dem auch sei, solange er nicht gesteht, können wir‘s ihm nicht beweisen. Wenn wir ihn hier behalten, was wir vierundzwanzig Stunden lang könnten, unterbrechen wir die Aktion, die da läuft… und wir machen die wahren Täter nur wachsam. Also die übliche Vorgehensweise – beschatten und in flagranti erwischen. Er ist nervös, er ist jung, er ist unerfahren – er wird einen Fehler machen. Und er wird uns geradewegs zu seinen Auftraggebern führen, denn er – er ist nicht unser Mörder. Das siehst du doch genauso?“
 

Heiji starrte ihn an, baff.

„Äh. Ja. Klar.“
 

Er strich sich über die Stirn.

„Also Schluss für heute?“

„Ja.“

Shinichi lächelte, aber diesmal tatsächlich erleichtert.

„Ja, Feierabend.“
 

Als sie hinausgingen, stießen sie fast mit einem etwas untersetzten Detective zusammen – aber dieser Beinahe-Zusammenstoß reichte aus, damit der Mann sich seinen Kaffee, den er auf einem Stapel Akten trug, über selbige und sein Hemd schüttete.

„Oh!“

Shinichi zog ein Päckchen Taschentüchtr aus seiner Sakkotasche, um sie dem übel fluchenden Mann zu geben, der sie ihm aber nur wütend entgegenschleuderte.

„Couldnt’t you watch out?“

Der Detective, der gerade noch damit beschäftigt gewesen war, den Kaffee von seinen Akten tropfen zu lassen, indem er sie mit zwei Fingern an einer Ecke hochhielt, schaute mit zornesrotem Gesicht auf. Ein zynisches Lächeln erblühte auf seinen Lippen, als er Shinichi erblickte, der sich gerade nach dem leeren Kaffeebecher gebückt hatte.

„Ah. It’s you. Sherlock.“
 

Shinichi schaute ihn reserviert an.

„DI Henderson. I am sorry to have caused this… accident. How may I be of help to you?”

“Oh. No need to be of help to me, really. I guess, you have enough to do with your ever so important case, were deep in thought as you pushed open that door, weren’t you?”

Seine Stimme klang unangenehm in den Ohren der beiden jungen Männer. Shinichi sparte sich die Antwort, ließ den leeren Pappbecher in den nächsten Mülleimer fallen.

„How does the investigation develop? I heard, you had a suspect here – but I saw him leave, just now, was he the wrong one?”

Lauerndes Kalkül lag in seiner Stimme. Heiji ließ den Blick zwischen seinem Freund und dem Mann hin und her schweifen. Man musste schon blind sein, um nicht zu erkennen, dass sich diese beiden nicht unbedingt mochten.

„But couldn’t be, possibly, could it? You’d never fail… you for sure let him go for your own reasons… as so many decisions in this house have their own reasons…”

Seine Stimme war zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern herabgesunken, die Feindseligkeit, die in den Worten lag, war jedoch immer noch klar hörbar. Shinichi kniff die Lippen zusammen, ehe er antwortete.
 

„I did tell you once. I do not like repeating myself. I did work very hard for this… you know this better than anyone else. And if you hadn’t been so stubborn…”

„Don’t you dare to call me stubborn.”

Hendersons Stimme klang eisig.

“And yeah, sure, I saw you work ever so hard.”

Henderson schaute ihn nun offen angewidert an.

Five years you worked very hard for this. Didn’t know that five years of your work count twice the work of anyone else, I’m sorry.“

Seine Stimme klang bissig. Shinichi schaute ihn reserviert an.

„I have no interest to discuss this topic with you. If you have something to complain about, talk to the AC and let him conduct a disciplinary research. But unless you have something to blame on my work, I’d advise you to leave me alone, or I’ll be the one who’ll make the AC sensitive to your behaviour. Have a nice day, DI Henderson.”
 

Damit drehte er sich um und wollte gehen, als ihm die gehässige Stimme des Mannes zurückhielt.
 

„Do not believe that everyone in here lets himself be blinded by your appearance and your polite manners… I see the wolf hidden behind that sheep’s fur, SI Kudô.”
 

Shinichi drehte sich um.
 

“If it is this, what you want to believe, do so.”
 

Damit entfernte er sich, Heiji im Schlepp, zügig aus dem Dunstkreis von DI Henderson, im wahrsten Sinne des Wortes.

Heiji schaute ihn angewidert an.

„Was’n unangenehmer Zeitgenosse.“

„Das kannst du laut sagen.“

„Lass mich rat’n.“

Heiji grinste schief.

„Er wär als nächster mit ner Beförderung dran gewesen?“

Shinichi seufzte laut, strich sich über die Haare.

„Richtig. Und noch dazu war er mein Partner, damals.“

Der Osakaner starrte ihn an, ungläubig.

„Muss ja schrecklich…“

„Nein, eigentlich nicht.“

Shinichi seufzte leise.

„Eigentlich kamen wir ganz gut klar, bis zu diesem Fall. Er war einfach zu spektakulär, und Henderson selber zu stur, um einige unglaubliche Dinge zu glauben und nachzuverfolgen, war zu stolz, um den Rat eines wesentlich jüngeren Sergeants anzunehmen. Das hat ihm das Genick gebrochen, in beruflicher Hinsicht, ich hab nämlich allein weiter ermittelt, was die Lösung des Falls mit sich brachte, und damit kam die Beförderung für mich, nicht für ihn, was unser Verhältnis einigermaßen abgekühlt hat. Abgesehen davon, ich hab wirklich hart gearbeitet, und ich will mich auch nicht selber loben…“

Ein kurzes, selbstzufriedenes Grinsen huschte über seine Lippen.

„… wir beide wissen, dass ich nen hervorragenden Job mach.“
 

Heiji lachte kurz.
 

„Na, dann hoff ich, dass dem so bleibt. Wir sehn uns morgen.“

Shinichi nickte nur, sah ihn die Lobby verlassen, ehe er sich selber auf den Weg zur Parkgarage machte. Seine Miene war nachdenklich; das kleine Intermezzo mit Henderson ließ ihn bei weitem nicht so kalt, wie er gerne wollte.

Auf diese Art von Schwierigkeiten konnte er eigentlich generell gut verzichten – und zu diesem Zeitpunkt gerade ganz besonders.
 

Er seufzte leise – dann schob er die Gedanken beiseite.

Gähnend schloss er sein Auto auf, stieg ein, und machte sich auf den Heimweg. Es wurde Zeit, dass dieser Tag sein Ende fand.

Kapitel 21: Tischgespräche

KAPITEL 21 – TISCHGESPRÄCHE
 


 

Müde schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf, schälte sich schon beim Eintreten aus seinem Sakko.

Die Tage schienen neuerdings immer länger zu werden, die Nächte von Tag zu Tag kürzer. Tatsache war, die Ereignisse heute forderten nun vehement ihren Tribut – und so sehr ihm Jenna leid tat, die sich nun ihren Abend mit der Observation ihres Verdächtigen um die Ohren schlagen musste, so dankbar war er doch dafür, dass er derartige Polizeiarbeit nun delegieren konnte, wenn er es wollte.

Und heute wollte er.
 

Definitiv.
 

Shinichi drückte die Tür ins Schloss, indem er sich dagegen lehnte, blieb dann einfach so stehen, das solide Holz in seinem Rücken, atmete leise ins Dämmerlicht seiner Wohnung, kaum erhellt von den Lichtern Londons, die durch das Fenster flimmerten.

Langsam schloss er die Augen, holte tief Luft, atmete kontrolliert wieder aus.

Das letzte Mal, dass ihn sein Leben so viel Kraft gekostet hatte, war vor fünf Jahren gewesen; damals, als er beschlossen hatte – beschließen hatte müssen – dass er den Schlusspunkt nun setzen musste.
 


 

Conan schluckte, schaute den Professor stur an. Vor ihnen flimmerte das Filmchen über den Videokanal.

„Bitte, liebe Dame, melden Sie sich bei uns! Wir würden Ihnen gerne danken…“
 

Der Chor der Detective Boys hallte ihnen wie ein Richterspruch in den Ohren.
 

„Sie wissen, wir müssen handeln. Der Bell Tree Express war nur der Anfang. Vermouth weiß, dass Ai Sherry ist, und ganz offensichtlich will sie sich nicht mehr an unsere Abmachung halten, sie zufrieden zu lassen.“

Agasa wich seinem Blick aus, schüttelte stur den Kopf.

„Ich…“, fing er an.

„Ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist, jetzt…

Ich meine, der Bell Tree Express – das lief doch gut! Du konntest sie abschütteln…“

„Aber nicht dauerhaft! Ich trau mich wetten, dass sie uns… Ai… schon wieder auf den Fersen sind.“

Conans Stimme war schärfer gewesen als beabsichtigt. Agasa schaute ihn erschüttert an, als der kleine Junge nachdenklich den Kopf schüttelte, dann reuevoll aufblickte.

„Es geht nicht mehr nur um sie. Ich häng da mit drin. Und mit mir…“

Die Augenbrauen des Forschers wanderten nach oben, verliehen seinem ohnehin alten, faltigen Gesicht durch noch mehr und noch tiefere Falten einen sehr besorgten Ausdruck.

„Gibt es da etwas, dass du mir sagen willst, Shinichi –…“

Der Angesprochene schluckte hart, rieb sich über die Augen, sah mit einem Mal unendlich müde aus. Dann zog er einen Brief, vielmehr eine kleine Karte, hervor.
 

„Von Vermouth.“

Der alte Mann zog die Zeitung zu sich, las leise vor.
 

Jin-roo
 

Leuchtend hell am nächtlichen Himmel

Gefahr: Flüchtig und schwarz wie ein Schatten

Werwolf kommt und holt sie.
 

Get ready, silver bullet.
 

„Werwolf.“

Agasa wisperte den Namen fragend. Shinichi stand neben ihm, hatte seine Arme verschränkt, warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Der Professor wandte sich ihm zu, in seinem Gesicht stand ein einziges, großes Fragezeichen. Ihm gefiel immer weniger, in was sich sein Nachbar da verstrickt hatte.
 

„Weißt du, was sie damit meinen? Mit „Werwolf“? Und silver bullet? Wen…“

Der Grundschüler sah ihn unbehaglich an.

„Der Schreiber meint wohl die Organisation… ihre zwei Seiten. Auf der einen Seite die Facette, die sich unauffällig in die Gesellschaft eingliedert, die funktionierenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, oft mit hohen Ämtern und Anstellungen, mit gutem Ansehen… und des Nachts werden sie zur Bestie. Töten, morden, erpressen. Sie… warten damit nur nicht immer auf den Vollmond, aber halten sich ähnlich unzerstörbar.“

Conan schaute ihn gedankenverloren an.
 

„Und was bedeutet das jetzt konkret? Und warum beziehst du es auf dich? Das kann irgendwer geschrieben haben, ich meine, Halloween ist nicht mehr weit, wir haben schon fast Ende Oktober…“

Agasas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Conan war vom Stuhl gerutscht, hatte seine beiden Fäuste tief in seinen Taschen vergraben.

„Das einzige, was einen Werwolf töten kann ist ein Treffer mit einer silbernen Kugel.“

Der kleine Junge hob den Kopf.

„Akai meinte, als ich mit ihm darüber gesprochen habe, Vermouth habe einst ihn so genannt. Er hält es aber für durchaus möglich, nach den letzten Ereignissen, dass sie sich eine Alternative gesucht hat.“

Der Professor zog die Augenbrauen hoch.

„Dich? Bei allem Respekt, aber Akai war FBI-Agent – warum sollte sie sich einen zum Grundschüler mutierten Oberschüler…“

Der kleine Junge erwiderte nichts darauf, sein Blick schweifte gedankenverloren durch die sauber geputzte Küche des Professors.

„Shinichi!“

Der scharfe Tonfall des Professors riss ihn wieder zurück in die Gegenwart.

„Selbst wenn du Recht hast - was willst du denn machen?“

„Ihre Aufmerksamkeit erreichen.“, antwortete der kleine Junge knapp, wandte sich ab.

Conan stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, schluckte hart.

„Seien wir ehrlich, die haben nie nach mir gesucht, so wirklich, bis auf die Überprüfung, ob ich tot bin. Würde ich den Kopf fein unten halten, könnte ich vielleicht sogar ein sorgloses Leben als Grundschüler führen.“

Er schaute auf, musterte den Professor mit ernstem Blick, den die Brille seines Vaters noch verstärkte.

„Sie sind hinter Sherry her. Hinter Ai. Shiho. Wer auch immer – sie ist es, die sie wollen. Ich habe keine Ahnung, warum – allen voran wohl, weil sie eine Verräterin ist, vielleicht brauchen sie sie auch noch für ihre Forschung, was weiß ich, aber Vermouth und Gin sind hinter ihr her wie die Teufel hinter der armen Seele; die Motive des Bosses in der Sache kenne ich nicht. Aber daneben sind sie hinter dem Detektiv her, der ihr geholfen hat – den sie in Kogorô vermuteten, ein Gedanke, den sie mittlerweile gottseidank wieder fallen gelassen haben.“

Er merkte, wie ihm zunehmend heiß geworden war.

„Nichtsdestotrotz wissen sie, dass es da jemanden gibt. Sie wissen nur nicht, wer.“

Er hob den Blick, schaute seinen alten Freund zögernd an.

„Leuchtend hell am nächtlichen Himmel…“, wiederholte der kleine Detektiv mit ernster Stimme.

„Sie meinen damit eine Vollmondnacht. Die ist heute.“

Agasa merkte, wie seine Knie nachgaben.

„Gegensatz: flüchtig und schwarz wie ein Schatten. Damit meinen Sie sich selbst. Ich tippe auf Gin oder Bourbon.“

Der Grundschüler rieb sich über die Augen.

„Er kommt und holt sie, dürfte klar sein. Sie kommen hierher. Exakt hierher. Sobald der Mond aufgegangen ist. Und eigentlich sind sie nicht hinter mir her, sondern hinter Ai. Allerdings… beobachte ich schon eine Weile ihren Briefkasten, genauer gesagt, seit der Sache im Wald, weil ich auf sowas… schon gewartet habe.“

Er schluckte.

„Sie war im Briefkasten der Moris und schreibt an Silver bullet, damit ist es klar… sie will mich warnen. Auch wenn sie Sherry verabscheut, will sie wohl doch nicht, dass es mich unvorbereitet trifft, weil sie weiß, dass ich versuchen würde, sie zu schützen.“
 

Agasa schaute ihn an, seine Hände zitterten.

„Das heißt, wir müssen hier alle schnellstens weg.“

Der kleine Junge schüttelte zu seinem Entsetzen den Kopf.
 

„Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich, wie eben angedeutet, schon vor einer Weile eine Exit-Strategie vorbereitet, zusammen mit Agent Akai. Ich hätte nur nicht gedacht, dass sie so bald, so plötzlich in Kraft treten muss.“
 

Shinichi verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

„Ich werde denen jetzt reinen Wein einschenken, wer dieser Detektiv ist. Ich werde ihnen vor Augen führen, wer ihnen die letzten Jahre immer mal wieder die Suppe versalzen hat. Und ich werde ihnen zeigen, wie das ging. Ihnen – und einigen anderen. Dafür brauche ich allerdings ihre Hilfe, Professor, dieses eine, letzte Teilchen fehlt nämlich noch in meinem Plan. Und dann verschwinden Sie. Mit Ai. Alle anderen werden Tokio ebenfalls verlassen.“
 

Conan seufzte. Der Professor merkte, wie ihm ein Schauer über den Rücken rann.

„Und du?“

Der Grundschüler blickte auf.

„Und ich? Was soll mit mir sein? Es geht nur darum, Ai…“

„Halt mich nicht zum Narren, Shinichi!“

Der Professor herrschte ihn ungehalten an. Der kleine Junge starrte ihn an, war einen Schritt zurückgewichen, erschrocken – er hatte den alten Mann so noch nie erlebt.

„Du wirst mir jetzt sofort sagen…“
 

Er hielt inne, als er sah, wie Conan den Blick abwandte, auf seiner Lippe kaute.

„Ich werde das Gegengift nehmen.“, murmelte er leise.

„Und dann eine Nachricht schicken, in der ich sie zu Ihrem Haus bestelle. Ich will nicht irgendwo aufgegabelt werden, ich wills zumindest einigermaßen unter Kontrolle haben…“

Agasa meinte, der Boden täte sich unter ihm auf.

„Bitte, WAS?! Hast du den Verstand verloren? Und wie kommst du darauf, dass du auch nur irgendwie Kontrolle auf irgendwas in dieser Sache ausüben kannst…?!“
 

„Ich weiß.“

Conan sah ihn an, in seinen Augen stand bitterer Ernst zu lesen.

„Ich weiß. Aber wir können so nicht weitermachen. Dieses Spiel muss ein Ende haben.“

„Die werden dich umbringen.“
 

Shinichi lächelte, schüttelte den Kopf.

„Möglich. Aber zumindest nicht sofort, eben weil ich mich interessant mache, mich als der oute, der ich war. Und mein Plan ist, zuerst einmal ins Hauptquartier zu kommen, und dafür habe ich vorhin schon mit dem FBI gesprochen, mit… Okiya, um genauer zu sein.“

Er seufzte, lächelte bitter.

„Ich denke, Sie ahnen, dass er nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Subaru Okiya ist in Wirklichkeit Agent Shuichi Akai vom FBI. Da sie wegen Ai kommen, und nur ich weiß, wo Ai ist, werden sie mich nicht gleich umbringen – nicht, ehe sie nicht die Chance hatten, mich zu verhören. Abgesehen davon, werde ich ihnen schon noch ein paar Brocken hinwerfen, die sie interessieren dürften.“

„Und wie gedenkst du, da wieder rauszukommen? Das Hauptquartier…“

„Ich werde einen gut versteckten Peilsender tragen.“

Er tippte auf sein Ohr.

„Ein kleines Pflaster. Man bringt es relativ weit innen an, es ist von außen nicht zu sehen. Und solange es nicht nass wird…“

„Dennoch… es gefällt mir nicht… und ich verstehe nicht, warum Ai…“

„Weil sie sich sofort ohne Wenn und Aber ausliefern würde.“

Die Stimme des Grundschülers klang bitterernst.

„Um uns zu retten würde sie sofort in den Tod gehen, aber damit ist keinem geholfen. Sie würde sinnlos sterben, weil die Organisation damit nicht vernichtet wäre… und solange das nicht der Fall ist, ist keiner von uns in Sicherheit. Deswegen. Und Sie dürfen ihr nichts sagen, hören Sie?“

„Sie wird es sich denken können, Shinichi, sie ist nicht…“

„Blöd. Das weiß ich. Deshalb müssen Sie auch gut auf sie aufpassen und sie nicht aus den Augen lassen.“
 

Sein Teint war von rot nach weiß gewechselt.

„Aber bevor ich mich stelle, ich sie kontaktiere, will ich Beweise sammeln, die zur selben Zeit an die Polizei und ans FBI gehen. Ich habe bereits alle meine Notizen digitalisiert, alle Fälle, in denen sie verwickelt waren, gesammelt, es ist alles hier drauf und kann als Anhang einer Mail verschickt werden, was ich… jetzt dann gleich tun werde, in den nächsten Stunden. Ich will Meguré sagen, was passiert ist, aber damit er und die anderen mir alles und ohne Fragen in letzter Konsequenz glauben, muss ich… noch den Beweis für eine einzige Sache machen…“
 

Agasa atmete stockend aus.

„Du willst es dokumentieren?“

„Eine Filmaufnahme, ja.“

Conan nickte stockend.

„Fotos würden es nicht annähernd so unwiderlegbar beweisen wie ein Film. Damit… ich allerdings immer im Bild bleibe, bräuchte ich…“
 

Er hatte es nicht geschafft, dem Professor in die Augen zu schauen.

Stille hatte geherrscht, wahrscheinlich nur ein paar Sekunden, dennoch kam es dem kleinen Jungen, der immer noch die Fugen des Bodens studierte, wie eine Ewigkeit vor.

„Shinichi…“
 

Conan sah gequält auf, als er die wackelige Stimme des Professors hörte.

„Glauben Sie mir, ich wollte nie, dass das jemand sieht! Aber meine Mutter kann ich das nicht machen lassen, die… kommt um dabei. Meinen Vater will ich auch nicht dabeihaben…“

Er schluckte hart.

„Und ich muss das aber abschicken an die Organisation, bevor sie hierherkommen, ich muss mich unbedingt interessanter machen, als ich es jetzt bin, sonst bin ich tot.“

Unwirsch rammte er seine Hände in die Hosentaschen.

„Ich muss der sein, der zumindest ein bisschen an der Schraube drehen kann, Professor! Und ohne dieses Druckmittel kann ich es nicht. Ich muss denen beweisen, dass ich es bin. Dass Gin mich nicht erledigt hat, dass ich verdammt viel weiß, dass ich Fakten kenne, die ihnen gefährlich werden können, dass… ich die Adresse des Bosses weitergeben kann, wenn ich will. Und Meguré und die anderen müssen den Ernst der Lage verstehen.“

„Reicht es denn nicht, wenn ich es ihnen sage, Shinichi…?“

Agasa schaute ihn immer noch bekümmert an.

„Nein.“

Er schluckte.

„Denn wenn ich nicht mehr wieder komme, muss bewiesen sein, wohin Conan Edogawa UND Shinichi Kudô verschwunden sind.“

Die Augen des Professors wurden groß, als ihm aufging, bis in welche Konsequenzen sein junger Nachbar dieses Szenario durchdacht hatte.

„Shinichi, das ist Selbstmord, was du da planst. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich dir dabei helfe. Und ich werde mich von dir auch nicht wegschicken lassen, na hör mal…“

Conan schaute auf, lächelte bitter. Dann nahm er seine Brille ab, ganz langsam, klappte die Bügel zusammen und legte sie auf den Tisch zwischen ihnen.

„Ich verlange nichts von Ihnen, ich bitte Sie um einen Gefallen, ich dachte, ich hätte mich unmissverständlich ausgedrückt…“

Er sah auf, blickte seinem alten Freund ins Gesicht.

„Außerdem dachte ich, Ihnen wäre ihre Sicherheit genauso wichtig wie mir.“

Agasa schaute ihn ertappt an. Der kleine Junge hatte seine Fäuste tief in seine Hosentaschen vergraben.

„Ai ist hier einfach nicht sicher. Und ich will nicht, dass sie eine Dummheit macht, ich habe es Ihnen doch gerade eben schon erklärt. Sie… tendiert dazu, Dummheiten zu machen, wenn es um die Organisation geht…“

Sein Blick war auf Wanderschaft durch den Raum gegangen, an einer kleinen Strickjacke, die über dem Stuhl hing, hängengeblieben. Agasas Blick folgte ihm.
 

>Die Dummheiten macht sie nicht wegen der Organisation, Shinichi.

Sie macht sie, wenn du involviert bist.

Willst du das nicht sehen oder siehst du es wirklich nicht?<
 

„Also helfen Sie mir? Professor?“

Die drängende, hohe Stimme des Grundschülers riss ihn aus seiner Schockstarre.

Dann nickte er willenlos, ließ sich von dem Grundschüler mit in sein eigenes Badezimmer führen.
 

Eine halbe Stunde später saß er auf seinem Sofa, eine Tasse Tee in seinen eisigen Händen. Shinichi saß vor ihm auf dem niedrigen Sofatisch, schaute ihn durch und durch schuldig und besorgt an. Agasa lächelte traurig, nahm einen großen Schluck seines Getränks.
 

„Großer Gott.“

Er schluckte trocken, trotz des Tees.

„Wir sollte nicht darüber reden.“, murmelte Shinichi leise, wischte sich mit seinem Handrücken über die Stirn. Er sah immer noch erschöpft aus, bemerkte der Professor, musterte ihn besorgt.

Klar, er hatte mitgekriegt, dass so eine Verwandlung kein Spaziergang war - was allerdings Shinichi tatsächlich durchmachte, war ihm bis gerade eben – so schien es ihm zumindest jetzt – völlig vorenthalten gewesen. Er kam sich auf einmal schrecklich ahnungslos vor.

Shinichis leises Seufzen riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ist es in Ordnung, wenn ich die… Sache jetzt schnell erledige? Viel Zeit bleibt ohnehin nicht mehr, bis meine Mutter kommt um mit Ihnen und Ai im Privatjet des Verlegers meines Vaters nach Hokkaido zu fliegen.“

Agasa lächelte müde.

„Nach Hokkaido? Wo schickst du mich denn hin?“

Shinichi grinste müde.

„Nach Sapporo auf die Spielwarenmesse. Dürfte inspirierend sein für Sie, Professor.“
 

Damit ging er – und Hiroshi Agasa blieb nichts anderes übrig, als ihm hinterher zu blicken.
 

>Wenn das mal nicht schief geht, Shinichi.

Wenn das mal nicht schief geht…<
 


 

Kurze Zeit später öffnete er die Tür, vor der seine Mutter und sein Vater bereits standen, winkte dem Professor zu, der die beiden Koffer packte und unwillig zum Auto schritt, wo Yukiko ihm mit den Koffern half. Ai würden sie von Ayumi abholen, wo sie zum Spielen eingeladen worden war.

Mit etwas Glück schöpfte sie keinen Verdacht… zumindest keinen, den sie beweisen konnte.

Yusaku Kudô warf seinem Sohn einen nachdenklichen Blick zu.

„Du weißt, was du da tust, hoffe ich…?“
 

Shinichi seufzte laut, sah nachdenklicher aus, als Yusaku ihn je gesehen hatte.

„Ich weiß, was ich tue, ja. Aber ich kann nicht vorhersehen, was sie tun, und das ist es, was mir ein wenig Angst macht.“

Er grinste schief. Yusaku rann ein Schauer über den Rücken.

„Du kannst es noch abblasen, Shinichi. Komm einfach mit, sei nicht hier, wenn sie…“

Er sah das Kopfschütteln seines Sohns, bevor er tatsächlich damit anfing.

„Und was wäre damit gewonnen, Vater? Ein weiterer Aufschub, sonst nichts. Das Unvermeidliche kommt, warum also nicht heute?“
 

Dann griff er in die Tasche seiner Jacke, fischte einen Umschlag heraus.

„Gibst du den Ran, bitte, falls das hier übel ausgeht?“

Yusakus Gesichtszüge verzogen sich kurz vor Kummer.

„Shinichi…“

Sein Sohn schüttelte den Kopf.

„Nein, hör zu. Ich hab nicht vor, draufzugehen. Ich mach das nicht unüberlegt. Aber ich kann nicht alles planen, also würdest du bitte…?“

Wortlos nahm der Schriftsteller den Brief entgegen, ließ ihn in seiner Sakkotasche verschwinden. Er verkniff es sich, ihm zum Abschied eine Hand auf die Schulter zu legen oder gar zu umarmen – zu sehr fühlte sich das an, als würde er ein böses Omen heraufbeschwören.

Und so nickte er ihm nur noch einmal knapp zu, ehe er ging.
 


 

Wie erwartet waren sie pünktlich gekommen.

Shinichi hatte ihm die Tür geöffnet, sah ihn abwartend an.

Bourbon musterte ihn sichtlich interessiert, trat einmal um ihn herum – Shinichi unterdrückte den Reflex, sich mit ihm umzudrehen, um ihn nicht aus den Augen zu lassen, spürte stattdessen ein unangenehmes Prickeln im Nacken, als der Mann, unsichtbar für ihn, hinter ihm stand.

„Sieh an. Der kleine Conan. Ich muss gestehen, der Boss war ziemlich beeindruckt von deiner kleinen Show. Ich auch, muss ich zugeben. Auch wenn es mich nicht ganz so überrascht wie ihn.“

Shinichi grinste schief.

„Das war der Plan.“

Er blickte dem Mann stur ins Gesicht. Bourbon stellte sich vor ihm auf, die Hände locker in seinen Taschen vergraben. Klar, dachte sich Shinichi, er konnte auch gelassen sein – draußen vor der Tür standen seine Begleiter in Form von zwei Hünen im Format Vodkas und hörten wohl alles, was hier drin gesprochen wurde.

„Nun, zumindest soweit ist er aufgegangen. Er ist aufmerksam geworden, und auch mit Gin nicht mehr ganz so zufrieden wie bisher – dich zurückzulassen ohne sich zu vergewissern, ob er dich wirklich umgebracht hatte, war fahrlässig. Allerdings lässt er fragen, warum er sich die Mühe machen sollte und das Risiko eingehen, dich ins Hauptquartier zu lassen – noch dazu, wo du, wie wir dich kennen, bestimmt nicht planlos an diese Sache gegangen bist. Wir wissen mittlerweile um diese unerfreuliche Nebenwirkung. Wir wussten nur nicht, dass jemand außer Sherry sie an der eigenen Haut erfahren durfte.“

Er machte eine bezeichnende Geste an Shinichi entlang.

„Und die Tatsache, dass du so viel weißt, und uns gleichzeitig so oft genervt hast, spricht nicht dafür, dich mitzunehmen. Lebend zumindest. Du spielst mit hohem Risiko.“

Damit zog er eine Glock unter seinem Mantel hervor, entsicherte sie und richtete sie auf den Oberschüler vor sich. Shinichi schaute ihn gelassen an, ignorierte die Pistolenmündung, die sich langsam unter seinem Kinn gegen seinen Kehlkopf presste.

„Weil ich weiß, wo sie ist. Und versuch nicht, mir weißzumachen, dass ihr das nicht wissen wollt.“

„Ah.“

Bourbon hob theatralisch die Hand, tat bescheiden, winkte ab.

„Schlauer Detektiv. Du hast uns durchschaut…“

Er lächelte dünn.

„Und, verrätst du’s uns?“
 

Shinichi lächelte, versuchte, so viel Gewissheit wie möglich in seine Stimme zu legen.

„Keinesfalls. Zumindest nicht dir, Toru. Oder soll ich dich Bourbon nennen? Ich richte mich ganz nach dir. Oder ist dir…“

Lässig, zumindest so lässig, wie es seine Nervosität erlaubte, die er gerade so gekonnt zu überspielen versuchte, hob er die Hand und schob die Pistole beiseite, beugte sich nach vorn, schaute ihn an, hatte seine Stimme auf ein Flüstern gesenkt.

„… Rei Furuya lieber…?“

Bourbon hob eine Augenbraue hoch.

„Sieh an. Du hast deine Hausaufgaben aber sehr gründlich gemacht…?“

Bourbons Stimme war kaum lauter als seine selbst – und sie beide wussten, warum sie flüsterten.

„Hast du etwas anderes erwartet.“

Shinichi schluckte.

„Was meinst du, warum hoffte ich, dass du es sein würdest, der mich kommen holt? Du bist der einzige, bei dem ich weiß, was ich tun muss, um wenigstens den Hauch einer Chance zu haben, da drinnen länger als fünf Minuten zu überleben – und andererseits sicher zu gehen, dass er auch nur mich mitnimmt, Rei. Ich weiß von dir, ich weiß von der Polizei, und ich bin bereit, alles gegen dich zu verwenden, wenn du…!“

Bourbon bedachte ihn mit starrem Blick. Shinichi wusste, dass es in ihm arbeitete.

„Du hast keine Ahnung…“

„Oh doch.“

Shinichis Lippen kräuselten sich.

„Oh doch, die hab ich. Also, wie sieht’s aus – hilfst du mir? Wirst du deinem Ruf gerecht…?“

„Du bringst mich in Teufels Küche…“

Bourbon wischte sich über die Stirn, konnte kaum glauben, wie sich das Blatt so schnell hatte wenden können.

„Bist du da nicht schon längst…?“
 

Der Mann in schwarz atmete aus, langsam. Ein bitteres Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschlichen, als er den Kopf schüttelte.

„Ganz wie du willst, Shinichi. Oder bist du mittlerweile eher den Namen Conan gewöhnt?“

Seine Stimme wurde wieder lauter, als er draußen leises Rascheln vernahm. Offenbar wurden seine Mitstreiter unruhig. Ihre Ahnung täuschte sie nicht – die Tür ging auf, und einer steckte seinen Kopf herein.

„Hey. Seit wann brauchst du so lang um einen Teenie kaltzustellen, Bourbon?“

Bourbon sparte es sich, sich umzudrehen, lächelte zynisch, während er Shinichi nicht aus den Augen ließ.

„Wir sind gleich soweit. Kommt doch ruhig rein.“

Shinichis Lächeln blieb unverrückbar auf seinen Lippen.

„Ich will den Boss sehen.“

„Hah.“

Ein feines Lächeln kräuselte nun auch Amuros Lippen.

„Keiner sieht den Boss. Aber gut. Lassen wir die Spielchen. Glaubst du, ich weiß nicht, woher der Hase läuft? Man hat dich verwanzt, und du sollst sie jetzt ins Versteck führen. Das FBI.“

Shinichi verschränkte die Arme vor der Brust.

„Natürlich ist das der Plan, was dachten Sie? Aber bitte, Sie sollen nicht die Katze im Sack kaufen - möchten Sie eine Leibesvisitation durchführen?“

Bourbon grinste.

„Danke für das Angebot, aber ich denke, allzu schwer sollte es nicht sein, auch ohne Suche herauszufinden, wo das Ding ist.“

Er ließ die Hand mit der Waffe sinken.

„Sie halten sich immer für besonders schlau – in der Regel verstecken sie sie an wenig… exponierten Stellen. Niemals in der Kleidung, weil der Sender da nicht unentdeckt bleibt.“

Er musterte ihn eingehend, suchte ganz offensichtlich nach Knöpfen oder ähnliche Objekte, die an seinen Klamotten angebracht waren, griff hie und da zu, drückte den Saum, untersuchte die Schuhe, offenbar erfolglos.

„Wir haben das Zeug schon in falschen Zähnen gefunden…“
 

Damit gab er Shinichi einen Stoß, der ihn gegen die Wand taumeln ließ, presste ihn mit dem Unterarm gegen die Mauer, drückte ihm die Luft ab.

„Nase ist zu riskant, einmal heftig niesen und das Ding ist raus.“

Er kniff die Augen zusammen.

„Falsche Zähne scheiden bei dir wohl auch aus.“

Shinichi schluckte.

„Wie sieht’s mit nem extravaganten Hörgerät aus?“

Damit drehte er seinen Kopf zur Seite, presste ihn flach gegen die Mauer.

„Volltreffer.“

Er grinste kurz – dann zog er den Oberschüler unter den Blicken seiner Mitstreiter an den Haaren zum Waschbecken in der Küche, drückte seinen Kopf unter den Hahn und drehte das Wasser auf.

Shinichi keuchte auf, fühlte kaltes Wasser in sein Ohr, seine Nase laufen, hustete und keuchte, stemmte sich gegen den Beckenrand, als Bourbon ihn auch schon losließ, ihn zufrieden beobachtete. Der Oberschülerdetektiv hielt sich das Ohr, in dem es unangenehm knisterte, schüttelte den Kopf, um das Wasser herauszubekommen, hustete.
 

„Fein. So darfst du mit. Allerdings…“

Ohne Vorwarnung hob er seine Waffe, drehte sie um, so dass er den Lauf festhielt, und schlug sie mit einer ausholenden Geste gegen Shinichis Kopf, der zu spät merkte, was passierte.

Er ging zu Boden, blieb bewusstlos liegen. Bourbon schenkte ihm nur einen kurzen, nachdenklichen Blick, griff sich dann in seine Manteltasche und fischte ein paar Kabelbinder heraus, fesselte ihm damit die Hände auf den Rücken. Dann winkte seine Begleiter heran, die den Bewusstlosen zum Auto trugen und in den Kofferraum warfen.
 

Bourbon ging gelassen hinterher, schloss die Tür hinter sich, blieb unter der Straßenlaterne stehen und drehte sich dann um zum Haus der Kudôs. Er hob die Hand, zeigte den Zeigefinger hoch.
 

>Eins zu null, Shuichi.<
 

Damit stieg er ein und fuhr los.
 

Shuichi Akai stand an einem Fenster im ersten Stock des Hauses der Kudôs, hatte den Vorgang stumm beobachtet. Neben ihm stand sein Vater. Er war nur kurz zusammengezuckt, als man seinen Sohn rausgetragen und in den Kofferraum geworfen hatte wie einen Sack Müll.

„Ich hoffe…“, begann er mit leiser Stimme.

„… er weiß, was er tut.“

Akai schaute dem Auto nachdenklich hinterher.

„Es läuft alles nach Plan.“
 

>Noch.<
 


 

Unwillig strich er sich über die Augen.

So präsent wie momentan waren seine Erinnerungen an diese Zeit vor fünf Jahren schon lange nicht mehr gewesen – und eigentlich wollte er sie auch gar nicht so viel Platz in seinem Leben einnehmen lassen.

Es lenkte ihn nur ab, zog Energie und Aufmerksamkeit ab, die er doch eigentlich für ganz andere Dinge brauchte.
 

Wahrscheinlich liegt es einfach daran, dass sie alle da sind.

Heiji.

Kogorô.
 

Ran.
 

Allen voran Ran.
 

Noch dazu der Stress in der Arbeit, dieser Fall, das alles…

So müde wie derzeit war ich lange nicht.

Einfach nur müde, ich könnt‘ im Stehen schlafen, nicht auszuhalten…
 

Alles in ihm sehnte sich danach, einfach in seinen Pyjama zu schlüpfen, unter seine Bettdecke zu kriechen und einem möglichst traumlosen und tiefen Schlaf zu erliegen, der ihn alles vergessen ließ, was ihn momentan beschäftigte – für ein paar Stunden, zumindest. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es dafür eigentlich noch zu früh war – gerade mal halb acht.

Gewohnheitsmäßig warf er das Sakko geschickt an den Garderobenhaken, wo es etwas schief hängen blieb. Gerade als er die Schuhe ausziehen wollte, fühlte er, wie ihm ein Fuß etwas wegglitt. Er bückte sich, hob erstaunt einen Umschlag auf – und ließ ihn fast wieder fallen, als er bemerkte, welche Farbe er trug.
 

Selbst im Dämmerlicht des Flurs konnte er sie sehen – es war unmissverständlich.

Der Umschlag war schwarz.
 

Schwarz.
 

Sein Mund wurde trocken, schlagartig, seine Finger fingen an zu zittern.
 

Schwarz.
 

Eine seltsame, fast erwartungsvolle Gespanntheit ergriff ihn. Angst belauerte ihn, aber dennoch, es war nicht nur das. Es war wie vor fünf Jahren, als er Sharons Karte bekommen hatte – endlich hatte er das Gefühl, als fielen die Fesseln von ihm ab. Endlich konnte er seine Hände wieder bewegen, endlich lüftete sich diese Decke, die diesen Bereich seines Gehirns durch massive Schwärze lähmte, endlich…
 

Endlich bekam er vielleicht seine Chance, dem ein für alle Mal ein Ende zu setzen.

Endlich konnte er handeln, sich zur Wehr setzen.
 

Ganz offensichtlich hatte er sich nicht getäuscht. Sie waren wieder im Spiel.
 

Keinesfalls wollte er so hilflos sein, wie das letzte Mal, ihnen einfach buchstäblich ins Messer laufen, zum zweiten Mal. Tastend griff er hinter sich an die Wand, drückte mit seinen Fingern den Lichtschalter um, und mit einem Mal wurde es noch viel realer.

Ein schwarzer Umschlag.

Gerade, als er das Kuvert mit zunehmend klamm gewordenen Fingern öffnen wollte, ließ ihn die Türklingel zusammenfahren, bescherte ihm einen rasenden Puls.
 

Wer zum Henker…!
 

Er schluckte, versuchte, sich zu beruhigen. Hastig steckte der den Umschlag in die Innentasche des am Haken hängenden Sakkos, öffnete die Tür, trat wortlos zurück, als er erkannte, war davor stand.
 

Yusaku Kudô schaute ihn verblüfft an, als er eintrat.

„Wie? Kein Gemotze diesmal?“

„Brächte es denn etwas?“

Shinichi zog eine Augenbraue hoch, merkte, wie sein Herz bis zum Hals schlug. Auf keinen Fall durfte sein Vater oder gar seine Mutter von diesem Umschlag erfahren.

Genau betrachtet wusste er ja auch noch gar nicht, was sich überhaupt darin befand.

Vielleicht war es auch etwas ganz anderes.
 

Vielleicht…

Ach Quatsch, Kudô, wem willst du was vormachen.

Ein Liebesbrief wird das kaum sein.

Eine Einladung zum Geburtstag eher auch nicht.
 

Eher eine zu einer Beerdigung.

Deiner, wahrscheinlich.
 

Ein zynisches Grinsen huschte ihm für die Dauer eines Wimpernschlags über die Lippen. Dann riss ihn sein Vater aus den Gedanken, in die er kurzzeitig abgedriftet war. Yusaku lächelte schmal.

„Nein. Deine Mutter schickt mich, sie wartet unten im Taxi. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, heute mit ihren Männern, also per Definition dir und mir, Essen gehen zu wollen, und du kennst sie, wenn sich deine Mutter was in ihren hübschen Kopf setzt, dann muss sie das haben, und wenn sie dafür mit selbigem durch eine Wand müsste…“

„Das ist mir bekannt, ja.“

Shinichi verschränkte die Arme vor der Brust.

„Und ich nehme an, du sollst…“

„Ich soll ja nicht ohne dich kommen, sonst schickt sie mich in die Hölle.“

Shinichi lachte leise. Dann zuckte er mit den Achseln, griff nach seinem Sakko, schlüpfte wieder hinein und angelte nach dem Wohnungsschlüssel.

„Dann sollten wir sie nicht warten lassen. Denn seien wir ehrlich – derjenige, den sie dir hinterherschickt, werde ich sein. Abgesehen davon…“
 

Er schluckte hart, schaute dann seinem Vater mit einer Ernsthaftigkeit ins Gesicht, die Yusaku den Mund trocken werden ließ.

„Ich verdanke euch mehr als nur mein Leben. Da sollte es eigentlich drin sein, mit euch mal Essen zu gehen, auch wenn mir, offen gestanden, heute nicht danach ist. Es war… ein ziemlich langer Tag nach einer recht unruhigen Nacht, wie du dir denken kannst. Allerdings, gerade weil ich euch fünf Jahre lang jedes Mal abgewimmelt habe… bin ich euch das definitiv mal schuldig, also warum nicht heute. Mich wundert selber, wie lange das geklappt hat.“

Sein Vater warf ihm einen ernsten Blick zu, seufzte leise.

„Wir wussten, warum du allein sein wolltest. Musstest. Dennoch, so langsam…“

Shinichi seufzte.

„Lassen wir das, bitte.“

Damit trat er aus der Wohnung, schloss hinter seinem Vater ab. Yusaku sah ihn wortlos an, folgte ihm stumm, als Shinichi vor ihm die Treppen hinunterstieg.

Er sah seinem Sohn an, dass er nicht log. Der Tag gestern war aufreibend gewesen für ihn, das wusste er. Er machte einen beunruhigend müden Eindruck.

Allerdings, er hatte keine Ahnung, was heute passiert war, bis auf diesen wenig schmeichelhaften Zeitungsartikel. Offenbar aber war Shinichi noch nicht bereit, sie einzuweihen in das, was er einen langen Tag nannte. Ein Treppenhaus, das musste er sich eingestehen, war auch nicht wirklich der beste Ort dafür.

Und so hielt das Schweigen an, bis sie aus der Tür in die kühle Abendluft Londons traten.

Yukiko war ausgestiegen und schaute die beiden Männer in ihrem Leben ungeduldig an, ehe sie sich ihrem Sohn zuwandte, in ihren Augen ein energischer Blick, der ganz offensichtlich keine Wiederrede dulden würde.
 

„Hör zu, bevor du etwas sagst, mein Lieber…“
 

Shinichi hob die Augenbrauen.

„Sag ich was?“

„Etwa nicht?“

Yukiko blinzelte verwirrt.

„Nein.“

Shinichi räusperte sich. Er spürte den Blick seiner Mutter deutlich auf sich, strengte sich mächtig an, ihr standzuhalten.

„Wo wollt ihr denn hin?“, meinte er dann leise fragend.

Yukiko zuckte mit den Achseln.

„Wir dachten, du…“

Shinichi seufzte leise, blickte in den Himmel.

„Gut, dann muss ich die Frage umformulieren. Was wollt ihr essen?“

„Italienisch. Die Mehrheit…“

„Die Weiblichkeit.“, murrte Yusaku, der nun ebenfalls neben ihn getreten war.

„… hat entschieden.“, beendete Yukiko ihren Satz, warf ihrem Mann einen mahnenden Blick zu, grinste dann kokett.

„Wir dachten, du wüsstest vielleicht ein Lokal?“

„Dann wohl ins Pomodoro.“, meinte Shinichi, trat um den Wagen herum, um mit seinen Eltern das wartende Black Cab zu steigen.
 

Ein paar Minuten später saßen sie dann vor Tellern mit appetitlich angerichteten Antipasti, die genauso lecker rochen und schmeckten, wie sie aussahen, in einem edlen italienischen Restaurant. Während Yukiko begeistert das Ambiente in sich aufsog, das das dunkle Holz und die natursteinernen Böden zusammen mit den ein honiggelbes Licht verbreitenden Lampen erzeugte, musterte Yusaku seinen Sohn nachdenklich. Shinichi hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie reingekommen waren und die Bestellung für Getränke und Antipasti aufgegeben hatten. Momentan saß er ihm einfach nur gegenüber und biss in ein mit Tomaten, Kräutern und Olivenöl garniertes Bruschetta, dessen kross geröstetes Weißbrot dabei leise knirschte – und er traute sich fast wetten, dass das das erste war, was er heute aß. Yusaku hob sein Glas, nahm einen Schluck des exzellenten Rotweins – der Kellner hatte wirklich Ahnung von seinem Fach – und stellte dann das Glas mit einer wohlgesetzten Bewegung auf dem rotweiß karierten Tischtuch ab.

„Also?“, murmelte Yusaku fragend.

Shinichi hob fragend eine Augenbraue. Yusaku lächelte schmal.

„Schön, ich formuliere meine Frage aus, wie es sich für einen Schriftsteller gehört. Wie war dein Tag?“

Shinichi legte das Brötchen auf den Teller zurück, wischte sich die Finger an der Serviette ab. Yukiko wandte ihren Blick von der geschmackvollen Inneneinrichtung ab, sah ihrem Sohn forschend ins Gesicht. Shinichi, sich der Blicke seiner Eltern vollstens bewusst, geriet nun doch ein wenig ins Schwitzen.
 

„Lang.“, meinte er dann vage. „Sagte ich doch…“

„Shinichi.“

Yukiko verdrehte die Augen, bemerkte, wie Shinichi ihrem Blick auswich.

„Hast du mit Ran geredet?“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Kurz, wegen der neuesten Geschichte des Reportes, dieses Klatschblattes, das nichts Besseres zu drucken hat als die wildesten Spekulationen über das Liebesleben von Sherlock Holmes also known as euer Sohnemann.“

Er lächelte ein schiefes Lächeln, das ihm rapide von den Lippen bröckelte.

„Ich hab vor meinem Chef alles abgestritten, Ran wird das Gleiche tun. Ich hoffe, damit ist sie dann bald wieder raus aus den Schlagzeilen der Yellow Press.“

Er wich dem tadelnden Blick seiner Mutter aus, schüttelte den Kopf.

„Ansonsten war der Tag heute einfach lang, wie gesagt, ich bin gerade heimgekommen, als ihr kamt. Abgesehen davon will ich nicht mit ihr reden, und das sollte dich nicht wundern.“

Yukiko seufzte, nippte an ihrem Weinglas.

„Nein, das tut es nicht. Sie hat geweint, gestern.“

„Weiß ich.“

Yusaku hob den Blick von der Karte, blickte seinen Sohn über den Brillenrand hinweg an.

Er hatte den Punkt hinter dem Satz nicht gehört und wartete gespannt auf dessen Fortsetzung.

„Sie tat es schon, als sie aus meiner Wohnung ging. Ich denke, ich war der Grund dafür.“

Das bitterste Lächeln, das Yusaku je gesehen hatte, verzerrte Shinichis Lippen, der beißende Sarkasmus in seiner Stimme tat sein Übriges dazu. Man sah ihm an, wie unglücklich er selber mit der Situation war – allerdings erkannte der Schriftsteller auch, dass er nicht Willens war, daran etwas zu ändern.

Zumindest nicht in nächster Zeit.

Dennoch schien auch das noch nicht alles zu sein, was er zu dem Thema zu sagen hatte – und auch seine Frau schien das zu merken.

„Und weiter…?“

Sie hatte die Augenbrauen hochgezogen. Shinichi schaute sie etwas frustriert an.

„Reicht das nicht?“

„Da ist doch noch was.“

Yukiko griff nach seinen Fingern, die auf der Tischdecke ruhten – er entzog ihr seine Hand, beschäftigte sie mit der Serviette, die er knetete, als sei sie die Ursache für seine Misere.

„Na schön. Ich… dass Ran geweint hat wegen mir hat mir auch noch jemand anders mitgeteilt. Vorgeworfen. Wie auch immer – ihre Mutter hat angerufen. Bei mir. Gestern.“

Seine Stimme klang spöttischer, als er die Worte meinte, das wussten Yusaku und Yukiko beide. Shinichi versuchte mit dem Leid seiner großen Liebe irgendwie umzugehen, Fakt war aber, dass er keine Ahnung hatte, wie er es lindern konnte. Ihm schienen nach wie vor die Hände gebunden, zumindest in seinen Augen – und so konnte er dem nur hilflos gegenüberstehen und versuchte herunterzuspielen, wie sehr ihn das tatsächlich mitnahm.

„Eri hat dich angerufen?“

„Ja. Ich denke, sie hat nur diese eine Mutter, Mama.“

Shinichi strich sich über die Stirn, biss sich kurz auf die Unterlippe. Er war sich des flapsigen Tons bewusst geworden und hob entschuldigend die Hand, ehe seine Mutter etwas darauf erwidern konnte.

„Entschuldige, ich weiß, wie du es meintest.“

Er schluckte.

„Ich bin nur… es… es ist kompliziert. Ich… will das alles auch nicht. Ich wünschte mir, sie wäre nie gekommen, nach London. Das würde alles so viel leichter machen.“

Ein tiefer Seufzer entfloh Shinichis Kehle, der sich kurz über die Augen strich, ehe er mit rauer Stimme fortfuhr zu berichten.

„Sie hat sie wohl angerufen, nachdem sie bei mir war, und ich meine, ich weiß, dass sie ziemlich… fertig war nach dem Gespräch bei mir. Und Eri rief mich eben an, weil…“

„Hat sie dir Vorwürfe gemacht?“

Yukiko schaute ihn fragend an.

„Nein. Nicht direkt. Sie… hat sich eher dafür bedankt, dass ich sie aus meinen Schwierigkeiten raushalten will – an und für sich aber dennoch kein schönes Thema.“

Er nahm nun seinerseits sein Weinglas und trank einen Schluck - er musste aufpassen, was er sagte, er wollte seinen Eltern nicht sagen müssen, wer ihn damals angelogen hatte. Sonst passierte hier in London gleich der nächste Mord, und allein der Gedanke seine Eltern mit Kogorô konfrontiert zu sehen bescherte ihm eine Gänsehaut. Nein, einen Streit dieser Größe konnte er nicht brauchen – abgesehen davon war damit auch weder Ran noch ihm geholfen.

Allerdings saß er hier nicht irgendwem gegenüber. Sein Vater konnte ihm immer noch das Wasser reichen, und würde eins und eins locker zusammenzählen, wenn er nur die nötigen Hinweise bekam.

Langsam lehnte er sich zurück.

„Und als ob das nicht genug wäre, stellt euch vor, wen die aus Tokio schicken, als zweiten Verbindungsmann.“
 

Yusaku faltete die Karte zusammen, legte sie beiseite, zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Shinichi starrte auf die Tischdecke, blickte in die einsame Kerzenflamme, die in der Mitte des Tisches loderte und ein wenig warmes Licht spendete, ehe er antwortete.
 

„Kogorô Môri.“
 

Yukiko warf ihr Weinglas um, schluckte schwer, schaute ihn fassungslos an. Yusaku warf ihm einen einigermaßen verständnislosen Blick zu.

„Er ist wohl mit den Kanagawas befreundet. Deshalb ist er hier.“

„Ah.“

Yusaku lachte trocken.

„Ganz wie in alten Zeiten, was?“

Shinichi seufzte, schaute ihn dann etwas genervt an.

„Ja, so in etwa.“

Er merkte, wie sich langsam Kopfweh ankündigte, schüttelte langsam sein Haupt.

„Ach was rede ich. Ein Desaster. Ich meine, wem erzähle ich das, wir konnten noch nie so wirklich gut miteinander, ich hab ihm eine Karriere verschafft, die er allein nicht halten konnte, ich war der, den er nie für seine Tochter wollte - und jetzt arbeitet er bei der Polizei und hat seiner Tochter verschwiegen, dass sie damals in meinen Armen gestorben ist – wir hatten nen super Tag.“

Shinchis Stimme troff vor Sarkasmus, während er mit einem Finger über das grobe Leinen der Tischdecke kratzte.

„Dann besuchten wir den Verlobten unseres zweiten Opfers, der grad drauf und dran war, sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen, weil er den Tod seiner Freundin nicht aushält, und zu guter Letzt mussten wir den Mann laufen lassen, der wohl die Bilder gemalt hat, die wir an den Tatorten fanden, weil wirs ihm nicht nachweisen können und er nicht gesteht. Also…“
 

Yusaku seufzte.

„In der Tat, ein langer Tag.“

„Du sagst es.“

Shinichi schaute auf, als der Kellner neben ihm erschien, ließ seiner Mutter mit einer bezeichnenden Handbewegung der Vortritt bei der Bestellung eines neuen Getränks.
 

„Und ich weiß immer noch nicht, ob ich richtig gehandelt habe. Ich kanns begründen, warum ich ihn nicht in U-Haft genommen hab, aber ich hab das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.“

Yusaku horchte auf.

„Inwiefern?“

Shinichi verdrehte die Augen.

„Du weißt, ich sollte nicht über laufende Fälle reden. Das ist unprofessionell.“

„Du musst ja keinen Namen nennen.“

Yusaku rückte kurz zurück, als der Kellner ihm seine Pasta vor die Nase setzte. Shinichi trank einen Schluck Wein, wartete, bis der Kellner wieder weg war.
 

„Naja, viel mehr gibt’s nicht zu sagen, Vater. Wir sind uns ziemlich sicher, dass er die Bilder gemalt hat. Die Farben sind die gleichen, die Palette war noch nass, als Heiji und Jenna in sein Atelier kamen, und wenn auch kein Bild da war, so spricht das doch dafür, dass er kurz davor an einem gearbeitet hat – und es mitnahm, als er überstürzt aufbrach. Noch dazu fanden sie eine Fenchelblüte. Auf den Bildern der anderen Mädchen waren ebenfalls Blumen – Stiefmütterchen und Rosmarin. Ich kann nicht glauben, dass das …“

„… Zufall ist. Gerade eine Fenchelblüte ist nicht die übliche Blume, mit der man hübsche Mädchen porträtiert. Rosmarin auch nicht. Das riecht nach einer tieferen Bedeutung.“

„In der Tat.“

Shinichi stocherte in seinen Nudeln, die mittlerweile vor ihm auf dem Tisch standen, unmotiviert herum.

„Aber ich kenne sie einfach noch nicht, ich hab, offen gestanden, nach all dem Chaos auch noch keine Muße gefunden, mich damit noch einmal zu beschäftigen – angefangen hatte ich mit den Stiefmütterchen ja schon mal. Nun - ich hab das Foto der Fenchelblume beim ersten Verhören einfach druntergemischt, unter die Fotos der Gemälde und die aus seinem Atelier. Er ist merklich zusammengezuckt, als er es sah, aber er hat nichts gesagt.“

Yusaku grinste.

„Er hatte kurz die Befürchtung, dass der vergessene Fenchel ihm das Genick bricht – bei einem normalen Nachfragen hätte er…“

„… einfach gesagt, dass er sie von einem Stillleben dort vergessen, sich nen Tee damit habe machen wollen oder sonstwas, ja. So aber hab ich gut sehen können, dass der eine andere Bedeutung hatte als einfach ein schlichtes Bildmotiv oder ein Heilkraut zu sein.“

Shinichi seufzte.

„Aber…?“

„Aber, ich entschloss mich dagegen, ihn in U-Haft zu nehmen, weil ich nicht glaube, dass er die Mädchen auch ermordet hat. Ich hoffe, wenn ich ihn beschatten lasse, dass er uns zu den wahren Drahtziehern führt. Nur…“

Yusaku nickte stumm.

„Ein gewisses Risiko, dass du falsch liegst oder du dadurch gerade den Weg für den nächsten Mord ebnest, besteht dadurch.“

Shinichi ließ seinen Kopf in seine Hand sinken.

„Ja. Und ich hab das Gefühl, mir platzt der Kopf. Der Fall, die Sache mit…“

„Ran.“

Nun mischte sich Yukiko wieder ins Gespräch, die gerade ihre Pizza Calzone bis gerade eben sichtlich genossen hatte – nun blickte ihn bedrückt an.

„Shinichi…“
 

Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu - und sie verstummte.

Sie wusste, er tat das nicht, weil es ihm Spaß machte – und das erübrigte tatsächlich jede weitere Diskussion. Nie hatte sie die Sehnsucht nach dieser jungen Frau so deutlich in den Augen ihres Sohnes gesehen. Nicht einmal damals.

„Mama, ehrlich, was denkst du eigentlich von mir.“

Er schluckte hart.

Yukiko schüttelte traurig den Kopf.

„Glaubst du, ich schick sie gerne heulend aus meiner Wohnung? Was meinst du? Du weißt, verdammt nochmal, wie sehr…“

Seine Stimme senkte sich bis auf ein kaum zu hörendes Flüstern.

„Ihr beide wisst, wie sehr ich sie liebe. Was ich mir wünsche. Ihr habt es gehört, und ihr seht mich an und wisst, dass sich daran nichts geändert hat. Aber ich weiß einfach, dass die noch da sind!“
 

Er wandte sich ab, stierte in seine Pasta, schüttelte den Kopf.

„Und solange sie da sind, und ich damit ein Risiko bin für sie, wird daraus nichts werden. Ihr wisst, ich komm mit mehr Dingen klar als die meisten Menschen, aber das steh ich nicht nochmal durch. Und auch das… dürfte euch beiden klar sein.“

Kapitel 22: Der erste Zug

KAPITEL 22 – DER ERSTE ZUG
 

Am anderen Ende Londons saß Ran mit ihrem Vater ebenfalls beim Essen. Sie hatte sich Indisch gewünscht, und so hatte er seinen Reiseführer konsultiert und ein ganz passables Lokal aufgetan.

Die Fahrt hierher war allerdings extrem schweigsam verlaufen – ein anstrengender Zustand für Kogorô, der seine Tochter anders kannte.

Gut, sie hatten sich erst vor ein paar Tagen gesehen. Genauer genommen, vor ein paar Stunden, wenn man auch hier wirklich nur von „gesehen“ sprechen konnte.

Allerdings hätte er dennoch erwartet, sie würde redseliger sein, nachdem, was in diesen paar Tagen seit ihrem letzten Gespräch passiert war.
 

Mausebein.
 

Er hatte ihr kurz eröffnet, warum er hier war, ihr im Prinzip erzählt, was sie von ihrer Mutter schon wusste – zweiter Verbindungsoffizier und all das andere Blabla – danach war es wieder still gewesen im Taxi.

Mittlerweile saßen sie hier, er vor einem Kobrabier, sie vor ihrer Mangosaftschorle, die Vorspeisen, eine Variation mit Gemüse gefüllter Teigtaschen an diversen Dips hatten sie bereits hinter sich gebracht.

Nun saß sie ihm gegenüber, stocherte in ihrem Mandel-Kokos-Hühnchen und versuchte ein Lächeln, wo keins war.

Kogorô seufzte – einer von vielen Seufzern an diesem Abend.
 

Ran sah auf; Schuldbewusstsein spiegelte sich in ihren Augen.
 

„Dann… arbeitest du also mit Shinichi, ja?“

Er zog die Augenbrauen hoch – mit allem hatte er gerechnet, aber nicht, dass sie von seiner Arbeit anfing.

„So ist es, ja.“

„Hm.“

Ran lächelte traurig in sich hinein.

„Ganz wie in alten Zeiten, was?“

Kogorô horchte nun doch auf. Dann schüttelte er vehement den Kopf, eine Geste, die Ran stutzig machte und ihr Lächeln von ihren Lippen wischte. Fragend blickte sie ihn an.

„Keineswegs.“, ergänzte Kogorô sein Kopfschütteln. Dann lächelte er zynisch.
 

„Ich weiß, wie ich ihn nannte. Westentaschensherlockholmes. Möchtegerndetektiv.“

Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen kurzen Schnauzbart, von seinen äußersten Spitzen nach innen und wieder zurück, immer wieder.

Als er weitersprach, ließ er seine Hand sinken.

„Ich weiß, wie ich ihn behandelt habe, als er Shinichi war – ich hab ihn nicht ernst genommen, nicht respektiert, vor dir immer schlecht gemacht, weil er der Sohn erfolgreicher Eltern war und in meinen Augen ein verzogener Bengel. Seine Arbeit bei der Polizei schob ich bloßem Glück zu und dem Vitamin B seines Vaters, der schließlich mit Mégure befreundet war. Und ich weiß, wie ich ihn als Conan behandelt habe – ich hab ihn angeschnauzt, beleidigt, vom Tatort in hohem Bogen aus der Tür geworfen - und als ich hinterher erfuhr, dass er es war, dem ich meine Karriere verdankte, war ich stocksauer auf ihn. Ich hätte ihm den Hals umdrehen können. Das weißt du, ich war ziemlich deutlich mit meiner Wortwahl, in diesen Tagen, fürchte ich.“

Er knurrte unwillig, schüttelte dann den Kopf.

„Heute hab ich ihn zum ersten Mal bewusst arbeiten sehen; konsequent, durchdacht, intelligent. Und ich weiß, genauso wie heute arbeitet er immer – seien wir ehrlich, sonst hätte ich auch nicht diesen herausragenden Ruf als schlafender Meisterdetektiv genossen. Es waren die Früchte seiner Arbeit. Er ist… verdammt brillant. Sehr menschlich und respektvoll im Umgang mit seinen Mitmenschen, egal ob es sich um Kollegen, Hinterbliebene, Opfer oder Täter handelt. Seine Kollegen schätzen ihn, und London fährt total auf ihn ab – ich kanns ihnen nicht verdenken. Er ist Sherlock Holmes… irgendwie. Ich weiß, dir sagen diese Dienstbezeichnungen nichts, aber lass dir gesagt sein, Superintendent mit fünfundzwanzig wird man nicht einfach so.“

Kogorô fuhr sich durch die Haare. Ran hatte aufgehört, sich mit ihrem Essen zu beschäftigen, schluckte trocken; sie hatte ihren Vater selten so lange am Stück reden hören.

Erst Recht nicht über ihn.
 

„Ich war all die Jahre wohl einfach nur neidisch auf solches Können und ich mochte ihn nicht, weil er ein Kerl war, weil er der Kerl war, für den du schwärmtest, und ich dachte, er tut dir nur weh. Er sah gut aus, ein ausgezeichneter Sportler, hätte zig Mädels haben können, der ganzen Fanpost nach zu urteilen, über die du dich immer aufgeregt hast. Gut… letzten Endes lag ich damit nicht so falsch, damit, dass er dir Kummer und Schmerz bringt, allerdings… auf andere Weise, als ich es dachte.“

Er seufzte leise. Ran starrte ihn an, wie vom Donner gerührt.

„Ja, ich weiß, in deinen Ohren klingt das wie ein irrer Witz.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Hast du ihm das mal gesagt?“, fragte sie leise.

„Nein.“

Kogorô schüttelte den Kopf.

„Und das werde ich auch nicht. Er arbeitet professionell mit mir zusammen, gibt sich völlig transparent, aber auf echte Sympathie kann ich nicht mehr hoffen.“
 

Konnte ich von vorneherein kaum und nach dieser Lüge, die ich ihm aufgetischt habe, erst Recht nicht mehr.

Wegen mir hat er fünf Jahre Hölle hinter sich… die ihm von Tag zu Tag heißer wurde, ihn von Tag zu Tag ein Stückchen mehr verbrannte, bis fast nichts mehr übrig blieb als ein Haufen seelenloser Asche.

Weil ich ihm die Hoffnung auf das nahm, was er sich im Leben am meisten wünschte.

Weil das Wichtigste in seinem Leben auch das Wichtigste in meinem Leben war, und ich nicht bereit war, zu teilen.
 

Ran.
 

„Zwischen uns ist einfach zu viel im Argen, Ran.“

Er lächelte bitter, trank im Anschluss sein Bier fast in einem Zug aus.

Kurz hatte er überlegt, ihr reinen Wein einzuschenken. Ihr den wahren Grund zu nennen, warum er nicht darauf hoffen durfte, dass Shinichi Kudô ihm verzieh.

Er hatte es gelassen… aus mehreren Gründen.

Allen voran seine eigene Feigheit – er wollte Ran nicht verlieren, und er ahnte, all ihr Verständnis würde an diesem Punkt aufhören, wenn sie erfuhr, dass er es gewesen war, der Shinichi über ihren Zustand angelogen hatte.

Zum zweiten allerdings auch wegen Shinichis Opfer – er hatte Hemmungen, den jungen Mann erneut vor den Augen ihrer Tochter als Lügner zu entlarven, wo Kogoro selbst doch der Grund war, warum Shinichi gelogen hatte.
 

Sorgenvoll betrachtete er ihr trauriges Gesicht, als sie in ihrem Reis rührte, ein paar Körner über ihr Currygericht rieseln ließ.
 

„Ich dachte nicht, dass du seine Bitte so einfach hinnimmst.“

Ran schaute auf.

„Das mit der Zeitung meinst du? Wieso?“

Er blickte sie irritiert an.

„Naja.“

Kogorô geriet zusehends ins Stottern.

„Naja… du liebst ihn… und… nun…“

Auf den Lippen seiner Tochter blühte ein bitteres Lächeln.

„Er verlangte, unsere Bekanntschaft vor der Presse zu verleugnen. Seien wir ehrlich, Paps, als ich das Foto in der Zeitung sah, war mir klar, dass er kommen würde mit genau dieser Bitte.“

Sie schluckte hart.

„Und sie ist ja auch nicht unvernünftig. Er will möglichst wenig Sand aufwirbeln. Weil sein Chef…“

„Nein, Ran. Wegen dir.“

Kogorô sah sie starr an.

"Das hat er dir auch gesagt.“

Sie biss sich auf die Lippen.

„Er sieht Gespenster, Paps.“

„Ran…“

Sie schaute auf, fixierte ihren Vater starr mit ihren blauen Augen.

„In den letzten fünf Jahren ist nichts passiert! Ehrlich, wie wahrscheinlich ist, dass sie nicht mitgekriegt haben, dass ihr Anschlag fehlgeschlagen ist. Oder nicht herausgefunden haben, wo er abgeblieben ist, Sherlock Holmes…“
 

„Höher als du denkst, Mausebein.“

Kogorô nippte an seinem Bier, stellte es dann wieder ab.

„Unsere Freunde werden von der japanischen Polizei, von der Sicherheitspolizei, vom FBI, der CIA und wahrscheinlich Interpol gesucht. Es ist wahrscheinlich, dass sie in der ersten Zeit überhaupt nirgendwohin gehen konnten, sich nirgends blicken lassen, unter ihrem Namen gleich dreimal nicht mehr leben konnten. Ich meine, sie sind nicht eben unauffällig. Also – sind sie auch relativ abgeschnitten von der Außenwelt.“

Er holte Luft.

„Des Weiteren hatten sie es mit Shinichi nie eilig – sie wussten, würden sie ihn suchen, würden sie ihn finden, früher oder später. Was dich betraf, Ran… er hat dir ein Katana in den Körper gestoßen. Dass du noch lebst, ist Glück. Er wird nicht davon ausgegangen sein, versagt zu haben. Und Shinichi… machte an dem Abend auch nicht den Eindruck, als hätte er sein Ziel nicht erreicht. Danach… wird er die Gelegenheit und auch nicht die Muße gehabt haben, nach dir zu suchen. Du weißt, wir haben auch bewusst darauf geachtet, dein Gesicht aus den Medien rauszuhalten. Du stehst nicht einmal als Partnerin auf der Homepage deiner Mutter.“
 

„Weil ihr auch immer noch überall ihre Gespenster seht.“
 

Ran hob den Kopf, seufzte leise.

„Ich… ich liebe ihn. Und ich will, dass es ihm gut geht. Ich hab… abgehakt, dass es mit uns schnell geht, oder einfach, zur Abwechslung mal. Shinichi ist… ein Stück harte Arbeit, das war er… immer schon, aber ich bin nach wie vor fest entschlossen, nicht locker zu lassen, nicht wo ich weiß, was… passiert ist. Dass er nicht einfach so gegangen ist. Dass ich mich nicht geirrt habe, in ihm.“

Sie krampfte ihre Hände um ihr Trinkglas.

„Ich werde ihn nicht mehr allein lassen, Paps. Und mir ist egal, wem das nicht passt – egal ob dir oder ihm. Er richtet sich zugrunde, momentan. Er weiß das auch selber. Seine Eltern wissen es. Und ich weiß es auch.“

„Na, hör mal, er sah nun nicht eben ungesund…“
 

Ran ließ ihren Löffel sinken, legte ihn kontrolliert beiseite – Kogorô schaute sie alarmiert an, kannte sie gut genug um zu wissen, dass dieses sehr bedachte Absetzen eines Gegenstands einzig und allein dem Zweck diente, sich selbst zu beherrschen.

„Wenn ein Mensch fünf Jahre Einzelhaft über sich selbst verhängt, nennst du das gesund? Wenn er in fünf Jahren nicht einen einzigen Urlaubstag hatte, nennst du das gesund?

Wenn er sich sein eigenes Glück verbietet, weil er einerseits die Schuld kaum erträgt, was beinahe passiert wäre, weil er sich mit gefährlichen Leuten angelegt hat und andererseits diese gefährlichen Leute immer noch da draußen wähnt und aus genau diesem Grund sich nicht das Leben leben traut, das ihm zustehen würde, nennst du das…“

Kogorô hob abwehrend die Hand.

„Habs kapiert.“

Er lächelte bitter.
 

Ran kniff die Lippen zusammen.

„Allerdings, scheint es zu dauern, bis er es kapiert, und bis dahin bleibt mir nur, verständnisvoll zu sein, ihm nicht mehr Sorgen zu machen, als er sich meinetwegen ohnehin macht, und zu warten… wieder einmal.“

Sie ließ ihre Stirn in ihre Hand sinken, seufzte, merkte, wie ihre Lippen zitterten.

„Ich hoffe nur, es hört endlich auch einmal auf… ich bin es Leid, und ich will… ich will… so sehr, dass er endlich loslassen kann. Dass er glücklich ist. Dass er endlich heimkommt… mit mir.“

Das traurigste Lächeln, dass Kogorô je im Gesicht seiner Tochter gesehen hatte, erschien auf Rans zart geschminkten Lippen.
 

„Ich will, dass er endlich wieder er selbst sein kann…

Ich will ihn wieder, wie er war…“
 


 

Sie hatten während des restlichen Essens nicht mehr über Ran und den Fall geredet.

Nach dem Dessert hatten seine Eltern ihn nach Hause gebracht – und nun stand er wiederum in dem kleinen Eingangsbereich seiner Wohnung, wollte sein Sakko gerade an den Garderobenhaken hängen, als ihm der Umschlag einfiel. Für einen Moment hielt er inne – dann fasste er in die Jackentasche, in die er ihn gesteckt hatte, tastete – und fand nichts. Irritiert zog er seine Hand aus der Sakkotasche, griff in alle anderen – und merkte, wie seine Nervosität wuchs, als sich jede von ihnen als leer erwies. Dann atmete er tief durch, besah sich das Sakko genauer.

Die Erkenntnis, die ihn nun traf, trieb ihm den Panikschweiß auf die Stirn.
 

Das hier war nicht sein Sakko. Er hielt die Anzugjacke seines Vaters in der Hand.
 

Wir müssen sie vorhin vertauscht haben! Warum sehen diese Dinger auch so gleich aus!?
 

Wie vom Teufel gejagt riss er die Tür auf, die Jacke in der Hand, stürmte die Treppe hinunter und konnte nur in allerletzter Sekunde einen Sturz verhindern, als er im zweiten Stock eine Stufe verfehlte und sich gerade so noch am Geländer festhalten konnte.
 

Unten angekommen riss er die Haustür auf, blieb schweratmend in der Tür stehen.
 

Die gute Nachricht war, seine Eltern waren noch nicht weg.

Die schlechte Nachricht war die, dass auch sein Vater offensichtlich bemerkt hatte, dass er das falsche Sakko genommen hatte.
 

Schließlich war es auch sein keuchender Atem, der seine Eltern aus ihrer Starre riss. Langsam trat er näher, stieg die zwei Stufen vor der Haustür runter, wo sein Vater stand, in der einen Hand den schwarzen Umschlag, in der anderen ein Blatt Papier. Shinichi schluckte hart, streckte die Hand aus, zog ihm mit schweißnassen, eiskalten Fingern den Zettel aus der Hand, drehte ihn zu sich.
 

Im nächsten Moment stand die Welt für ihn still – um im übernächsten über ihn hereinzubrechen.

Er ließ den Zeitungsausschnitt fallen, als hätte es ihm die Finger verbrannt, stolperte nach hinten, über die Stufe, fiel zu Boden und fing sich gerade noch mit den Händen ab. Aus seinem zuvor etwas atemlosen Schnaufen war ein Keuchen geworden, seine Augen starr und voller Entsetzen auf das Foto gerichtet, das wie zum Hohn mit der Bildseite nach oben vor seinen Füßen gelandet war.

Und obgleich er es geahnt, vielleicht sogar ein wenig gewünscht hatte, zog ihm die Wahrheit den Boden unter den Füßen weg. Er wollte schreien, wusste, dass es nicht ging, wollte er nicht alle Nachbarn wecken und irgendetwas erklären müssen und biss sich stattdessen auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, schüttelte dann langsam den Kopf.
 

Nicht schon wieder.

Nicht schon wieder Ran…
 

Ja, er hatte sich ein Ende gewünscht, er sehnte sich diese Konfrontation seit fünf Jahren herbei.

Allerdings, nicht so.

Er merkte, wie in ihm die blanke Panik losbrach, hörte gar nicht, dass sein Vater ihn wiederholt ansprach, fuhr erst hoch, als er ihm eine Hand auf die Schulter legte.
 

„Shinichi.“

Erst jetzt registrierte er, dass sein Vater ihn anredete, besorgt anschaute. Shinichi blinzelte, schluckte hart, bückte sich dann nach dem Foto, nahm seinem Vater den Umschlag aus der Hand, stopfte es zurück in den Umschlag und schob es ein.

„Von wem ist der…?“

Shinichi sparte sich die Antwort auf diese Frage, strich sich eine schweißnasse Strähne aus der Stirn, irritiert über die extreme Reaktion seines Körpers auf diesen einen Gedanken.
 

Sie sind hier. Und sie sind wieder hinter Ran her. Sie wissen, dass sie noch lebt.

Wegen dieser dummen Reporterin, wegen… mir.
 

„Ich fand den Umschlag, Sekunden bevor du geklingelt hast. Ich hab ihn nur schnell eingesteckt, ahnte, dass er von ihnen ist, aber nicht, dass sie… dass sie offenbar auch schon herausgefunden haben, dass Ran noch lebt. Und hier ist.“

Ein schweres Seufzen entwich seinen Lippen, als er unschlüssig in den nächtlichen Himmel über London starrte.

„Auch wenn ich es befürchtet hatte, seit heute Morgen, als ich den Artikel gesehen habe im Reporter. Das Foto ist von gestern, der, den sie da so anschaut, das… das war ich.“

Er räusperte sich. Im nächsten Moment starrte er seinen Vater geschockt an.
 

„Was ist, wenn sie Ran schon…“

„Shinichi…“

Yukiko war näher getreten. Shinichi zog sein Handy aus seiner Tasche, offenbar mit den Gedanken schon wieder ganz woanders, und es erschreckte sie, wie angreifbar er wurde, wenn es um Ran ging. Wie sehr die Sorge um diese junge Frau ihn tatsächlich handlungsunfähig machte.

Sie griff seine Hand, ehe er irgendetwas tun konnte.

„Hattest du nicht erzählt, sie wolle mit ihrem Vater essen gehen…?“

Shinichi hielt inne, schaute sie an. Dann nickte er, langsam.

„Stimmt.“

Er atmete durch, tief, strich sich über die Augen, verharrte mit dem Daumen und Zeigefinger einer Hand an seiner Nasenwurzel, die Augen geschlossen. Langsam schien sein Hirn wieder in Gang zu kommen.

„Und wäre Ran nicht da, würde Kogorô mir längst die Bude einrennen.“

Ein sehr schiefes Grinsen huschte über seine Lippen. Ein Blick auf sein Handy zeigte ihm, dass nichts dergleichen passiert war.

„Und wäre sie nicht im Hotel angekommen, sollten sie schon fertig sein, dann würde Sonoko mir die Hölle heiß machen. So oder so, ich wüsste es bereits.“

Er ließ seine Hand wieder sinken, nickte langsam.

„Du hast ja Recht, es ist nur…“

Yusaku lächelte bitter.

„Du hast Angst.“
 

Shinichi sparte sich auch diese Antwort.

„Ich werde jetzt hochgehen und Akai anrufen, ich denke, es ist an der Zeit und das hier Beweis genug. Ich rühr mich morgen bei euch, wenn ich mehr weiß.“

Damit wollte er sich umdrehen, eigentlich, aber seine Mutter hielt ihn zurück, indem sie ihm ihre Hand auf den Oberarm legte, flüchtig. Er wandte sich um, schaute sie fragend an.

„Shinichi… das muss nicht enden wie das letzte Mal. Du…“

Sie brach ab, als sie ihn seinen Kopf schütteln sah, die Entschlossenheit in seinen Augen glimmen.

„Das wird es nicht, Mama. Ich arbeite bei Scotland Yard und ich bin kein Teenager mehr. Die legen sich diesmal nicht mit einem Amateur an.“

Tief holte er Luft.

„Das wird diesmal garantiert anders enden.“
 

Damit drehte er sich um, ohne seinen Eltern gute Nacht gesagt zu haben, noch im Raufgehen die Nummer Akais im Kontaktverzeichnis seines Smartphones suchend.

Und fragte sich dabei, woher er gerade eben diese Selbstsicherheit genommen hatte.
 

Gerade, als er durch die Tür in seine Wohnung trat, die Tür hinter sich hoffentlich zum letzten Mal für heute schloss und das Licht anmachte, wurde das Freizeichen durch die wie immer sachlich klingende Stimme Shuichi Akais ersetzt.
 

„Also sind sie wieder auf dem Plan?“

Shinichi stutzte ob dieses prompten Einstiegs ins Gespräch.

„Ja. Aber woher…?“

„Kudô – du hast dich seit fünf Jahren nicht einmal gemeldet. Der Anlass für einen Anruf von dir bei mir kann nur diesen einen Grund haben. Außerdem weiß mittlerweile auch die andere Hälfte des Globus‘, wo du abgeblieben bist – wenn sie’s vorher noch nicht wussten, wissen sie’s spätestens jetzt.“

Er lächelte in seine Kaffeetasse hinein – in Tokio war es gerade mal sieben Uhr früh, während es in London noch zehn Uhr abends war.

Shinichi ließ sich in sein Sofa sinken.

„Gut, ja stimmt. Du weißt aber, warum.“

Er schluckte.

„Sie haben mir heute ein Bild von Ran zukommen lassen, genauso wie das letzte Mal, kurz bevor sie sich geschnappt haben…“
 

Das Bild, von dem ich so lange glaubte, es wäre das letzte, das von ihr gemacht wurde.

Das Bild, das seit Jahren das einzige ist, das ich von ihr habe.
 

Das Bild, das in seiner Nachttischschublade lag.
 

Dann durchfuhr ihn ein Gedanken siedendheiß.

„Sag mal, wusstest du, dass sie das damals überlebt hat?!“

„Natürlich.“, erklang die Stimme des Agents staubtrocken durch den Äther.

„Sie hat sich mit Shiho getroffen, des Öfteren, und da ich hier bin, um auf unsere Lieblingschemikerin aufzupassen, hatte ich natürlich auch Kontakt zu ihr. Dachtest du etwas anderes?“
 

Shinichi merkte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Er hätte es so einfach haben können, in den letzten Jahren, hätte er nur einen einzigen Anruf getätigt. Stattdessen hatte er den Einsiedler gegeben, sich abgeschottet von der Außenwelt, nicht eine Meldung mehr in die alte Heimat gemacht. Nicht eine.

Andererseits, so fair musste er sich gegenüber sein, hatte davon in den ersten Wochen nach seiner Flucht auch nicht die Rede sein können.

Er stöhnte auf, während Akai am anderen Ende lachte.

„Idiot.“

„Danke für Backobst.“, murrte Shinichi.

„Du hast doch keine Ahnung…“

„Oh doch, Angeber. Und das weißt du.“

Shinichi verstummte augenblicklich, als ihr Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte - und genauso schnell wieder verschwand, wie eine Fata Morgana. Akemi Miyano.

Er versuchte nicht, zu erklären, wo die Unterschiede in diesem Fall waren – stattdessen fing er das Gespräch an dem Ende wieder an, an dem es unterbrochen worden war.

„Auf jeden Fall sind sie hier, und ich bin mir sicher, auch in diesem Mordfall mischen sie mit, falls du ihn mitverfolgt hast…?“

„The Artist, ja. Klingt interessant.“

„Ist es. Momentan aber eigentlich nur anstrengend.“

Shinichi klang genervt.

„Also?“

„Also muss ich wohl meinen Kaffee austrinken und einen Flug buchen.“

Er hörte ihn tatsächlich seine Tasse in einem Zug leeren.

„Ich informiere Jodie und James. Er ist momentan selbst in London, seit zwei, drei Tagen, er soll sich bei dir melden. Es wundert mich, dass er das noch nicht getan hat, wollte er doch nach dir sehen. Hast du Shiho schon informiert…?“

„Nein.“

Shinichi merkte, wie ihm kalter Schweiß erneut auf die Stirn trat.

„Noch nicht. Ich hab den Brief gerade erst geöffnet, du bist der erste, der davon erfährt. Ich… meld mich gleich bei ihr. Sie muss… achtsam sein.“

„Allerdings. Und das heißt im Klartext für dich, Kudô, dass du nicht nur auf dein Mädchen, sondern auch auf sie aufpassen wirst.“

„Na hör mal, dachtest du, ich würde nicht…“

„Hör auf zu reden.“

Akai klang ernst.

„Egal wie viel Zeit vergangen ist, ich glaube kaum, dass Gin sein Interesse an Sherry verloren hat. Wir sehen uns.“
 

Damit legte er auf. Shinichi starrte etwas verstimmt auf das Telefon. Dann packte er erneut seine Schlüssel und sein Sakko.

Shiho würde er diese Nachricht nicht am Telefon mitteilen.
 


 

Er sah ihren skeptischen Gesichtsausdruck, als sie ihm die Tür öffnete. Kazuha war nicht da, sie war ganz offensichtlich mit Heiji essen gegangen – der Duft von Pizza wallte ihm entgegen, als er in das Hotelzimmer trat, das sie sich mit Heijis Freundin teilte.

Ein wenig irritiert schaute er sie an, als sie sich wieder aufs Bett setzte, mit der flachen Hand auf die Stelle neben sich klopfte, um ihn so aufzufordern, sich ebenfalls zu setzen. Er tat ihr den Gefallen zunächst nicht, schob die Tür hinter sich langsam ins Schloss und gab ihr damit Gelegenheit, ihn eingehend zu mustern. Sie hatte ihn gestern nur im absoluten Ausnahmezustand gesehen, nachdem er Ran erblickt hatte – heute sah er nicht viel besser aus.

„Bis du allein hier? Hätte ich das gewusst, hättest du auch mit mir und meinen Eltern essen gehen können…“, begann er schließlich.

„Und dir damit ein unangenehmes Eltern-Kind-Gespräch ersparen? Sie fragen sich sicher, wie du es anstellst, zehn Jahre älter auszusehen.“

Shinichi starrte sie bass erstaunt an, ehe sich sein Gesicht genervt verzog.

„Na, nun komm aber…“

Sie zuckte ungerührt mit den Schultern, griff sich ein Stück Pizza, während er sich nun doch langsam näherte und neben ihr Platz nahm.

„Ich hab mit dem Professor telefoniert. Er hatte mir gemailt, nachdem er dein Gesicht in den Nachrichten gesehen hatte. Sag mal, Kudô, warum meldest du dich eigentlich nicht…“, fing sie an, in ihrer Stimme deutlich ihr Ärger zu hören.

Shinichi hingegen schaute sie perplex an – und hatte gerade kurz völlig vergessen, weshalb er hier war.

„Der Professor.“, murmelte er leise.

„Ja, der Professor.“

Sie schaute ihn aus Halbmondaugen streng an.

„Dem du ohnehin mit deiner Aktion den Schock seines Lebens verpasst hast, und dann meldest du dich in fünf Jahren nicht einmal bei ihm – gut, du hast dich ja bei keinem gemeldet, du musstest ja unbedingt in deiner eigenen Suppe aus Trübsal und Selbstmittleid und…“

Shinichi hob abwehrend die Hand – und sie hielt tatsächlich inne.

„Ich hab’s verstanden.“

Er schluckte.

„Ich… meld mich bald bei ihm. Versprochen.“

„Solltest du auch.“, schoss sie zurück.

„Er macht sich nämlich Sorgen um dich, du weißt doch, wie er ist, er ist…“
 

Sie hob den Blick, und zum ersten Mal an diesem Abend sah sie ihn wirklich an. Shinichi saß neben ihr auf dem Bett, seine Schultern waren nach vorne gesackt, seine Hände in seinen Schoß gesunken, sein Blick verlor sich irgendwo in den Teppichfasern auf dem Boden, während er nachdenklich seine Unterlippen zwischen die Zähne gezogen hatte.

Langsam verrauchte ihre Wut.

„Dein Leben nudelt dich gerade ziemlich durch, Kudô.“

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu, während er lautlos seufzte.

„Es wird nicht besser.“

Er hob den Kopf, schaute sie an. Dann zog er den Umschlag aus seiner Sakkotasche, reichte ihn ihr kommentarlos, merkte, wie ihr allein bei dem Anblick die Farbe aus dem Gesicht wich, ihre Gelassenheit von ihr abfiel wie ein Umhang, dessen Schnalle kaputtgegangen war und der sich nun der Schwerkraft beugte.
 

Sie schluckte hart, nahm den Umschlag entgegen und öffnete ihn mit zitternden Fingern. Als sie das Bild herauszog, sie ihn nur an.

Der Blick in ihren Augen schmerzte ihn fast körperlich. Er hatte sehr wohl gesehen, dass sie sich endlich eingerichtet hatte, in ihrem Leben, dass sie angefangen hatte, einigermaßen angstfrei zu leben, zwar behütet von Akai, der ihr das Leben außerhalb des Zeugenschutzprogramms ermöglichte – aber nach fünf Jahren glaubte sie wohl, von dieser schwarzen Pest endlich geheilt zu sein.
 

Nun war sie zurückgekehrt.
 

Ihr Teint war schlagartig aschfahl geworden, ihre Augen groß, vor Schrecken geweitet, ihre Lippen blutleer. Sie legte das angebissene Pizzastück zurück auf den Teller.

„Wann…?“

„Heute abend.“

Shinichis Stimme klang rau, und erst jetzt sah sie auf. Sorge zeichnete sein Gesicht, Angst malte dunkle Schatten in und unter seine Augen.

„Du hattest Recht, gestern, ich ahnte es bereits, aber irgendetwas in mir hoffte doch, dass ich mich irre; ich hatte dir das nicht gesagt, um dich nicht grundlos zu erschrecken, aber… nun.“

Er lächelte bitter.

„Wie so oft im Leben hatte ich mit meiner Vermutung doch Recht.“

Shiho starrte blicklos auf die Bettdecke, als sie sprach.

„Ich nehme an, du hast es ihr noch nicht gesagt?“

Er schüttelte müde den Kopf.

„Nein. Ich weiß es selbst noch nicht lange, wie gesagt. Ich habe Akai angerufen, er kommt, so schnell er kann, er informiert Jodie und Mr Black, der wohl in London ist. Du…“

Schuldbewusstsein spiegelte sich in seinem Blick.

„Nachdem sie wissen, dass Ran hier ist, wissen sie vielleicht auch, dass du da bist. Du warst dabei, gestern, aber immerhin bist du nicht auf dem Foto…“

Müde strich er sich über die Augen.

„Was ist mit Ran?“
 

Shinichi seufzte leise.

„Ich weiß auch nicht, Shiho. Momentan ist sie mit ihrem Vater zusammen, ich sollte es ihnen wohl auch sagen. Wahrscheinlich warte ich einfach, bis er sie zurückbringt, vielleicht sollte er sie mit in sein Hotel nehmen…“

„Willst du nicht selber auf sie aufpassen…?“

Sie schaute ihn fragend an.

Er lachte bitter auf, schaute an die Decke.

„Ja, klar. Ich hab das letzte Mal ja eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie gut ich auf sie aufpassen kann…“

Shiho schluckte, schüttelte den Kopf.

„Du tust dir Unrecht, und das weißt du. Du warst damals…“

Ein Blick aus seinen Augen ließ sie verstummen.

„Ja, ich weiß. Aber ich will sie nicht in meiner Nähe haben, momentan. Am liebsten wäre mir, sie würde sofort in den Flieger steigen und verschwinden. Und du auch.“

Er schüttelte stur den Kopf.

„Ganz ehrlich, Shiho, was hat es uns gebracht?“
 

Er stand auf, lächelte traurig.

„Diese ganze Liebesgeschichte ist doch ohnehin zum Scheitern verurteilt. Das war sie von vorneherein.“
 

Dann hörte er, wie sich Stimmen und Schritte näherten, stand auf.

„Überlegs dir, das mit dem Heimflug, meine ich... Ansonsten melde ich mich morgen, wenn ich weiß, wann Akai da ist, oder wenn Black sich gemeldet hat. Ich sags auch noch Heiji, ich schätze er bleibt dann hier und passt auf euch auf.“
 

Damit ging er raus aus dem Gang, fand sich Auge in Auge mit Kogorô und Ran wieder, die gerade ihr Zimmer aufsperren wollte. Irritation stand in ihren Augen, als er aus Shihos Zimmer kam, die, wie sie wusste, dort allein gewesen war. Kogorô hingegen sah etwas anderes – seine Augen wanderten seine Gestalt hinab, blieben an seiner Hand hängen, erblickten den schwarzen Umschlag. Shinichi sah auf, steckte ihn unfauffällig weg – sein Blick kreuzte den Kogorôs, ehe er unmerklich nickte.

Kogorô schluckte hart.
 

„Shinichi.“

Rans Stimme drang an sein Ohr, riss ihn aus seinen Gedanken. Er atmete tief durch.

„Du solltest mit deinem Vater ins Hotel gehen, Ran. Es ist gefährlich hier.“

Mit fahrigen Fingern wischte er sich über die Stirn.

„Ich…“

Kurz überlegte er, ihr das Foto zu zeigen – und entschied sich dagegen. Er wollte ihr nicht mehr Angst machen, als nötig.

„Du musst verschwinden Ran. Buch den Rückflug, ich bitte dich…“

Sie starrte ihn an, atemlos.

„Ganz sicher nicht.“

Nun war es Kogorô, der seine Tochter anstarrte.

„Mausebein!“

Sie wandte sich um, schüttelte den Kopf.

„Ich geh mit dir ins Hotel, wenn es sein muss, und er sich wohler fühlt damit…“, sie gestikulierte in Shinichis Richtung.

„Aber ich verlasse nicht die Stadt. Ich lass mich von einem dahergelaufenen Mörder nicht einschüchtern, ich habe keine Angst –…“
 

„Aber ich.“
 

Seine Stimme war leise, und doch verstummte Ran sofort. Sie sah sie kurz in seinen Augen flackern, bevor er den Blick abwandte.

Angst.

„Wovor? Dass irgendein Mörder...“

Stur ruhte ihr Blick auf ihm.

„Nein. Dass sie dich holen.“

Sie erstarrte, schaute ihn an. Er sagte nichts mehr, machte keine Andeutung, wie akut die Lage wohl wirklich war.

„Du weißt, sie sind damals entkommen. Und du weißt, sie haben mit mir noch eine Rechnung offen. Du hast sie einmal bezahlt, ein zweites Mal wirst du das nicht tun. Kein Mensch weiß, wie nah sie mir…“

„Für wen hältst du mich? Ich bin kein kleines Mädchen mehr, ich bin nicht allein in London, und wenn sie sich mich holen wollen, ist es eh egal, wo ich bin…“

„Aber es ist deutlich schwieriger, dir in einem Flugzeug nachzureisen, als dich einfach hier in ein Auto zu zerren…!“, fuhr er sie an.

„Nein!“

Ran atmete heftig.

„Nein! Und das ist mein letztes Wort!“

Er schaute sie an, wollte etwas entgegnen, enschied sich anders, und schüttelte schließlich nur den Kopf – was er gleich wieder bleiben ließ, als sich ein unangenehmes Pochen darin breitmachte. Er merkte, wie die Müdigkeit sich in ihm breitmachte, pure Erschöpfung in seine Glieder kroch, nachdem das Adrenalin wieder etwas abgeebbt war.

Er war einfach durch für heute. Ran schluckte, sah es ihm an – und erschrak. So dermaßen am Ende hatte sie ihn noch nie gesehen.
 

„Mach doch was du willst, Ran.“, meinte er schließlich müde.

Damit drehte er sich um und ging.

Shiho trat auf den Gang hinaus, schaute ihm hinterher.

„Kannst du’s ihm nicht einmal im Leben leichter machen?“, murmelte sie, als sie sich zu ihrer Freundin umdrehte.

„Verdammt, weißt du denn immer noch nicht, dass er ins offene Messer laufen würde, für dich? Er lässt alles stehen und liegen für dich… du musst ihm die Entscheidung abnehmen, wählen zu müssen zwischen dir und…“

Wütend schaute sie sie an.

„Verdammt Ran, siehst du nicht, was du mit ihm machst?! Du…“

„Ach halt doch den Mund, Shiho!“

Nun war es Ran, die schrie, Tränen liefen über ihre Wangen.

„Verdammt, ich weiß das doch! Und ich will das auch nicht! Aber ich kann ihn nicht allein lassen, auch nicht, falls sie wieder da sind, erst Recht dann nicht, ich will hier sein, ich will… will ihm helfen…

Wie kann ich gehen, wenn ich weiß, dass sie hinter ihm her sind, und sie werdens zu Ende bringen, ich weiß das doch auch, ich war doch dabei, ich… ich habe gehört, wie die mit ihm geredet haben. Du glaubst doch selber nicht, dass sie ihn noch einmal davonkommen lassen, sollten sie wirklich kommen. Wie kann ich da nach Hause fliegen…?!“

Shiho schüttelte den Kopf, drehte sich um, ging zurück auf ihr Zimmer und sperrte ab.

Ran ging in ihrs, gefolgt von ihrem Vater – wie es ausschien, würde er wohl heute auf dem Sofa in ihrem und Sonokos Hotelzimmer schlafen.
 

Der Letzte, den er informierte, war Heiji – der zu seiner Erleichterung nicht viel nachfragte, sondern sich wie erwartet bereiterklärte, bei Kazuha und Shiho im Hotelzimmer zu schlafen und sich ansonsten alles weitere von ihm morgen würde erzählen lassen.
 

Und so kam er, weit nach Mitternacht, zum letzten Mal in dieser Nacht in seiner Wohnung an – von einer penetranten Victoria Shelley keine Spur. Es wunderte ihn fast, dass sie heute nirgends aufgekreuzt war.
 

Aber gut… schlafende Hunde soll man nicht wecken.

Zum Schlafen sollte er selber kaum kommen.

Wach und völlig angekleidet lag er auf seinem Bett, starrte an die Decke, auf der die Lichter der Stadt schemenhaft tanzten.
 

Die Figuren waren aufgestellt.

Der erste Zug war gemacht.
 

Nun war er an der Reihe.
 

Und wollte er dieses Spiel gewinnen, durfte er keine einzige seiner Figuren verlieren.
 


 

Sie hatte nichts gesagt, als er heimgekommen war.

Er wusste, Meredith würde auch so schnell nichts sagen – weil sie hoffte, er würde von alleine zu reden anfangen.

Eduard hingegen war viel zu sehr mit sich und seinen Gedanken beschäftigt gewesen, als dass er sich gleich damit auseinandersetzen konnte, mit Merry über irgendetwas zu reden. Und so hatte er beschlossen, mit ihr trotz allem ins Kino und essen zu gehen – war nach Hause gefahren mit der U-Bahn und hatte sie, ganz als wäre die Zeit stillgestanden während seiner Abwesenheit, in ihrer Wohnung wiedergefunden, auf dem Sofa sitzend, immer noch hübsch angezogen, frisiert und geschminkt und sah ihn an mit diesem unglaublich durchdringenden Blick aus ihren blauen Augen, unter dem er sich schon immer so unbeschreiblich nackt vorgekommen war.
 

Nun aber stand sie da, und offenbar war ihre Geduld nun am Ende.
 

„What is it, that Scotland Yard wants from you, Eduard?“

Der junge Mann zuckte zusammen, wollte gerade das obligatorische “Nothing” äußeren, als er bemerkte, wie sie ihre Hände in ihre schmalen Hüften stemmte, ihn weiterhin fest mit ihren klaren Augen fixierte.

„And don’t dare to say nothing, Eddie. Because of nothing Scotland Yard does not bother to send one of its officers. Least of all him. They have talked with me while we were waiting for you. They asked me if I knew the victims, if I’ve made the dresses…”
 

Er starrte sie an, merkte, wie ihm die Knie weich wurden.

„What… what have you told them…?“

“I told them yes. The advert was ours, after all.”

Ihre Stimme zitterte, in ihr schwang unterdrückte Wut.

„And I confessed that I have tailored those dresses and sold them. I will not lie because of…”

Eduard hatte das Gefühl, dass der Boden sich unter ihm auftat, glühendes Magma seine Hitze in jede Faser seines Körpers schickte.
 

The hellfire which will burn me to ashes till the end of my goddammned life.
 

„God, Meredith…“
 

Er kniff die Lippen zusammen, wich ihrem Blick aus.

Offengestanden hatte er keine Ahnung, was er sagen sollte. Wenn er ihr gestand, dass sie ihn wegen seinen Bildern befragt hatten und er die Polizei diesbezüglich angelogen hatte, würde er ernsthaft Probleme mit Meredith bekommen – beziehungsweise mit seinem unabänderlichen Willen, sie von all diesen Machenschaften unberührt zu lassen.

Warum sollte er schließlich die Polizei anlügen, wenn er nichts zu verbergen hatte.

Allerdings, genau das hatte er getan, eben weil er etwas zu verbergen hatte.
 

Schließlich schluckte er hart, fing dann zögernd an.

„They have asked me if that picture next to Ayako is one of mine. And the same for the painting next to Erin. Similar to the… questions they asked you.“

Es half alles nichts. Zumindest teilweise würde er mit der Wahrheit rausrücken müssen.

Meredith sagte nichts, wurde bleich, nahm nun auf der Sofakante Platz.

„So Erin is… dead… too?“

Ihre Stimme war leise, wiso

Eduard straffte die Schultern.

“Yeah.”

“Eduard…”

Sie schluckte.

“Eduard, what…”

„They were at the UAL. Have shown photos of the pictures to Dean Hammersmith.“

„Hm.“

Meredith nickte gedankenverloren.

„Our Dean knows his little sheep very well. He might have given them a hint who might have been the painter.“, ergänzte Eduard langsam. Kein Wort über die Atelierdurchsuchung. Sonst hätte er ihr erklären müssen, dass er sie gerade deswegen heute aus der Uni gelockt hatte.

„That’s true.“, murmelte Meredith.

„That’s why he wanted to talk to you?“

„Yeah.“

Eduard nickte langsam, kam sich vor wie ein Seiltänzer, sehr bedacht den nächsten Schritt nicht neben sein Drahtseil zu setzen und abzustürzen.

„And what is it now? About that pictures? I mean, this is getting… strange, it’s the second girl, murdered carrying your picture, wearing my dress… that can’t happen haphazardly. But I have not murdered them, neither have you, so…“

Eduard schluckte hart.

„I guess, there is someone watching us and catches them…?“

Meredith schaute ihn zögernd an, schüttelte den Kopf.

„But this is weird. How would have some stranger known when the girls would be getting their pictures and being photographed…?”

Eduard zuckte mit den Schultern, setzte ein gleichgültiges Gesicht auf, und schaffte es sogar.

„It is their task to find this out, not ours, thank god. Well. They have found the picture next to her and now wanted to find the painter matching to it, to see if I could tell them more about her. Her name, what she did, where she lived, what she did there, if I knew whom she might have met, I mean – she was murdered and I was possibly the last person who has seen her alive.“

Er sah, wie der Atem seiner Freundin stockte, während er sich nun langsam setzen musste, ohne zu offensichtlich schuldig auszusehen – langsam wurden ihm die Knie weich, als er während seines Redeschwalls umriss, was für eine gigantische Lüge er gerade seiner Freundin auftischte.
 

„What now?“ Sie schaute ihn fragend an.

„What now? So what! I told them, what I knew – the obvious, I know nothing at all, and you don’t, either. Then they sent me home, and here I am.”

Er hob die Hände entwaffnend.

„You need not to worry, Merry.“
 

Damit beugte er sich vor, gab ihr einen Kuss auf die Lippen, spürte, wie das Gefühl in seine Beine zurückkehrte. Kein Wort darüber, dass er, im Gegensatz zu ihr, abgestritten hatte, irgendwie involviert zu sein in diese Sache.
 

„Well – I promised you a nice evening out – and you deserve one. Come on. Let’s go...“
 

Sie zog nicht so recht, war immer noch beschäftigt mit den Ereignissen des Nachmittags, aber er ließ ihr keine Chance. Er zog sie ins Kino und zum Essen, beschäftigte ihre Gedanken so gründlich, dass es ihm fast vorkam, den heutigen Nachmittag aus ihrem Gedächtnis waschen zu wollen.

Erst nach Mitternacht kamen sie wieder nach Hause.

Er hatte den Abend angestrengt damit verbracht, sich heiter und gelassen zu geben, um in ihr keinen Zweifel über seine Ansichten zu der Sache zuzulassen.

Jetzt, endlich, war sie so müde, dass sie, kaum, dass ihr Kopf das Kissen berührt hatte, in einen tiefen Schlaf fiel. Sie hatte gelächelt, als er ihr einen Kuss auf die Lippen gedrückt hatte – und er hatte sich leise, damit sie nicht aufwachte, in das Zimmer verzogen, das sie gemeinsam als Arbeitszimmer nutzten, zog das Foto des Mädchens, das wohl das nächste und hoffentlich letzte Opfer war, aus seiner Jackeninnentasche.
 

Ihr Blick berührte ihn zutiefst – er kannte diese Art von Ausdruck in den Augen eines Mädchens nicht. Er sprach von Sehnsucht und tiefempfundenem Gefühl, und zwar nicht für den Fotografen, sondern für einen Menschen, der in ihrer unmittelbarer Nähe gestanden haben musste.

Und er traute sich wetten, dass dieser Mensch Sherlock Holmes persönlich gewesen war.
 

There is a girl that loves you so much, Sherlock…

If it wasn’t that sad, it would be funny… we all know Holmes’ attitude towards love and women, but there seems to be one thing you don’t share with him.
 

She loves you so much that it hurts, hurts her and you too, for sure, if you possess this thing called heart.

And you seem to have one, you did not seem to be without feeling, cold like a machine. You are a feeling human, a suffering man. And because of this feeling, because of your heart, they are after her to get you. To catch you. To destroy you.

For sure you are one of those men who’d do everything for the woman they love – who’d give their own live if hers could be spared with this sacrifice.
 

We are not that different concerning that matter, as it seems… Mr. Holmes.
 

Unwillig pinnte er das Foto an seine Holzstaffelei, suchte einen Keilrahmen in passender Größe und bespannte ihn. Sie war ein hübsches Mädchen und Superintendent Kudô sicher kein schlechter Mensch – wohl aber der Erzfeind dieses schwarzen Dämons, der über ihn schwebte wie ein unheilverkündender Schatten, und deshalb sollte sie dran glauben.

Er, der nach außen unantastbar schien wie Sherlock Holmes himself, nur seinen Fällen und der Gerechtigkeit verpflichtet, hatte einen wunden Punkt wie jeder andere Mensch auch.

Und dass dieser wunde Punkt die Liebe zu einem anderen Menschen war, genauso wie es bei ihm selbst war, machte diesen Volksheld der britischen Polizei für Eduard auf einmal extrem menschlich.

Wahrscheinlich hatte er das Bild schon gefunden, das Chianti ihm hatte zustellen müssen, und wahrscheinlich zerfraß ihn die Sorge um sie, ganz ähnlich, wie ihn die Sorge um Meredith.

Und eigentlich wollte er nicht dazu beitragen, ihm den Weg in seinen Untergang zu ebnen.

Andererseits gab es eben Meredith… und für sie würde er alles tun.

Wenn er dafür einen anderen Menschen über die Klinge springen lassen musste, musste es wohl so sein.

Abgesehen davon war der junge Detective nicht blöd.

Vielleicht schaffte er es ja, diesem schwarzen Teufel zuvor zu kommen – vielleicht konnte er bewerkstelligen, zu was zu tun er selbst nie in der Lage sein würde.

Sich ihm entgegenstellen.

Und ihn bezwingen.
 

Damit hob er den Kohlestift an, setzte ihn auf die Leinwand und zog den ersten, pechschwarzen Strich.
 


 


 

Er saß in der Finsternis seines Büros, sah hinaus durch das riesige Fenster der Glasfassade des Skelettbaus, blickte geradewegs auf die spektakulär beleuchtete Westminster Abbey.

Kein Mensch war mehr hier auf dieser Etage zu dieser Tageszeit – und so saß er allein, wartete auf ihn.

Seinen Berichterstatter, seinen Doppelagenten wider Willen.
 

Und er kam pünktlich, wie immer.
 

Leise ging die Tür auf, und leise schloss sie sich wieder. Er machte kein Licht, wie immer, näherte sich ihm lautlos bis auf drei Meter, blieb vor dem Schreibtisch stehen. Er konnte die Reflektion seines Gesichtes sehen, lächelte stumm in sich hinein.
 

„Also ist der sprichwörtliche Adler nun gelandet, Bourbon?“

Der Mann nickte kurz.

„So ist es. Sie wissen, dass das Mädchen noch lebt. Und sie haben ihm die Nachricht darüber auch bereits zukommen lassen.“
 

Langsam nickte der Mann. Er schien zufrieden zu sein.

„Was macht er?“

„Was zu erwarten war. Er hat das FBI angerufen, Akai. Dann ist er ins Hotel gefahren, wo er wohl Sherry gewarnt hat und seine… und Ran Mori. Er lässt es nicht mehr darauf ankommen, hab ich das Gefühl.“

„Das soll mir Recht sein, Bourbon. Es wäre mir ein Vergnügen zu sehen, wie er sich rächt für diese Schandtat von vor fünf Jahren, er hat jedes Recht dazu. Der, der zuletzt lacht, werde am Ende allerdings ich sein – nur weiß er das noch nicht. Und darüber muss er unbedingt im Unklaren bleiben. Umso besser, wenn er seine Energien nun gänzlich darauf verwendet, dieses nette kleine Spielchen, das Gin mit ihm angefangen hat, zu durchschauen.“
 

Er lachte heiser. Bourbon, der immer noch an Ort und Stelle stand, schaute ihn ruhig an.
 

„Und was dann, Anokata?“
 

Ein breites Grinsen schlich sich auf das Gesicht des Angesprochenen.
 

„Dann wird er büßen… büßen dafür, was er mir und meiner Organisation vor fünf Jahren angetan hat.

Ja, in der Tat.

Das wird er.“
 

Er lachte heiser.
 

„Aber nun lassen wir ihm… den kurzen Moment seines Triumphs, so er Gin gewachsen ist, diesmal. Ich hege daran allerdings keinen Zweifel. Wir stehen keinem dummen Teenager mehr gegenüber, ich habe schließlich beobachten können, was aus ihm geworden ist in den letzten fünf Jahren, getrieben von dem Willen, eines Tages noch abrechnen zu können.

Der Tag scheint näher zu rücken.“
 

Ein leises Klicken ertönte, gefolgt von einem leisen Ziehen und Pusten, das von einem kurzen orangeroten Glimmen in der Dunkelheit begleitet wurde. Schemenhaft sah man seinen Umriss, dunstig rotorange im Rauch der Zigarre.
 

„Wie geht’s deiner Schwester, Rei…?“

Bourbon schloss die Augen, schluckte hart.

„Sie ist im Krankenhaus. Und bitte, tun Sie nicht so, als wüssten Sie das nicht…“

Er bewegte sich unruhig, starrte auf die glimmende Zigarrenspitze vor ihm.
 

„Allerdings… es scheint, als würde langsam nun eine Wahrheit nach der anderen aufgedeckt werden – spannend ist das. Sehr spannend. Ich kann ihn fast verstehen, ihn, den es doch immer schon nur nach ihr dürstet… der Wahrheit.“
 

Er grinste bösartig.

„Grüß dein Schwesterherz von mir, wenn du sie besuchst. Und ich hoffe, du weißt, welche Infos du deinem… anderen Arbeitgeber zu vermitteln hast.“
 

Damit hob er die Hand, bedeutete Bourbon, sich zu entfernen.
 

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Ein herzliches Dankeschön an all die tapferen Kommentarschreiber!

Joa… hier begebe ich mich nun langsam auf Glatteis. Bourbon ist ein komplizierter Charakter, genauso wie es Anokata ist… wir werden sehen, ob ich es schaffe, diese Fäden einigermaßen einzuflechten in meine Geschichte. Ich bin gespannt, was ihr sagt. Also, bitte immer her mit euren Kritiken und Anregungen (auch gern Hintergrundwissen!!!). Ich lese den Manga mit, und so langsam gewinnt Bourbons Charakter Konturen, wenn ich mir seine Geschichte wohl auch noch ein wenig anpassen muss…
 

Entschuldigt bitte die Verspätung… diese Woche war viel los.
 

Beste Grüße,

Eure Leira

Kapitel 23: Alptraum

KAPITEL 23 – ALPTRAUM
 

Als er wieder aufwachte, war die Welt eine andere als zuvor.

Er lag immer noch – oder schon wieder? - auf dieser Liege.

Auch die OP-Beleuchtung brannte auf ihn nieder, immer noch, heiß und blendend hell.
 

Er jedoch zitterte wie Espenlaub.

Mühsam atmete er ein, merkte, wie seine Lungen sich nur zögerlich mit Luft füllten. Angst schnürte ihm immer noch die Kehle zu, trocknete seinen Mund aus, ließ seine Zunge am Gaumen kleben, so dass er nur mühsam schlucken konnte.
 

Angst schien sein Hirn in einen wirren Salat aus Neuronen, Synapsen und Verbindungssträngen zu verwandeln, unfähig, auch nur noch einen sinnvollen Gedanken zu fassen oder ein lesbares Signal zu verschicken, während Schmerz und Verzweiflung mit beiden Händen in seiner Brust wühlten. Nur mit Mühe befreite er sich vom Rest der dunklen Schatten, denen er gerade entflohen war.
 

Er sah sich um, erfasste nur langsam, dass auch das nur ein Traum gewesen war, eine Halluzination, nichts weiter.
 

Und dennoch riss es ihm fast das Herz in Fetzen, buchstäblich.
 

Shinichi hatte sie sterben sehen.
 

>Ran.<
 

Er schluckte, kniff die Augen zu, verbot sich, ihren Namen auch nur mit seinen Lippen zu formen.

Nie durften sie von ihr erfahren. Niemals.
 

Und erst jetzt fühlte er den Tropfen Wasser, der ihm aus dem Augenwinkel rann. Er wollte die Hand heben, um ihn sich weg zu wischen, ein aussichtsloses Unterfangen, war er doch immer noch festgebunden. Widerwillig fühlte er, wie in ihm die Scham schon wieder emporkriechen wollte; er wollte nicht, dass sie ihn hier weinen sahen, ganz sicher nicht – als er jedoch den schwarzen Umriss sah, der in den Lichtkegel tauchte, ahnte er, dass es dafür längst zu spät war. Er wand sein Handgelenk in dem ledernen Gurt, der es festhielt, und hörte auf, als er ihn leise lachen hörte.
 

„Ermordet.“
 

Shinichi schloss die Augen, fühlte, wie sein Kopf erneut den Film, den er gerade eben schon nicht hatte sehen wollen, erneut ablaufen lassen wollte, vertrieb die Bilder, die Gedanken, die Geräusche mit Mühe.
 

„Das ist es also… deine größte Angst. Sie zu verlieren.“

Er trat näher, langsam.

„Sie nicht beschützen zu können.

Ihr den Tod zu bringen.

Zu versagen.“
 

Er griff ihm in die Haare, zog seinen Kopf nach hinten. Ein fast lautloses Stöhnen kroch über seine Lippen, als sein sich intensivierender Kopfschmerz ihm deutlich erklärte, dass er eine solch rüde Behandlung gar nicht schätzte.
 

„Weißt du, deshalb liebe ich dieses Gift.“

Seine Stimme näherte sich seinem Ohr, züngelte in seinen Gehörgang wie die gespaltene Zunge einer Schlange.
 

„Weil es mir alles verrät, was ich wissen muss, um in die Köpfe meiner Gefangenen einzudringen und ihren Willen zu brechen. Es verrät mir ihr größtes Glück – und ihre tiefste Angst.“

Er ließ ihn los, nicht ohne kurz an seinen Haaren zu zerren. Shinichi schrie leise auf; sein Kopf fühlte sich, als würde er explodieren wie eine Flasche Mineralwasser, die man vor dem Öffnen geschüttelt hatte.
 

„Das träumen Sie doch. Woher wollen Sie wissen…“
 

Anokata stellte sich neben ihn, verschränkte die Arme vor der Brust, sah ihn ruhig an.
 

„Ich bin nicht weniger ein Detektiv als du.“

Shinichi schluckte.

„Ach, tatsächlich.“

Humorlos kroch ihm diese Bemerkung über die Lippen, kurz schloss er die Augen.

Ein gemeines Lächeln kräuselte die Lippen des Bosses.

„So, so. Deine Dreistigkeit ist dir also noch nicht vergangen, interessant. Aber wie ich weißt auch du, dass ich die Wahrheit spreche… dieses Gift schaltet deinen Verstand aus, blockiert deine Metakognition. Du kannst nicht mehr steuern, was du preisgeben willst, und was nicht – und damit zieht es den Vorhang beiseite, lässt mich hinter die Kulissen sehen, erleben, was in deinem Leben wirklich Bedeutung hat, hinter diesem Theaterstück des unerschrockenen Detektiven, das du so detailreich inszenierst.“

Er lachte hohl.

„Ganz der Sohn deiner Frau Mama, nicht wahr?“
 

Shinichi schluckte trocken, ehe er zu einer Antwort ansetzte.
 

„Dennoch. Woher wollen Sie wissen, dass nicht etwas ganz anderes…“
 

„Weil das doch der Grund ist, warum du hier bist, Shinichi Kudô.“
 

Shinichi erstarrte, blinzelte in das Licht. Die Schattengestalt kam näher, erneut ganz dicht an sein Ohr.

„Erzähl mir nicht, du tust das nur für Sherry…

Ich weiß nicht, wer dich gewarnt hat, aber dir war klar, genauso wie mir, vor dieser kleinen Mail warst du weitgehend uninteressant für uns – als Name kaum auf unserer Bildfläche. Es gab nichts, was du uns hättest geben können. Wir kannten das Geheimnis hinter APTX, wir kannten das Geheimnis deiner Jugend, und wir entwickelten ein Gegengift dagegen, wie du ja erfahren durftest. Wir forschen ein wenig daran herum, wie man sich diesen Verjüngungseffekt zu Nutze machen könnte – aber seien wir ehrlich – jede Laborratte erfüllt diesen Zweck besser als du, der du doch so ungleich anstrengender und nervenstrapazierender in der Haltung bist. Labortierchen sind da ungleich einfacher und billiger. Versteh das bitte nicht falsch.“

Er tätschelte ihm die Stirn, bis Shinichi seinen Kopf unter seiner Hand wegzog.

„Mir imponierte dein Mut, um nicht zu sagen, deine Frechheit, mit der du mich ansprachst und mir so offen drohtest. Ich mag das… ich schätze Menschen, die vor mir nicht buckeln und zusammenfallen. Ich zerstöre sie trotzdem, das versteht sich von selber… aber der Vorgang ist so ungleich viel erfüllender. Ich liebe es, mit ihnen zu diskutieren. Aus ihnen herauszupressen, wie sie hinter meine Geheimnisse kommen konnten, oder warum sie überhaupt annahmen, es mit mir aufnehmen zu können…“

Er lachte.
 

„Was aber den Beweis angeht, warum das Gift mir immer die Wahrheit über meine Delinquenten erzählt? Ganz einfach. Kein Mensch traut sich ohne gewichtigen Grund, mir in den Weg zu schreiten. Es geht ihnen um etwas, um etwas Persönliches – nicht um ein Abstraktum wie Wahrheit oder Gerechtigkeit oder sonstigen Nonsens. Dafür muss man sich nicht in die Höhle des Löwen begeben, mit etwas Geduld und besserer Planung hätte man vielleicht sogar mehr Erfolg. Das aber… hast du nicht getan. Du bist losgelaufen, fast noch bevor der Startschuss fiel… und du hast aber nicht dich in Sicherheit gebracht… sondern andere. Dir ging es immer um die anderen, nicht wahr?

Und warum…“
 

Er lachte leise, selbstzufrieden.
 

„Warum dann nicht vor allem um dieses eine Mädchen…“
 

Shinichi fing an zu schwitzen, presste die Lippen aufeinander. Er wollte etwas sagen, konnte jedoch kaum einen klaren Gedanken fassen – Schweiß perlte ihm auf die Stirn, und er wusste nicht, ob es diese vermaledeite Lampe war, oder etwas anderes, das diese Hitze verursachte.

Der Boss schien sein Schweigen auf seine Weise zu deuten.
 

„Sprachlos, Kudô? Es ist so einfach, einen Menschen zu manipulieren, ihn sich gefügig zu machen, man muss nur wissen, wie.“

Er ging um ihn herum, langsam, wie ein schwarzer Panther.
 

„Früher folterte man die Gefangenen. Körperliche Schmerzen neigen dazu, die Zunge etwas zu lockern… Hunger, Durst, Hitze. Kälte. Atemnot. Krämpfe. Ausgerenkte Glieder,…“
 

„Tja. Nur sind wir leider nicht mehr im Mittelalter. Abgesehen davon wars doch immer ne ziemliche Sauerei.“, fiel Shinichi ihm ins Wort, in seiner Stimme, wenngleich heiser, doch eine deutlich hörbare Note beißenden Sarkasmusses. Shinichi schluckte, dann kniff er die Augen zu, um seine Sehnerven zu beruhigen, wandte dann den Kopf. Er erkannte nur schemenhaft, wo er sich befand; seine Augen tränten wegen des grellen Lichts, er konnte sie kaum öffnen, und wenn er es tat, bildete sich ein derart starkes Nachbild, dass er minutenlang schwarze Kreise sah.
 

„Stimmt auffallend. Deshalb ging man irgendwann zu anderen Arten von Folter über. Sensorische Deprivation. Isolation…“
 

Aber ganz offensichtlich waren sie allein.
 

„… psychologische Methoden.“, murmelte Shinichi leise.

„Richtig.“

Der Boss blieb stehen.

„Methoden, bei denen man sich die Hände nicht im Geringsten dreckig macht, die aber durchaus durchschlagenden Erfolg haben. Denn seien wir ehrlich – wer die Wirkung des Apoptoxins einmal oder zweimal…“

„… oder noch öfter…“

„… am eigenen Leib erlebt hat, den kann auch kaum mehr ein gebrochenes Bein oder eine ausgerenkte Schulter schocken, nicht wahr?“

Seine Stimme klang lauernd.

„Deshalb bin ich größter Fan von psychologischen Tricks, um meine Gäste zum Plaudern zu bringen. Man wird dir kaum etwas ansehen, als die üblichen Auffälligkeiten eines Junkies, irgendwann… wenn du soweit überhaupt kommst.“
 

Er schwieg, machte eine Kunstpause, um einen Schritt zurückzutreten.
 

„Der sehnsüchtigste Wunsch und die größte Angst - diese beiden Dinge sind die Schlüssel, um sich einen Menschen untertan zu machen. Bei manchen reicht es, ihm seinen größten Traum zu erfüllen. Bei vielen ist das Wohlstand, Macht, Reichtum, Luxus, gutes Aussehen. Gib ihnen genug Geld und sie werden alles für dich tun – diese Methode wähle ich bei Menschen, die ich mir nützlich machen will, für eine Zeitlang.“

Er lachte.

„Nur für eine Zeitlang, immer, wohlgemerkt.“
 

Er blieb stehen, betrachtete den Oberschüler, der vor ihm auf dem Tisch lag, und stockend atmete, bemerkte mit Genugtuung dessen unfokussierten Blick, den Schweiß auf seiner Stirn, das Zittern, dass seine Hände bereits schüttelte.

„Bei anderen, von denen ich, sagen wir es mal… diplomatisch… nur eine Auskunft haben möchte, bemühe ich mich eher darum, ihnen ihren Alptraum zu erfüllen. In der Regel reicht die Androhung der Wahrmachung desselben, und sie singen wie die Kanarienvögel.“

Er pausierte, um sich eine Zigarre anzuzünden.
 

„Was Sie wahrscheinlich nicht davon abhält, ihnen diesen… Alptraum dennoch zu erfüllen.“

Shinichis Stimme klang heiser, und er redete leise. Sein Mund war seltsam wattig, fühlte sich an, als hätte er Pelz zwischen den Zähnen.
 

„Nein, in der Tat. Ihnen bei ihren Wahnvorstellungen zuzusehen ist das eine Vergnügen, die Erfüllung derselben und die Reaktion darauf jedoch… mit nichts anderem zu vergleichen.“
 

Er setzte sich auf einen Stuhl neben Shinichis Kopf, paffte leise. Der Geruch von Rauch stieg in seine Nase, ließ ihn husten.
 

„Und was… was machen Sie, wenn…“
 

„Ach.“

Er lachte leise.

„Zuerst lasse ich das Gift ein wenig seine Arbeit tun, Shinichi Kudô. Du wirst das schon noch merken. Und dann reden wir weiter, was ich mache, wenn nichts wirkt…“

Erneut umwölkte ihn ein graublauer Dunstschleier.
 

„Das ist nämlich nicht einfach ein Nervengift. Es ist eine halluzinogene Droge. Und ob du es willst oder nicht, du bist jetzt schon süchtig danach.“
 

Shinichi erstarrte unwillkürlich. Anokata drehte sich um, ein wenig nur, bemerkte amüsiert und zufrieden gleichermaßen, wie sich die Muskeln seines Gefangenen anspannten.
 

„Das glaub ich nicht. Nach einer…“, brachte er schließlich hervor.

„Glaub mir, der erste Kontakt reicht.“
 

Er stand auf, schaute ihn von oben herab an, spürten den Blick des jungen Detektiven auf sich und wusste doch, dass er außer seines Umrisses nichts sah – dafür sorgte die Beleuchtung.
 

„Der erste Effekt ist immer der Rausch – dieses irre Glücksgefühl, diese Menge an Endorphinen, die deinen Körper überfluten, deinen Geist davontragen, dich in Glückseligkeit baden lassen… ein Erlebnis, das man gerne wiederholen würde. Nicht wahr?“

Anokata lächelte wissend.

„Und streite es bloß nicht ab… du hättest sie so gerne wieder hier, wir konnten es alle sehen – dieses Lächeln auf deinen Lippen sagte alles. Die Erleichterung in deinen Gesichtszügen. Du willst sie in deinen Armen spüren, in deiner Nähe haben, willst den Geruch ihres Haars in deiner Nase, das Gefühl ihrer Haut unter deinen Fingern zurück, wer weiß, vielleicht schenkt sie dir das nächste Mal ihren ersten Kuss…“
 

„Hören Sie auf!“
 

Shinichis angeschlagene Stimme überschlug sich.

„Was, was, was?“

Der Boss lachte, hob scheinbar entschuldigend die Hände.

„Was regst du dich so auf…? Spreche ich etwa nicht die Wahrheit, Detektiv?“
 

Shinichi blinzelte ihn an, stöhnte auf, als das Licht seine Kopfschmerzen vervielfachte, sein Herz raste, seine Atmung wurde schnell, und verdammt flach.
 

>Was ist das…?<
 

Dann hörte er ihn erneut, drängte die Unruhe, die ihn erfüllte, zurück.

„Und danach wird immer der Absturz kommen, Detektiv. Selten bezieht er sich auf den Rauschtraum… bei dir jedoch ist es das exakte Gegenteil, und scheint sich obendrein noch sehr plastisch darzustellen.“

Er grinste diabolisch.

„Deine Erfahrungen als Ermittler scheinen dir hierbei nicht besonders gut zu tun… du kannst dir das alles einfach viel zu gut vorstellen.“
 

Shinichi schluckte trocken, hustete erstickt.
 

„Diese Wahnvorstellungen wiederholen sich immer weiter, bis du die nächste Dosis bekommst. Und werden immer schlimmer, immer länger, immer intensiver. Und nicht zu vergessen… sie gehen mit nicht unerheblichen körperlichen Symptomen einher – denn wir reden hier bereits vom Entzug.“
 

Erneut streifte eine Rauchwolke Shinichis Gesicht – aber diesmal bekam er sie kaum mehr mit.

„Taubheit in den Gliedmaßen, Kopfschmerzen, Schwindel. Herzrasen, niedriger Blutdruck, Hyperventilation. Du weißt, was danach kommt, wenn man hier nicht interveniert...“
 

Shinichi riss die Augen auf, schluckte hart.
 

„Aufbrauchen der Energiereserven des Körpers, Absacken des Pulses, bis hin…“
 

Ein leises, paffendes Geräusch erklang an seinem Ohr.
 

„Exitus.“
 

Shinichi fing an zu zittern.

„Das glaub ich nicht.“

Er kniff die Augen zusammen, fluchte innerlich, als er seine wackelige Stimme hörte. Er spürte es doch bereits. Er fühlte kaum mehr etwas in den Fingern, fühlte, wie sein Herz seinen Takt beschleunigte.

Und er konnte die nahende Ohmacht fühlen, die sich anschlich, leise und tückisch, um ihn dann rücklings mit sich in die Dunkelheit zu reißen.
 

„Wir können ja mal sehen, wie lang du das aushältst, Kudô. Vielleicht glaubst du mir ja morgen.“
 

Und auf einmal spürte er, wie er losgeschnallt wurde, man ihn vom Tisch stieß – er fühlte, wie langsam er reagierte, konnte den Sturz kaum abfangen, krallte seine tauben Finger mit Mühe um die Tischkante. Shinichi keuchte, wollte sich aufrichten, aufstehen, und fühlte, wie wenig Kontrolle er jetzt schon über sich hatte. Er zitterte am ganzen Körper, focht gegen die immer dickere Schwärze an, die ihn einhüllte. Unsicher klammerte er sich mit schwitzigen, kalten, gefühllosen Fingern an der Tischplatte fest, zog sich hoch, fand mit seinen Beinen kaum Halt, weil sie wie taub zu sein schiehen. Feindselig starrte er den Boss an – und sah zum ersten Mal im schwarzen Flimmern des Nachbilds dieser Lampe ein Gesicht.
 

Oder zumindest das, was ein Gesicht hätte sein sollen.
 

Er trug eine Maske, die sein Gesicht bedeckte. Sie war fast weiß, ähnlich wie aus einem Nô-Theater, aber keine, die Shinichi hätte zuordnen können.

Er blickte ihn nur an, unbeweglich, wie schockgefroren.
 

„Was hast du erwartet, Detektiv? Keiner sieht den Boss. Keiner kennt ihn…“
 

Die Maske lachte. Und auf einmal schnellten seine Hände über den Tisch, griffen nach Shinichis Handgelenken und rissen sie zu sich, zogen den jungen Detektiv halb über die Tischplatte. Shinichi japste nach Luft, als die Tischkante seine Magengegend traf – er konnte sich kaum bewegen, das Gesicht des Bosses zum Greifen nah.
 

„Was wolltest du hier? Weshalb tust du dir das an… warum hast du diesen Krieg angefangen, den du nicht gewinnen kannst, Kudô? Das FBI wird dich nicht finden, hier nicht – dieser Ort hier ist nirgends erwähnt und nicht verzeichnet. Warum glaubt so ein Bürschchen wie du, es mit mir und meiner Organisation aufnehmen zu können? Oder wusstest du nicht, worauf du dich einließest…?“
 

Shinichi schluckte.
 

„Am Anfang wohl nicht, nein. Als ich diese Entscheidung gefällt habe, die mich in diese Lage gebracht hat, allerdings sehr wohl.“
 

Dann lächelte er, schaute geradewegs in die Augen der Maske.
 

„Und Ihre Frage sollte doch wohl viel eher lauten – warum gerade nicht ich? Oder wenn nicht ich… wer sonst?“

Shinichi schluckte.

„Was dachten Sie denn? Dass ich mein Leben lang als Grundschulknirps herumlaufen will…? Sicher nicht.“

Er lachte leise, erstickt. Shinichi merkte, wie ihm das Stehen zunehmend schwerer fiel, weil seine Beine zu zittern angefangen hatten – aber der Boss hielt seine Hände fest umklammert wie eingezwängt in zwei Schraubstöcke.

„Und ich hatte doch gehofft, Sie hätten die Zeit, bis ich hier ankam, oder seit Ihrer letzten Bemühung um mein Wohlbefinden genutzt, um ein wenig mehr über mich herauszufinden.“

Er atmete mühsam ein, als seine Beine nachgeben wollten, sein Gewicht ihn nach hinten zog.

„Ich bin Detektiv.“

Trotzig hob er den Kopf, starrte in die ausdruckslose Maske, sah dahinter das gefährliche Glitzern zweier eisgrauer Augen.
 

„Ich habe ihre Leute beobachtet bei einem Verbrechen, ich sah sie weitere begehen, wie hätte ich die Augen zumachen können und die Hände in den Schoß legen, egal ob als Grundschüler oder nicht. Und ich habe Sherry kennengelernt, oder Shiho, wie ich sie lieber nenne, ich habe ihre Schwester sterben sehen, ich weiß, sie haben ihre Eltern ermordet, wie hätte ich mich nicht mit allem, was ich habe, in diesen Kampf stürzen wollen?“

Er schluckte hart.

„Sie sind das Böse, und das gilt es auszumerzen. Mir war klar, wenn ich wollte, dass alle, die mir etwas bedeuten, sicher sein sollen, wenn ich wollte, das Shiho endlich frei war, wenn ich wollte, dass ich… irgendwann wieder mein Leben zurückbekäme, dann…“
 

Er stöhnte auf, schmerzerfüllt, als sein bisher nur dumpfer Kopfschmerz an Intensität gewann.
 

„… dann müsste ich aufstehen und Ihnen die Maske von ihrer hässlichen Visage reißen…“
 

Shinichi schnappte nach Luft, lächelte bitter.
 

„Und wie sie wissen, das habe ich getan. Egal was mit mir hier passiert – Ihre Organisation hat keine Zukunft.“
 

Der Boss ließ ihn los, starrte ihn nur an, ausdruckslos, als zwei Hände Shinichi von hinten packten.
 

„Du wirst sehen, was du von deinem schlauen Gerede hast, Kudô. Glaub mir, bereits in ein paar Stunden liegst du um Gnade bettelnd vor meinen Füßen. Diese Organisation wird niemand zerstören – du nicht, und auch nicht deine Freunde vom FBI. Niemand.“
 

Er drehte sich um, aber Shinichis Stimme hielt ihn zurück.
 

„Vertrauen Sie darauf, dass ich das tun werde… und wenn es das Letzte ist was ich tue, was ja laut Ihrer Aussage nicht ganz unwahrscheinlich ist. Ich habe, im Gegensatz zu ihnen also nichts mehr zu verlieren, wenn ich hier ohnehin nicht lebend rauskomme…“

Kurz schluckte er.
 

Anokata drehte sich um.
 

„Da sei dir mal nicht so sicher, junger Freund.

Sei dir nicht so sicher…“
 

>Ran!<
 

Er fuhr hoch, heftig atmend, blickte um sich.

Langsam fand seine Hand an seine Stirn, strich sich über die feuchte Haut, rieb den Schweiß in seine Haare, als er seine Hand über seinen Kopf weiterwandern ließ. Sein Puls raste, beruhigte sich nur langsam, selbst als er merkte, dass er wieder nur geträumt hatte. Lauf seufzend ließ er sich nach hinten fallen, hörte das dumpfe Rascheln der Federn seines Kopfkissens.

Automatisch griff er nach dem Smartphone neben seinem Wecker, checkte die Nachrichten.

Nichts.
 

Offenbar war alles in Ordnung.
 

Müde ließ er seinen Arm zurück sinken, legte das Telefon zurück.

„Was ist das nur…“

Leise und heiser erklang seine Stimme in der Dunkelheit, fast fremd in seinen Ohren.
 

Ihm war klar, er träumte von seiner Zeit in der Organisation; nichts anderes war es, was er sah. Gestern der erste Rausch, den dieses Halluzinogen ihm verschafft hatte, und er vermutete stark, dass der Auslöser dafür ihr Treffen auf dieser Brücke gewesen war.
 

Es ist doch oft so, dass man in seinen Träumen die Geschehnisse des Tages verarbeitet. Und wenn sie dann so eng verknüpft sind mit anderen Erlebnissen… braucht es einen nicht wundern, dass das Hirn das alles mal hübsch durcheinanderbringt.

Auch wenns ein ansonsten so gut organisiertes Hirn ist wie meins.
 

Shinichi seufzte.
 

Und heute?

Was war der Grund dafür, dass ihn seine kleinen grauen Zellen an den schlimmsten Fieberwahn erinnerten, den er da drin hatte erleben dürfen?
 

Der schwarze Umschlag.

Klar, Kudô, Dummkopf.
 

Natürlich. Das musste es sein. Die greifbare Nähe der Organisation musste der Auslöser gewesen sein, der Grund dafür, dass die Jukebox in seinem Kopf aus all den schönen Titeln gerade diesen herausgesucht hatte, um ihn für ihn abzuspielen.
 

Shinichi setzte sich wieder auf, schluckte trocken.

Langsam war sein Puls wieder im Normalbereich angekommen, sein Atem hatte sich schon längst wieder beruhigt.
 

Tatsächlich dachte er auf einmal völlig klar.
 

Und ihm fiel etwas auf, woran er noch nie einen Gedanken verschwendet hatte.
 

Der Traum von Ran wegen der Brücke. Wegen unseres Treffens in London vor Jahren, wegen des ersten Traums unter dem Einfluss dieser Droge.

Der Traum von… Anokata… heute wegen der Präsenz der Organisation, wegen meiner Angst – seien wir ehrlich, seit ich das Zeitungsfoto und dem Umschlag gesehen habe, spukt mir nur diese Szene im Kopf herum.
 

Hat das vielleicht noch ganz andere Zusammenhänge, die mir damals einfach nicht klar waren?

Arbeitete diese Droge mit Auslösereiz?

Kaum vorstellbar… aber was, wenn doch?
 

Shinichi seufzte, schüttelte den Kopf.
 

Selbst wenn, es ist jetzt auch egal. Diesmal ist es etwas ganz anderes, das mich schlecht schlafen lässt…
 

Er lächelte bitter, schwang seine Beine aus dem Bett, starrte kurz in die Luft, dachte nach. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken – genauso gut konnte er sich an die Recherchen zu dieser Blümchennummer machen, morgen ließ ihm bestimmt wieder irgendetwas keine Zeit dazu.
 

Und so stand er auf, ließ den Kopf kurz in den Nacken sinken und die Schultern kreisen, ehe er wieder einmal frühmorgens in seine kleine Küche wankte, dieses Mal allerdings, um sich Kaffee zu kochen.
 

Ein paar Minuten später, nachdem ihm seine uralte Kaffeemaschine, die er vom Vormieter übernommen hatte, weil er sie einfach hatte stehen lassen, schon fast beleidigt über die nächtliche Ruhestörung und sehr widerwillig eine Tasse Kaffee sehr stark aufgebrüht hatte, saß er mit untergeschlagenen Beinen und seinem Laptop auf den Knien auf seinem Sofa und warf das Ding an, während er einen Schluck trank.
 

Wann saß ich das letzte Mal nachts an einem Fall?

Muss ewig her sein…

Ansonsten liege ich ja nur wach im Bett und wünsch mir den Schlaf…

Eigentlich ist das hier direkt erfrischend.
 

Er tippte mit einer Hand sein Passwort ein, als das Eingabefeld endlich auftauchte und startete den Internetexplorer seines Vertrauens.
 

„Also. Versuchen wir mal das Offensichtliche.“
 

Kurz stellte Shinichi seine Kaffeetasse sehr vorsichtig neben sich auf der Couch ab, um fast ohne sich zu bewegen mit beiden Händen die drei Blumensorten einzutippen.
 

Zuerst probierte er es in seiner Muttersprache, und verdrehte gleich darauf genervt die Augen – was ihm entgegensprang waren tausende Treffer zu Seiten, die Heilpflanzen und Kräuterkochrezepte behandelten.

Er schüttelte den Kopf.

Sie waren hier in Großbritannien. Er sollte es auf Englisch versuchen.
 

Kaum hatte er die ersten beiden Namen eingetippt, vervollständigte ihm die Suchmaschine die Zeile automatisch mit „columbine“.

Er stutzte, ließ sich das Wort übersetzen und fand heraus, dass columbine auch eine Blume war – eine Akelei.
 

Langsam stieß er die Luft aus. Öffnete ein Worddokument und notierte sich das, ehe er seine Suche manuell vervollständigte. Auf die Akelei würde er zurückkommen.
 

Und das schneller, als er dachte.
 

Die Kinnlade fiel ihm ordentlich nach unten, als er sich die ersten drei Treffer ansah.
 

Shakespeare?!
 

„Was zur Hölle?!“, flüsterte er leise. Verwirrung machte sich in ihm breit.

Tatsache, Shakespeare. Hamlet, um genau zu sein, und die Pflanzen waren einfach zu speziell, die Treffer zu passend, als dass es Zufall sein konnte.

Die Auswahl der Pflanzen hatten irgendetwas mit Hamlet oder Shakespeare zu tun, nur was, war ihm völlig schleierhaft.
 

Shakespeare.
 

Er schüttelte den Kopf, kurz, dann suchte er sich eine Internetseite, die sich mit Shakespeare befasste und seine Werke online führte. Die Blumen, fand er heraus, wurden von einer weiblichen Figur namens Ophelia verteilt, ein armes Mädchen, dass sich unter Wahnvorstellungen leidend, im Fluss ertränkte – vorher jedoch übergab sie diese Blumen an verschiedene Personen und mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung.

Er kopierte sich die Abschnitte großzügig heraus, schickte das Dokument übers W-Lan seiner Wohnung an seinen Drucker, der im Nebenraum zum Leben erwachte und im Gegensatz zu seinem Bürogerät die Blätter ausgesprochen leise und sehr schnell für ihn zur Verfügung stellte.
 

Neben den Stiefmütterchen, die bei Shakespeare als Symbol für die Erinnerung standen (neben der Tatsache, dass sie als Wappenblume für Osaka einfach am Besten zu Ayako passten), fand er auch den Rosmarin als Blume für Liebe und Treue (Erin hatte den Verlobungsring am Finger getragen, erinnerte er sich) und den Fenchel als Zeichen für Schmeichelei und Erfolg standen. Er fragte sich, was das dritte Mädchen an sich hatte, dass es dieses Symbol verdiente.

Vielleicht half ihm das, herauszufinden, wer sie sein könnte – er würde morgen unbedingt die Vermisstenanzeigen durchgehen müssen. Schmeichelei und Erfolg sprachen eventuell von einem Model oder ähnlichem – der Gedanke an Schönheit und das Geld, das man mit ihr verdienen konnte, drängte sich ihm unwillkürlich auf.

Es blieben noch übrig die erwähnte Akelei als Symbol für Untreue und Verrat, Gänseblümchen als Zeichen für Betrug und Lüge, Weinkraut - und das Vergissmeinnicht.
 

Hoffnung und Glaube.
 

Shinichi schluckte.
 

Ich muss herausfinden, was das zu bedeuten hat.
 

Er wollte seinen Kaffee an die Lippen setzen, merkte, dass er ihn bereits ausgetrunken hatte, seufzte in die leere Tasse.

Wahrscheinlich war es ohnehin besser, er versuchte, noch ein wenig zu schlafen.

Der Tag würde anstrengend werden, so oder so.
 

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Hier mal etwas kürzer – vielleicht ist das auch einfacher für euch, ich merke, die Kommentare gehen schon wieder zurück… *seufz*

Ist der Wochenrhythmus doch zu heftig für euch? Einfach Bescheid geben, ich richte mich nach euch, aber ehrlich – auf euer Feedback möchte ich ungern verzichten.
 

Ich danke an der Stelle schon einmal herzlich an alle Kommentarschreiber,

Liebe Grüße,

eure Leira

Tag 6 - Kapitel 24: Schatten und Licht

TAG 6
 

KAPITEL 24 – SCHATTEN UND LICHT
 

Am nächsten Tag saß Jenna frühmorgens über ihren Notizen.

Sie hatte sich, wie ihr Partner ihr aufgetragen hatte, die Nacht mit der Beschattung des Pärchens um die Ohren geschlagen. Sie war ihnen unauffällig ins Kino gefolgt, wo sie sich mit ihnen in eine Liebesschnulze gesetzt hatte – und sich dort sechsundneunzig Minuten zu Tode gelangweilt, bis die tollpatschige, schüchterne Protagonistin den smarten Hauptdarsteller natürlich doch rein zufällig bekommen hatte, weil, wer hätte das gedacht, er sie schon seit geraumer Zeit anschmachtete, ihr aber nie einen Wink gab.
 

Jenna grollte leise vor sich hin.
 

How boring.

How unrealistic.
 

Although… considering that drama of SI Kudô and his girlfriend… what where they like, in their teenhood? For sure he never went like a bull at a gate, whenever he approached her. If he approached her at all. He is not that kind of guy.

And the fact of him being famous and popular even back then, made it not easy for her to confess her feelings to him, for sure…

All those girlies adoring him were not easy to swallow for her, I guess.
 

So… it seems that they, too, stood half of their life face to face, petrified by this overwhelming fear to destroy a very precious friendship by blurting out their feelings for each other.

They have never dared to do this.
 

But what good did that to them?

Nothing. Just – nothing.
 

Life is such a bad joke.
 

Nach dem Kino waren die beiden Essen gegangen – da die beiden noch Studenten waren, in ein Etablissement, das auch Jennas Portemonnaie entsprach. Sie verbrachten den Rest des Abends bei einem günstigen, aber leckeren Chinesen, sehr zu ihrer Freude – sie hatte den halben Tag auch noch nichts gegessen und freute sich wie ein kleines Kind über die scharfe Curry-Ente auf gebratenem Reis, Pekingsuppe und ihr Dessert. Jenna notierte sich die Adresse und den Namen – bei Gelegenheit würde sie sicher wieder hier aufschlagen. Die Glücksbällchen im Kokosbad, die sie als Dessert vertilgt hatte, waren ein Gedicht gewesen, auch wenn ihr das gestrige Menü heute noch im Magen lag.

Sie strich sich ihre Haare aus der Stirn, führte ihre Kaffeetasse an die Lippen, trank die schwarze, heiße Flüssigkeit in kleinen Schlucken.
 

Alles in allem leider keine nennenswerten Ergebnisse… kein Grund, ihn wieder einzuladen aufs Yard und ihm dort ein Zimmerchen anzubieten.
 

Sie fragte sich ohnehin, was SI Kudô sich davon erhoffte. Nach wem suchte er denn?

Es schien so, als würde ihr Partner hinter den Serienmorden noch andere Drahtzieher vermuten. Allerdings gab es dafür bisher keinen Hinweis, sofern sie das richtig sah.

Warum also nicht gleich den Mann behalten, versuchen, ihn ein bisschen ernsthafter zu verhören, ein Geständnis oder irgendeine andere Aussage aus ihm herauspressen…

Dieser Kunststudent gestern hatte nicht eben so ausgesehen, als hätte er genug Rückgrat, um dem ewig standzuhalten – auch wenn sie wusste, dass es natürlich Grenzen gab, was ihre Verhörmethoden betraf.
 

Jenna seufzte leise, zuckte mit den Schultern. Sie würde ihren Bericht abgeben und dann sehen, was ihr Boss daraus machte.
 


 

Shinichi unterdessen war zu dem Zeitpunkt, als Jenna gerade noch ihren Morgenkaffee hinunterstürzte, schon wieder im Yard.

Er hatte nach seiner nächtlichen Recherche zwar noch ein paar Stündchen geschlafen, war am Morgen dann von einem Hemd in ein anderes und aus einem Anzug in einen anderen Anzug geschlüpft und versuchte momentan, so frisch wie möglich auszusehen und wusste doch, dass er haargenauso aussah, wie er sich fühlte.
 

Ausgelutscht wie ein zu lange gekauter Kaugummi.
 

Jillian McDermitt bestätigte diese Vermutung indirekt – der entsetzte Ausdruck, der über ihr Gesicht flackerte, wenn auch nur für Sekundenbruchteile, sagte eigentlich alles.

Sie hatte sich zwar gut im Griff und war zu gut erzogen, um ihn darauf anzusprechen, aber er sah ihr doch an, dass ihr sein Aussehen aufgefallen war, und in ihr die Sorge weckte. Fast schon mütterlich drückte sie ihm die Tasse Kaffee in die Hand, die sie offensichtlich gerade erst für sich selbst geholt hatte. Er schaute sie an, lächelte müde.

„Thank you very much, Lady McDermitt.“
 

Dann polterte hinter ihm Heiji in das halboffene Büro der Sekretärin, blieb atemlos stehen.

„Hey, Kudô.“

Er schnaufte, hielt sich die Seite. Shinichi drehte sich um, warf ihm einen fragenden Blick zu, sah auch in seinen Augen diesen Ausdruck von Mitleid – auch wenn Heiji ihn wohl aus ganz anderem Grund so ansah, als die Sekretärin. Sie hielt ihn wahrscheinlich nur für überarbeitet. Überlastet.
 

Heiji seufzte leise, schaute dann etwas neidisch auf den Kaffee in Shinichis Händen. Der las den Blick korrekt und winkte seinen Kollegen mit sich in die Kantine.
 

„Also, was ha’m wir denn?“, fragte der Osakaner schließlich mit ernster Miene, als er mit seiner Ration des schwarzen Gebräus vor Shinichi saß, an einem der kleinen Kantinentischchen in der Ecke.

Shinichi seufzte leise, sah sich dann kurz um, ehe er den Umschlag aus seiner Sakkotasche zog, ihn unauffällig Heiji reichte.

„Schwarz. Wie dezent.“

Er grinste schief – allerdings gefror ihm das Lächeln auf den Lippen, als er das Foto aus dem Umschlag fischte und erkannte, was es war.

„Das Foto aus der Zeitung. Sie hams tatsächlich aus der Zeitung, verflixt nochmal. Das war… vorgestern.“

Shinichi nickte langsam, nahm das Foto wieder entgegen, fing dabei Heijis mitleidigen Blick ein.

„Schau mich nicht so an.“, murrte er gereizt.

„Ich wollts ja. Ich wollte endlich ein Ende, ich wollte die Konfrontation, ich will sie endlich in die Hölle schicken. Ich hoffte nur, diesmal bliebe Ran aus dem Spiel. Da ich ja dachte, sie wäre tot, war ich mir meiner Sache eigentlich recht sicher.“

Er lächelte zynisch.

„Nun sind wir wieder beim gleichen Spiel wie letztes Mal, aber ich lass das diesmal nicht zu. Ich kann das nicht zulassen. Ihr darf auf keinen Fall noch einmal was passieren.“

„Und was…?“

Shinichi schluckte.

„Ich hab mit Akai telefoniert, er sitzt wohl schon im Flieger; Jodie wahrscheinlich auch. Black… setzt sich wohl im Laufe des Vormittags mit mir in Verbindung. Womit die Probleme beginnen…“

Shinichi fuhr sich durch die Haare. Heiji grinste fast schadenfroh.

„Die Zeiten, wo du frei agieren konntest, sind vorbei. Du gehörst jetzt Scotland Yard.“

Shinichi biss sich auf die Lippen.

„Ich darf offiziell ohne die Erlaubnis meines Arbeitgebers nicht mit dem FBI kooperieren. Super, nicht wahr? Nur wird der mir kein Wort glauben, wenn ich von schwarzen Dämonen spreche.“

„Kennt er deine Vorgeschichte denn nicht?“

Shinichi lachte laut auf – Heiji schaute ihn verwundert an, fragte sich, was an seiner Frage ihn so amüsiert haben könnte.

„Eben deswegen, mein Freund. Eben deswegen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein.“

Ein tiefes Seufzen entfloh seinen Lippen.

„Montgomery wird mir nicht glauben. Er kennt den Fall, weiß um meine Konfrontation mit der Schwarzen Organisation, aber er sieht das pragmatisch, und wird es immer so sehen – sie sind in seinen Augen zerstört. Nach fünf Jahren Heilung von dieser schwarzen Seuche…“

Müde wischte er sich über die Augen.

„Außerdem entzieht er mir den Fall, wenn er wüsste, dass die mich persönlich angreifen. Du weißt, wie das läuft. Deswegen sitzen wir ja auch hier in dieser Ecke und krämen mit Flüsterstimmchen unsere kleinen Geheimnisse.“

Heiji grinste matt.

„Hast ja Recht. Dennoch…“

Er hielt inne, merkte, wie Shinichi das Foto wegsteckte, als er Jenna den Kantinenraum betreten sah. Sie machte auch einen einigermaßen übernächtigten Eindruck – und wenn sie sein Aussehen wunderte, so ließ sie sich als Erste nichts anmerken. Vielleicht war es mit ihrer Aufmerksamkeit bezüglich dieser Dinge heute aber auch nicht so weit her.

„Good morning, SI Kudô. Konnichi wa, Hattori-san.“

Sie ließ sich auf den freien Stuhl sinken. Shinichi schob ihr den Becher Kaffee zu, den er noch besorgt hatte, neben dem für Heiji.

„Anything new to add to our researches?“

Jenna nippte an ihrem Kaffee, schüttelte dann bedauernd den Kopf.

„I am sorry to disappoint you, but everything he did yesterday was to spend the evening with his girlfriend.“

Sie zog ihre zuvor sauber geordneten Notizen hervor, breitete sie auf dem Tisch aus.

„He went home, got his girlfriend and watched a film in the cinema with her, ate at a Chinese restaurant with her, went home – with her, of course. There was light in one window a while after their return, and I could see his scheme, he was painting, I guess. But I could not see what he painted. He did not call anybody, did not write short messages as far as I could see. No use of a computer and no contact to anybody else than his girl, the ticket vendor at the cinema, the servant at the restaurant.“

Shinichi seufzte leise – er hatte so etwas geahnt, damit gerechnet, dennoch - gehofft hatte er etwas anderes.

„Look at this. I did my researches on the flowers yesterday. Perhaps you can make something with the fennel. Check the missing person records, please. Perhaps we have a hit there.“

Dann riss das laute Klack-Klack der Stöckelschuhe Jillian McDermitts ihn aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf, sah sie in ihrem taubenblauen Kostüm und mit sauber hochgesteckter Banane näherstöckeln, bis sie vor dem Trio stehen blieb.

In Ihren Händen hielt sie eine Akte. Shinichi konnte ihre perfekt manikürten Fingernägel sehen.
 

„Please excuse the interruption, SI Kudô. I am here to inform you that AC Montgomery wants to have an update, Sir.“

Sie schaute ihn an, in ihren Augen leiser Alarm.

„Immediately.“

„Ah.“

Shinichi schaute sie an, seufzte dann, schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

„We’ll meet in a few minutes. Go to my bureau, both of you, it’s open. I never lock it.“

Damit folgte er der Sekretärin ohne einen Blick zurückzuwerfen.
 

Er fragte sich, was Montgomery gesagt hatte, das die gute Lady McDermitt so hatte aufhorchen lassen, dass die Warnung noch in ihren Augen stand.

Er folgte ihr wortlos zurück durch die Treppenhäuser, an ihrem Pult vorbei in den Gang, von dem die Büros abzweigten, sah ihr nach, als sie ihn allein vor der Tür mit der Aufschrift „Assistant Commissioner Jackson Montgomery“ stehen ließ, die im grellen Licht der Neonröhren hart silbern glänzte. Von drinnen drangen leise, harsche Worte nach draußen – offenbar telefonierte der Assistant Commissioner gerade.
 

Shinichi holte tief Luft, straffte die Schultern, ballte eine Faust und klopfte mit seinen Fingerknöcheln gegen das harte, milchige Glas. Kaum dass er damit aufgehört hatte, hörte er auch schon das scharfe „Come in!“ seines Vorgesetzten. Shinichi zögerte kurz – dann griff er nach dem Türknauf, drehte ihn und öffnete die Tür. Als er eintrat, redete Jackson Montgomery immer noch ins Telefon. Er setzte sich auf sein Zeichen, nutzte die Zeit, sich das Büro seines Chefs genauer anzusehen. Meistens saß er nur kurz hier drin – hörte sich die neuesten Anordnungen und Aufgaben an und verabschiedete sich schnell wieder.

Schon in seinen früheren Besuchen waren im ein paar Ähnlichkeiten zwischen diesem und Megurés Büro in Tokio aufgefallen- ob nun bewusst oder nicht. Da war in beiden Büros der große Plan der Stadt im Rücken des Polizeichefs. Die obligatorische Grünpflanze in der Ecke, in beiden Fällen ein großblättriges Grün; das Sammelsurium von Fotos auf dem Tisch. Hier war auch der erste, signifikante Unterschied. Während auf Megurés Arbeitsplatz ein einziges Bild seiner Frau Midori den Schreibtisch eine persönliche Note verlieh, stand hier eine ganze Batterie von Bildern. Wie er wusste, hatte Montgomery eine hübsche Frau, Eliza, und drei Kinder im Alter von vier, sieben und neun Jahren – Jessica, Owen und Charles. Von diesen dreien und den beiden Haushunden Fish und Chips (ja, die beiden hießen wirklich wie der typisch englische Imbiss aus Fischnuggets und Pommes frites) gab es unzählige Bilder, die den Tisch fast zu einem Viertel vollstellten.

Zum Vergleich – auf Shinichis Tisch stand nichts.

Er schluckte, wurde sich dessen gerade bewusst.

Er hatte niemals auch nur ansatzweise den Versucht gemacht, sich etwas persönlich einzurichten. Er hatte nicht mal eine Topfpflanze, obwohl er sich wetten traute, das Büros auf der ganzen Welt aussahen wie das von Meguré oder Montgomery.
 

Und was sagt uns das, Kudô?

Du arbeitest nicht um zu leben.

Du lebst, um zu arbeiten.

Nicht mal das tust du.
 

Du arbeitest nur.
 

Dann riss ihn das harsche Räuspern seines Chefs aus seinen Gedanken über Schreibtische und sein Leben, ließ ihn auffahren.

„Excuse me.“

Montgomery faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch, bedachte seinen Mitarbeiter mit einem aufgeräumten Blick.
 

„I heard rumours that you have questioned a suspect yesterday.“

Shinichi schluckte, merkte, wie sein Unwohlsein wuchs.

„That is right.“

„Ah. And?“

„Well, rumour perhaps has also told you, that I let him go afterwards.“

„Indeed, it has.“

Montgomerys Stimme hatte an Schärfe gewonnen – und Shinichi fand sich in seiner Ahnung bestätigt, woher der Hase lief.

„And, to be honest, I am very interested to hear the reason for this most unexpected decision.“
 

Shinichi seufzte leise, legte seine Fingerspitzen aneinander, ehe er sprach, seine Worte wohlbedacht setzte.

„We had nothing against him in hand. Nothing that would indicate an investigative custody. He confirms that he uses the same colour as those used in the paintings, but that’s no proof. In his atelier was no picture found. He denies having painted the pictures of our victims. It is testimony against testimony. We have no other witness. The same is true for the dresses, by the way. We think, the tailoress could be his girlfriend, but the search of her atelier gave the same result: no sewing pattern, no drafts, talk alone of a model. If they store their works at home, we need a search warrant for their flat and, as you well know, we will get this one only with a proved suspicion, not by a suspicion alone. As I wanted to see where he is going and what he is up to, I decided myself on shadowing him rather then on investigative custody. That is… the status quo.”
 

Montgomery schaute ihn durchwegs missvergnügt an.

„That’s not much.“

Shinichi warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Er ahnte, dem AC saß bereits der Erfolgsdruck im Nacken – das hier lief schon verhältnismäßig lange, und ohne nennenswerte Ergebnisse.

„Well, but this is it. You won’t be amused by hearing that the shadowing also was quite resultless up till now. SI Watson is tracking him and confirms, he has not behaved suspicious in whatever manner.”
 

„Mhm.“

Der AC puhlte eine Zigarette aus seinem Etui, steckte sie sich gedankenverloren an.

„And what will you do next?“

Shinichi blickte auf.

„I have had a closer look at the pictures, especially on the flower motive. We now which flower he uses next, perhaps we can find the girl through this, as every flower seems to be connected to a certain meaning, matching to the victims. It was pansy for Osaka and remembrance for Ayako, rosemary as a sign of loyalty and faith for the engagend Erin. We have fennel, which is a symbol for success, flattery and beauty – perhaps this is telling us something about the girl of the next picture. Besides, we of course are keeping our eye on Brady, perhaps we did not went wrong on this one. There’ll be a development, for sure – there always is. As to the murderer…“

„… who will keep on murdering...“

„… not if we stop him.“

Shinichi versuchte, ruhig zu bleiben.

„All honours to your good faith, Sherlock, but…”

Shinichi verdrehte die Augen.

„Listen, Sir. We do the best we can, but we cannot work miracles…“

„But that is what is expected of you! And it has been a long time that passed without a positive report, and this makes people nervous…“

Der junge Superintendent starrte ihn sprachlos an.

„Sir – you do know that I am not Sherlock Holmes? Cases do not solve themselves while smoking a nice pipe… or five.“

„False. You must be aware that that is exactly what you are in the eyes of the public, and, depending on this, in our eyes as well. And, to be honest, you currently seem to become a bit too similar to him in my opinion.“

Jackson Montgomerys Stimme wurde leise. Shinichi schluckte, merkte, wie in ihm das Unbehagen wuchs

„Have you had a look at yourself in a mirror recently…?“

Shinichi merkte, wie er blass wurde.

„That’s stress. And private… problems. But let me mention, that my private life has not to bother you…“

„False once more, Sherlock. It is of course mattering to me how my people do their work.“, unterbrach ihn sein Vorgesetzter ungehalten.

„And if personal problems interfere with this work, those problems are no longer your private issues. I may hope, in your own interest, it’s not more hiding behind this appearance of yours.”

Er ließ den Satz wirken, sprach jedoch weiter, bevor Shinichi, der ihn fassungslos anstarrte, etwas erwidern konnte. Er fühlte, wie ihm der Atem stockte, ihm das Herz bis zum Halse schlug.

„I do not need to mention that you should keep your life out of your work, problematic or…“

„… not. I know.“

Shinichi verbarg mit Mühe seine Gereiztheit.

„Are we finsihed then? I’ve got a case to solve, as you keep reminding me constantly.“

Damit drehte er sich um, ließ seinen Vorgesetzten ohne ein weiteres Wort zurück.
 

Ihm schwirrte der Kopf, als er auf den Gang trat.
 

Er kann doch nicht denken…

Diese verfluchte Akte, ich könnte…!!
 

Er biss seine Kiefer so fest zusammen, dass seine Zähne knirschten, er die Verspannung bis in die Schläfe hinauf spürte, als er Richtung seines Büros ging, um Heiji und Jenna abzuholen.
 

Eins war dennoch klar geworden… sie brauchten handfeste Ergebnisse.

Und er wusste auch, dass er den nächsten Mord um jeden Preis verhindern musste.
 


 

Weit sollte er allerdings nicht kommen, als er hinter sich ein Räuspern vernahm. Er drehte sich um, bemerkte McCoy, der an seinem Kaffee schlürfte und ihn abwartend ansah – ihm dann eine zweite Tasse hinhielt, die Shinichi dankend annahm.

„I saw you exiting the room, you seemed agitated – so I concluded, you could do with one of these.“

Shinichi nahm einen Schluck, seufzte.

„I’ve got to be more careful with that stuff. This is becoming an addiction, slowly…”

Unwillkürlich biss er sich auf die Lippen, atmete durch.

„But what are you doing here? Taking your breakfast?“

„Hardly, Sherlock.“

Der Mann lächelte, drehte sich dann um und winkte seinen jungen Kollegen in der Bewegung noch mit sich.

„I’ve been on the lookout for you. I managed to identify the weapon – the murderer has attacked his second victim with so much force that it hit the spine as it emerged at her back. The trace on the bone does not leave room for speculation, come with me, have a look for yourself.“
 

Ein paar Minuten später standen sie in der Autopsie, wo Shinichi am Kaffee nippend, die Vergrößerung einer Mikroskopaufnahme auf einem Bildschirm studierte.

„Struck the rib as well.“, murmelte er dann.

„What makes it even more obvious.“

Shinichi nickte langsam, besah sich den Stichkanal, der auf einer zweiten Aufnahme dargestellt war.

„Single-edged, rasorblade-sharp, slightly curved blade, a short but very pointed tip. But that can’t be possible…“

„Well, it is.“

McCoy lehnte sich zurück, bis er gegen die Tischkante stieß, an der er sich stützte.

„What we have here, is a very exotic piece. And that suggests, that it is still in possession of the murderer…“

Shinichi schüttelte den Kopf. Er hatte geahnt, was es sein würde, seit ihm der Gedanke gekommen war, dass die Organisation darin verwickelt war, und spätestens seit dem Umschlag, den er erhalten hatte, lag der Fall eigentlich klar.

Nun vor vollendeten Tatsachen zu stehen riss ihn dennoch fast von den Socken.

Hastig kippte er den Rest seines Kaffees seine Kehle hinunter, schauderte kurz - der Kaffee war seltsam bitter gewesen im lauwarmen Zustand; als er noch heiß war, war es ihm gar nicht so aufgefallen.
 

Aber gut, Kantinenkaffee… was will man erwarten.
 

Dann wandte er sich wieder dem Bild zu.

„A katana.“

Er strich sich übers Gesicht, hoffte, McCoy sah nicht, wie ihm das Blut aus dem Gesicht gewichen war.
 

„Our weapon is a Japanese samurai sword…“

„Exactly.“

Der Forensiker sah ihn ernst an.

„And I do ask you this now, because it is not really far-fetched – Sherlock – but is there somebody having an unpaid bill with you? I mean, could it be coincidence, that the victims of your murder case are being killed with a weapon of your cultural background…?”
 

Shinichi wandte sich um, sah ihn so gelassen an, wie er konnte.

„Of course it is. The murder could hardly predict that I would handle this case.”
 

Damit drehte er sich um, hob die Hand zum Gruß.
 

Aber vermuten konnte er es, gerade, wenn er zuerst ein asiatisches Opfer umbringt, noch dazu eins, das meiner… Freundin so ähnlich sieht. Abgesehen davon, dass meine Beförderung leider nicht so klammheimlich vollzogen worden ist, wie ich es gern gehabt hätte.

Verdammt, ich bin bekannt wie ein bunter Hund.
 

Aber dieses Spekulieren ist sowieso hinfällig… Gin wusste genau, ich würde alles tun, um diesen Fall zu bekommen, wenn ich davon Wind bekäme. So oder so… lag die Konstellation der Spieler in diesem Match von vorneherein fest.
 

Er fuhr mit dem Aufzug nach oben, wischte sich über die Stirn. Er schwitzte ein wenig, und wusste nicht so recht, warum, auch schien das Licht seltsam grell. Er schüttelte den Kopf, atmete tief durch.

Wahrscheinlich war er einfach hoffnungslos überarbeitet. Kein Wunder, dass er wie ausgekotzt aussah.

Er hatte einfach viel um die Ohren, momentan.
 

Als er aus dem Aufzug trat, kamen Jenna und Heiji ihm entgegen. Heiji verdrehte die Augen.

„Sag‘ mal, wo treibste dich rum, Kudô? Wir hab’n…“

„Well, yes, I’ve been looking for you, too. You haven’t been in the cafeteria, as I guessed you’d finish your coffee bevor going into my bureau. But there was McCoy, presenting the weapon of our murder case to me…”

„What..? We have it?“, rief Jenna erstaunt.

„No. To no extent at all.“, lächelte Shinichi bitter.

„But we know what it is…“
 

Er wandte sich um, seufzte leise.
 

„Es ist die gleiche wie beim letzten Mal.“

Und während Jenna ihm verwirrt hinterher starrte, schluckte Heiji hart.
 

Kogorô fanden sie in der Lobby; in seiner Gesellschaft befanden sich auch Ran, Kazuha, Shiho und Sonoko. Shiho war auffallend blass – Ran ebenso, aber auf ihrem Gesicht stand noch ganz anderes zu lesen.

Trotz und wilde Entschlossenheit.

Shinichi kniff die Augen zusammen; einerseits spielte ihm seine Wahrnehmung immer noch einen Streich; andererseits sah er diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht gern.
 

„Na, gut geschlafen?“, meinte Kogorô, fing sich einen finsteren Blick von Shinichi ein, der mit vor der Brust verschränkten Armen stehen geblieben war.

„Ich hoffe, ihr habt den Rückflug schon gebucht.“, meinte er dann knapp, hob die Hand, als Ran etwas erwidern wollte, schüttelte den Kopf.

„Nein, nicht hier. Wir sollten das woanders besprechen, abgesehen davon, dass wir auch noch einen Fall haben, den wir besser schnell lösen.“

Heiji verdrehte die Augen.

„Deshalb also…“

„Jap.“

Shinichis Miene verfinsterte sich kurz.

„Er fand die Gründe, warum ich unseren Künstler gestern hab laufen lassen, nicht wirklich stichhaltig. Er will gern…“

„Jemanden einbuchten um der Öffentlichkeit ein Ergebnis präsentieren zu können.“

Heiji seufzte ärgerlich.

„Ja, das hört sich ganz nach…“

„Nem eigentlich netten Chef an.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Allerdungs muss man wohl einfach sagen, dass ihm meine Anwesenheit nicht nur Freude und einen guten Ruf bringt, und das merkt er gerade wohl zum ersten Mal. Scheitere ich, scheitert Scotland Yard. Der Name ist einfach zu groß, den man mir hier aufdrückt.“

Er runzelte die Stirn, rieb sich müde über die Augen. Ran warf ihm einen besorgten Blick zu.

„Nun kommt. Bevor wir hier noch irgendwie unangenehm auffallen.“

Er führte sie hinaus auf die Straße um die Ecke, ein paar Straßen weiter in ein Café, wo er sie in eine Ecke dirigierte.
 

„So… ich denke, es ist am Besten, wenn ihr für heute beieinander bleibt. Und offengestanden wäre es mir Recht, wenn ihr zwei“, er blickte zu Heiji und Kogorô, „ein Auge, oder besser vier, auf sie habt. Solange, bis Akai, Jodie und Black da sind. Und dann verschwindet ihr. Ich will euch nicht hier in London haben, es ist definitiv zu gefährlich.“

Damit stand er auf, winkte Jenna mit sich.

„Shinichi.“

Ran war ebenfalls aufgestanden, schaute ihn an.

„Du erst Recht.“

Seine Stimme klang erschreckend kühl. Dann schloss er kurz die Augen, atemte durch; als er sie wieder anschaute, war die Kälte in seinem Blick verschwunden.

„Du… weißt, warum, Ran. Ich bitte dich, zu deiner Sicherheit, flieg zurück nach Tokio. Ich… versprech dir, ich melde mich, sobald das hier rum ist.“

Er versuchte ein Lächeln, und sah doch in ihrem Blick, dass seine Bitte vergebens war.

Sie würde nicht gehen.

Und er fragte sich, ob er das wirklich wollte, bedachte er das Kribbeln in seiner Magengegend, wenn er an sie dachte. Sobald sich jedoch die Angst wieder meldete, die ihm im Nacken saß und ihm mit eisiger Stimme ins Ohr flüsterte, was mit ihr geschehen könnte, beantwortete sich diese Frage von allein.

Er seufzte; und ohne ein weiteres Wort, sich Jennas fragenden Blick wohl bewusst, verließ er das Café.

Sie wusste nichts von dem Umschlag.

Und da sie die einzige war, die er noch raushalten konnte aus der Sache, würde sie davon auch nichts erfahren.
 

Draußen angekommen seufzte er lange, sah sie dann ernst an.

„What…“, fing sie an, doch er unterbrach sie, ehe sie ihre Frage fertig formulieren konnte.

„None of your business, Jenna. We have other problems. Montgomery wants to see real achievements in our case. We… should better give him some soon.”

Er drehte sich um, vergewisserte sich, dass sie ihm folgte, redete weiter.

„Play Brady’s shadow once more, please. I’ll have a go at his girlfriend, it is time to talk to her seriously. I can’t believe that she does not know what her friend is doing all the time. Or what is happening to her dresses after giving them to the models. The advert is indicating that there are a tailor and a painter – she is the tailoress, so he must be the painter, which means that she has lied to us in that point.”
 

Was auch nicht verwunderlich wäre.
 

„Perhaps whe should have taken her with us and question her, too. We were so keen to find the painter… that we forgot about the tailoress. She was not at that school last time, was she?”

„No.“

Jenna schüttelte den Kopf.

„No, she was not to be found.“

Dann öffneten sich ihre Augen erstaunt.

„He could not probably…“

„I promise you, he has.“

Shinichi nickte.

„He has lured her out of the school. And he himself had been alerted, too, as you have already guessed. This dean didn’t seem very… trustworthy to me the last time I had the pleasure to meet him.”
 

Nein. Ganz sicher, der Knabe erschien mir das letzte Mal schon nicht knusprig.

Der deckt ihn doch… aus irgendeinem Gefühl von falsch verstandener Nächstenliebe, Mitleid oder was weiß ich... Wenn er vielleicht auch nichts weiß, ganz sicher ahnt er etwas. Vielleicht sollten wir uns mal die Akte dieses Malers anschauen.

Eventuell findet sich da was…
 

Shinichi rieb sich mit Zeige- und Mittelfinger an der Nase, teilte Jenna seine Vermutung mit – und damit verbunden auch gleich die Aufforderung, darüber Erkundigungen einzuziehen, sobald sie im Yard zurück war. Dann atmete er durch, straffte die Schulter.
 

„Well now. Let’s do our work – and let’s hope, we’ll come back home with something more substancial results, this time.“
 

Damit hob er seine Hand, ließ sie stehen, um zu seinem Auto zu gehen, das auf dem Parkplatz bereits auf ihn wartete.
 

________________________
 

Hallo Leute!
 

Bitte entschuldigt die Verspätung... momentan häuft sich bei mir die Arbeit, aber keine Angst, eine Unterbrechung wird's nicht geben. Ich hoffe, das Kapitel trifft euren Geschmack - langsam wird's eng für alle... ;)
 

Vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel!
 

Beste Grüße,

Leira

Kapitel 25: Alte Allianz

KAPITEL 25 – ALTE ALLIANZ
 

Wie abgesprochen war er an die Universität gefahren. Ohne Durchsuchungsbefehl, dieses Mal, aber mit einem konkreten Ziel, immerhin. Er wollte in den Flügel der Modedesigner – und hier fragte er sich durch. Schon bald war er an ein paar Studentinnen geraten, die eine Meredith kannten, und beschrieben ihr ihren „Stil“, führten sie in die Ecke des Großraumateliers, einer unüberblickbaren Halle, gestützt von Pfeilern, die sie zum Arbeiten nutzte.

Ein kleines, streng umgrenztes, von einem Paravent vor neugierigen Blicken geschütztes Fleckchen Betonboden und Luft.

Es war penibelst aufgeräumt.

Und keins der Kleider und Kleidungsstücke, die dort hingen, sahen auch nur entfernt aus wie das, was er suchte.

Auch von Wildseide keine Spur.
 

Oder eher wohl Faser. Haha.
 

Shinichi grinste müde, sah sich dennoch um, sich der beobachtenden Blicke der Studentinnen wohl bewusst. Er wusste nur nicht, was sie bezweckten; ein paar von ihnen sahen durchaus so aus, als überlegten sie, ihm ihre Nummer zuzustecken.

Die allermeisten jedoch fühlten sich in ihrer Arbeit einfach nur empfindlich gestört und ließen ihn das auch merken.
 

Gerade als er ein Skizzenbuch durchblätterte, in dem er ausgefallene Kreationen einer Vivienne Westwood fand, zumindest stand das darübergekritzelt, schrillte sein Handy und ließ ihn zusammenfahren. Shinichi griff hastig in seine Sakkotasche, um den Anruf entgegen zu nehmen, sich der immer ungehaltener werdenden Blicke der Studenten um ihn herum sehr wohl bewusst.

„Mr. Sherlock Holmes! Nice to hear your voice…“

Shinichi merkte, wie sein Mund schlagartig trocken wurde.

„Don’t call me Holmes, Mr. Black.”

Er trat hastig durch den Raum hinaus auf den Gang, ehe er weitersprach.

„Sie kennen doch meinen wahren Namen.“

Shinichi lächelte bitter.

„That’s true.“

Ein Seufzen rauschte durch die Leitung.

„Shuichi hat mir erzählt, was los ist, Shinichi. Also wagen sie sich endlich raus aus ihrem Loch?“

„Es scheint so.“

Er lehnte sich gegen die Wand, starrte aus dem Fenster.

„Aber das kann ich Ihnen unmöglich hier am Telefon erzählen. Akai sagte, Sie wären in London?“

„That is indeed the case, yes.“

Blacks sachliche Stimme wirkte wohltuend beruhigend.

„I would therefore strongly recommend to meet in about an hour…“

Er erklärte Shinichi, wo er auf ihn warten wollte, und legte dann auf. Shinichi runzelte die Stirn, als er sein Handy wieder wegsteckte.
 

So. Und ab jetzt dürfte dieser ohnehin schon komplizierte Fall schier unüberschaubar werden… aber was kümmert es mich. Mein ganzes Leben ist komplizierter als ein Schweizer Uhrwerk und läuft nicht halb so zuverlässig – dafür manchmal aber rückwärts, wie’s aussieht.
 

Shinichi schüttelte seicht lächelnd den Kopf, seufzte kurz. Dann drehte er sich um, ging zurück ins Studio, wo er bei seinem Gespräch mit den Studenten unterbrochen worden war.
 

„So she has not shown up yet? Eduard Brady‘s girlfriend?“

„No.“

Eine junge, stylisch in schlankes Schwarz gekleidete Frau mit auffallend strengem Dutt schüttelte den Kopf.

„But Meredith tends to skive off, lately. Seems she’s sewing most of her work at home. I guess she wants to prevent anyone having a view at her work and copy one of her ideas, I mean… exam time is close…“

Ein genervter Unterton schwang in der ohnehin leicht unangenehmen Stimme der Frau mit.

„Okay. Well. What is Merediths surename?“

„Rowling.“

Die Frau schob ihre extravagante Brille hoch.

„But why does that interest you, again? You are that detective chap of Scotland Yard, aren’t you?“

Shinichi lächelte reserviert.

„SI Kudô, yes. We investigate in the murder cases of Ayako Kanagawa and Erin Shaughnessy. Our investigations concerning the cloth, the dresses were made of, brought up that the tailor used wild silk, Tussah silk, to be precise – and your school is a big byer of that special kind of fabric. What we, that means, I am doing here is just to find every single designer who is working with Tussah silk, because he or she might tell us something about our victims or that ad in the Reporter. It tells, that two students look for models. This is pure routine, no need to get nervous at all.“

Er lächelte immer noch höchst professionell unverbindlich, wandte sich dann bewusst lässig um und schritt durch den Raum.
 

Wenn stimmte, was die Dame sagte, würde er hier nichts finden.
 

Dann blieb nur die Privatwohnung der beiden.
 

Und dafür einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen, würde nicht einfach werden.
 

Das war unerfreulich – noch unerfreulicher war allerdings die Überraschung, die am Ausgang der Universität auf ihn wartete, und zwar in Form einer auf Hochglanz polierten Blondine und ihrem mehr als gegensätzlichen Fotografen.

Shinichi lächelte reserviert.
 

„Miss Shelley. What a pleasure.“
 

Er straffte die Schulter, verbot sich, mit den Augen zu rollen, und ging ihr entgegen. Sie schaute ihn an, gelassen, lächelte ihn süßlich an. Rot waren ihre Lippen heute, kirschrot, passend zu ihren Fingernägeln und ihrer Handtasche – und ihren Pumps.

„Mr Holmes.“

Sie lächelte immer noch.

„I hope your thirst for news was stilled by now.“, bemerkte er leise, äußerlich die Ruhe selbst, und schaute sie unverwandt an.

“Yes. I did what you advised me to do – I called the press department of your employer and got some news abot Erin Shaughnessy, the tragic new victim – today. Almost two days after that incident.”

Sie klang beleidigt. Shinichi blickte sie ungerührt an, als sie fortfuhr ihm zu erzählen, was er längst wusste.

“She was a teacher-to-be, and a…”

“Bride-to-be as well. I hope you left her fiancée alone.”

“I did. Though I very much wished to talk to him. He had a nervous breakdown, as I take it, that was all that could be gathered from that cute assistant doctor.”

“In exchange for your phone number, I guess.”

Shinichis Stimme klang etwas unterkühlt. Victoria Shelley schaute ihn mit großen Augen an, wedelte mit der Hand, als sie antwortete.

„Yeah. Well.“

„You gave him a wrong number.“

Sie lächelte kühl, tat unschuldig, in ihrer Stimme gespielte Verzweiflung.

“Of course I did! And don’t you judge me, it is you that makes me do those things, lets me use bad means like that, by not providing me with more information. Of course I gave him a wrong number – well, perhaps it was a real number after all, who can tell if somebody uses it or not? I would have to change my telephone number weekly… though I considered giving him my real number. He really was cute.”

Sie grinste ihn an, zeigte eine Reihe makellos weißer Zähne.
 

„But talking about love and loss, Sherlock…“
 

Shinichis Lächeln gefror sichtbar.

“Yeah. Talking about that, Miss Shelley. A nice fairy tale you’ve made up there – I guess in lack of proper information you had to take what you…”

“… got. Precisely. But I would not call it a fairy tale – what I have seen…“

“Was none of your business, whatsoever?”

Shinichis Augen schauten sie starr an. Er bemühte sich, ruhig zu sein, nicht zu zeigen, wie sehr ihn das aufregte, aufwühlte, wie wütend er war.

Er musste sachlich und nüchtern sein.

Schließlich musste seine Geschichte glaubhaft klingen, und regte er sich zu sehr auf, war sie das nicht.

Im Gegenteil.
 

„I do not know what you saw.“
 

Gelassen steckte er seine Hände in seine Hosentaschen.

„She was a friend of Mr. Hattori’s fiancée. Frightened and agitated, because of that murder case and the threat I’ve made – the warning that they could be in danger, too, possibly, frightens most young women.”

Shinichi schaute sie fast ein wenig spöttisch lächelnd an.

„Of course, you are quite fearless, Miss Shelley. And now, I will rather leave you to write your report about Erin – and go to do my work.”
 

Er wollte sich umdrehen und gehen, gratulierte sich in Gedanken schon fast selber zu seiner Abgebrühtheit. Jedoch, er hatte kaum einen Schritt getan, als ihre Stimme, deutlich kälter und deutlich triumphierender an sein Ohr drang.
 

“Ran Môri, that’s her name.”
 

Shinichi blieb stehen, wandte sich um, langsam.

„Facebook again, I take it?“

„Google picture research.“

Sie lächelte.

„She is a young lawyer in her well-known mother’s lawyer office. But the picture of her, along with her name, was found in her old high school records, there is no current photo of her available – but she has not changed much in her appearance, I’d say. And guess who went to school with her… but I rather think, guessing is not necessary for you here.”
 

Shinichi schloss die Augen, langsam, wandte den Kopf ab, blickte über den Platz, schluckte.
 

“You are trying to protect her.”
 

Ihre Stimme klang lüstern und gefährlich in seinen Ohren, wie das Zischen einer Schlange, kurz bevor sie zubiss. Shinichi schluckte, drehte sich um, schaute sie dann mit festem Blick an.

“Clever girl. I am trying to protect you as well. I am a police officer, after all. Protecting people is my job.”

Seine Stimme klang beißend sarkastisch.

“Nah, nah.”

Sie hob den Finger, immer noch lächelnd. Shinichi seufzte leise, ärgerte sich darüber, dass er sich so gehen ließ.

„Well, so what? Perhaps it is true and she was my classmate. There was nothing else – and it is true, when I tell you, that today she is rather Mr. Hattoris friend than mine. I haven’t had contact to anybody of my mothercountry, let alone hometown, for years.”

“And you do really think, that I will believe you this?”

“Yes.”

Shinichi lächelte bitter.

“Because I am a police officer and if the police doesn’t talk the truth, who else does?”

Sie lachte spöttisch, schüttelte den Kopf.
 

„Hah! You and I both know that this is not that easy…

You know what I want. I want exclusive facts about that case. Otherwise I’ll gather exclusive facts about your life - your past, your friends and foes, your love and life, and do trust me, I take both, fictional and true stories as well.”

Shinichi lachte hohl.

“That’s impossible. I can’t do that. You know that.“

„Well, then…“

Sie trat näher.

„Your behaviour is so obvious. Telling everyone she’s not more than a faraway relationship to your friend, this guy from Osaka. Telling that poor girl she is to deny your friendship, your… love, that’s what you’ve told her to do, haven’t you. You guys are always so egoistic. I could see how that hurt her, though as she told me, her voice was so strong, her words so well chosen. She really must love you.”
 

Shinichi kniff die Lippen zusammen, seine Augenbraue wanderte nach oben.

“Please, go, dig into my past as deep as you want. But I beg you – yes, you see me begging – let other people out of the game. They have suffered once because of being my…”

Er brach ab.

“They have suffered enough, that’s it. I don’t want them to get hurt again.”

“But why?”

Sie hob ihre Arme, schaute ihn theatralisch fragend an.

“Why? Does that article, do more articles make her more a new candidate for a murder victim? Honestly… that guy does not seem to have a go at you personally. He would have picked girls more close to you yet. But he hasn’t.”

Shinichi verdrehte die Augen, strich sich über sein Gesicht.
 

„Have you ever had a closer look at Ayako?”
 

Mehr sagte er nicht mehr. Er drehte sich um und ging, in seinem Bauch grollte und rumorte es.
 

Diese Entwicklung entglitt ihm zusehends.
 

Das ist nicht gut.

Ganz und gar nicht gut.
 


 

Er traf pünktlich in dem mit dem FBI-Agenten verabredeten Café ein - James Black wartete dennoch bereits auf ihn. Er saß, ganz der English Gentleman, in den weichen Polstern des Kaffeehausstuhls versunken in einer Ecke des Etablissements und studierte das Time-Magazine. Auf dem Tisch vor ihm gruppierte sich eine Auswahl an Sandwiches mit Gurke und Ei auf einem Teller, in einem Körbchen daneben kuschelten sich ein paar Scones aneinander, begleitet von einem Schälchen Clotted Cream und einem mit Marmelade. Er setzte gerade seine Tasse an die Lippen, Earl Grey, wie Shinichi erkannte, als er die ausgepresste Zitrone auf dem Rand des Untertellers liegen sah. Shinichi bestellte eine Tasse Kaffee, ließ seinen Blick kurz über den Mann ihm gegenüber wandern – Black sah im Wesentlichen aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Graue Haare, seitengescheitelt, eine Nase, die dem Schnabel eines Adlers Konkurrenz machte, wache, hellblaue Augen, ein Schnauzbart wie der eines Walrosses.

Der very British Gentleman in Perfektion.
 

„A good day to you, Shinichi.“
 

Er sah immer noch nicht auf, stellte zuerst seine Tasse ab, faltete seine Zeitung ordentlich zusammen und räusperte sich aufgeräumt, wartete auf eine Reaktion seines Gegenübers.

Die ließ nicht auf sich warten.

„I’d not call it a good day, Mr. Black.“

Black zog die Augenbrauen hoch, kurz, lächelte dann verhalten, versuchte es zumindest. Er ließ seinen Blick über den jungen Mann schweifen, der ihm gegenüber saß, und kam nicht umhin zu bemerken, wie er sich verändert hatte. Auf gewisse Weise sah er aus wie früher, obwohl fünf Jahre zwischen dem Oberschüler Shinichi Kudô, den er kurz nach dem Fall der Organisation gesehen hatte, und dem Superintendent Shinichi Kudo, der hier und heute ihm gegenüber saß, lagen. Das fein geschnittene, sehr symmetrische Gesicht, die ständig wachen, forschenden Augen, die wirren Haare – das alles hatte sich kaum verändert und machte, das musste Black zugeben, einen faszinierenden, durchaus attraktiven Menschen aus ihm. Er konnte verstehen, warum sich Shiho zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Es vielleicht immer noch tat.

Etwas anderes hingegen war definitiv anders, neu, und keinesfalls erfreulich.

Black wusste, dass ihn die zehn Tage in ihrer Gewalt nachhaltig verändert hatten; nicht nur, was seine Seele betraf, die sichtlich gelitten hatte, gerade nach dem Ereignis mit Ran – sondern auch was seine Statur betraf.

Man sah ihm den Raubbau an seiner Gesundheit an, nicht sehr, aber genug, um dem geübten Auge alles zu erzählen.
 

„You are looking we….“

Shinichi lächelte säuerlich, ließ dem Engländer das wohlmeinende Kompliment im Halse stecken bleiben.

„… well? Dann sollten Sie Ihre Brille überprüfen lassen. Sie sind der Erste, der mir in diesen Tagen dieses Kompliment macht.“

Das wohldosierte, höfliche Lächeln wich von James‘ Lippen, machten einem durchaus ernsten Gesichtsausdruck Platz, als er in die blauen Augen seines Gegenübers blickte, die ihn unverwandt und ohne Scheu fixierten. Der pure Wille zur Wahrheitsfindung war in ihnen immer noch zu lesen, genauso wie ein unglaublich starker Charakter. Verschwunden jedoch war der Schalk, die milde Belustigung, die stete Neugier, die ihm an dem Jungen aufgefallen waren, ersetzt durch Angst, Schmerz, Leid und… Erschöpfung.

Man sah ihm die viele Arbeit der letzten Tage an.
 

Langsam schob er sich die Brille zurecht, nickte schwer.

„Du hast Recht… wir haben keine Zeit für höfliches Geplauder. Die Zeitung hat ja schon eine recht deutliche Meinung zu dem Fall – ich bin umso gespannter auf deinen Bericht.“, bemerkte Black, legte seine Zeitung beiseite, als die Kellnerin losgegangen war, um ihre Getränke zu holen. Shinichi grinste schief.

„Der überaus sture und verstockte leitende Superintendent Shinichi Kudô, den Londoner Bürgern besser bekannt als New Sherlock Holmes of Scotland Yard scheint sein Genie verloren zu haben – wie ist es sonst zu erklären, dass der grauenhafte und skrupellose Mörder „The Artist“ unsere schöne Stadt noch immer…“

Ein zynisches Lächeln blitzte über Blacks Lippen, fand ihre Reflektion in seinen Augen.

„Yes. Die Presse scheint mit deiner Informationspolitik nicht sehr glücklich zu sein.“

Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Sie scheinen mit mir momentan generell nicht sehr zufrieden zu sein. Ich mit der Arbeit der Presse aber auch nicht.“ Er schluckte beunruhigt.

„Was den Fall angeht - Sie wissen das Wesentliche bereits. Der Mörder, der hier sein Unwesen treibt, ist wohl kein anderer als Gin. Er hat in meinen Augen einen kleinen Künstler angeheuert, der das Ganze wie einen komplizierten Fall aussehen lässt und treibt mich mit seinen kleinen Hinweisen in den Wahnsinn – bis er dann gestern die Bombe endlich platzen hat lassen.“

Er zog den Umschlag aus seiner Sakkotasche.

„Ich brauche nicht zu erwähnen, dass sie auch hier ist, das Foto wurde vor ein paar Tagen am Big Ben aufgenommen. Der, den sie da… anschaut…“

Black beachtete das Foto gar nicht, studierte Shinichis Miene unablässig.

„Shuichi sagte, du dachtest, sie wäre tot.“, unterbrach er ihn leise.

Shinichi schluckte hart.

„Ja. Das… das ist richtig.“

„Warum, frage ich mich. Du hättest doch einfach…“, fing der FBI-Agent an, nahm ihm langsam das Bild aus den Fingern, sah das Mädchen auf dem Foto nachdenklich an.

Shinichi lächelte bitter, schüttelte langsam den Kopf.

„Nun, ich denke, Sie wissen, dass ich zu der Zeit einfach gar nichts konnte. Ich lag im Drogenrausch und hinterher im Entzug, wochenlang. Außerdem hatte man mir im Krankenhaus gesagt, sie wäre tot. Ich hatte… einfach keinen Grund, das anzuzweifeln. Abgesehen davon tut das hier nichts zur Sache…“

„Das nicht, nein.“

Black lächelte ihn milde an.

„Aber du kannst nicht abstreiten, dass es dich ganz anders packt, zu fürchten, sie noch einmal zu verlieren, wo du sie doch gerade erst wieder bekommen hast…“

Shinichi schüttelte den Kopf, ehe der Mann zu Ende sprechen konnte.
 

„Ich habe sie nicht. Und ich habe ihr das auch gesagt. Sie soll nach Hause fliegen. Sie ist überall sicherer… als hier, bei mir.“

Black nickte langsam, wenn auch widerwillig.

„Wenn du Recht hast, und sie hier sind, stimme ich dir zu.“

Er blickte auf, nahm seinen Kaffee entgegen, trank einen Schluck.

„Genauso wie Shiho. Sie muss auch hier weg. Es ist davon auszugehen, dass Gin nicht die Finger von ihr lassen wird, auch wenn momentan sein Hauptziel zum ersten Mal überhaupt… nicht sie ist, sondern du.“

Ein leichtes Lächeln schlich sich über seine Lippen.

„Damit hast du’s endlich geschafft, dich wichtig zu machen, herzlichen Glückwunsch…“

„Haha.“

Shinichi lachte trocken, nahm ebenfalls einen Schluck von seiner Tasse, stellte sie im Anschluss wieder ab.

„Danke für das Kompliment. Akai und ich haben uns seinerzeit ja genug Mühe gegeben, um ihnen die Suppe so richtig zu versalzen. Also. Was machen wir?“

Black schaute ihn nachdenklich an, massierte seinen Schnauzbart, brachte damit die borstigen Haare in Unordnung, nur um sie im Anschluss wieder glatt zu streichen – immer wieder. Und immer wieder.

„Was macht Scotland Yard…?“, fragte er schließlich. Shinichi schaute ihn leicht überrascht an, trank einen Schluck Kaffee, seufzte dann.

„Mr Black, Sie wissen, ich arbeite für die. Ich kann Ihnen nicht…“

„Hast du ihnen von deiner Vermutung erzählt, dass die Organisation dahinter steckt?“, fiel er ihm ins Wort – und ahnte die Antwort bereits, bevor er sie aus seinem Mund hörte.

Shinichi seufzte, biss sich auf die Lippen, schüttelte dann langsam den Kopf.

„Nein. Auch wenn ich angedeutet habe, ich glaube eher an einen größeren Fisch im Hintergrund als daran, dass dieser kleine Maler auch der Mörder ist. Aber diese Theorie stößt auf wenig Gegenliebe, momentan…“

„Die wollen einen Kopf rollen sehen.“

„Allerdings. Und ich habe das Gefühl, wenn‘s nötig ist, auch meinen.“

Shinichi nickte langsam.

„Abgesehen davon glaube ich, würde man es mir nicht glauben. Die Organisation ist ihnen zwar bekannt, aus meiner Akte, allerdings ist der Fall in ihren Augen abgeschlossen. Etwas anderes wohl eher noch nicht, worauf ich auch schon hingewiesen wurde, bezüglich meines etwas… angegriffen wirkenden Äußeren.“
 

Black lächelte matt, in seinen Augen ein stummer Ernst, der Shinichi schlucken ließ.

„Sie glauben, du hättest einen Rückfall?“

„Noch nicht.“, murmelte der junge Superintendent, ein Schatten huschte über sein Gesicht.

„Noch nicht.“

Unwillig starrte er in seinen Kaffee, sah ein müdes Gesicht, das ihm entgegenblickte, ein Gesicht, das ihm so vertraut und gleichzeitig so fremd war.
 

„Aber Sie wissen, was drinsteht, in meiner Akte… und ich kann fünf Jahre lang vorzügliche Arbeit leisten, erlaub dir einen Fehler, Sherlock, und du bist weg vom Fenster. Es wird Zeit, dass der Fall gelöst wird. Und ich hoffe sehr, Jenna kommt heute mit besseren Neuigkeiten von ihrer Beschattungstour… ich werde wohl selber mal hinfahren, in der Universität war keiner der Leute, die ich suche.“

Unwirsch schüttelte er den Kopf, zog kurz seine Unterlippe zwischen die Zähne, nachdenklich.

„Dann dazu diese Blumensymbolik, die ich noch nicht recht zuordnen kann. Die einzelnen Blumen stammen wohl aus Hamlet, aber wie soll ich die mit den Morden in Verbindung bringen?“
 

„Hast du schon über Hamlet oder Shakespeare in London recherchiert? Vielleicht findest du da einen Treffer.“

Black schaute ihn ruhig an.

„Die Blumen sind die Geschenke Ophelias an Laertes, Claudius und Gertrude, sowie Horatio. Sie verteilte sie, bevor sie ertrank – oder sich ertränkte, wie man will. Allerdings werden deine Mädchen nicht ertränkt. Sie arbeiten auch nicht fürs Theater oder einer Laienspieltruppe, sie wurden über diese Annonce rekrutiert, wie wir ja wissen.“

Shinichi nickte langsam.

„Soweit habe ich auch schon gedacht. Die Tatorte haben auch nichts mit Shakespeare zu tun.“

„Vielleicht noch nicht.“

Black schaute ihn nachdenklich an.
 

Shinichi seufzte kurz.

„Ich werde mich später noch einmal dransetzen, auch wenn es mich wundert… es scheint nicht typisch für sie. Ich kann mir Gin kaum mit einer Ausgabe von Shakespeares „Hamlet“ am Kamin sitzend vorstellen bei einer Tasse Tee und…“

Er lächelte müde, als James Black laut lachte.

„No, definitely not.“

Shinichi massierte sich kurz die Nasenwurzel.

„Gut, das werde ich herausfinden, irgendetwas muss dahinterstecken; es ist zu auffällig um zufällig zu sein. Abgesehen davon… mich würde momentan noch etwas ganz anderes interessieren.“
 

Er rieb sich die Nase, nachdenklich.

„Wer von denen läuft eigentlich noch rum?“

James Black schaute ihn an, ehe er an seinem Tee nippte.

„Von der Organisation, meinst du?“

„Ja.“

Shinichi nickte.

„Ich weiß, wen ich in der Gasse gesehen habe. Gin, Vodka, Bourbon, Vermouth und Chianti.“

Black lächelte bitter.

“Über Bourbons Rolle bist du ja mittlerweile informiert. Was er jetzt macht, weiß ich allerdings nicht – es ist jedoch anzunehmen, er lebt noch. Es wurde ziemlich eng für ihn am Ende, nachdem auch die Organisation herausgefunden hatte, und nicht nur wir, dass er ein Doppelagent war. Es gab da entschieden zu viele davon.”

Shinichi grinste schief.

“Stimmt.”

Er hob die Hand, streckte den Zeigefinger aus.

“Also, Bourbon. Was ist mit den anderen?”

James stellte seine Tasse ab.

„Aus dem Hauptquartier entkam sonst keiner. Der Verbleib von Gin und Chianti gilt als ungeklärt. Vodka ging uns vor anderthalb Jahren ins Netz, starb bei einem Schusswechsel bei einem Banküberfall.“

Er hob den Blick, schenkte Shinichi einen ernsten Blick.

„Wessen Verbleib auch unbekannt ist, ist Anokata. Wir wir konnten ihm keine der Leichen endgültig zuordnen, er war zu wenig bekannt. Auch du konnest uns ja kein konkretes Bild von ihm geben, deshalb... wissen wir nicht, ob er unter den Opfern war oder nicht.“

Shinichi starrte ihn an.

„Ich hab ihn im Feuer gesehen. Um ihn herum ist der Kasten explodiert, unmöglich kann er…“

„You were drugged… and therefore your perception could have been clouded under the influence of your last trip, Shinichi.“

Blacks Worte waren mit leiser Stimme gesprochen und mit Bedacht gewählt worden – und dennoch war die Reaktion auf sie vorhersehbar und umso lauter.

Der junge Superintendent stellte den Kaffee so hart auf den Tisch, dass ihm die Brühe über den Becherrand schwappte, über seine Hand rann. Er realisierte es gar nicht.

„Ich weiß, was ich gesehen habe.“, flüsterte er leise, nicht ohne ein wenig Groll in der Stimme, kam sich dabei fast vor wie ein trotziges Kind, und merkte, wie in ihm der Ärger wuchs, darüber, dass anscheinend sogar seine Verbündeten ihm vielleicht nicht gerade misstrauten – seine Aussagen zumindest aber nur mit einem gerüttelt Maß an Skepsis Glauben schenkten.

„Das wissen wir. Dennoch… du sagtest selbst, irgendwann war es dir unmöglich, Realität und Traum…“

„Aber nicht in diesem Moment! Ich bin doch überhaupt nur zurückgelaufen, um ihm diese…“

„Ist ja gut.“

Black schaute ihn beruhigend an, legte ihm kurz eine Hand auf seinen Unterarm, ehe er ihm eine Serviette reichte, um sich seine Finger abzuwischen und die Kaffeepfütze trocken zu legen.

„Beruhige dich.“

James Black wiegte den Kopf grübelnd, seufzte leise.

„Leider gab es keinerlei Dokumente über ihn, keine Akte im Hauptquartier, keine Dateien über ihn in den Beweisen, die uns der Trojaner schickte. Es kann auch sein, dass er sich als bekanntes Mitglied ausgab, um sich unter dessen Deckmantel selbst geheim zu halten. Auch das ist möglich.“

Shinichi nickte wiederwillig. Die Möglichkeit bestand, das musste er zugeben – auch wenn sie ihm nicht schmeckte.
 

Anokata…
 

„Übrig bleibt dann noch eine, die spurlos verschwand.“
 

Über Blacks Lippen glitt ein schmales Lächeln, kurz wie ein Wimpernschlag.

„Vermouth. Oder, wie Shuichi sie nannte, Rotten Apple. Ein passender Name, wie ich finde, für die äußerlich makellose, aber innerlich ganz und gar verdorbene Sharon Vineyard. Chris Vineyard. Wie auch immer sie genannt werden wollte. Und gleichzeitig…“, er warf einen Blick zu James Black, der ihm zunickte, „war es ein Name einer Operation gegen die Organisation. Du warst dabei, erinnerst du dich? Damals hattest du sie ganz schön in die Enge getrieben… und sie war auch da.“

Sein Blick verlor sich in der Vergangenheit, ein Lächeln spann sich über seine Lippen, kurz.

„Muss ich dir wirklich sagen, wovon ich rede, Shinichi?“
 

Shinichi schüttelte den Kopf.
 

Damals am Hafen.

Als du Ai das Leben gerettet hast, Ran…
 

Sie hat dich nicht erschießen können. Schließlich… warst du der Engel, der ihr zugelächelt hat. Angel, so nannte sie dich.
 

Und mich…

Silver bullet.
 

Ist sie etwa auch hier?
 

Shinichis Blick versumpfte in den schwarzen Untiefen seiner Kaffeetasse, als er den Gedanken weiterverfolgte. Wäre auch sie hier, würde das der Sache allerdings eine ganz andere Wendung geben. Er schluckte, merkte erst, als ihn eine Hand am Arm packte, dass James Black wohl schon eine ganze Weile versuchte, ihn anzusprechen.
 

„Ah. Entschuldigen Sie. Nein, müssen Sie nicht, ich erinnere mich ganz gut daran.“

Er schluckte, strich sich langsam übers Gesicht.

Black nickte langsam, ehe er sich aufgeräumt räusperte.

„Du weißt, wenn du herausgefunden hast, wo sie ihr Quartier haben, musst du…“

„Jaja.“

Shinichi verzog das Gesicht.

„Noch weiß ich aber nichts. Versprechen Sie mir nur, dass Ran und die anderen sicher sind, bis ich sie endlich überzeugt habe, dass sie wieder nach Japan fliegen sollten….“

Black nickte langsam, in seinen Augen Sorge und Ernst.

„Akai kommt morgen in London an. Er wird sich darum kümmern. Mit Jodie habe ich auch bereits telefoniert, sie wird etwas später eintreffen. Wenn es dich beruhigt, werde ich ihnen heute Gesellschaft leisten.“

Shinichi nickte stumm; dann stand er auf, legte eine Anzahl Münzen auf den Tisch und verließ das Etablissement. Black blieb zurück, sah ihm hinterher.
 

You are not meant to live this life.
 

Draußen angekommen sondierte Shinichi die Lage. Dann zückte er sein Telefon, wählte Heijis Nummer.

„Sind sie bei dir?“, fragte er dann ohne Einleitung, als der Osakaner sich am anderen Ende der Leitung meldete.

„Hallo Kudô. Ja, sind se.“

Er atmete tief durch, ehe er sich mit bitterem Tonfall zu beschweren begann.

„Sag mal, haste nix anderes, was ich tun kann? Ich bin ein qualifizierter Polizist, verdammt! Du musst doch was Besseres zu tun ham für mich als auf einen Haufen Hühner… -Aua! Kazuha, was…“

„Nun, ich hab insofern gute Nachrichten, dass du bald nicht mehr allein bist. Shuichi Akai kommt heut Nacht. Du kannst dann mit ihm zusammen auf den Haufen Hühner aufpassen.“

„Ach. Das ging schnell.“

Heiji überging die Spitze – er war überrascht, mehr als das.

„Ja.“

Er seufzte.

„Aber für heute muss ich dich und Kogorô wohl noch als Babysitter abordnen. Ich fahr jetzt zu Jenna, die vor Bradys Wohnung wartet und ihn beschattet. In der Universität sind sie nicht gewesen, also müssten sie daheim sein… anscheinend wird ihm doch langsam der Boden unter den Füßen zu heiß.“

Shinichi ließ seine Augen über die Skyline Londons schweifen.

„James Black leistet euch Gesellschaft, wenn du das willst. Ich geb dir seine Nummer, dann bist du wenigstens nicht der Hahn im Korb.“

Er grinste verhalten, diktierte seinem Freund die Zahlenfolge.

„Danke.“

Heiji schluckte. Shinichi ahnte, dass da noch etwas war – allerdings schien sein Freund unentschlossen, ob er damit herausrücken wollte oder nicht. Shinichi seufzte lautlos, ehe er ihm die Entscheidung abnahm.

„Gut, dann bis heut Abend.“

Damit legte er ohne ein weiteres Wort auf und ging zu seinem Auto.

Heiji starrte nur sein Telefon an, schüttelte den Kopf – drehte sich um und starrte in die wütenden Gesichter von Sonoko und seiner Angebeteten, grinste schief und hob entschuldigend die Hände.
 

„Nun, Mädels – was machen wir mit unserer Zeit heute?“
 

Jenna saß in ihrem Mini, hatte ihn gerade noch durch die vollgestopften Londoner Straßen gelenkt und bog nun in eine Seitengasse ein. Sie hatte keine Ahnung, wie viel es brachte, wieder zu Brady zu fahren- zu der Uhrzeit würde sie dort womöglich nicht mal wen antreffen. Sie zuckte mit den Schultern.

„But well,… the boss says „Jump!“ and Jenna asks “What height, Sir…?”…“

Sie seufzte erleichtert, als sie die Innenstadt hinter sich ließ, etwas an die Randbezirke kam. Der Verkehr war hier bereits deutlich ruhiger.

„But I’d die to know whom he is expecting to dig out. He does not believe that Brady is the mastermind behind this crime, and I don’t either, to be honest. That boy never has the balls to achieve this, to pull his plan through.“
 

Sie redete mit ihrem Rückspiegel, in dem sie kurz den Verkehr hinter ihr checkte.
 

Dann war sie angekommen, suchte sich eine Parklücke – und bemerkte Gallagher, der gerade in sein Streifenfahrzeug stieg. Sie gab nochmal Gas, steuerte neben ihn.

„Hey, Sam!“

Sie hatte die Scheibe heruntergekurbelt, auffällig gewinkt – und wurde nun auch mit Aufmerksamkeit betont.

„Jenna. Hi.“

Er schien nicht sehr erfreut, sie zu sehen – und schien zu merken, welchen Eindruck er machte, denn sogleich zauberte er ein Lächeln auf seine Lippen.

„Got that route to check today, alone… I’m bored to death, honestly. But well, I am just a little constable…“

Jenna grinste mitfühlend.

„I am to shadow someone here, alone… not the job of my dreams, believe me.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„But what needs to be done needs to be done, that’s how it is to be put. Would you be a nice little constable and leave that parking space for me, Sam?“

Gallagher nickte nur, hob die Hand zum Abschied und steuerte sein Fahrzeug auf die Straße.

Jenna schaute ihm hinterher – zog dann die Stirn kraus.

Warum war er denn eigentlich ausgestiegen?
 

Unwillig schüttelte sie den Kopf. Vielleicht hatte er ja mal für kleine Constables gemusst. Der Mann war schließlich auch nur ein Mensch.
 

Eine halbe Ewigkeit, so zumindest kam es ihr vor, harrte sie dann allein in ihrem Mini der Dinge, die da kommen könnten, bis sie Gesellschaft bekam. Shinichi sah ihr Auto schon von weitem – setzte seins genau dahinter, ging zu ihrer Beifahrertür und klopfte. Jenna ließ ihn einsteigen, sah ihn erstaunt an.

„What’s up?“

„Tell me Jenna – has someone entered or left that house today?“

Jenna schüttelte den Kopf.

„Not in those…“, sie schaute auf die Uhr, „three and a half hours I am waiting here. Don’t tell me that there was nobody at the university?“

„Well, if you feel better, I don‘t.“

Shinichi schluckte, schaute durch die Windschutzscheibe.

„Something is definitely fishy here…“

Damit stieg er aus, ging hoch zur Haustür. Jenna beeilte sich, ihm zu folgen, übersah dabei ein Auto, das von hinten kam, als sie die Fahrertür öffnete und provozierte damit ein dröhnendes Hupen, als der Fahrer des anderen Fahrzeugs gerade noch so hatte ausweichen können. Nervös schielte sie zu ihrem Partner – aber Shinichi schien das gar nicht zu hören.

Er klingelte.

Und klingelte immer noch, als Jenna neben ihm erschien.

„Nobody here?“

„Seems quite so.“

Shinichi seufzte, schaute die Klingelschilder an, wählte dann einen anderen Namen und presste den Klingelknopf entschieden mit seinem Zeigefinger hinunter, so fest, dass das Blut aus seiner Fingerspitze wich.

„Yes, please?“, tönte eine ältliche Frauenstimme aus der Gegensprechanlage.

„Good morning, Miss Parker. Detective Superintendent Kudô and Detective Sergeant Watson from New Scotland Yard speaking. We were looking for your neighbors, Miss Rowling and Mr Brady, but they don’t answer the bell. Would you let us in?”

“May I see your sign, please?”

Shinichi seufzte. Diese Art misstrauische ältere Dame war ihm geläufig.

„Sure.“
 

Er fischte seine Marke heraus, hielt sie hoch an die Kameralinse.
 

„Fine. I’ll open. But I won’t talk…“

„That’s alright for us.“, unterbrach er sie, lehnte sich gegen die Tür als der Summton erklang und drückte sie auf. Jenna stiefelte ihm hinterher, als er den Weg nach oben ging – sie kannten ihn ja von gestern noch.
 

Als sie vor der Tür ankamen, schien erst alles in Ordnung zu sein – als er dann jedoch näher an die Tür trat, roch er es. Jenna, die den Geruch ebenfalls vernahm, schaute ihn alarmiert an.

„Fire?“, flüsterte sie. Er nickte nur, hatte sein Handy schon am Ohr.

Nur Minuten später stand der Löschzug vorm Haus, hatte die Tür aufgebrochen und Feuerwehrmänner standen in der kleinen Küche der Wohnung, schäumten sie tüchtig ein, während er und Jenna durch die Wohnung gingen, um herauszufinden, ob jemand hier war.

Die Wohnung war leer – war es, laut der Feuerwehr auch gewesen, als es zu brennen angefangen hatte. Jemand hatte ohne Acht auf den Herd, auf dem noch ein Milchtopf auf angeschalteter Platte gestanden hatte, sowie eine Pfanne mit Schinken, die Wohnung verlassen – der Brand hielt sich in Grenzen, hatte hauptsächlich auf den Hängeschrank über der Herdplatte und den danebenstehenden Tisch übergegriffen und dort das Plastik geschmolzen. Der Gestank jedoch war chemisch und unerträglich, biss in seine Lunge. Er hustete trocken, drehte sich um, besah sich den Schaden, als der Feuerwehrmann ihm erklärte, was passiert war.

Und dachte an Montgomery, der sich sicherlich begeistert zeigen würde.
 

Ich hätte ihn doch dabehalten sollen, gestern.

Verdammt…
 

Geistesabwesend bedankte er sich bei dem Mann, der ernst nickte und zu seinem Männern ging, um die Sicherung des Gebäudes abzuschließen, und machte sich auf seine eigene Erkundungstour durch die Wohnung, wenn sich die Gelegenheit schon bot - und trat einfach ins nächste Zimmer, das der Küche folgte, gegenüber des Flurs.

Wie das große Doppelbett und der Kleiderschrank an dessen Fußende verrieten, war dies wohl das Schlafzimmer.

Es sah aus, wie ein Schlafzimmer junger, nicht besonders wohlhabender Leute aussah – es war relativ spartanisch eingerichtet, das Bettzeug an manchen Stellen geflickt, aber sauber.
 

Dann sah er das Bild.

Meredith.
 

Sie war wunderschön, wirkte so lebendig und gleichzeitig so zerbrechlich, ein Moment, ein Idealzustand, konserviert in Öl auf Leinwand für die Ewigkeit.
 

Im nächsten Moment hörte er Jenna rufen, was ihn in seinem Gedankengang unterbrach. Er notierte sich das Bild hastig in sein Notizbuch, machte mit seinem Smartphone ein Foto, dann folgte er ihrer Stimme, fand sich in einem Zimmer wieder, das er als Atelier identifizierte – an der Wand hingen Bilder und Kleiderentwürfe, auf einer Schneiderpuppe steckten Nadeln und Stoffreste.

Er ließ seine Finger darüber gleiten, schluckte.
 

Wildseide.
 

Er wusste, das war der Beweis.

Das Bild allein hatte ihm schon gereicht, aber nun sahen sie hier die Stoffe, die Schnittmuster, die Entwürfe der Kleider – und konnten die Augen vor der Wahrheit nicht mehr verschließen.
 

Shinichi stöhnte auf, leise.
 

Also habt ihr sie euch geschnappt, alle beide… das ist gut, und schlecht gleichermaßen.

Gut, weil ich weiß, wir sind auf der richtigen Spur.

Schlecht… weil wir nun alleine weitersuchen müssen.
 

Was habt ihr nun vor…?
 

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And here we go...

Hoffe, euch hat's gefallen!
 

Beste Grüße und bis zum nächsten Mal,

eure Leira ;)

Kapitel 26: Sündenfall

Kapitel 26 – Sündenfall
 

Der Pinsel in seiner Hand zitterte.
 

Wie er erwartet hatte, hatten sie keine Zeit verloren. Eine Kurznachricht hatte ihn heute Morgen geweckt – und eine halbe Stunde später hatte der Porsche auf ihn gewartet. Meredith hatte noch tief und fest geschlafen – er wagte zu bezweifeln, dass sie den Kuss gespürt hatte, den er ihr noch auf die Lippen gedrückt hatte, als sie ihn aus ihren Kissen heraus schlaftrunken angeblinzelt hatte.
 

Es hatte sich angefühlt wie ein Abschiedskuss.
 

Eduard hatte kaum Zeit gefunden, sich zu rasieren, zu waschen und anzuziehen – an ein Frühstück war ohnehin nicht zu denken gewesen. Und im Nachhinein war er fast froh darum, denn als er im Fond des teuren Wagens Platz genommen hatte, schlug ihm die ekelhafteste Rauchwolke ins Gesicht, die er je gerochen hatte. Miss Butterfly, wie er sie in Gedanken nannte, hatte ihn spöttisch lächelnd angeschaut, kokett geblinzelt.

„Nah? I hope you’ve slept well?“

Sie betrachtete ihre Fingernägel, hatte an einem Fleckchen herumgerieben, ehe sie weitergesprochen hatte.

„Let’s hope you did. There’s much work for you to do today.“

Ihr Lächeln war noch eine Spur süffisanter geworden.
 

„Did you enjoy your evening, darling? She is a quite pretty thing, your girl…“, hatte sie erneut an zu plaudern angefangen, scheinbar gutgelaunt, als seine Stimme ihr Einhalt geboten hatte.
 

„Chianti.“
 

Er hatte eine weitere Rauchwolke in die Luft geblasen, als er den Wagen durch die von der frühen Rushhour verstopften Straßen gelenkt hatte. Sie hatte die Augen verdreht, sich dann abgewandt und die Zeit damit totgeschlagen, aus dem Fenster zu schauen. In der Spiegelung der Scheibe hatte er ihn sehen können.

Den Schmetterling.

Eduard hatte geschluckt und kaum wahrgenommen, wie er sich immer mehr in den kalten, glatten Ledersitzen versteift hatte.

Der Rest der Fahrt war schweigend verlaufen. Er hatte, wie sie von ihm verlangt hatten, auch das angefangene Bild des japanischen Mädchens mitgebracht. Und er ahnte nun, als er hier stand, im Loft seiner Arbeitgeber, dass er auch daran würde weiterarbeiten müssen.

Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder in der Tiefgarage hielten. Er hatte während der Fahrt nur auf seine Finger gestarrt, versucht, Ordnung in das Chaos seines Kopfs zu bringen. Wiederholt hatte er sich gefragt, wie er nur in diesen Schlamassel hatte geraten können.

Und das alles nur, weil ihn der Wunsch nach einem besseren Leben soweit trieb.

Immer war es das.

Der Wunsch nach nur ein bisschen mehr Geld, nur ein bisschen mehr Erfolg, nur ein bisschen mehr Luxus…

Einfach nur ein bisschen mehr vom Leben - für ihn und vor allem für Meredith.

Ihr ein sicheres Heim bieten zu können, sie lachen und glücklich zu sehen, dafür würde er alles tun.
 

Only a little bit…

But it seems, this little bit was already too much.
 

Soweit hatte es ihn nun gebracht.

Er hatte sich mit der Hand über die Stirn gewischt, gepresst ausgeatmet. Und war ohne ein Wort aus dem Wagen gestiegen, als sie in der Tiefgarage angehalten hatten.
 

Heute war Juniper Torrez‘ letzter Tag in diesem Leben.

Und auch die Tage der hübschen Japanerin waren bereits gezählt.

Und er… er war ihr Chronist.

Er fertigte das letzte Bild von ihnen an… war wahrscheinlich auch der, der sie das letzte Mal am Leben sah.

Wer wusste, wie lange sein eigenes Leben noch währte.

Eine kleine Stimme flüsterte ihm seit gestern leise, aber umso eindringlicher ins Ohr, dass das auch für ihn wahrscheinlich kein gutes Ende nahm. Wie hatte er auch glauben können, sie ließen ihn Zeuge ihrer Taten sein, und hinterher einfach laufen?
 

Nein.
 

Er hoffte nur, Merry blieb da raus.

Er hoffte es wirklich.
 

Juniper saß bereits auf ihrem Stuhl, als sie eintraten.

Sie war geschminkt worden, und frisiert. Allerdings konnte auch dieses Styling nicht verbergen, wie sie die letzte Nacht verbracht hatte. Angst zerfraß sie, färbte ihre Augen dunkel, ließen sie fast schwarz erscheinen. Ihre Lider waren immer noch geschwollen – wahrscheinlich, dachte Eduard, hatte sie die ganze Nacht geweint. An all ihre Lieben gedacht, die sie zurückließ.

Er sah ihr an, dass sie den Tod fürchtete.

Auch wenn sie, wie gestern auch, vorbildlich ruhig war und brav den Blick nicht von ihm wandte, als er weiter malte, so sah er ihr doch an, dass sie trotz ihrer Angst noch immer hoffte… verzweifelt hoffte, vielleicht doch einfach gehen zu dürfen, wenn man mit ihr fertig war.

Ob sie es wirklich glaubte, wagte er nicht zu beurteilen.

Er versuchte, ihr zuzulächeln, ihr ein wenig Mut zuzusprechen, auch wenn er wusste, dass es umsonst war. Dass es eine Lüge war.
 

Ihre Zeit lief ab.

Es war, wie als ob mit jedem neuen Pinselstrich, den er setzte, ein Körnchen mehr aus der Sanduhr ihres Lebens in die untere Hälfte des Glases rieselte.
 

Dann ging die Tür auf – herein kam ein weiterer Mann; ein Polizeibeamter.
 

Eduard wollte gerade aufspringen, schreien, um Hilfe bitten – das war die Rettung, endlich! – bis er bemerkte, wen er im Schlepp hatte.
 

Neben dem Mann erschien Meredith im Türrahmen, wurde von dem jungen Constable in den Raum gezogen. Ihre Hände hatte er auf den Rücken gefesselt, ihre Augen verbunden, in ihrem Mund steckte ein Knebel.
 

Er starrte den Constable an, fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Fassungslos starrte er ihn an, als der Glaube an die Gerechtigkeit ihn verließ.

„But you… you’re from the police…“

Seine Stimme verebbte, als ihm klar wurde, was das bedeutete.
 

These guys have their men even amongst the ranks of Scotland Yard…

How is Sherlock Holmes to solve this case, to save us all, if even his allies are his enemies…
 

God lord… I’m lost.

We all are lost.

It’s all over.
 

Als er jedoch ein leises Wimmern hörte, sein Blick auf sie fiel, erwachte er aus seiner Lethargie; Wut kochte in ihm hoch, genährt und angestachelt von seiner Liebe und seinem Beschützerinstinkt für Meredith, die ängstlich zitternd im Raum stand, nichts sah und nichts sagen konnte, gefesselt und hilflos.
 

Er fuhr herum, starrte Gin an, der genüsslich eine Zigarette geraucht hatte.

„You promised to keep her out of this!“

Seine Stimme zitterte – allerdings hatte er seine Worte erstaunlich laut geäußert.
 

„YOU PROMISED IT!“
 

Als sie nun die Stimme ihres Freundes hörte, versuchte sie, den Knebel loszuwerden, wand sich, wollte schreien; heraus kam nichts weiter als dumpfes, ersticktes Gewimmer.

Und er sah die geröteten Augen, als der Mann ihr die Augenbinde abnahm.
 

„What should we do, Eduard.“

Gin lächelte schmal.

„Do tell me, was there a choice for us? It was your fault. Sherlock Holmes is on your trail, Watson has shadowed the two of you last night, and has come back today… you were too obvious. Careless.“
 

Der junge Constable warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu, schlenderte zum Tisch und griff nach einer Flasche mit einer goldgelben Flüssigkeit, drehte die Karaffe in beiden Händen, las das Etikett, ehe er sie öffnete und sich einen großzügigen Schluck in ein weites Glas einschenkte, es anhob und leicht im Kreise schwenkte, die etwas träge Flüssigkeit beobachtete, wie sie ihre Kreise zog.
 

Bourbon.
 

Dann hob er den Kristallbecher an, setzte ihn an die Lippen, trank ihn mit einem Zug aus, sog anschließend scharf die Luft zwischen die Lippen. Mit einem lauten „Klonk“ setzte er den Becher ab, fixierte Gin mit kalkulierendem Blick.

„He was visiting the UAL again today, and you were right – he’ll have made his way to their flat, as he did not meet them at the campus. Besides, he has been contacting the FBI yesterday. He’ll have met Black by this time, as he’s the one currently remaining in London; I guess Akai and Starling are following soon; they’ll not want to miss the pleasure and the chance of settling old scores with you…”

Damit drehte er sich um.

„Well then. This is not my war, I’m done with you now, we’re equal at last. Have a nice day.“
 

Ohne ein weiteres Wort verließ er das Loft – und sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, bröckelte ihm das Lächeln von den Lippen.

Kein anderer als er selbst hatte ihn geschickt, heute Morgen, um Meredith zu holen, auch wenn er Gin in dem Glauben hatte sein lassen, er hätte ihn in der Hand.

Und er war es auch, von dem er wusste, dass Kudô das FBI kontaktiert hatte.

Gin glaubte, er arbeitete nun in seinem Leben tatsächlich für Scotland Yard; und hatte gedroht, ihn auffliegen zu lassen, täte er ihm diesen Gefallen nicht.

Tatsache war, dass das seine kleinste Sorge war.

Gin war nicht sein Problem.
 

Sein Problem war er.

Er war ihm auf die Spur gekommen, hatte ihn mit seiner Schwester in der Hand, benutzte ihn als Spion und Helfer, und er war es, der die Strippen zog, auch was Gins kleine Vendetta betraf – auch wenn der nicht die leiseste Ahnung davon hatte.

Tatsache war, zuerst musste Gins perfides Rachespiel sein Ende finden, musste Gin, der Dieb in seinen Augen, vernichtet werden, und das sehr gerne von Kudô, der sich bei der Aktion wohl selber schon an die Grenze seiner Belastbarkeit trieb - ehe er selbst die silberne Kugel zerstören wollte in dem Feuer, in dem sie geschmiedet worden war; oder das, was von ihr übrig blieb.

Er würde ein leichtes Spiel mit ihnen allen haben, ohne selber sich die Hände jemals schmutzig gemacht zu haben – so war es schon immer gewesen.
 

Bourbon lächelte bitter.
 

Ich hätte mich darauf niemals einlassen dürfen.
 

Eduard hingegen saß auf seinem Schemel und schwitzte Blut und Wasser. Meredith hatten sie auf einen Stuhl gesetzt, gefesselt, immer noch geknebelt – aber sie durfte ihm nun zusehen.

Schluchzen erfüllte das Loft, machte ihm das Atmen fast unmöglich. Juniper hatte leise zu weinen angefangen, Meredith heulte etwas lauter vor sich hin. Vor ihr auf dem Boden lagen ihre Kleider, und ganz offenbar ging ihr langsam auf, was hier wirklich geschah. Oder aber, was wahrscheinlicher war, fand sie ihre Ahnung nun bestätigt.

Spätestens, als sie das Schwert sah, das Gin von der Wand nahm, und es ihr unter den Hals hielt, dürfte jeglicher Zweifel auf ihrer Seite verschwunden gewesen sein.

„Stop wailing.“

Eduard sprang auf, wollte sich vor sie werfen, jedoch hielt ihn eine Handbewegung Gins davon ab, ließ ihn auf der Stelle erstarren wie schockgefrostet.
 

„One step closer and she’ll be dead. I have no problem at all to kill her, to kill your little darling in front of your eyes. You know that. If you don’t believe it – ask Kudô’s little sweetheart, the very girl you’re painting next – or Sherlock, as you call him here.“

Er lachte kalt auf.
 

„Sherlock Holmes, indeed. It’s about time to push him down his Reichenbachfall. Properly.“
 

Eduard wich zurück, seine Augen fixierten Merediths, die ihn mit so viel Angst ansah, dass er sich fast übergeben musste. Er konnte den verzweifelten Schrei nach Hilfe in ihren Augen sehen, die Hoffnung, die sie in ihn setzte und er wusste doch, dass er sie enttäuschen würde.
 

Um sie zu retten... tat er nichts.
 

Sie jedoch starrte ihn an, in ihren Augen immer noch Angst – aber nun mischten sich Unverständnis, Fassungslosigkeit in diese grünen Augen, starrten ihn an, gedämpft und erstickt drangen Laute durch den Stoff ihres Schals, den man ihr in den Mund gestopft hatte, als sie versuchte, zu sprechen. Eindringlich starrte sie ihn an, hatte für den Moment das Weinen aufgehört.

Gin lachte.

„You want to tell him something? Well… it seems only fair to let him know what you are thinking of him… of this coward; of this disappointment of a boyfriend, let alone a man.”
 

Er griff in seine Manteltasche, zog ein Taschenmesser hervor, ließ es aufschnappen und trat zu ihr, schnitt mit einer raschen Bewegung durch den Seidenstoff des Schals, der mit einem ratschenden Geräusch der scharfen Klinge nachgab. Gelassen steckte er es wieder ein, sah sie kalt lächelnd an.

Meredith saß da, wankend, schnappte nach Luft.
 

Und er konnte ihre Worte kaum ertragen, obgleich kaum lauter als ein Wispern.
 

„Eduard! Why have you done this – why haven’t you told me the truth?!

You knew this all along! We should have gone to the police, when Ayako…”
 

Sie atmete heftig, schaute verwirrt um sich, als sie Gin lachen hörte, schluckte hart.

„I did tell you… I have hoped so dearly that you had changed, that you left this behind you, but what do I have to see now…

I did believe what you told me, I wanted to believe that everything was right, though I felt that something was wrong, so terribly wrong, I felt it, I… “

Eine Träne rann ihr über die Wange.

„It has become worse than ever, Eddie…

What is it that makes you do this… it can’t be the money, it can’t be the wish for a better life, I thought, we had a good life…”
 

Sie zitterte wie von einer unsichtbaren Hand geschüttelt, so fest, dass ihre Zähne kurz aufeinander klapperten.
 

“It was enough for me! You were enough… for me.

Haven’t I been enough for you… did you want more…?

Why didn’t you tell me… why didn’t you trust me?”
 

Meredith schluckte hart. Er starrte sie an, merkte, wie in ihm etwas in tausend Stücke brach, war unfähig, ihr eine Antwort zu geben.
 

Why didn’t you trust me?!“
 

Eduard schauderte.
 

Meredith.
 

Dann drehte Gin sich um, warf einen prüfenden Blick auf das Bild, beendete damit den einseitigen Dialog des Künstlerpärchens.
 

„Nice speech. But, my lovely one, I have to tell you that men always make the same mistakes. He is not the only one who thinks he alone knows best… but I am afraid, this knowledge is not at all comforting for you.”

Er lachte leise, ehe er sich Eduard zuwandte. Aus seinen Augen war das Amüsement verschwunden, eiskalte Berechnung stand in ihnen zu lesen. Er nickte scharf in Richtung des Bildes.

„And? What about that? Are you done with it?“

Eduard schluckte hart. Er wusste, es war egal, was er sagte… Juniper würde sterben, und irgendwann würde Gins Geduld am Ende sein. Abgesehen davon versagten ihm langsam schlicht und ergreifend die Kräfte, physisch und emotional.

Er konnte nicht mehr.

Und so nickte er nur, geschlagen. Gin lächelte.
 

„Well then. Here you are. This time the honour is all yours.“
 

Er hielt ihm das Katana hin, mit dem Griff nach oben zeigend, sah ihn kalt an. Eduard stand da, wie eine Pappel im Wind zitternd, sich Merediths vor Entsetzen aufgerissenen Augen voll bewusst.

Unwillkürlich, automatisch schüttelte er den Kopf.

„No. No! This… I can’t do this… I- I… can’t!“

Gin lächelte.

„But of course you can. You’re lacking the right motivation, that’s all, my friend…”

Sein kühles Lächeln wuchs sich zu einem wahren Zähnefletschen aus.
 

„Now take it. We’ve got plenty of other things to do and time is money...“
 

Damit drückte er ihm das Schwert in die Hand, ging um den Stuhl, auf dem Juniper saß, herum, streichelte ihr mit seinen langen, schlanken Fingern von hinten übers Haar, ihren Hals entlang über ihre Schultern, ließ sie auf der Rückenlehne des Stuhls ruhen. Sie hatte die Augen geschlossen, zusammengepresst vielmehr, wimmerte unkontrolliert, ihre Lippen zu einer Grimasse des Leids verzerrt. Tränen wuschen die Maskara von ihren Wimpern, zeichneten schwarze Linien in ihr Gesicht.

Dann riss er mit einem Ruck den Stuhl unter ihr weg, so dass sie nach vorn fiel, zu Boden stürzte und nun vollends in Tränen ausbrach.
 

Als sie aufsah, ihn ansah, wusste er, dass sie es nun begriffen hatte.
 

Sie würde nun sterben.
 

Eduard jedoch stand immer noch da wie eine leere Hülle seiner selbst. Seinen Fingern fehlte sogar die Kraft, das Schwert zu halten – kalt, nass und starr waren sie geworden, ohne Gefühl, völlig taub.
 

Ein ohrenbetäubendes Klappern und Scheppern ertönte, als Metall auf Marmor traf.
 

I am not creating beautiful things.
 

I seal with my work the fate of so many people…

Theirs.

Mine.

Merediths…
 

And his fate, too.
 

Starr vor Angst stand er da.
 

All I ever wanted was create beautiful things…

But now – what do I do now?!
 


 

Leise klirrte der Löffel in der Porzellantasse, als sie ihren Tee umrührte.

Shiho hatte sich breitschlagen lassen, bei ihr zu bleiben; James Black saß ihnen nun gegenüber, ebenfalls vor einer Tasse Tee, schaute sie mit wachen Augen an.

Ran ließ ihren Blick über den Mann wandern; er war, das musste sie zugeben, genauso, wie Shiho ihn ihr beschrieben hatte.

Groß, grauweiße Haare, ein Schnauzbart - alles in allem genau so, wie man sich einen formvollendeten Briten fortgeschrittenen Alters vorstellte – nicht aber einen FBI Agenten.

Andererseits verströmte er eine Aura von unbedingter Macht und Autorität, und das nur, indem er hier saß und eine Tasse Tee trank.

Er führte seine Truppe bestimmt mit großer Fairness – und ebensoviel Strenge, mutmaßte Ran. Sie setzte ihre Tasse an die Lippen, begegnete seinem Blick, der sie ebenso musternd taxierte, wie ihrer ihn.
 

Sie sahen sich heute schließlich zum ersten Mal.
 

Black war eingetroffen, nur etwa eine halbe Stunde nachdem Heiji ihn angerufen hatte. Er, Kazuha und Sonoko waren auf Wunsch Sonokos in die Innenstadt gefahren – ihr jedoch war nicht nach derlei Vergnügungen. Sie überlegte immer noch, wie sie Shinichi davon überzeugen konnte, endlich zu Vernunft zu kommen.

Sich endlich helfen zu lassen, von ihr, auch wenn sie seinen Wunsch verstand.

Sie wusste, ganz Unrecht hatte er nicht… andererseits wehrte sich alles in ihr, ihn allein zu lassen. Und sie wusste noch zu gut, was passiert war, als sie ihn das letzte Mal auf seinen Wunsch hin verlassen hatte und allein nach Hause gegangen war.
 

Conan.
 

Allerdings, das ahnte sie, wusste sie immer noch viel zu wenig von dem, was er immer als seinen „Fall“ bezeichnet hatte, um ihn verstehen zu können – und ihm wirklich eine Hilfe zu sein. Sie seufzte ein bedrücktes, kleines Seufzen, zog damit James Black’s Aufmerksamkeit noch mehr auf sich, der sie beide mit einem großväterlichen Blick bedachte, den sein buschiger Schnauzbart zusätzlich unterstrich.

Sie saßen in einem niedlichen kleinen Café in der Nähe ihres Hotels. Dieser Urlaub war ganz und gar nicht so, wie er geplant gewesen war; von erholsam konnte nicht die Rede sein, auch nicht davon, sie auf andere Gedanken zu bringen. Und die Anwesenheit des FBI sprach eine deutliche Sprache, was seinen Fortgang betraf.
 

„Und was werden Sie nun machen?“, fragte Ran schlussendlich, durchbrach damit die Stille, die sich über die kleine Tischgesellschaft gelegt hatte, stach mit ihrer Gabel ein Stückchen apple crumble ab, zog es durch die Vanillesauce, langsam, lustlos.

Sie machte sich Sorgen, man sah es ihr an.

„Fürs erste abwarten.“

„Wie bitte?“

Ran fiel ihr Dessert fast wieder aus dem Mund. Auch Shiho schaute ihn einigermaßen konsterniert an. Sie hatte sich extrem gut im Griff – allerdings war ihr anzusehen, dass in ihr die Angst wuchs. Ihr Blick wurde starr, ihre Finger kalt. Black schaute sie musternd an, regte sich ansonsten jedoch nicht.

„Ich verstehe, dass du Angst hast, Shiho. Andererseits musstest du auch in Tokio damit rechnen, dass sie dich angreifen – why are you so worried now?“

Ran, die eigentlich noch auf eine Antwort Blacks gewartet hatte, schluckte hart.

Dass Shiho genauso in Gefahr war wie Shinichi, hatte sie verdrängt… wohl, weil sie ja in Tokio gewesen war. Die ganzen fünf Jahre.

Und weil es gut gegangen war.

Weil nichts passiert war.
 

Sie griff nach ihrer Hand, drückte sie kurz, schenkte ihr ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es aufmunternd wirkte. Shiho hingegen schaute sie nur an.
 

Du versuchst immer noch die Tapfere zu spielen… dabei weißt du, worum es geht, diesmal.

Es geht um ihn. Um sein Leben.

Die Angst frisst dich auf, Ran.

Vergiftet deine Seele.
 

„Nun, Kudô tut ja auch nichts, um mir die Angst zu nehmen. Verlass das Land, Shiho. Das hat er gesagt. Sehr beruhigend. Und im Übrigen habe ich nicht mehr Angst als sonst.“

Ein schmales Lächeln schlich sich über die Lippen des Agents, ehe er antwortete.

„But he is right.“

James Black schaute sie ernst an; das großväterliche Lächeln war einem sorgenvollen Blick gewichen.

„It is true, they might hunt after him first, as he was the one jumping in their way whenever they were trying to catch or kill you. But as soon as they’ve done him in, god beware, they’ll go and get you. Or they will use you… or both of you… to reach him.”
 

Er nahm einen Schluck Tee, schloss kurz die Augen.

„They were hurt and angry. Sie haben ihre Wunden nun geleckt, und sind bereit, ihre Rache zu nehmen an ihm. Sie wollen ihn tot sehen, mehr noch, zerstört sehen, wenn man sich ihr Vorgehen in den Tagen damals, die er innerhalb der Wände der Organisation verbracht hat, über den Hergang seiner Flucht, bis zu diesem Szenario jetzt, anschaut.

Sie wollen ihn dem Erdboden gleichmachen, ihn, der sie ans Tageslicht gezerrt hat, der ihnen die schwarzen Masken von ihren genauso dunklen Gesichtern gerissen hat. Sie wollen ihn. Und dann holen sie dich.“

Kurz verlor sich sein Blick in der Ferne.
 

„Akai und er hatten es damals wirklich schlau eingefädelt. Die Art und Weise, wie er sich interessant gemacht hat bei ihnen, wie er Bourbon gefügig gemacht hat, wie er euch aus dem Weg geschafft hatte, wie er uns die Daten zukommen hat lassen… he is a true mastermind. Das alles war von A bis Z sein Plan. Er kam und tat so, als würde er das mit uns zusammen aushecken, dabei legte er ihn uns eigentlich komplett fertiggestellt vor. Und nicht einmal das tat er – in manchen Details schwieg er sich aus, oder teilte sie nur mit Agent Akai.“
 


 

Eduard zitterte am ganzen Körper. Seine Wange brannte und Blut lief ihm aus der Nase, sowie aus einer Platzwunde an der Wange. Er wagte nicht, die Hand zu heben, um seine Nase zu betasten, herauszufinden, ob sie gebrochen war, durch diesen gewaltigen Schlag mit dem Griff der Pistole in sein Gesicht, der ihn von den Füßen gerissen hatte. Gin stand immer noch über ihm, das Ding in der Hand, allerdings mittlerweile wieder richtig herum – den Griff in der Handfläche, den Zeigefinger um den Abzug gekrümmt, den Lauf auf ihn gerichtet.
 

Und er wünschte sich ernsthaft, der blonde Hüne mit den eisigen Augen würde einfach abdrücken.

Einfach abdrücken, ihm ein Ende bereiten.

Damit er nicht mehr hören musste, wie Meredith schrie und weinte.

Damit er nicht mehr hören musste, wie Juniper wimmerte und flehte.

Damit er nicht mehr hören musste, wie Chianti lachte.
 

Damit er diesen Mord nicht verüben musste.
 

Pull this goddamned trigger, I beg you, I implore you. It is so easy for you just to pull it, to end my life, please do, please do, please do …
 

„Eddie…“

Er drehte den Kopf, sah in Merediths blaue Augen, die in einem Meer aus Tränen schwammen, rotgerändert, angstvoll geweitet, und er wusste, dass es so einfach nicht ging.

Nicht, wenn er wollte, dass ihr nichts passierte.
 

„Coward. Wastrel…“, hörte er seine Stimme kalt an sein Ohr.

„Do you know how much this sword is worth? And you let it slip! Every scratch in its blade mars its sharpness… and its flawless, breath-taking beauty...“

Gin ging in die Knie, hob das Schwert auf, ließ prüfend das Licht auf der Schneide reflektieren, einen Lichtblitz die Schnittkante entlang tanzen.
 

Dann wandte er sich Juniper zu, die immer noch am Boden lag, während Eduard sich langsam aufrappelte, sich der beobachtenden Blicke von Chianti voll bewusst.

„Go, get up. Get undressed, it must not get dirty…“

Ein bösartiges Grinsen erschien auf seinen Lippen. Juniper versuchte, aufzustehen, schaffte es nicht. Sie wankte, rutschte immer wieder aus – es ratschte, als sie auf den Saum des Kleides stieg und beim Aufstehen einriss. Wie ein Häuflein Elend saß sie auf dem Boden, zitternd und weinend – absolut stumm.

Schließlich trat Gin zu ihr, packte sie am Oberarm und zerrte sie hoch, öffnete den Reißverschluss des Kleides mit einem Ruck.
 

Und obwohl er wusste, was es für Meredith bedeutete, wenn er hier einfach abtrat, wünschte er sich, er könnte einfach sterben, als er Juniper im Unterkleid stehen sah, mit diesen Augen voller Angst, in denen diese eine, stumme Bitte stand, sie zu verschonen.

Ihr ihr Leben nicht zu nehmen.
 

Als Gin ihm das Schwert hinhielt, nahm er es, hielt es mit beiden Händen. Er sah, wie der blonde Mann seine Pistole auf Meredith richtete, schloss die Augen, wünschte sich, wünschte sich so sehr, der Boden möge sich unter ihm auftun.

Er tat es nicht.

Und so öffnete er seine Augen wieder, merkte, wie seine Sicht langsam verschwamm, sich in seinen Ohren ein Rauschen manifestierte, das alle anderen Geräusche, seine Welt, sein Denken, ausblendete.
 


 

„Vermouth hat ihn gewarnt, seinerzeit.“

Black verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich zurück.

„Er wusste, sie planten etwas. Und er wusste, sie kamen wegen dir, Shiho, nicht wegen ihm. Ihn würden sie einfach erschießen. Wenn es blöd kam, den Professor auch. Dich, Ran, und deinen Vater.“

Er warf Ran einen kurzen Blick zu.

„Nach dem Bell Tree-Express Zwischenfall war ihr Verdacht geweckt. Vermouth wusste ohnehin, wer du bist, und Toru Amuro ist nicht blöd; er war ein Doppelagent für die Sicherheitspolizei, das ist es, was wir momentan wissen. Allerdings lassen manche seiner Aktionen vermuten, dass sein schwarzer Arbeitgeber wohl etwas besser bezahlte oder ihn anderweitig beeinflussen konnte, was seine Loyalität betraf. Nichtsdestotrotz spielte er sein doppeltes Spiel recht gut – und Shinichi sah das auch. Allerdings… war Shinichi schon mit achtzehn ein so verdammt schlaues Bürschchen.“

Er lächelte.

„Sie haben mit mir diese Aktion nicht abgesprochen, weil sie wohl ahnten, ich hätte sie nie genehmigt. Als er die Warnung von Vermouth erhalten hatte, verlor er keine Zeit, ging mit seinem Plan, seiner persönlichen Exitstrategie, zu Akai, und zog die Sache mit ihm durch. Sie hatten alles, was sie brauchten. Den doppelten Virus hatte ihnen der Professor auf seinen Wunsch hin schon lange programmiert, mithilfe von Itakuras Aufzeichnungen; er hatte den Algorhythmus extrahiert, der durch die Verschlüsselung brechen und die Daten nach außen schleusen konnte. Er hat das Gegengift genommen. Hat euch alle aus der Gefahrenzone geschafft, indem er seine Eltern mit ins Boot holte. Er hatte die Ressourcen und er nutzte sie clever.“
 

Black massierte sich den Bart, lächelte kurz.
 

„Ihm war klar, dass immer du ihr Ziel Nummer eins gewesen warst, und das musste er ändern. Also schrieb er eine Mail, deren Existenz nur wenige Leute kennen… er schrieb sie nur an drei Personen. An Meguré. An mich. Und an… Anokata.“
 

Shiho erbleichte.

„Er hat nicht…! Ich hab ihm gesagt, diesem Dummkopf, er darf die Adresse nie verwenden…!“

Ran schaute von einem zum anderen, fragend.

„Er hat die Emailadresse rausbekommen, vom Boss. Er hat sich die Tonfolge gemerkt, die ersten Töne zumindest, als Vermouth dem Boss eine Email schrieb.“

Shiho verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„Und keine andere als du warst es, die ihm das Lied dazu genannt hat, Ran. Ihm damit die Mailadresse vervollständigt hat.“
 

Rans Augen wurden groß. Sie schluckte trocken, spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte, als sie sich daran erinnerte.
 

Nanatso no ko…“, wisperte sie tonlos.
 

Und vor ihr erschien sein Gesicht, der Ausdruck in Conans Augen, als ihm wohl klar geworden war, was er nun in der Hand hatte. Sie hatte damals keine Ahnung haben können, was sie ihm ermöglicht hatte.

Erst Blacks Stimme riss sie aus ihren Gedanken, brachte sie dazu, ihn wieder anzusehen. Der Appetit auf Apple Crumble war ihr vollständig vergangen.

„And in this mail, he told everything. Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Wenn und Aber, ohne Kompromisse für sich und sein Leben, seine Zukunft. Er sah diese eine Chance für einen Schlag, der sitzen würde und er ergriff sie mit beiden Händen. Und er schickte den Beweis gleich mit. I guess you know which proof I mean.“
 

Shiho war blass geworden.

„Wer hat denn…“

„Der Professor, wie wir später erfahren haben.“

Blacks Stimme war ernst geworden, seine Augen seltsam dunkel.
 

„This had impact, of course – and the ravine began to rush down the glacier, ready to smash him. They sent Bourbon, as he expected.“

Er lächelte.

„Gin war Dank der Enthüllung der Tatsache, dass der für von ihm für tot erklärte Shinichi Kudô so tot gar nicht war, fürs erste in der Gunst des Bosses gesunken. Und damit es dabei auch blieb und du und Ran in Sicherheit wärt…“, zum ersten Mal sah er sie an, „hat er euch nicht nur außer Reichweite geschafft, vorher, sondern Bourbon erpresst. Mit seiner kleinen Schwester, und von der die Organisation nichts wusste, er aber schon, denn genau wie Toru seine dreckige Wäsche wusch, wusch Shinichi seine. Er verpflichtete ihn, auf euch aufzupassen und zu verhindern, dass man euch etwas antat, sonst würde er ausplaudern, was er wusste. Und er wusste viel.“
 

Er räusperte sich sachlich.

„He’s done his homework carefully. We aimed at collecting data, to get hold of the Organization in numbers and letters, as one might call it. Den Emailverkehr, die Sitzungsprotokolle, die Mitgliederlisten, die Forschungsarbeiten. Den Speicherchip, auf dem sich der Trojaner befand, eine Micro-SD, trug er unter einem künstlichen Zehennagel.“
 

Er hielt inne, als er Rans Blick bemerkte. Sie schüttelte den Kopf, massierte sich die Schläfen.

„Und wie haben Sie sich das vorgestellt? Dass er da reinmarschiert, Ihnen die Daten holt und wieder rausmarschiert? Haben Sie nicht…“

James Black wich ihrem Blick nicht aus.

„Doch, natürlich. Wir wussten, er würde nichts sagen, und wir wussten auch, dass sie Mittel und Wege besaßen, um seiner Gesprächigkeit auf die Sprünge zu helfen. Darüber war er sich im Übrigen auch völlig im Klaren. Uns hat das natürlich nicht geschmeckt.“

Er wandte den Kopf ab, schaute aus dem Fenster.

„Nicht geschmeckt?!“

Rans Stimme war leise, kaum zu hören, aber das Fauchen einer Tigerin schwang in ihr mit.

„Nicht geschmeckt – ist das alles? Sehen Sie ihn sich heute an – ich weiß nicht, was passiert ist, aber…“

„Er war knapp zwanzig, natürlich wollten wir nicht, dass man ihm etwas antut. Ihn verletzt.“

Er sah sie ruhig an, wich Rans Blick nicht aus.
 

„Ihn foltert. Nennen Sie das Ding beim Namen, Mr. Black.“
 

Shihos Stimme klang ruhiger, als sie es war. Ihr war in den letzten Minuten das Blut ins Gesicht geschossen. Ran schaute sie an, verwundert.

„Sie haben ihn gefoltert, und Akai musste wissen, dass damit zu rechnen ist, selbst wenn Sie nicht den ganzen Plan kannten, wie sie sagen! Akai wusste das! Sie kannten die Methoden! Shuichi war mal Mitglied in dem Verein, verdammt!“

Ihr Atem ging auf einmal merklich schneller.

„Er hätte ihm das ausreden müssen! Er hätte ihn da niemals reingehen lassen dürfen, egal, was er ihm für eine Geschichte verkaufte, verdammt ja, er kann wahnsinnig überzeugend sein – sein Vater ist Schriftsteller, seine Mum Schauspielerin, dem kauft man doch alles ab!“

Sie schnappte nach Luft.

„Aber er wusste es doch besser! Niemals hätte er…“

Black bedachte sie mit einem seltsam traurigen Blick, brachte sie wortlos zum Schweigen. Ran rann es eiskalt über den Rücken. Zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sie sich, was Shiho eigentlich mit Shinichi verband.

„Glaub nur nicht, dass wir uns keine Vorwürfe machten. When I got to know …“
 

„VORWÜRFE?!“
 

Ran starrte sie erschrocken an, die Lautstärke und Erregtheit in Shihos Stimme ließen sie zusammenzucken. James Black schaute sie weiterhin mit gesetzter Miene an; sollte ihn ihre Aufregung in irgendeiner Weise zusetzen, so ließ er sich nichts anmerken.

Shiho, die aufgesprungen war, ihre Hände am Tisch aufstützte und den FBI-Agenten zornig anfunkelte, setzte sich langsam wieder, warf beunruhigt einen Blick um sich. Ein paar Menschen sahen sie erstaunt an, drehten sich allerdings langsam wieder um.

„Shiho?“

Rans Stimme drang leise an ihr Ohr – zu leise, als dass sie sie wirklich wahrnahm.
 

„Vorwürfe, dass ich nicht lache. Sie haben ihn nicht gesehen…“

Sie starrte auf die Tischplatte, versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen, ihr Gesicht blass wie Ran es nie gesehen hatte. Und in ihr wuchs die Unruhe, als sie an sein Schweigen dachte, auf die Frage, was in diesen zehn Tagen passiert war.

„Doch, natürlich.“

Der FBI Agent schaute sie ernst an, seine Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen.

„Euer Kommissar Meguré hat ihn vorbeigefahren, bevor er ihn zuhause abgeliefert hat. Er stand unter Schock, zweifelsohne, war sehr mitgenommen von dem, was er erlebt hatte…“, sein Blick schweifte kurz zu Ran, „aber er konnte uns noch seine Aussage geben und die Beweise, die er noch gesammelt hatte, als er zurückgelaufen war. Dann brachte der Kommissar ihn nach Hause. Wir sahen ihn dann erst Monate später wieder, als er uns um ein Empfehlungsschreiben bat.“

Auf Shihos Lippen war ein bitteres Lächeln geschlichen.
 

„Eben, das ist es… Sie haben ihn nicht gesehen, als er abgestürzt ist.“

Sie schluckte hart, bemerkte Rans Blick auf sich, brennend wie ein weißglühender Draht auf ihrer Haut.

Ihre Augen wurden dunkel, seltsam glasig, als sie auf die Tischplatte blickte, ihre Finger begutachtete, als die Erinnerung sie an diesen Abend langsam einholte.
 

„Er hatte mir das Gegengift vorbeigebracht, bevor er zu seinen Eltern zurückging. Geredet hat er nicht viel – nur vier Wörter hat er gesagt.

Vier.“

Sie schluckte.

„Meinen Freispruch.“

Sie wischte sich über die Augen.

Du bist frei, Shiho. Nicht mehr, nicht weniger. Nur das. Dann ging er. Und eigentlich hätte es mir da schon auffallen müssen.“
 

Unwillkürlich fing sie an zu zittern.

„Ich nahm das Gegengift. Ich sah ihm an, dass er viel durchgemacht hatte und ich wollte ihm eine Freundin sein, wenn er eine brauchen würde. Und das… das konnte ich nicht als Ai. Du weißt selber… wie sehr er versucht hat, dir ein Freund zu sein, Ran, und aber in so vielen Bereichen einfach zurückstecken musste… weil man mit einem Kind nie umgeht wie mit einem Erwachsenen. Ich hatte vorher immer Gedanken gewälzt, hin und her überlegt, ob ich nicht Kind bleiben wollte – als ich ihn sah, war für mich klar, dass das nicht ging. Wir hatten das zusammen durchgemacht. Ich war‘s ihm schuldig, es zu nehmen, wenn er sich schon die Mühe machte, und es mir brachte.“
 

Sie schluckte hart.

„Es war schon nach Mitternacht, als es an der Haustür klingelte. Der Professor machte auf – und draußen stand sein Dad. Yusaku Kudô. Er wollte, dass ich mitkam… wegen… ihm.“
 

Sie brach ab, griff nach ihrem Colaglas, krampfte ihre Finger darum.

„Ich wusste nicht, was sie ihm angetan hatten. Ich hatte mich, offen gestanden, noch bis zum Nachmittag der Illusion hingegeben, dass es nochmal glimpflich ausgegangen war für ihn. Er war mitgenommen, ja. Aber er schien nicht offensichtlich verletzt, nicht viel zumindest. Als ich ihn allerdings sah, war es… mir sofort klar.“

Ran schaute sie starr an, ohne zu blinzeln. Shiho fing ihren Blick kurz auf, fing an, auf ihrer Unterlippe zu kauen.

Sie schloss die Augen, atmete tief ein, sammelte sich.
 

„Ein Blick, der nichts wahrnahm aber doch mehr sah, als er aushalten konnte…“
 

Schweiß glänzte auf seinem Gesicht – und das war auch das erste, was sie registrierte, als sie ihn ansah, nachdem sein Vater sie in sein Zimmer geführt hatte.

Er lag auf seinem Bett, zusammengekrümmt und zitternd, seine Finger in die Decke gekrallt, so fest, dass seine Knöchel weiß durch seine Haut schimmerten.

Seine Mutter saß neben ihm, strich ihm übers Haar.

„Er kriegt nichts mit… er reagiert nicht, er…“

Angst schwang in ihrer Stimme.

„Shiho, was ist das – er hört nichts, er spürt nichts, er…“

Shiho näherte sich ihm langsam, kniete vor seinem Kopf auf den Boden, um mit ihm auf gleicher Augenhöhe zu sein, umgriff sein Kinn, um seinen Kopf zu fixieren.

Er sah sie nicht an.

Sie sah jedoch alles, was sie sehen musste.
 

„Drogen.“

Sie hörte eine dunkle Stimme an ihrem Ohr.

„Hab ich Recht?“

Sie nickte nur, ohne Yusaku Kudô anzusehen, der neben ihr auf den Boden gesunken war, strich ihm eine nasse Strähne aus dem Gesicht. Sie hätte blind sein müssen, um es nicht zu sehen.

Die großen Pupillen, die sich auch dann nicht verengten, als sein Vater die Nachttischlampe direkt in sein Gesicht scheinen ließ. Das Zittern. Der kalte Schweiß, der ihm seine Klamotten an den Körper klebte.

Die Schmerzen, die ihm nur ein leises Stöhnen entlockten, weil er seine Atmung auf ein Minimum presste, um sich selbst die Luft zum Schreien zu nehmen.
 

Und dieser eine, kleine Punkt an seinem Handgelenk, umrahmt von einem blau schimmernden Fleckchen Haut – das Hämatom, das sich gebildet hatte, rund um die Stelle, an der sie immer und immer wieder die Nadel angesetzt hatten.
 

„Shinichi…“, flüsterte sie leise.

„Shinichi, weißt du, wie die Substanz hieß, die sie dir…“
 

Sie brach ab, als sie merkte, wie sein Gesicht sich verzog.
 

„Ran…“
 

Langsam strich sie sich ihre Haare hinter die Ohren.

„Ich wusste nicht, wie wir ihm helfen konnten, und es wurde zusehends schlimmer. Rasender Puls, flache, unregelmäßige Atmung, und immer wieder stöhnte er auf vor Schmerzen, auch wenn er versuchte, ruhig zu sein. Wahrscheinlich hatte er sich das antrainiert.“

Black strich sich über seinen Bart, mit Daumen und Zeigefinger, setzte sie an den Ecken an, führte sie in der Mitte unter seiner Nase zusammen, immer wieder, ehe er schließlich kurz nickte.

„Biting one’s tongue, holding one’s breath… are well-known methods to keep one’s mouth shut in order to prevent oneself from prevailing information to the enemy. Aber dafür…“

„… braucht es einen extrem starken Willen. Dass er den hatte, wissen wir.“

Sie schluckte.

„Dennoch, wir wussten nicht, was sie ihm da gegeben hatten, auch wenn ich eine Ahnung hatte.“

Sie rieb sich die Schläfen.

„Ich hoffte so sehr, dass es das nicht war. Ich wusste, es war eine reine Foltersubstanz. Und ich wusste, am Schluss endete es immer tödlich. Die Organisation ließ ihre Zeugen nie am Leben, also…“
 

Immer mehr sank sie in ihrem Stuhl zusammen.

„Ich besorgte ihm ein Schmerzmittel. Riet seinen Eltern, ihn in ein Krankenhaus zu bringen - und wollte selbst bis zum Morgen sicher herausfinden, was sie ihm gegeben hatten. Als ich aber… am nächsten Tag zurückkam, waren sie nicht mehr da. Offenbar waren sie noch in der Nacht aufgebrochen. Ich…“
 

Ran, die bis dahin stumm zugehört und den Kohlensäurebläschen in ihrem Wasserglas beim Aufsteigen zugesehen hatte, wandte sich ihr zu, als sie die Konsequenz aus ihren Worten zog.
 

„Du wusstest nicht, was aus ihm geworden ist.“
 

Shiho wandte sich ruckartig ab, schluckte schwer. James Black sah sie an, seine Miene ausdruckslos.

„Du weißt es doch selber, Ran. Weder er noch seine Eltern waren zu erreichen. Ich hoffte, dass sie es uns gesagt hätten, wenn er gestorben wäre, aber sicher sein konnten wir doch nicht. Und so… hatte ich erst meine Gewissheit, als ich ihn vor ein paar Tagen auf der Brücke stehen sah.“

Der Schatten eines Lächelns huschte über ihre blassen Lippen.

„Also ja. Ich hatte Angst, dass mein bester Freund gestorben ist, getötet von der gleichen Organisation, die auch schon meine Eltern und meine Schwester auf dem Gewissen hat.“
 

Ran sagte nichts mehr, wandte ihren Blick ab, starrte in ihr Wasserglas und hoffte, niemand hörte ihr Herz so sehr pochen wie sie, in diesem Moment.
 

Shiho hingegen schaute auf, sah dem FBI Agenten ins Gesicht.

„Sie haben ihn so nie gesehen. Niedergeworfen. Besiegt. Ihr habt ihn ruiniert. Ihr hättet ihn niemals da reinschicken dürfen, egal was er euch sagte. Sie haben ihn gesehen, Mr. Black, er zahlt die Rechnung noch heute…“
 

James Black sah sie an, schüttelte dann langsam seinen Kopf.
 

„Das stimmt nicht, und das weißt du. Er hat ein paar Schrammen abbekommen, zweifellos. Aber er ist weit davon entfernt, ruiniert zu sein. Jetzt nicht mehr.“

Er warf Ran einen langen Blick zu – sie erwiderte ihn, merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
 

„Aber wir wissen sehr gut selber, wie das sein Leben beeinflusst hat. Mehr noch als du ahnst, im Übrigen.“
 

Er atmete tief durch, ignorierte Shihos und Rans fragende Blicke.
 

„Es war diese eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen darf, und dieser Meinung waren alle, er auch. Abgesehen davon hatte er keine Wahl. Sie hätten ihn sich so oder so geholt… dann lieber eine Fahrt mit potenziell gültiger Rückfahrkarte, als eine ohne, das waren seine Worte.“

Black schaute Ran ins Gesicht.

„Er hat ihnen nie eine Antwort auf ihre Fragen gegeben, aber sie… bekamen wohl mit, wo seine Achillesferse liegt. Sie mussten nur warten, bis er ihnen den Namen nannte. Den Namen dieser einen Substanz, die ihn wirklich schwach machte…“

Ran war blass geworden, atmete flach.

„Deinen. Und damit wussten sie, wie sie ihn kriegen.“

Er lächelte bitter – und bedachte sie doch mit einem Blick voll Wärme.
 

„Und kurioserweise war es genau das, was ihn gerettet hat. Die Tatsache, dass sie dich zu ihm holten, erlaubte uns, dein Handy zu orten und damit seinen Aufenthaltsort grob zu bestimmen – sie hatten ihn nach seinem Intermezzo mit dem Computer aus dem Hauptquartier an einen Ort gebracht, der nicht in den Datenbanken gespeichert war. Wärst du nicht gewesen, hätte er sich nicht… verplappert, dann wäre er jetzt tot. Mit Sicherheit.“
 

Er lehnte sich zurück, langsam und ruhig.

Ran sah ihn nicht an; sie schien gar nicht mitbekommen zu haben, was der Agent ihr gerade erklärt hatte. In ihren Ohren hallte nur dieser eine Satz nach.
 

Und damit wussten sie, wie sie ihn kriegen.
 

Sie zitterte bei dem Gedanken, bei der Frage, ob sie sein Kryptonit war, seine Achillesferse, der wunde Punkt in seinem Panzer.

Sie wollte das nicht glauben – denn sie wollte all das nicht sein.
 

Und sie fragte sich, was… damals in diesen Tagen mit ihm geschehen war, das hier keiner richtig auszusprechen wagte, und das ihn auch heute noch so offensichtlich so nachhaltig quälte.
 

Shinichi.
 


 

Er lag auf dem Boden, zitterte und schwitzte zugleich.

In seinen Ohren hörte er ihn immer noch lachen, laut, kalt, grausam.

Gins Lachen, das er nie vergessen würde, niemals, genausowenig wie dieses Tattoo… diesen Schmetterling, der mit einem Flügelschlag ein Leben nahm.
 

Genauswenig, wie den Ausdruck in ihren Augen, kurz, bevor er zugestoßen hatte. Angst. Unglauben.

Dann Schmerz, namenlose Qual.
 

Zusammengekrümmt wie ein Embryo lag er da, allein mit Juniper, deren Augen längst nichts mehr von dieser Realität wahrnahmen.

Er schluchzte, leise, zitterte so sehr, dass seine Zähne aufeinanderschlugen.

Und alles stank.
 

One more thing I’ll never ever forget.
 

Der Geruch von geronnenem Blut.

Von seinem Erbrochenen, gemischt mit dem ammoniakhaltigen Geruch von Urin.

Er dachte lieber nicht daran.
 

Und in all dem lag er und wollte sterben, einfach nur aufhören zu existieren, endlich. Es fühlte sich fast an wie damals, als ihn das Crystal auf einen Höllentrip geschickt hatte, nur war er daraus wieder aufgewacht.

Das war der Unterschied.
 

Er wusste, er würde nicht aufwachen, denn er war es, er war wach. Und er wusste, er konnte nicht liegenbleiben und auf den Tod warten. Er würde nicht kommen.

Noch nicht jetzt.

Er wusste, was man von ihm verlangte.

Sobald er wieder soweit war, würde er ihr das Unterhemd ausziehen, die Wunde säubern, ihr das Kleid anziehen und sie an den nächsten Fundort fahren. Und zuvor würde er sich unter die Dusche stellen. Am Besten tat er das gleich.
 

Falls er jemals in diesem Leben wieder in der Lage sein würde, auf seinen Beinen zu stehen, hieß das. Momentan sah es eher nicht danach aus.

Er lag nur hier, stand unter Schock, fühlte nichts und spürte gleichzeitig eine Kälte, wie er sie kaum begreifen konnte.

Immerhin hatte er aufgehört, sich zu übergeben, und konnte tatsächlich schon wieder nachdenken… über sich.

Über Meredith.
 

Meredith hatten sie mitgenommen.
 

Ein Schrei quälte sich über seine Lippen, als er an sie dachte, hallte gespenstisch wieder in den leeren, schmucklosen Hallen des Lofts.

Nur für sie hatte er getötet… und sie hatte es mitansehen müssen.

Mitansehen!

Der Ausdruck in ihren Augen war noch schwerer zu ertragen als alles andere.
 

Furcht.

Und zwar vor ihm.
 

Und er wusste, auch wenn er sie irgendwie retten konnte, für sie beide würde es ab heute keine Zukunft mehr geben.

Das war vorbei.

Er wimmerte, schluchzte nun lauter, krampfte sich auf dem blanken Marmorboden zusammen.
 

Meredith.
 

Dann stand er auf, langsam. Ging sich waschen und umziehen; wie immer hatten sie ihm besorgt, was er brauchen würde, um nicht aufzufallen.
 

Und dann… kümmerte er sich um Juniper.
 

Als er wenig später mit der jungen Frau auf seinen Armen, und dem Bild, das umsichtig in einem Schuber steckte, das Loft verließ, fühlte er sich seltsam leer. Ihm schien, als spule ein Autopilot in ihm sein Leben ab wie ein Programm, Schritt für Schritt, steuerte ihn fern.

Er fuhr mit dem Aufzug nach unten. Dort stand, wie immer, der kleine Skoda, den man ihm dafür bereitgestellt hatte. Er öffnete umständlich den Kofferraum, bettete das Mädchen sorgfältig, fast liebevoll hinein, schloss die Heckklappe wieder und stieg selbst ins Auto.
 

So... we have reached the point of no return now.
 

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Hallo liebe Leser!
 

Bitte entschuldigt die Verspätung... momentan ist viel los.

Vielen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Wir haben die 200 erreicht - Leute, ehrlich, vielen Dank!
 

Beste Grüße,

Eure Leira

Kapitel 27: Tod auf Raten

Kapitel 27 – Tod auf Raten
 

Sie waren mehr oder weniger zusammen zurückgefahren ins Yard. Während Shinichi jedoch gleich auf den Parkplatz fahren konnte, kurvte Jenna noch einmal um den Block, um eine Lücke für ihren Mini zu finden – einen festen Stellplatz, so wie ihr Boss, konnte sie nicht ihr Eigen nennen.
 

Shinichi hingegen wartete vor dem Eingang auf sie.

Ihm war übel, wenn er daran dachte, was sie heute herausgefunden hatten.
 

Nämlich, dass ich ihn in Sicherheitsverwahrung hätte lassen sollen. Jetzt muss ich klein beigeben und eine Fahndung ausschreiben.

Allerdings suche ich immer noch nach Zeugen, nicht nach Tatverdächtigen.

Montgomery wird das anders sehen.
 

Jenna hechelte um die Ecke, als er gerade überlegte, wie er es seinem Boss am besten beibrachte. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, und ein ganz dummes Gefühl sagte ihm, dass es ohnehin schon zu spät war, um noch irgendetwas zu retten.

Als sie schließlich bei ihm angekommen war und zu ihm aufgeschlossen hatte, drehte er sich langsam um.

„We’ve got to initialize a search for Brady and his girlfriend.“

Sie nickte langsam.

„Would you care for this, please?“

Nun schaute sie ihn erstaunt an.

„Me? Why don’t you tend to that yourself, am I …“

„… authorized to do that? Yes, you are authorized to do so, because I am authorizing you.“

Er runzelte die Stirn, Sorge färbte seine Augen dunkel.

„I… want to try to find Brady myself. And if possible, I’d like not to meet Montgomery before I’ve got him.“

Jenna beobachtete, wie sein Adamsapfel einmal auf – und abhüpfte, als er hart schluckte.

„You think you should’ve kept him in custody.“, bemerkte sie leise.

„I am not sure.“

Er schaute sie an, seufzte, strich sich fahrig die Ärmel seines Sakkos glatt.

„I am just not sure…“

Damit ließ er sie stehen, ging zurück zu seinem Auto, stieg ein. Seine Unruhe steckte sie an; nichtsdestotrotz drehte sie sich um, ging ins Hauptquartier von Scotland Yard.
 

In Gedanken wünschte sie ihm viel Glück bei seiner Suche.
 

Ehe er losfuhr, dachte er jedoch nach. Er wollte ihr Quartier finden – und das war angesichts der schieren Größe Londons ein fast unmögliches Unterfangen. Allerdings, ein Hotel konnte er wohl ausschließen. Zu viele Leute würden sie sehen, sie würden zu schnell auffallen und somit auch zu schnell gefunden werden können.
 

Und jedem Zimmermädchen, das etwas auf sich und seinem Job hält, würde wohl der Blutfleck im Bad auffallen.
 

Sollte ihr Quartier der Ort sein, an dem die Morde geschahen, dann schloss sich ein Hotelzimmer kategorisch aus.

Ein schales Grinsen huschte ihm über die Lippen.
 

Er suchte nach einer Immobilie. Einer Mietwohnung. Und nun konnte er tatsächlich wo ansetzen. Gedankenverloren zückte er sein Smartphone, öffnete die nächstbeste Immobilienseite.

Sie suchten bestimmt etwas Abgelegenes. Etwas… das ihrem Charakter entsprach, und ihrem Zweck diente. Keine großen, gut bewohnten Häuser, keine Immobilien in begehrten Wohngegenden. Nicht zu nah am Zentrum Londons, aber auch nicht zu weit weg. Und am Besten von einem Vermieter, der nicht zu viele Fragen stellte und den Bares allein genug überzeugte.

Geschickt sortierte er aus, bis er an einem Objekt hängenblieb.
 

Ein exklusives Wohnerlebnis am Rande Londons
 

Loftappartements.

Shinichi runzelte die Stirn.
 

Könnte passen.
 

Er tippte die Suche ein, notierte sich alle Nummern und Namen von Maklern, die so etwas in ihrem Repertoire hatten, und fing an, zu telefonieren.
 

Und einmal in den letzten Tagen hatte er Glück.
 

Eine Maklerin erinnerte sich an ein seltsames, asiatisches Paar, angeblich ein Künstlerpaar, Fotographen, auf der Suche nach einer exklusiven Immobilie für ihr Atelier. Er, lange, zu einem Zopf gebundene Haare, Kette rauchend, in schwarzem Anzug und schwarzem Pullover, sie, eine platinblonde Bobfrisur im Stil der Golden Twenties, eine auffällige Sonnenbrille tragend, die sie nie abgenommen hatte. Sie hatten sich ein Objekt am Hafen angeschaut und gemietet.

Was jedoch am meisten in Erinnerung geblieben war, war der Koffer voller Geld, um das Objekt sofort zu bezahlen, auf Monate im Voraus.
 

Gin und Chianti. Selbst wenn sie nicht auffallen wollen, fallen sie noch auf.

Und klar… sie wollen möglichst wenig Papierkram. Leider nur fallen auch große Mengen Bargeld auf.
 

Er notierte sich die Adresse, merkte, wie sein Puls zu rasen anfing. Gerade überlegte er, ob er Black anrufen sollte, als er sich besann.

Zuerst würde er selbst prüfen, ob er überhaupt richtig war. Wenn der schwarze Porsche 356a vor dem Gebäude stand, war der Fall ohnehin klar.
 

Oder ein ähnlich exklusives Auto. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie hier auf Minis umgestiegen sind.
 

Langsam atmete er durch, griff dann mit ruhiger Hand nach dem Zündschlüssel, drehte ihn um und ließ den Motor an, setzte bedächtig zurück und fuhr vom Parkplatz.
 

Als er an der angegebenen Adresse ankam, schien alles ruhig. Gründlich musterte er die Straße vor dem Haus – kein Porsche, weit und breit.

Er stieg aus, atmete kurz durch, ehe er sich dem Gebäude näherte. Da die Tiefgarage nicht abgesperrt war, betrat er sie kurzerhand, um dort nach dem Objekt seiner Begierde zu fahnden – doch auch hier Fehlanzeige. Aus dem Augenwinkel heraus entdeckte er den Fahrstuhl, ein antikes, vergittertes Gerät. Er trat näher, betrachtete die Etagen, neben denen die Namensschildchen der Bewohner standen.

Kein Mensch wohnte hier.

Allerdings war ein schmutzigweißer Knopf deutlich mehr abgewetzt und blanker als es die anderen waren. Shinichi wandte sich kurz um – dann stieg er ein, drückte den Knopf und fuhr hoch. Sein Puls raste.

Falls sie wirklich hier waren, würde er jetzt geradewegs in die Höhle des Löwen fahren. Unwillkürlich griff er nach seiner Dienstwaffe, zog sie aus dem Holster und entsicherte sie.

Weiter kam er jedoch nicht mit seinen Gedanken, denn ein leises Klingeln und das knatternde Zusammenfalten der Gittertüren verkündeten ihm, dass er angekommen war.

Er stieg aus, fand sich einer Tür gegenüber wieder. Sie schien schwer, solide, aus einem grau gestrichenen Metall. In der Mitte glitzerte ihn ein Türspion an.
 

Und hier roch er es zum ersten Mal.
 

Rauch von Zigaretten, die er nie mehr würde vergessen können. Er umklammerte seine Waffe fester. Im nächsten Moment wunderte er sich, wieso er den Rauch so deutlich roch – und erkannte, dass die Tür nicht ganz geschlossen war. Mit dem Fuß stieß er sie etwas weiter auf, späte in den Raum – und erstarrte.
 

Der Raum war leer, keine Menschenseele weit und breit.
 

Aber auf dem Boden glitzerte Blut.

Dunkel im roten Licht der untergehenden Sonne lag sie da, eine ansehnliche Blutlache, kaum verwischt.
 

Und es stank.

Nach den halb verdauten Essensresten einer Person, die vor ihm auf dem Boden lagen. Nach ein wenig Ammoniak.
 

Und um ihn drehte sich alles. Er zweifelte nicht mehr im Geringsten daran, dass er hier richtig war.

Allerdings, und das war genauso klar – kam er zu spät.

Langsam trat er näher, kämpfte die aufsteigende Übelkeit und das schlechte Gewissen nieder, um klar denken zu können. Als er sich bückte und mit einem seiner Bleistifte in das Blut stippte, stellte er fest, dass es noch nicht mal ganz geronnen war.
 

Eine, vielleicht zwei Stunden.

Verdammt.

Verdammt, verdammt, verdammt!
 

Er stöhnte auf, umrundete die Lache, ging weiter. Fand den Tisch mit den Spirituosen, die Zeitungsberichte zum Fall. In einer Ecke fand er einen kleinen Haufen Kleider, die wohl einem jungen Mädchen gehört hatten. Eine sparsam genutzte Küche und zwei Schlafzimmer sowie ein nobel eingerichtetes, schlichtes Badezimmer rundeten die Wohnungsbesichtigung ab.
 

Dann griff er nach seinem Smartphone, schluckte hart. Und fragte sich, wen er zuerst anrufen sollte – Scotland Yard oder das FBI. Eigentlich stellte sich die Frage nicht – er arbeitete für das Yard, also sollte das auch seine erste Wahl sein.

Wobei, wenn die Leute vom Yard hier zuerst auftauchten, würden sie das FBI hier nicht mehr reinlassen. Andersherum schon. Eventuell.

Er stöhnte auf, griff sich an die Stirn.
 

Dann tippte er Blacks Nummer ein.

Es läutete keine drei Mal, als der Engländer auch schon abhob.

„Shinichi. Ich dachte nicht, so schnell von dir wieder zu hören…“

„Ich habs gefunden.“

Er fiel ihm ins Wort und er wusste, das war unhöflich.

„Ihr Quartier?“

„Nein. Schlumpfhausen. Was sonst?“, fragte er gereizt, fing sich aber sofort wieder. Tief atmete Shinichi durch, seufzte dann leise.

„Ja. Nachdem die Beschattung von Brady ein Schuss in den Ofen war, hab ich mal ein wenig nachgedacht. Und… ich hab es gefunden. Allerdings sind sie ausgeflogen. Nur… ein großer Blutfleck ist hier am Boden, ich nehme an, vom nächsten Opfer. Hören Sie, James, ich müsste eigentlich sofort Scotland Yard verständigen…“

„Keep waiting, please.“

Shinichi verdrehte die Augen.

„Ich kann nicht lange…“

„Musst du nicht. I’ll be with you immediately.“
 

Und er hielt Wort. Nur eine Viertelstunde später stand er mit Shinichi im Loft von Gin und Chianti, ließ sich von Shinichi erklären, was er herausgefunden hatte, machte Fotos und notierte sich alles.
 

„Überwachungskameras?“, fragte er dann.

„Ja.“, meinte Shinichi trocken.

„Allerdings alle schwarz übermalt. Die wollten ja selber nicht gesehen werden, also…“

„Hm.“
 

Er schluckte.

„I do not think that they will come back.“

Shinichi nickte langsam.

„Das denke ich auch. Wahrscheinlich haben sie noch ein zweites Schlupfloch. So wie es aussieht, haben sie auch eine Geisel.“

Shinichi schielte zu den Stühlen, die umgeworfen im Raum lagen.

„Bradys Freundin wird vermisst.“

„Ah.“

Black nickte schwer.

„Und unser Künstler?“

„Noch nicht aufzufinden. Wenn ich jetzt mal anrufen dürfte, schicke ich gleich wen bei ihm vorbei. Allerdings… wird er wohl auch dort nicht, oder nicht mehr sein. Ich denke, er weiß, dass wir ihm auf den Fersen sind.“
 

Er seufzte leise.

„Gut. Dann… gehe ich jetzt, und du machst deine Arbeit.“

Shinichi warf ihm einen Blick zu – griff sich sein Handy und wählte die altbekannte Nummer, während James Black fast lautlos aus dem Appartement verschwand.
 

Minuten später wimmelte es vor Polizisten – wie schwarze Ameisen überfielen sie den Raum und drehten jeden Stein um, den die Kolonne in den weißen Astronautenanzügen nicht mit ihrem Plastikband mit der Aufschrift „Crime Scene – do not cross“ umzäunte.

Unter ihnen befanden sich auch Heiji und Kogorô, die von Jenna, die er ebenfalls angerufen hatte, informiert worden waren. Sie hatte ihm gerade eben auch gleich den ersten Misserfolg überbracht – Brady war weder bei sich zuhause noch im Atelier.

Sie hatte keine Ahnung, wo der Kerl steckte, aber die Fahndung lief.

Nun stand er hier und koordinierte die Spurensicherung, Jenna lief unter den anderen Polizisten herum und dirigierte ebenfalls.
 

Überall standen Baustrahler, um die Szene auszuleuchten, da es draußen mittlerweile dunkel geworden war und das Licht im Loft nicht reichte, um den Tatort – und endlich hatten sie mal einen – ordentlich zu beleuchten.
 

Heiji schluckte, starrte ihn an. Er ahnte, wie sehr ihm das zusetzte; er hatte selbst kurz einen Blick auf die Blutspur geworfen und war zu dem gleichen Schluss gekommen, wie der Forensiker, der die Lache untersucht hatte – und wie Kudô selbst wohl auch.
 

„Wohl maximal zwei Stund’n her.“, murmelte er leise, als er neben Shinichi getreten war. Der nickte kurz, schaute ihn nicht an.

„Heiji, das hier zu finden war so einfach. So einfach! Eine Idee, eine kurze Recherche, ein paar Telefonate. Hätte ich vorher einfach mal nachgedacht… ich hätte das verhindern können. Und ich hätte es verhindern müssen. So aber werden wir wohl ziemlich bald eine ziemlich blutleere Leiche finden, weil ich einfach unfähig war.“

„Kudô…“, begann Heiji langsam.

„Nein.“

Er schüttelte den Kopf. Kogorô, der ein wenig abseits stand, beobachtete ihn genau.

„Du weißt, warum‘s soweit überhaupt kam. Weil ich seit… seit Tagen nicht mehr klar denken kann. Nicht mehr schlafen kann.“

Shinichi presste seine Lippen zusammen, verschränkte seine Arme vor seinem Oberkörper.

„Montgomery hatte durchaus Recht… ich bin nicht bei der Sache, und meine privaten Probleme beeinflussen meine Arbeit.“

Heiji trat vor ihn.

„Dein Boss will einfach nur jemanden einbuchten, Kudô. Und dafür, dass er noch keinen hat, macht er dich verantwortlich…“

„Er wird kein Argument zulassen, Hattori, und mit „Sie wollen doch nur einen Sündenbock“ kann ich ihm nicht kommen. Wir hatten die Diskussion heute, und er hat nicht ganz Unrecht, ich weiß das selber… ich weiß doch selber, dass ich nicht bei der Sache war, seit ich weiß, dass Ran…“

Er brach ab, wandte sich um, massierte sich die Schläfen. Kopfschmerzen, leise und bohrend, begannen sich durch sein Hirn zu wühlen.

Es wunderte ihn kaum.
 

Kogorô kniff die Augen zusammen. Er ahnte, in welche Situation Shinichi steckte – und er wusste, ihm stand bestimmt ein sehr unangenehmes Gespräch bevor.
 

Da is einem wohl ein Einlauf noch lieber.

Dennoch, ich hätte nicht anders entschieden. Da steckt jemand anders dahinter, das sieht ein Blinder mit Krückstock. Und der einzige Weg, den zu kriegen, war Brady wieder laufen zu lassen… auch wenn man durch eine Sicherheitsverwahrung diesen Mord vielleicht verhindern hätte können… oder aufschieben…

Wobei…

Die hätten sie so oder so getötet.
 

Er seufzte still, trat näher. Shinichi drehte sich um, als er ihn im Augenwinkel bemerkte. „Wir können gehen, denke ich. Hier ist nichts mehr zu tun… den Bericht bekommen wir morgen dann. Wahrscheinlich auch die Leiche, die zu diesem enormen Blutfleck passt.“
 

Ein bitteres Lächeln kroch über seine Lippen, als er sich umwandte, Jenna, Kogorô und Heiji im Schlepp.
 

Als sie im Yard ankamen, war die Sonne fast untergegangen, die ersten Straßenlaternen gingen gerade an. Er hatte kurz seine Notizen verschriftlicht in einem Vorabbericht, die Presseabteilung informiert, die die nächste Pressekonferenz für morgen ansetzte, während Heiji, Jenna und Kogorô vor dem Gebäude auf ihn warteten, dampfend heißen Kaffee aus Pappbechern tranken.

Er war froh, als er endlich zu ihnen stoßen konnte, den Tag für heute beenden.

Der morgige würde anstrengend genug werden.
 

Sie gingen gerade über den Parkplatz zu seinem Wagen, mit dem er Heiji und Kogorô zurück in ihr Hotel fahren wollte, als er stehen blieb, unwillkürlich. In Shinichis Nacken prickelte es, ein untrügerisches Zeichen, dass er beobachtet wurde.

Allerdings nicht von ihnen.
 

Shinichi drehte sich um, seufzte leise, vergrub dann seine Hände in seinen Manteltaschen. Heiji schaute ihn perplex an, irritiert darüber, dass sein Kollege einfach stehen blieb.
 

„Ran. Komm raus, ich merk doch, dass du mich verfolgst.“

Als sie zögernd neben ihn trat, sah er sie nicht an. Heiji starrte ihn an – dann wanderten seine Augen zu ihr. Sie hatte hinter einem großen Einsatzwagen gestanden, hatte ihn tatsächlich beschattet, wie es schien. Shinichi hingegen gab sich reserviert.

Heiji wusste genau, warum.
 

„Was willst du denn?“

Langsam setzte er sich wieder in Bewegung.
 

„Das weißt du.“

Sie hielt neben ihm locker Schritt, schaute ihn an, ging neben ihm her, ohne ihm zu nahe zu kommen. Ihren Vater, der hinter ihnen her schritt, ignorierte sie.

„Wenn du denkst, dass ich meine Meinung ändere, nur weil…“

„Oh. Ich denke gar nichts.“

Sie lächelte ihn an. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel, schluckte hart, als er merkte, wie ihm langsam etwas Wärme ins Gesicht stieg.

Er sah sie einfach zu gern lächeln. Und dennoch konnte er es nicht sehen, ohne nicht gleichzeitig ein anderes Bild im Kopf zu haben.

Das, in dem sie die Augen schloss. Lächelnd.

Er wandte sich ab, betrachtete stur den Boden vor seinen Füßen.
 

„Du hast mir deutlich genug klar gemacht, dass du keine Beziehung willst.“

Ihr Lächeln schwand nicht, als sie geradeaus schaute. Sie hatte erreicht, was sie wollte. Shinichi neben ihr starrte in den Fußboden, war deutlich rot geworden im Gesicht.

„Verdammt, du weißt, dass das nicht stimmt, Ran, es liegt nicht daran, dass ich nicht will. Ich kann einfach nicht. Du weißt so gut wie ich, dass sie noch da draußen warten, und ich will einfach nicht, dass du nochmal ins Schussfeld gerätst…“

Ran griff sich vorsichtig am Arm, schluckte.

„Jaja.“

Er runzelte die Stirn, sparte sich den Kommentar auf ihr lapidares „Jaja“, der ihm auf der Zunge lag.

„Ich versteh das ja auch alles. Aber kannst du dir vorstellen, dass es mir geht wie dir, nur umgekehrt? Ich hab zwar nicht grad erfahren, dass du noch lebst… aber ich treffe dich nach Jahren wieder, erfahre solche Dinge von dir, seh‘ dich an und kann doch erkennen, dass es dir nicht gut geht. Shinichi, wir sind… seit unserer Kindheit befreundet, und ich mach mir Sorgen, nicht nur als… Frau, die dich liebt, sondern auch als… Freundin, die dich seit dem Sandkasten kennt.“
 

Er blieb stehen, starrte sie an.
 

„Sag mal, wie viel weißt du…?“

Ran biss sich auf die Lippen, schaute ihn an.

„Black hat heute ein… bisschen geredet, und Shiho auch, aber… sie redeten davon, dass es dir hinterher sehr schlecht ging, mehr… kann ich mir nicht zusammenreimen und wie ich dich kenne, wirst du den Teufel tun und mich jetzt aufklären.“

Sie hielt kurz inne, um in den zusammengepressten Lippen Shinichis ihre Ahnung bestätigt zu finden.

„Dachte ich mir. Und weißt du was – es ist mir auch egal jetzt. Es spielt keine eine Rolle, Shinichi. Ich merk auch so, dass es dir nicht gut geht. Ich hab verdammt nochmal Augen im Kopf. Deinen…“

Sie zögerte, streckte dann die Hand nach seinem Gesicht aus, berührte seine Wange, merkte, wie er unter ihrer Berührung schauderte, fühlte, wie sich ihre Mundwinkel nach unten zogen, bedauernd, bekümmert… besorgt.

„Deinen Augen fehlt das Leuchten… deinen Lippen ihr Lächeln. Und es gab doch eine Zeit, als du nicht zurückgezuckt bist, wenn ich dich angefasst hab, Shinichi, also bitte… ich bin keine Detektivin, aber ich kenne dich.“

Er trat einen Schritt zurück, wandte sich ab, atmete stockend aus.

Sie griff nach seiner Hand, bestimmt.

„Ich kenne dich. Und ich brauche nicht zu wissen, was passiert ist, um zu verstehen, dass es schlimm war, und dass es dich verändert hat.“
 

Sie trat um ihn herum, blickte in seine Augen, die durch sie hindurchzuschauen schienen.

„Ich weiß von… einer Substanz, einem… Mittel um… Leute zum Reden zu bringen. Mehr haben mir dein Vater und auch Black nicht erzählt. Ich weiß, dass du glaubtest, ich wäre gestorben, und ich ahne, dass hinter diesem Fall auch weit mehr steckt, als du zugibst, du sagst nur deshalb nichts, weil dir der letzte Beweis fehlt, und du warst einfach nie jemand, der mit halbgaren Theorien um sich warf.“
 

Sie griff nach seiner zweiten Hand, zog ihn zu sich, merkte, wie er widerstrebend nachgab.

„Und als Freundin… bitte ich dich, vertrau dich mir an. Es wird nichts passieren, Shinichi.“

Ein verzweifeltes Lächeln glitt ihr über die Lippen.

„Du weißt, wie gern ich mit dir zusammenwäre. Alles in mir…“ Sie schloss kurz die Augen, atmete ein; und als sie nun sprach, wisperte sie die Worte so leise, dass nur er sie hörte.

„… alles in mir sehnt sich danach, endlich… endlich von dir in die Arme genommen zu werden. Geliebt zu werden, von dir. Einfach nur in deiner Nähe zu sein, neben dir zu liegen, wenn ich einschlafe und wieder aufwache und…

Aber ich… verstehe deine Gründe. Und ich respektiere sie.“

Sie wandte ihren Blick ab. Shinichi biss sich auf die Lippen, sah sie jetzt an, in seinem Blick ein unbestimmter Ausdruck von Bedauern und Reue.
 

„Aber als deine Freundin kann ich dich so nicht stehen lassen. Ich kann und will dich nicht allein lassen. Also bitte.“

Sie hob den Kopf erneut, schaute ihm starr ins Gesicht, Sturheit stand ihr quer übers Gesicht geschrieben.

Shinichi lächelte traurig. Ihre Bemühungen rührten ihn, und zu gern hätte er nachgegeben – allerdings, etwas hielt ihn davon ab.

Und zwar mit aller Macht – und mit Erfolg.
 

„Das ehrt dich, Ran. Aber ich fürchte, über den Punkt, nur als Freund und Freundin reden zu können, sind wir weit hinaus. Und wenn ich dir erzähle, was damals wirklich gelaufen ist, dann… würdest du auch sehen, dass es ein Zurück eigentlich nicht gibt. Es gibt nur ein Ja oder Nein, in unserem Fall.“

Ran merkte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug.

„Und du bleibst beim Nein?“
 

Er wandte sich um, sagte nichts mehr. Sie ging ihm trotzig hinterher. Heiji folgte ihnen nach, wünschte sich zum ersten Mal, dass Ran einfach lockerlassen würde – er wusste, Kudô würde nicht nachgeben. Nicht, nachdem, was jetzt passiert war.
 

Nach ein paar Metern drehte er sich um.

„Ran. Geh. Bitte.“

Heiji atmete scharf ein. Ran schaute ihn an, schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich seh doch, dass etwas nicht stimmt, dass du dir Sorgen machst, dass…“
 

Sie konnte konnten fast sehen, wie die Sicherung langsam durchbrannte, die in den letzten Tagen ohnehin stark strapaziert gewesen war.
 

„Ja, wegen dir!“

Shinichi hatte tief Luft geholt.

„Verdammt nochmal Ran, wenn du doch eh weißt, warum ich mich sorge, und du ständig betonst, dass du mir helfen willst, warum tust du dann nicht endlich, worum ich dich seit Tagen auf Knien bitte und lässt mich in Ruhe?!“
 

Seine Stimme klang hitziger, als er es wollte, und er versuchte sichtlich, sich wieder zu beruhigen – allerdings konnte Heiji sehen, dass der Kampf ein verlorener war. Ran hingegen sah in geschockt an.

Kogorô war ein paar Schritte abseits stehen geblieben, beobachtete die Szene scheinbar unbewegt.

„Aber…“

„Nein, verdammt. Kein Aber. Du hast eine gute Ahnung, denke ich, wie sehr ich gelitten hab die letzten fünf Jahre, weil ich dachte, ich hätte deinen Tod verschuldet…“

Er seufzte, sah ihren betroffenen Blick, merkte, wie sein Gewissen sich meldete.
 

„Versteh mich nicht falsch, ich geb‘ dir nicht die Schuld.“

Shinichi schnappte nach Luft.

„Die allerletzte, die etwas dafür kann, bist du. Ich weiß, dass es allein in mir, an mir liegt. Und weil ich das weiß, Ran…“
 

Er sah sie starr an, als er sprach.
 

„… will ich, dass du verschwindest, will ich, dass du gehst, ich…“
 

Ran starrte ihn an, ihre Augen schimmerten glasig.
 

„Aber wieso… das war vor fünf Jahren, ich…“

Sie sah ihn an, sah, wie in ihm etwas zu Bruch ging. Und in dem Moment war ihr klar, was hinter allem steckte.
 

Sie schloss die Augen, merkte, wie sie zu zittern anfing, als ihr Herz aussetzte, einen vollen Schlag. Kälte umfing sie, und mit ihr kam die Angst.
 

„Sie sind zurück, nicht wahr? Nicht nur hypothetisch. Black ist nicht einfach so gekommen, dieses ganze Gerede über den Fall damals, dein Auftauchen im Hotel gestern…“
 

Shinichi sagte nichts. Heiji sah zu wie ein unbeteiligter Zuschauer, als er in seine Sakkotasche griff, den schwarzen Umschlag herauszog und ihn ihr wortlos reichte. Ran nahm ihn mit zitternden Fingern entgegen, öffnete ihn, zog das Foto heraus.
 

Allein zu sehen, wie die Angst in ihr wuchs, sich ihrer bemächtigte, wie sie vor Schreck starr wurde, fast festzufrieren schien, brachte ihn an den Rand dessen, was er ertragen konnte. Und zum ersten Mal wurde ihm wirklich klar, was es eigentlich tatsächlich bedeutete, sie zu lieben. Es nicht nur zu tun, und intuitiv zu handeln, sondern darum zu wissen, dass es so war.
 

Er würde absolut alles für sie tun.

Und damit hatte man ihn vollkommen in der Hand.
 

Ruckartig entzog er ihr Umschlag und Foto, steckte es wieder weg.
 

„Ich wiederhole es ungern, Ran. Ich will, dass du gehst. Ich will dich hier nicht haben, wenn es wieder anfängt...“

Sie schien langsam wieder aus ihrer Starre zu erwachen – langsam hob sich ihr Blick, wurde wieder klar. Entschlossenheit glomm in ihren Augen, ein Gefühl, dass er dort fast noch weniger sehen wollte als die Angst, die bis eben in ihnen gewohnt hatte.
 

„Nein!“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein!“

Heiji sah, wie sie auf ihren Lippen kaute, wie sie Mut sammelte, ihre ganze Courage zusammenkratzte, für das, was sie nun sagen würde.

Und dennoch würde es umsonst sein, das wusste er. Er drehte sich um, als er Schritte hörte, sah Jenna, die sich näherte.

Shinichi bemerkte davon nichts.
 

„Du musst das diesmal doch nicht wieder allein machen! Ich bin hier, ich bleibe bei dir, ich lass dich nicht noch einmal allein, wir stehen das zusammen…“

Sie hörte auf, als sie ihn lachen hörte, hohl und voller Sarkasmus.

„Nein, Ran, garantiert nicht.“

Er schüttelte den Kopf, starrte kurz in den Himmel.

„Garantiert nicht. Du wirst nach Hause fliegen, besser noch heute als morgen.“

Sie starrte ihn an, merkte, wie in ihr langsam die Wut hochkochte.

„Sag mal, für wen hältst du dich?! Du hast mir nicht zu sagen, was ich tun soll, ich…“

Sie funkelte ihn an, hatte sich in Rage geredet. Er starrte ihn an, verblüfft über so viel Gegenwind, auch wenn er geahnt hatte, dass sie kampflos nicht aufgeben würde.

Das war einfach nicht Ran.
 

„Warum willst du dir nicht helfen lassen? Genauso wie du auf mich aufpasst, passe ich…“

„Hah!“

Erneut unterbrach er sie, schaute sie scharf an – streckte dann zu ihrer Überraschung seine Hand aus, berührte mit den Fingerspitzen kurz die Stelle unter ihrer Brust, dort, wo sie seither eine Narbe trug – das Zeichen seines Versagens.

„Da hab ich ja hervorragende Arbeit geleistet, nicht wahr?“

Seine Stimme klang bitter, und kurz vernebelte sich sein Blick. Ran schaute ihn an, betroffen.

„Das muss nicht wieder so laufen.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Nein, Ran, du verstehst nicht. Es wird haargenau wieder so laufen, weil das Druckmittel, dass das letzte Mal funktionierte, auch dieses Mal wieder hervorragend zieht, und das wissen sie.“

Er schaute sie an, lächelte dünn.
 

„Du weißt, wie sehr ich dich liebe, du selbst hast in dieser Stadt vor fünf Jahren dieses Geständnis aus mir rausgepresst, mich provoziert, bis es nicht mehr anders ging. Ich wollts dir in diesem Zustand eigentlich nicht sagen, nicht, wo ich doch wusste, dass ich in ein paar Stunden wieder Conan sein würde, wo ich doch wusste, dass ich nicht dein Freund sein würde können, noch nicht – und dennoch meinte ich jedes Wort ernst. Und diese… Worte haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Verdammt Ran, du weißt, wie viel du mir bedeutest, du hast es mitgekriegt, kurz, bevor du in meinen Armen aufgehört hast zu atmen. Du siehst es jetzt. Und damit ist dir klar, muss dir klar sein, was damit Hand in Hand geht.“
 

Ran schaute ihn an, schluckte, wollte den Gedanken nicht zu Ende denken; Blacks Worte aus dem Kaffee hämmerten in ihrem Schädel, trieben ihr diese Vorstellung immer weiter ihn den Kopf.
 

Und damit wussten sie, wie sie ihn kriegen.
 

Er redete leise, vorsichtig fast, sprach jedes Wort mit Bedacht aus und konnte ihre Wirkung auf sie damit nicht im Geringsten verändern.

„Ich weiß, ich würde alles tun, alles aufgeben, alles riskieren, nur für dich, trotz allem. Das werde ich immer. Aber ich kann nicht dulden, dass ich der Grund bin, warum du überhaupt in Gefahr gerätst.“

Shinichi schluckte, brach ab, starrte zu Boden.

„Alles was ich dir je brachte, waren Gefahr und Leid und Schmerz…

Du liebst mich, du verzeihst mir alles, und wie danke ich es dir…?“

Er atmete schwer. Ran presste ihre Lippen zusammen, stumm rannen ihr die ersten Tränen übers Gesicht. Er fuhr sich über die Augen, schüttelte den Kopf. Als er sie nun ansah, war jegliche Emotion aus seiner Stimme gewichen.
 

„Sie haben es damals getan und tun es heute wieder. Sie spielen dich gegen mich aus, mich gegen dich. Und was uns dann bleibt ist Angst und Trauer und Qual, wenn einem etwas passiert. Seien wir doch einmal realistisch, Ran. Diese… Liebe… hat weder dir noch mir einen einzigen Glücksmoment beschert. Nicht einen.“

Heiji beobachtete ihn stumm, konnte zusehen, wie seinem besten Freund langsam buchstäblich die Luft ausging.
 

„Wie traurig ist das, Ran…“
 

Er atmete schwer, und er stand wohl nur mit Mühe noch aufrecht. Sie starrte ihn an, unverwandt, traute sich nicht, den Blick von ihm abzuwenden. Sie sah, wie ungeheuer blass er war, konnte das Zittern, das er mit Mühe zu verbergen suchte, indem er seine Hände in seine Hosentaschen rammte, zu Fäusten ballte, dennoch sehen.
 

„Früher war das anders. Bevor ich dir all das sagte, bevor… ich so empfand für dich, warst du meine beste Freundin und das… war gut so. Wir hätten… da nicht mehr draus machen sollen. Ich kann damit nicht umgehen, ich bin… ihm wohl doch ähnlicher, als ich es selber jemals wollte. Diese Arbeit und die Liebe vertragen sich nicht… ich kann es mir nicht leisten, wegen meiner Gefühle Fehler zu machen, es hängen Menschenleben daran, Ran, und zwar nicht nur deins oder meins, und das sind eigentlich… schon zwei zu viel.“

Er schaute in den Himmel, blinzelte.

Als er sie wieder ansah, stand in seinen Augen nichts mehr als Reue zu lesen.

„Es tut mir Leid, dass mir das erst so spät klar wurde. Das… ist nicht fair dir gegenüber.“

Er war so bleich geworden, dass das Blut sogar aus seinen Lippen gewichen war. Ran blickte ihn an, mit so viel Angst vor seinen nächsten Worten, dass sie zitterte wie eine Pappel im Wind.

„Deshalb, Ran, sollten wir’s beenden. Es hat keinen Sinn. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, als Freundin, dann bitte, lass mich in Ruhe. Wenn du schon nicht um deinetwillen gehen willst, dann tu’s um meinetwillen.“
 

Ran schaute ihn an, in ihren Augen glomm langsam die Erkenntnis.

Shinichi würde seinen Job riskieren, sein Leben geben.

Nur für sie, hätte es einen Sinn, würde es ihr helfen.

Und die Erfahrung, dass das alles nicht genug war, um ihr Leben zu retten, um sie glücklich zu machen, war es, die ihn so denken, so reden ließ.
 

Allerdings, und das konnte sie nicht leugnen, lag ein Kern Wahrheit in seinen Worten.
 

Sie war nicht nur der Grund, warum er kämpfte, auch wenn ihr das alle sagten.

Sie war tatsächlich das Gift, mit dem man ihm beikam.
 

Sie wandte den Kopf ab, merkte, wie sich Taubheit in ihr breitmachte, Kälte sie erfasste, als sie erkannte, was sie eigentlich war.

Es waren nie nur Phrasen gewesen.
 

Shinichi…
 

„Ich…“, fing sie an, unterbrach sich selber, schluckte hart.

„Shinichi, ich wollte das nicht. Das… wollte ich nie, das weißt…“

„Hör doch auf, Ran.“

Er lächelte sie müde an.

„Das weiß ich doch…“

Seine Worte verloren sich. Er klang erschöpft; und zum ersten Mal seit sie hier war, sah sie ihm an, was ihm dieser Fall, diese Situation, er sich selbst – wirklich abverlangte.
 

„Aber…“

Er hörte das Flehen in ihrer Bitte, hörte ihre Stimme, die so eindringlich an sein Ohr klang, dass es ihn beinah körperlich schmerzte.
 

„Das muss doch nicht immer so bleiben, Shinichi…

Kann es nicht sein, dass es sich einmal ändert? Es…“
 

Ihr Gesicht, bleich und tränenüberströmt, brannte sich in sein Gedächtnis ein.
 

Dann schüttelte er den Kopf, langsam, traurig.

„Ich weiß es nicht, Ran. Und ich will von dir nicht verlangen, dass du ewig auf mich wartest, dazu habe ich kein Recht. Es tut mir Leid.“
 

Damit drehte er sich um, ging davon, ohne ein weiteres Wort und ohne sich noch einmal umzuwenden. Heiji nickte Jenna zu, bedeutete ihr, ihm zu folgen, ehe er sich Ran zuwandte, die ihm immer noch unverwandt nachblickte. Erst als sie ihn aus ihren Augen verloren hatte, reagierte sie auf Heijis Hand, die er ihr auf den Arm gelegt hatte.
 

„Ran…“

Sie schüttelte den Kopf, merkte, wie sich ihrer eine große Hilflosigkeit bemächtigte, ein schier unerträgliches Gefühl, dass sie nahezu zu erdrücken schien.

Kogorô schluckte hart, trat langsam näher. Er sah sie an und fühlte, wie sehr sie unter seiner Zurückweisung litt. Heiji indessen versuchte, ihren Blick zu fangen, und schaffte es auch, indem er seine Hände auf ihre Schulter legte.

„Ran…“

Er schluckte hart.

„Du weißt, warum er das tut. Warum er so reagiert. Warum er das gesagt hat, Ran, du weißt…“
 

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Er sieht darin keinen Sinn mehr, Heiji.“

Ein bitteres Lächeln zierte ihre Lippen.

„Und ich weiß nicht, ob er nicht Recht hat. Ich kann ihn sogar verstehen, ganz Unrecht hat er nicht, was… was hat es uns gebracht. Ich habs sogar gesehen, er…“

Mit zitternden Fingern strich sie sich über die Augen, wirkte mit einem Mal unfassbar erschöpft. Ihr Teint schien gräulich, ihre klaren blauen Augen matt und glanzlos.
 

„Damals vor fünf Jahren… als sie mich hatten, als er... als er das sah, hat er aufgehört zu kämpfen, Heiji.

Nicht um mein Leben.

Um seins.“
 

Sie zerbiss sich die Unterlippe, ballte die Hände zu Fäusten.

„Der Gedanke, was er zu tun bereit ist, ist… fast mehr als ich ertragen kann. Aber ich will ihn nicht aufgeben, Heiji, ich kann ihn nicht aufgeben, ich… brauche ihn. Die letzten fünf Jahre haben nur gezeigt, wie sehr. Du weißt das…“

Ran schluckte, wagte kaum, ihn anzusehen, das Blut war ihr ins Gesicht geschossen ob dieses Geständnisses.

„Wie jämmerlich bin ich…“

Sie lachte hohl.

„Ran…“

Heiji versuchte zu schlucken, vergebens. Sein Mund war ausgetrocknet wie Dörrobst – und vielleicht war es besser so, er hätte ohnehin nicht gewusst, was er ihr entgegnen konnte.

„Und ich kann es nicht ertragen, ihn so zu sehen, Heiji, ich will doch nur, dass er endlich lacht, dass…“

Sie schnappte nach Luft, starrte in den Himmel über London, als sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

„… ich will dass er atmet, dass er lebt, ich will, dass er frei ist, endlich, ich… ich will, dass er glücklich ist…“
 

Shinichi…
 

Heiji schluckte, griff sie dann vorsichtig am Arm, zog sie mit sich, während Kogorô stumm neben ihnen herlief. Alles, was ihm übrig blieb, war, sie wieder ins Hotel zu bringen, wo Sonoko und Shiho wohl bereits auf sie beide warteten.
 

Und vielleicht gelang ihm dann, mit seinem besten Freund noch ein Wort zu reden.
 


 


 

Jenna holte ihn ein, als er auf eine Bank gesunken war, die in einer Grünfläche stand. Sie trat langsam näher, ließ das Bild auf sich wirken – ein Bild, das so gar nicht passen wollte zu ihrem Partner.

Gebrochen sah er aus, verloren irgendwie.

Verwaist.
 

Stumm setzte sie sich neben ihn, erfasste langsam, was es für ein gigantisches Gefühl war, jemanden so sehr zu lieben, dass man ihn von sich stieß. Er hatte sein Gesicht in seine Hände sinken lassen. Sie wusste, er weinte nicht – dennoch schien er auf seine Art zu trauern.
 

Und ganz offenbar wollte er dafür ungestört und einsam sein.

Langsam hob er den Blick, sah sie jedoch nicht an.

„Why are you here, Jenna. I am not on duty, and I’d prefer to keep my private business to myself.“

Jenna seufzte, ignorierte seine unausgesprochene Bitte, einfach abzuhauen und ihn allein zu lassen.

„You’ve hurt her badly. I didn’t believe you could be that cruel, to be honest.“

Sie beobachtete, wie er aus seiner Lethargie hochfuhr. Seine Augen blitzten wütend, als er sie nun ansah, allerdings hatte er die Wut in seiner Stimme relativ gut im Griff.
 

„What would you know, Jenna? You’ve never been guilty of risking a life other than your own… risking the life of the one you love. You…”

Er schluckte hart, wandte sich abrupt ab.

“She has chosen you deliberately. I guess she knew what she would get by picking you, since you were childhood friends.“

Ihre Stimme klang erstaunlich sachlich.

„What I know about you is that you keep chasing after criminals since your fifteenth birthday. And please, don’t consider us women stupid. She had been waiting since that day that you would get yourself into real trouble. She knew the day would come, eventually. And nevertheless, she does not even think about leaving your side. Because she loves you so much! So much! I’d never ever let go somebody like that, that’s a treasure hardly anybody discovers in his or her whole lifetime… his real soulmate. She accepts you just the way you are. She does not want a single thing changed about you. Everything she wants for you is all you want for her… she wants to see you happy, wants to see you… smile.“
 

Shinichi hatte den Kopf abgewandt, starrte auf den Rasen, blicklos. Seine Atemfrequenz war in die Höhe geschnellt, Hand in Hand mit seinem Puls.

„I know that.“

„Why don’t you accept her offer, then…?“

Shinichi schluckte.
 

„Because it’s true, when I say, that I am useless, helpless, defenseless, if you threaten me that she’ll get hurt because of my actions. But that is by no means the worst thing about it. The reason why I am forbidding myself to have another try, another go with her is the fact, that, no matter how hard I try to safe her, I… I just can’t. I wanted to save her life, but was so weak, so vulnerable, when it was do or die. She came to rescue me, and had almost paid with her life for that. She musn‘t settle that bill again. Never again.“
 

Er schluckte hart.
 

„My happiness is not worth that. And yes. It’s more important to me to see her alive rather than happy. That’s why. And now…“
 

Jenna seufzte leise.

„It’s two persons that make a couple.“

„… but nevertheless, one is enough to not let it happen.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Really Jenna, your compassion honours you, but let it be… Leave me alone, go home. You’re out of duty, unless you have already set that search after Brady, that is.”
 

Sie seufzte, wandte sich ab.
 

„I have… I have a sister.“

Shinichi verbarg seinen Unwillen, hielt sich mit Mühe davon ab, die Augen zu verdrehen oder einfach aufzustehen und zu gehen.

„She is eight years older than me, has cared about me whenever my mum was at work. She is the apple of my eye. My heart and soul. I… love her really badly.“

Sie räusperte sich, schluckte hart.

„She tought me how to make a fire when I was eight years old. We were at our grandparent’s old farm, and we loved to roam around the place, play in the hay, collecting berries, making little fires to roast sausages with our granddad.”

Shinichi drehte den Kopf, sah sie an. Sie blickte ihn kurz aus dem Augenwinkel an, knetete ihre Hände.

„I was so proud when I achieved this. And one day, I went into the old barn, where my grandparents stored their hay and straw. I played for myself, wanted to create a little picknick – and I thought it would be nice to have a cup of tea. I wanted to surprise my sister with a tea-party.”

Shinichi hielt unwillkürlich die Luft an.

„I laid out a blanket, collected cups and spoons, I got myself a kettle and a plate of biscuits. And then I lighted the fire – and left it, to get some water to heat. I did not imagine, that the flames would escape the circle of stones I had made, just as my sister and my granddad had shown me. When I came back, the blanket burned. Some of the straw had caught fire, too. I poured my water over it in order to put the flames out, but it was not enough. I panicked, began to go for more water, tried to stamp it out, I was afraid of getting into trouble. I realized to late that the smoke I had inhaled robbed me of my consciousness.”

Sie schluckte.

“I woke up as I felt heat in my face – and I heard her cry my name. I cried, I was confused, could not see properly, was coughing all the time, but I tried to reply her. And she came, of course.”

Shinichi seufzte leise.

„Glad to hear that. But what has that to do with me…?“

„The fire grew fast.”

Sie brach ab. Er blinzelte, schluckte hart.

„She picked me up, wanted to run out of that hut with me. I heard her coughing because of the fume, I felt the heat on my face – the timber was falling down on us, and then she stumbled, we fell…“
 

Shinichi stand auf.

„I think this is…“

„She told me to run, as the roof was coming down, she yelled at me, and I got frightened, even more. My view was blurred because of my tears, as I crawled out, hearing the roaring of the fire. When I got outside, I stood up, turned around – but she was not there, anymore. The roof had given in, flames bursting out of every corner.“

Jenna sah ihn an, stur.

„They drew her out of the house, she had got stuck under one of the wooden beams. She did not breathe, intoxicated by the smoke, but the firefighter manged to revive her, and soon came the called ambulance. She lay in coma for months. She is crippled, since then, concerning her lower extremities because of the complicated fracture of her spine. From her hips downwards, she cannot move her legs. I visit her every weekend. I cannot imagine a life without my sister, she is everything to me. She saved my life and paid with her health for that. But nevertheless she gives me a reason to face everything that crosses my path, always. I want to use that gift she gave me. I want to make her proud. I want to see her laugh.”
 

Langsam stand sie auf, starrte ihn an. Er war stehen geblieben, hatte die Arme vor dem Brustkorb verschränkt.
 

„I couldn’t talk to her for months, not even look into her eye, I was so ashamed, I felt so guilty… and that at the age of eight! My bad conscience ate me up. It was my fault that she had almost died and that she was crippled now, not able to walk ever again. I barely could live with these thoughts.“
 

Ein kurzes Zittern durchlief ihren Körper, ein leiser Schauer, einmal vom Scheitel bis zur Sohle. Shinichi schluckte, ahnte, was es sie kostete, ihm das zu sagen, wagte nicht mehr, irgendetwas zu erwidern.
 

„She never accused me of anything. Just once. One day. And that made me rethink my behaviour.“
 

Jenna schluckte hart.
 

Why did I risk my life to save you, when I have lost you all the same, Jenna…
 

Shinichi schloss die Augen, atmete gepresst ein und aus.
 

Warum hab ich mein Leben riskiert und dich gerettet, wenn ich dich dennoch verloren habe…
 

Sie nickte langsam, stellte sich neben ihn und sah ihn nicht an.
 

„Think about it.“
 

Damit drehte sie sich um und ging.
 


 

Heiji unterdessen war mit Ran am Hotel angekommen, stand nun vor dem Hotelzimmer, in dem sie und Sonoko nächtigten. Leise Stimmen drangen von innen heraus.

Offenbar waren seine Freundin und Sonoko in eine intensive Diskussion verstrickt, die jedoch sofort verstummte, als er klopfte. Er wartete nicht auf das obligatorische „Herein!“, sondern drückte die Tür entschieden auf, schob die immer noch sehr bleiche und verheult aussehende Ran ins Zimmer. Er merkte, an der Art, wie sie ins Zimmer wankte, dass sie sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, griff sie am Arm und führte sie zum Bett.

Und erst jetzt sah er die dritte im Bunde, deren Stimme er draußen nicht wahrgenommen hatte – weil sie schlicht und ergreifend nichts gesagt hatte.

Shiho.

Sie sagte nichts, schwieg, ohne jedoch ihre Augen von Ran zu nehmen, die apathisch auf das Bett gesunken war. Tränen rollten ihr stumm über die Wangen. Heiji schaute sie nur an, unfähig, irgendetwas zu sagen.

Er wusste nicht, was.
 

Sonoko jedoch lief sofort hochrot an.
 

„Was hat dieser Idiot Kudô schon wieder angestellt?“

Heiji verdrehte die Augen. Auf ein Gespräch, das so anfing, hatte er keine Lust. Er spürte Kazuhas Blick auf sich, schaute jedoch nicht zu ihr.

Eine Antwort blieb ihm schlussendlich auch erspart.
 

„Er hat Schluss gemacht, mal wieder, nicht wahr? Allerdings wohl sichtbar deutlicher als sonst.“

Shihos Stimme klang leise und sachlich. Kein Hauch von Bedauern, keine Freude – eine einfach Feststellung, mehr nicht.

Ran nickte wie betäubt.
 

Sonoko hingegen schaute sie bass erstaunt an.

„Warum das denn? Ich denke, er liebt dich…?“

Sie krabbelte näher, positionierte sich neben Ran.

„Warum hat er…“
 

Und zum ersten Mal sah sie auf, seit sie das Zimmer betreten hatte, starrte an die Decke, lächelte bitter und versuchte, die Tränen endlich zurück zu halten.
 

„Weil ich ihn verwundbar mache, sagt er. Und er mich.“
 

„Was? Spinnt er jetzt total, dieser Hornochse, -…“

Weiter sollte Sonoko jedoch nicht kommen.

„Nein, Sonoko.“

Ran schaute auf ihre Finger, schüttelte den Kopf langsam.

„Nein.“
 

Sie holte Luft.

„Weißt du, bis gerade eben dachte ich das auch. Dass er Unrecht hat. Dass er spinnt. Dass er... durchdreht, langsam. Allerdings, im Auto habe ich nachgedacht, auf der Fahrt hierher.“
 

„Ich wollte es nicht wahrhaben, weil die Wahrheit so grausam ist, so… unendlich grausam.“
 

Ein verzweifeltes Lächeln malte sich auf ihre Lippen, als sie den Kopf wandte, ihren Vater anschaute, dann Heiji.
 

„Aber es stimmt, was er sagt, nicht wahr? Er würde alles für mich tun. Alles mit sich machen lassen. Seine Prinzipien über Bord werfen…“
 

Sie schnappte nach Luft.
 

„Sogar sterben würde er für mich…“
 

Ran japste.
 

„Durch mich ist er erpressbar. Ich halt ihn von seiner Arbeit ab, ich verneble sein Denken, ich…“

Heiji starrte sie entsetzt an.
 

Kudô, was hast du getan?!
 

Er schüttelte den Kopf, stattdessen ging er vor Ran in die Hocke, bis er mit ihr auf Augenhöhe war.
 

„Ran. Du weißt, was für’n Druck grad auf ihn lastet. Du weißt, dass… dass er dich braucht. Weil er dich liebt. Ja, verdammt, wir werden alle angreifbar durch euch…“

Kurz, ganz kurz huschte sein Blick zu Kazuha.

„… aber unser Leben wäre doch ein armseliges ohne euch. Und du weißt, wie seins aussah, ohne dich. Ich bitte dich, red dir den Mist nicht ein, den er sich momentan einreden will, weil ihn das alles grad so durch die Mangel dreht. Er will nur, dass du in Sicherheit bist, und, da hat er ausnahmsweise Recht, das bist du nicht bei ihm, momentan. Bitte… tu ihm doch den Gefallen und geh. Ich bin mir sicher, wenn das hier rum is, dann wird er sofort…“
 

Ran hingegen schüttelte den Kopf.
 

„Nein. Du hättest ihn sehen sollen, in dieser Gasse, damals, Heiji. Er hat sofort aufgehört, sich zu wehren, als sie mich hatten.“

Eine Träne rann über ihr Gesicht.

Jetzt war es allerdings Sonoko, die ihr ins Wort fiel.

„Und deswegen gibst du jetzt auf?“

Sie zog eine Augenbraue hoch, hob die Hand und schloss die Augen, ihr Kinn nach oben gerichtet, als Ran Widerspruch einlegen wollte.

„Nein. Versteh ich das Recht?“

Sie sah sie wieder an, deutlich schwang eine gewisse Ungeduld mit einer gehörigen Portion Erregung in ihrer Stimme mit.

„Seit Jahren jammerst du ihm hinterher. Seit du ein Teenager bist, liebst du ihn. Es gibt keine Sekunde in den letzten Tagen, in der du nicht an ihn gedacht hast. Und nur, weil er jetzt grad am Rad dreht, und das ausspricht, was das… was eine Beziehung ausmacht, nämlich "Alles-füreinander-geben-wollen", streichst du jetzt die Segel und wirfst hin? Ist das dein Ernst?!“
 

Sie hatte sich in Rage geredet.

Ran schaute sie etwas erschrocken an, ihre Augen immer noch tränennass.

„Sonoko… wir reden nicht von einem... „normalen“ Alles-füreinander-geben-wollen.“

Sie schluckte.

„Du hast doch mitgekriegt…“

„Ja, aber das bringt nicht die Beziehung an sich mit sich. Das bringt sein Job mit sich. Sein verdammter Beruf. Und wenn er wieder einigermaßen auf Spur ist, dein werter Herr Holmes, dann geht ihm das auch ein, dass das eine Sache ist, die er selber auf die Reihe kriegt und kriegen muss. Heiji schaffts schließlich auch, auch wenn er… nun, sei mir nicht böse, aber so nen dicken Fisch wie Kudô hattest du noch nie an der Angel.“

Der Angesprochene verdrehte die Augen und nickte dann gnädig, während er Kazuha an sich zog, die neben ihn getreten war und ihre Arme um seine Taille legte. Kurz schloss er die Augen, vergrub seine Nase in ihrem Haar und atmete tief ihren Duft ein, ehe er Sonokos Wortschwall weiter folgte.
 

Die war vor Ran auf die Knie gegangen, hatte ihren Kopf in beide Hände genommen.

„Das, was euch verbindet, kannst du nicht kappen. Und er auch nicht. Ran.“

Sie schluckte.

„Das… ist Liebe.“

Ein versonnenes, warmes Lächeln schlich auf ihre Lippen.

„Eine so große, so wundervolle Liebe, dass sie sogar die letzten fünf Jahre überstanden hat, und das, obwohl er glaubte, dass du tot warst und du glaubtest, dich in ihm geirrt zu haben...! So etwas wirft man nicht weg. Und das wird ihm auch klar werden, wenn er diesen Kerlen endlich und ein für alle Mal gezeigt hat, wo der Hammer hängt.“

Sie strich ihr über die Wange.

„Aber du darfst jetzt nicht aufgeben. Du darfst ihn nicht allein lassen. Du weißt, wenn du gehst, gibt es nichts mehr, das ihn hält. Wer weiß, was er riskiert, wenn er nicht mehr leben will, für dich. Du darfst jetzt nicht loslassen…“

Sie seufzte leise, ließ sich dann auf den Boden sinken.
 

„Ran, du weißt, wir haben viel versucht, die letzten Jahre!“

Ein zynisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

„Aber ehrlich, keine dieser Knalltüten, die du wohl zu Recht in die Wüste geschickt hast, hätte das für dich getan, was er für dich tut. Sie haben dich angehimmelt, deine Schönheit verehrt, deine Intelligenz, deine Sanftheit. Aber… verstanden haben sie dich nicht, und hätten dich auch nie so verstanden wie er. Hätten dich geliebt, wie er, alles an dir, dein ganzes Wesen, mit allem, was er hat und auf diese Weise. Er hat dich nie bedrängt, hat dich immer unterstützt, war immer für dich da… und ganz ehrlich, es gibt auch keinen auf dieser Welt, für den du empfinden würdest, wie für ihn. Für den du tun würdest, was du für ihn tust. Für den du ins Feuer gehst. Denn seien wir ehrlich… du magst seine Achillesferse sein… aber deine ist er.“
 

Ihr Lächeln war langsam ein wenig traurig geworden, bis es ganz verschwand.

„Jetzt aufzugeben wäre falsch. Wenn das hier vorbei ist und er immer noch keinen Sinn sieht, Ran, dann… aber jetzt… niemals jetzt. Er braucht dich. Er ist verloren ohne dich, das weißt du. Ohne dich hat sein Leben, und das wissen wir, und nur deshalb verhält er sich so – keinen Sinn. Keinen Sinn...“
 

Ran schaute sie an, schluckte hart.
 

„Und seien wir ehrlich… wenn ich eins aus den letzten fünf Jahren und den letzten Tagen gelernt hab…

Deins, Ran… hat doch ohne ihn… auch keinen Sinn.“
 

Sie hörte Sonokos Worte und eine einzelne Träne tropfte ihr über die Wange. Ihr Blick schien geistesabwesend und unfokussiert, aber sie alle wussten, wen sie jetzt sah.
 

Shinichi.
 


 

Shinichi war heimgefahren nach Jennas Predigt. Nachdenklich hatte sie ihn gestimmt, ja. Und er wusste, dass es nicht ohne ein Körnchen Wahrheit war, was sie ihm um die Ohren gehauen hatte. Er wusste, dass es sinnlos war, was er versuchte. Er wusste, er würde Ran niemals aus seinem Leben löschen können.

Egal wo sie war und wie viel Zeit vergangen war, er würde sie lieben, so lange noch ein Tropfen Blut in seinen Adern rinnen konnte, so lang noch ein Atemzug Luft seine Lungen füllte.

Und er würde sie immer verteidigen, sie immer beschützen wollen, und wenn es das Letzte wäre, was er in seinem Leben täte.
 

Allerdings, und es war einfach die Wahrheit, hatte das Chaos, in das ihn die Wahrheit über ihr Überleben gestürzt hatte, in letzter Zeit einfach nicht klar denken lassen.

Und dafür… war wohl jetzt ein wenig Abstand von ihr das Mittel, das seine verwirrten Gedanken kurierte.
 

Klarheit.
 

Klarheit ja.

Klar sehen, wie gern würde ich das…
 

Und nun lag er wieder auf der Couch und starrte die Decke an.

Dachte an Ran, auch wenn er das gar nicht wollte. Nichts weniger als das.

Aber Fakt war… es brachte ihn fast um den Verstand, darüber nachzudenken, wie viel er kaputt gemacht hatte.

Wie weh er ihr getan hatte.

Was er angerichtet hatte.
 

Im Nachhinein entsetzte ihn sein Verhalten zutiefst.
 

Das hält man ja im Kopf nicht aus.
 

Sie so zu beschuldigen, ihr diese Vorwürfe zu machen, und sie dann einfach eiskalt stehen zu lassen, wo er doch wusste, wie sie sich nun fühlen würde…

Er hatte sich umgedreht und war gegangen, ohne noch einmal zurück zu blicken.

Und dennoch wusste er, oder glaubte zumindest zu wissen, dass es die einzig richtige Entscheidung gewesen war.
 

Es war besser so.
 

Alles in allem war es wohl besser so.

Sie hatte jemanden verdient, der es nicht schaffte, ihr so weh zu tun.

Der es nicht schaffte, sie über Jahre anzulügen und auszunutzen…

Und er fragte, was es war, das er an sich hatte und sie dazu brachte, ihm immer und alles zu verzeihen, mehr noch… zu seiner Rettung in seinen Krieg zu ziehen.
 

Das selbe wohl, das du an dir hast, das mich für dich alles liegen und stehen lässt.

Dennoch, ich bin nicht wie du.

Du könntest mir das nie antun...
 

Du bist ein Engel, Ran.
 

Er hingegen hatte ihr wehgetan, sie angelogen und es hinterher immer noch geschafft, sowohl ihr als auch sich selber noch ins Gesicht zu sehen.

Auch wenn er sich hasste, er schaute jeden Morgen in den Spiegel… und er hatte ihr über Jahre hinweg in die Augen geschaut und ihr mitten ins Gesicht gelogen.

Seine Motive waren immer die nobelsten gewesen, dennoch… heiligte wirklich jeder Zweck immer die Mittel?
 

Sie hatte jemanden verdient, der auf sie aufpasste, statt sie in Gefahr zu bringen.

Sie hatte etwas Besseres verdient.

Und nach allem was passiert war, wollte er nicht mehr in ihrer Nähe bleiben.

Er hatte es verbockt, es war seine Schuld, dass es gekommen war, wie es hatte kommen müssen.
 

Vielleicht hatte Holmes mit den Frauen doch nicht so unrecht.
 

Allerdings – hierbleiben konnte er jetzt auch nicht.

Ihm fiel die Decke auf den Kopf- der für sich genommen wohl ohnehin vorhatte, zu platzen. Shinichi griff sich an die Stirn, stöhnte leise auf. Er wusste nicht, woher sie gekommen waren – kurz nachdem er Ran hatte stehen lassen, hatten sie angefangen und seither waren sie stetig schlimmer geworden.

Kopfschmerzen.

Wahrscheinlich täte seinem Hirn ein wenig Durchzug auch ganz gut.
 

Und so fuhr er hoch, drehte sich einmal um die eigene Achse, griff sich seine Hausschlüssel und seine Jacke und verließ seine Wohnung, schlüpfte im dunklen Treppenhaus in die Ärmel seines Sakkos und eilte die Treppe hinunter.

Mrs Hudson, die ihm aus einem Türspalt heraus hinterherlinste, bemerkte er nicht.
 

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So, hier also das nächste Kapitel - und wenn ich mich so umschaue, bin ich wohl nicht die Einzige, die in Arbeit ertrinkt, es ist bemerkenswert wenig los hier...

Allerdings, Leute... wenn ich es schaffe, hier immer noch einigermaßen wöchentlich Nachschub zu liefern, trotz meiner Arbeit, fänd ichs mehr als nett, wenn ihr euch auch die Zeit im Gegenzug nähmt, und mir den Tag mit ein paar netten Worten versüßt, oder mir meine Fehler aufzeigt (denn ja, ich mach bestimmt welche!!!).
 

Also. Kommentare wären e c h t nett.
 

Beste Grüße,

Eure Leira

Kapitel 28: Nachtschwärmer

Kapitel 28 – Nachtschwärmer
 

Als die Haustür hinter ihm zufiel, schloss er die Augen. Tief sog er die kalte Nachtluft in seine Lungenflügel, stieß sie langsam aus – und wurde sich bewusst, dass er zum ersten Mal an diesem Tag richtig frei durchatmete. Die Ereignisse des Tages hatten ihn von einem Adrenalinschub in den nächsten gejagt, kaum einen Moment der Ruhe für ein paar tiefe Züge Sauerstoff und ein wenig Leere in seinem Kopf hatte man ihm gegönnt.
 

Nun stand er da, genoss die Kälte des britischen Frühlings dieser fast frostigen Aprilnacht auf seiner Haut, stieg dann langsam, bedächtig, die drei Stufen auf den schmalen gepflasterten Weg, der zum Haus führte, hinunter. Kurz überlegte er, ob er das Auto nehmen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen – er hatte das Gefühl, dass ein nächtlicher Spaziergang genau das Richtige wäre, um sich etwas herunterzufahren.

Um seinen Kopf frei zu kriegen für den Fall.
 

Klarheit…
 

Er achtete nicht darauf, wohin seine Füße ihn trugen, ließ sich treiben, genauso wie er seine Gedanken schweifen ließ. Es war immer noch ordentlich was los auf den Straßen Londons, trotz der vorgerückten Stunde.
 

Geschäftsleute eilten an ihm vorbei, die Krägen ihrer Mäntel weit ins Gesicht gezogen zum Schutz vor dem kalten Wind, in ihren Händen Aktentaschen und Koffer, Touristen schlenderten die Straßen entlang, auf ihrem Gesichtern Freude und Entzücken über das pure Dasein in dieser Stadt, mit den Händen auf die beleuchteten Sehenswürdigkeiten deutend oder aus dem nahegelegenen Sherlock-Holmes-Museum herausströmend, Mütter, die mit ihren Kindern und den Einkäufen des Tages durch die Stadt wanderten, von einer U-Bahn-Station zur nächsten. Obdachlose, die sich ein geschütztes Plätzchen für die Nacht suchten, in das der Wind nicht ganz so grausam pfiff, Arbeiter, die sich nach getaner Arbeit mit der Tüte des nächsten Schnellimbisses in der Hand auf den Weg in den wohlverdienten Feierabend machten, Paare, die händchenhaltend und Zärtlichkeiten austauschend über die Gehsteige eher schwebten als gingen…
 

Shinichi blieb stehen, schluckte hart. Ein bitterer Geschmack hatte sich auf seiner Zunge ausgebreitet, als er einem jungen Mann und einer jungen Frau dabei zusah, wie sie sich vor dem Eingang der U-Bahn-Station Baker Street innig küssten, sich kaum voneinander verabschieden konnten, obwohl sie sich ein lächelndes „See you tomorrow“ zuriefen.
 

So sollte es noch sein.

Nicht wie das, was ich heut veranstaltet hab. Hau ab und komm nie wieder, Ran…

Kudô, was bist du für ein Bastard.
 

Er schluckte, lächelte, merkte, wie ihm die Trauer die Mundwinkel nach unten zog als er an den verletzten Ausdruck in ihrem Gesicht dachte.

Ihre blasse Haut, ihre nass glänzenden, blauen Augen, in denen er trotz seiner Grausamkeit zu ihr nur eins lesen konnte – diese verzweifelte Liebe, die sie für ihn empfand.

Und sie war es auch, die sein Herz mit eiserner Faust zusammendrückte, bis der letzte Tropfen Blut daraus entwichen zu sein schien. Er keuchte, griff sich an die Brust, versuchte, sich wieder in den Griff zu kriegen, als sie ihn übermannte, die Verzweiflung.
 

Verdammt, was hast du ihr angetan… aber welche Wahl hast du?

Leben soll sie…

Und wenn das dein Ziel ist, dann kann es etwas anderes nicht geben.
 

Dein Glück mit ihr.

Nicht, solange sie da sind.

Womit die Lösung für dein Dilemma eigentlich auf der Hand läge, Sherlock.

Schnapp sie dir und schick sie endlich hin, wo sie hingehören.

In den Knast.
 

In die Hölle, noch besser.
 

Er atmete tief durch, straffte die Schultern, presste die Lippen zusammen. Dann trat er auf die Straße, winkte ein Black Cab heran und nannte dem Fahrer die Adresse des Lofts.

Es wurde Zeit, dass er sein Glück selbst in die Hand nahm. Hatte er nicht immer auf diese Chance gewartet? Er war ihnen so nah auf der Spur wie schon lange nicht mehr.
 

Also, was stand er hier noch rum?
 

Wenn er irgendwann wieder gut machen wollte, was er heute verbrochen hatte, fing er besser gleich damit an.
 

Wie erwartet war die Gegend gottverlassen. In diesem Teil Londons lebten noch nicht viele Leute – und die, die hier wohnten, liebten es, allein und einsam zu sein.

Er war mit dem Aufzug nach oben gefahren, zum zweiten Mal an diesem Tag, und nun stand er vor der Tür, die mit einem Polizeisiegel verschlossen worden war.

Das Pflichtbewusstsein meldete sich zusammen mit seinem engsten Verbündetem, seinem Gewissen, als er die Marke vorsichtig abpulte, sie halb kleben ließ, damit er wusste, wie er das neue Siegel wieder hinkleben musste. Er hatte solche Aufkleber stets bei sich, sie gehörten zur Standardausrüstung – ein Tatort musste immer versiegelt werden.

Er war in den Flur getreten, den kleinen Vorraum, und stand nun etwas unschlüssig vor dem gelb-schwarz gestreiften Absperrband, dass jedem, der sich dem Tatort näherte, in regelmäßigem Abstand wiederholt dieselbe Botschaft verkündete: crime scene – do not cross.

Dann zuckte er mit den Achseln, hob das Absperrband mit dem Unterarm hoch, schlüpfte darunter durch und fand sich in der nur spärlich vom Mond und der Straßenbeleuchtung erhellten Loftwohnung wieder.
 

Schwarz, rissig und matt lag der mittlerweile eingetrocknete See aus Blut zu seinen Füßen, gesäumt von einer weiß leuchtenden Kreidemarkierung.
 

Shinichi seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust. Was er genau hier wollte, wusste er selber nicht.

Irgendwie jedoch bekam er das Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben.

Als er das Loft heute Nachmittag gefunden hatte, hatte er kaum die Muße gehabt, das hier alles auf sich wirken zu lassen. Die Aufregung hatte ihn zu sehr in ihrem Griff gehabt, die Erregung darüber, zu spät gekommen zu sein. Der Ärger darüber, dass er diesen Ort erst jetzt gefunden hatte.

Wut über sich selbst.

Der zeitliche Druck, das FBI und das Yard einschalten zu müssen.
 

Jetzt stand er hier, und er war allein.
 

Und auf einmal konnte er seine Anwesenheit fast spüren.

Glaubte, den beißenden Gestank seines Tabaks immer noch riechen zu können – wahrscheinlich war dem auch so.

Langsam trat er um die Blutlache herum, zog sich ein paar Handschuhe aus seiner Sakkotasche, die er da immer aufbewahrte, und näherte sich dem großen Schreibtisch, der das Zentrum des Raumes bildete und von dort aus die Wohnung dominierte. Groß, aus schwarzem Rauchglas und poliertem Chrom stand er auf dem schwarzen Steinboden, hinter ihm ein schwarzer, lederner Chefsessel, verwaist und wie auf seinen Besitzer wartend.

Shinichi wusste, die Spurensicherung hatte bereits mitgenommen, was in irgendeiner Weise sachdienlich war – allerdings suchte sie nicht nach den Dingen, nach denen er vielleicht jetzt suchte.
 

Und so trat er langsam an den Schreibtisch heran, zog den Drehstuhl zur Seite und ließ seinen Blick über die Tischplatte schweifen.

Eine Flasche Bourbon, von der die Fingerabdrücke genommen worden waren stand da, daneben ein Satz Gläser. Shinichi runzelte die Stirn – sollten sie wirklich so leichtsinnig sein?

Langsam schüttelte er den Kopf.

So wie es aussah, hatten die Kollegen zumindest von der Flasche etwas nehmen können. Die Tischplatte schien sauber, genauso wie die Lehnen des Stuhls.

Kein Computer, kein Handy.
 

Nicht einmal ein Kugelschreiber.
 

Ihr seid doch nicht einfach gegangen, ohne mir was da zu lassen, oder, Gin?

Das sähe dir doch so gar nicht ähnlich… mir einmal nicht deine Überlegenheit unter die Nase zu reiben…
 

Ein schmales Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

Dass er daran heute Nachmittag nicht gedacht hatte, wunderte ihn im Nachhinein. Wenn er dieses Katz- und Maus-Spiel spielen wollte, hatte er ihm auch sicherlich ein weiteres Bröckchen hingeworfen – er konnte sich kaum vorstellen, dass ihn sein Widersacher wirklich ohne ein weiteres Zeichen seiner Verachtung, seines Hohns oder seiner Rache hier zurückgelassen hatte.
 

Shinichi kniff die Augen zusammen. Dann stand er auf, ging in die Ecke mit der Kochnische, zog die Schubläden auf, schaute in die Schränke – die Küche schien wie leergefegt. Bis auf eine Vase mit Fenchelblüten (Was auch sonst?, dachte Shinichi zynisch lächelnd) war die Küche fast fabrikneu und unangetastet. Es wunderte ihn kaum – er konnte sich Gin eher weniger gut als Küchenteufel vorstellen – ihn nicht, und niemanden sonst aus der Organisation. Wahrscheinlich waren sie auswärts essen gewesen oder hatten einen Lieferdienst bemüht.

Sie hatten einfach nie Spuren hinterlassen.
 

Er wanderte zurück in die Mitte des Raums, blieb bei den kleinen Schildchen stehen, die verschiedene Spuren markierten und bemerkte erst jetzt Reste von Farbe auf dem Boden. Es schien, als wären beschmutzte Pinsel zu Boden gefallen, und er fand drei Stellen, an denen der Boden leicht zerkratzt war.
 

Shinichi stutzte.
 

Farbe? Hier?

Und die drei Kratzer…
 

Er ging in die Hocke, nahm die Abstände und Winkel der Stellen in Augenmaß.
 

Könnten die drei Beine einer Staffelei gewesen sein, unsachgemäß aufgestellt, sonst wäre der Boden nicht zerkratzt.

Er hat also hier gemalt?

Kein Wunder, dass wir ihn in der Akademie nicht mehr angetroffen haben, und auch bei sich zu Hause nicht…

Sie haben ihn hierher gebracht.

Und nicht nur ihn.
 

Er erinnerte sich an ein Büschel langer, gewellter, weißblonder Haare, das mit in die Beweismittelakten gewandert war.
 

Langsam ließ er sich nach hinten auf den Boden sinken.
 

Die haben seine Freundin bereits. Wie wir vermutet hatten.
 

Er sah sich um, bemerkte einen großen Kratzer, fast einen Sprung auf den Marmorfliesen, stand auf und ging näher. Etwas Schweres war hier runter gefallen, in unmittelbarer Nähe des Blutflecks. Als sein Blick nach oben wanderte, sah er die zwei Haken in der Wand, die in gewissen Abstand auf gleicher Höhe angebracht waren. Er trat näher, berührte sie, lächelte schmal.
 

Und hier lag es… und offenbar hat es jemand fallen gelassen.
 

Allerdings… Gin bestimmt nicht.

Also bleibt wohl nur Brady… aber wie kommt er dazu, es überhaupt in die Finger zu kriegen? Wollte er Gin angreifen?
 

Kaum.
 

Ein fast spöttisches Lächeln glitt über Shinichis Lippen. Tapferere Männer als Brady waren vor Gins hämischem Grinsen und unter seinen eiskalten Blicken bereits zusammengefallen wie ein Soufflé, das man zu früh aus dem Ofen genommen hatte.

Offenbar hatte Brady das Schwert zu anderen Zwecken in der Hand gehalten.
 

Dieses Mal solltest du sie töten, unter den Blicken deiner Freundin, Eduard.

Und so wie das hier aussieht, hast du es getan.
 

Ich hätte… dich doch einsperren sollen, dann wäre dir zumindest diese Tat erspart geblieben, wenn auch dem Mädchen wohl ihr Leben nicht dadurch gerettet worden wäre.
 

So gern ich das glauben will… er hätte sie getötet.

So oder so.
 

Gin…
 

Dennoch, das wusste er - sollte sich seine Vermutung bewahrheiten und Brady der Mörder ihres nächsten Opfers sein, würde man ihm die Schuld dafür geben.

Denn im Gegensatz zu ihm glaubte man im Yard immer noch nicht an die Art von Hintermännern, die er in Verdacht hatte – wenn auch wohl die Identifikation der Tatwaffe ihm langsam Recht geben dürfte, denn warum sollte ein so kleines Licht wie Brady, wenn er schon Morde begehen wollte aus welchem Motiv auch immer, ausgerechnet ein Samuraischwert benutzen – und wie käme er an ein solches ran? Wo, außerdem, hätte er es versteckt… in seiner Wohnung hatte man schließlich nichts gefunden.
 

Shinichi seufzte still.
 

Tja…

Wenn ich nur den endgültigen, unumstößlichen Beweis hätte… aber Gin ist nicht dumm.

Den wird er mir nicht liefern.
 

Dann wandte er sich um, ließ seinen Blick weiter durch die Wohnung schweifen, blieb an einem Stuhl hängen, der scheinbar wie bestellt und nicht abgeholt an der Wand stand. Ein zweiter lag in der Nähe der Blutlache.
 

Ein Platz für sein Modell… der andere für sein Publikum.
 

Langsam trat er an die Wand heran, blieb vor der Glasscheibe stehen und wollte gerade sehen, welche Aussicht Gin von hier drinnen aus gehabt hatte, als er stutzte. Unter dem Regal, das neben dem Fenster stand, spitzte etwas Helles hervor. Er trat näher, bückte sich, griff danach und stutzte, als er erkannte, was es war.
 

Es war ein Ticket.

Für eine Vorstellung von „Hamlet“ im Globe Theatre in vier Tagen.
 

Hamlet?!

War dieser Kunststudent ein so großer Shakespearefan, dass er nicht nur in seinen Bildern seine Blumensymbolik aufgreift, sondern außerdem ins Theater gehen wollte?

Warum liegt die hier?

Hat er sie nur verloren, oder wurde sie hier bewusst platziert?

Sind diese Blumen nur ein… Gimmick des Künstlers, ein Tick, oder will er damit etwas sagen – oder Gin?

Weiß Gin um die Bedeutung dieser Blumen oder…
 

Sein Mund wurde trocken, als sein Gehirn ihm zögernd eine vage Schlussfolgerung unterbreitete, wagte kaum, sie zuende zu denken.
 

Wenn das stimmt…
 

Sie mussten Brady finden; dann würden sie auch dieses Mysterium lösen; fraglich war allein, wo der Kerl gerade steckte.

Er seufzte, steckte das Ticket gedankenverloren in seine Innentasche, grübelnd, kaum an die Erkenntnis glaubend, die sich ihm aufgedrängt hatte, als seine Finger dort ein anderes Stück Papier berührten.

Langsam zog er das Foto aus der Zeitung von Ran auf der Westminster Bridge heraus, das, das sie ihm hatten zukommen lassen.

Sein Kopf war auf einmal wie leergefegt.

Er schluckte hart, merkte, wie sein Mund trotzdem immer trockener wurde, als er das Bild anschaute.

Kalt, eisig rieselte ihm ein Schauer vom Nacken aus über den Rücken, stellte jedes einzelne Härchen auf, das ihm dabei im Weg stand, als vor seinem inneren Auge der Film abzulaufen begann.
 

„Das ist sie, nicht wahr?“
 

Müde richtete Shinichi seinen Kopf auf, versuchte auf das Foto zu fokussieren, das man ihm unter die Nase hielt. Heiße Asche der Zigarette, die in seinem Mundwinkel hing, bröckelte auf ihn nieder, als der silberblonde Hüne sprach, den hämischen Ton in seiner Stimme dabei kultivierte. Er saß, oder besser kauerte, auf dem Boden, hing an einer Handschelle fest, die seinen Arm nach oben zog – in seinen Fingerspitzen hatte er schon lange kein Gefühl mehr, sein ganzer Arm schien ihm nicht mehr zu gehören, seine Schulter war steif und schmerzte, fühlte sich an, als hätte sich sein Oberarm schon längst aus der Gelenkpfanne gelöst.
 

„Ein sehr hübsches Ding. Wirklich. Du hast Geschmack…“

Shinichi merkte, wie die Worte langsam in sein Gehirn einsanken wie Rosinen in einen frisch angerührten Kuchenteig, sein Denkapparat langsam erarbeitete, was dieser Satz bedeutete.

Und endlich wurde das Bild vor seinen Augen klarer.
 

<Ran!>
 

Sein Herz fing an zu rasen, und gleichzeitig bemühte er sich, ruhig zu bleiben. Er durfte nicht zeigen, was sie ihm bedeutete, das brachte sie nur in Gefahr. Wenn er schon ihren Namen genannt hatte, dann durfte er nicht zeigen, dass sie das Mädchen war, welches…
 

Dennoch befahl er seiner freien Hand, sich zu heben und nach dem Bild zu greifen- er versuchte es zumindest. Tatsache war, dass er ihr zusehen konnte, wie sie sich in Zeitlupe bewegte, wurde sich bewusst, wie viel Willen er aufbringen musste, um auch nur einen Muskel zu bewegen, weil die drohende Ohnmacht sein Bewusstsein umwölkte.

Er hörte Gin lachen, als er seine Bemühungen bemerkte, schämte sich und wollte doch gleichzeitig vor Wut und Frust schreien – er konnte nicht.

Sein Kiefer war zu verkrampft, als dass er einen Laut von sich geben konnte.

Gin lachte weiter, als er das unterdrückte Stöhnen hörte, das seinem Gefangenen von den Lippen wich.

Kurz wedelte er mit dem Bild vor seinen Augen, als er sich ihm näherte.

„Ein süßes Mädchen. Und sie liebt dich so… macht sich Sorgen um dich, Kudô…“
 

<Gott, nein...>
 

„Ich hab sie beobachtet, weißt du. Deine Eltern. Das FBI. Und deine Freundin… sie lungerte vor deinem Haus herum, ließ sich von niemandem abwimmeln. Sie alle sind rührend besorgt um dich… haben Angst um dich… aber sie…“
 

Er lachte heiser. Shinichi schloss die Augen, als sich der latente Kopfschmerz, der ihn seit seiner ersten Dosis plagte, seinen Kopf zum Platzen zu bringen wollen schien.
 

„Sie setzt dem Ganzen die Krone auf. Das bittende Flehen. Dieser Ausdruck in ihren Augen, ihre zitternden Lippen, ihr blasses Gesicht… sie weiß nicht, in welcher Gefahr du schwebst. Man hat es ihr nicht gesagt. Aber sie scheint es zu ahnen, weißt du…“
 

Er streckte die Hand aus, berührte Shinichis Brustkorb an der Stelle, unter der sein Herz schlug – und momentan schlug es ihm bis zum Hals. Eine Schweißperle rann ihm die Schläfe entlang über den Hals, als er ihn weiterreden hörte.
 

„Sie spürt es… tief in ihr drin, da weiß sie, dass deine Tage sich zählen, dass du leidest, dass man dir etwas antut…“

Seine Stimme zischte wie eine Schlange, wütend und kurz vor dem giftigen, todbringenden Biss.
 

Er packte ihn am Kinn, und der harte Druck an seinem Kiefer riss ihn ein wenig mehr in die Realität zurück, ließ ihn seine Augen halb öffnen, nur um direkt ins ewige Eis von Gins Blick zu schauen, der ihn frösteln ließ.
 

„Was meinst du, wie weit würde sie gehen für dich?

Würde sie kommen, um dich zu retten…?

Wollen wir das ausprobieren?“
 

Er winkte die junge Frau näher, die mit einer Spritze im Hintergrund bereits gewartet hatte. Shinichis Reaktion war viel zu langsam, als dass er sich hätte wehren oder sträuben können, als sich die kalte Nadel einmal mehr in sein Fleisch bohrte um diese teuflische Substanz in seinen Organismus zu impfen, die seinen Geist wie seinen Körper gleichermaßen zersetzte, degenerierte…

Nur ein Gutes hatte es diesmal…

Seine Gedanken klärten sich auf.
 

Endlich.
 

Leise stöhnte er auf, erleichtert, als die Entzugserscheinungen abebbten, seine Muskeln sich etwas entspannten, die Schmerzen sich verabschiedeten – für den Moment, das wusste er.

Er schaute auf, sah, wie Gin langsam in seinen Fokus rückte, das Bild von Ran vor seinen Augen scharf wurde.
 

Er wusste, viel Zeit blieb ihm nicht, bis die Droge wirkte.
 

„Ich habe keine Ahnung, wer das ist.“

Er versuchte, ruhig zu klingen, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. Hörte Gin lachen und ahnte, dass es zu spät war, um irgendetwas zu leugnen.
 

Der Beweis für seine Ahnung folgte auf dem Fuße und in zweierlei Manifestationen.

Erstere war ein ungebremster Schlag einer Faust in sein Gesicht.

Shinichi keuchte, verkniff sich den Schmerzensschrei, fühlte, wie etwas Warmes seine Nase runter lief, hustete.

Letztere kam in Form seines Smartphones, auf dem eine Audioplayer-App geöffnet war.

Die Stimme, die an seine Ohren klang, hätte er fast nicht wiedererkannt und ließ ihn jeden Schmerz sofort vergessen.
 

„Bist du dir da sicher?“
 

Gin beugte sich vor, hielt das Gerät zwischen sich und ihn, tippte genussvoll auf das Touchdisplay.
 

>Ich… ich liebe dich, Ran…

Das… das ist es, was ich dir unbedingt noch sagen wollte…

Egal wie das hier endet, ich… liebe dich…<
 

Er schnappte nach Luft, seine Augen starrten voll purem Entsetzen auf das Aufnahmegerät, aus dem ihm seine eigene Stimme entgegenquoll – heiser, zitternd, rau, im Rausch.

Ihm wurde fast schlecht, als er sich selbst dieses Geständnis an eine Illusion machen hörte, weil er wusste… dass es für ihn real gewesen war.
 

Jeder dieser verdammten Träume war so echt. Und das Wissen darum, dass sie ihm zuhörten, sich daran ergötzten, wie er halluzinierte, ihnen seine innersten Wünsche und Gefühle offenbarte, ließ ihn sich entsetzlich nackt fühlen – und ungeheuerlich verletzbar.
 

Blut schoss ihm ins Gesicht.
 

„Ich weiß nicht…“
 

Gin steckte das Gerät weg, ruhig, lächelte immer noch, ein immer eisiger werdendes Lächeln.

„Gut, hör zu, ich formuliere es so, dass es auch dein lädiertes Hirn noch hinkriegt, mir zu folgen. Du kannst weiter abstreiten, sie zu kennen, und ich hol sie her, um das nachzuprüfen, auf eine Weise, die dir nicht gefallen dürfte. Oder du überlegst es dir mal… und solltest du dazu kommen, dass diese Ran hier doch dein Herzblatt ist, die Ran, von der du träumst, Detektiv, deren Namen du uns genannt hast… dann solltest du, um ihrer Gesundheit Willen, deine Kooperationsbereitschaft etwas überdenken. Nicht wahr, Anokata?“
 

Shinichis Kopf fuhr hoch.

Er hatte ihn nicht kommen gehört, nicht kommen sehen.

Und zu sehen gab es auch jetzt nicht viel.

Im hellen Rechteck des Türrahmens stand der schattenhafte Umriss des Bosses, wie immer im Gegenlicht und von ihm nicht zu erkennen, doch sein Lachen drang unverkennbar an seine Ohren.
 

„Allerdings.“
 


 

Shinichi fuhr zusammen, als die Turmglocke des Big Ben an seine Ohren drang. Er hielt das Foto immer noch in seiner Hand, starrte es an, ehe er es einsteckte, schluckte hart.

Er hasste diese Flashbacks, die ihn seit ein paar Tagen überfielen, heimtückisch, ohne Vorankündigung. Und er fragte sich, was er heute Abend wohl zu sehen kriegte – denn irgendetwas sagte ihm, dass auch heute Nacht sein Schlaf nicht wirklich erholsam sein würde.
 

Aber warum…

Warum jetzt?
 

Dieser eine Traum kehrte immer wieder, das war ich gewohnt, aber nicht diese… ganzen Erinnerungen an diese Zeit, damals.
 

Er kniff die Lippen zusammen, nachdenklich, als ihm das Ticket einfiel. Falls die Spurensicherung doch noch einmal wieder kam, war es besser, sie fanden hier etwas adäquates, falls man auf einem der Tatortfotos das kleine weiße Zettelchen sehen konnte, so wie er es auch bemerkt hatte. Er zog ein Notizpapier aus seiner Sakkotasche und steckte es stattdessen unters Regal. Es sah ungefähr gleich aus, und die Karte war mit der bedruckten Seite nach unten gelegen, also würde der Unterschied nicht auffallen.
 

Ein sarkastisches Grinsen huschte ihm über die Lippen, als er daran dachte, was er hier eigentlich tat.
 

Dafür könntest du suspendiert werden. Du verunreinigst einen Tatort… herzlichen Glückwunsch.
 

Dann drehte er sich um, langsam, schaute aus dem Fenster.

Ihm fehlte immer noch ein Hinweis darauf, wo er sie finden konnte. Wo sie sich aufhielten.

Sie hatten Meredith und sie mussten wohl die Kleider haben. Eduard befand sich wohl auf freiem Fuß und deponierte die Leiche irgendwo. Sie mussten sich eine zweite Wohnung angemietet haben, aber er bezweifelte, dass Gin das unter dem gleichen Namen gemacht hatte wie hier.

Also, wo kam man möglichst schnell und möglichst unauffällig unter?
 

Er fuhr sich durch die Haare, langsam.
 

Fakt war, der dritte Mord war passiert.

Sie hatten nun Meredith.

Außerdem hatten sie nachweislich ein Bild von Ran, das Zeitungsfoto… was bedeutete, dass er in seiner Vermutung mehr als Recht haben könnte, wenn er annahm, dass sie wieder hinter ihr her sein würden.

Wenn er nun also Meredith retten wollte und verhindern, dass Ran etwas passierte, musste er den nächsten Mord verhindern.

Ein dumpfes Gefühl sagte ihm, dass sie das nächste Opfer schon längst hatten… und dass er nicht viel Zeit hatte, um es zu retten.
 

Er konnte nicht wieder die Immobilienmakler durchtelefonieren. Er wagte sogar zu glauben, dass sie für ihren Schlupfwinkel diesmal keinen benötigt hatten.

Allerdings - Eduards Wohnung konnte es nicht sein.
 

Shinichi stierte in den Nachthimmel.
 

Wo treibt ihr euch diesmal rum?
 

Ein leerstehendes Gebäude. Ein geschlossenes Gebäude…

Irgendetwas in der Richtung musste es sein. Keine Nachbarn, die Fragen stellen oder Beobachtungen machen konnten.
 

Er schluckte.
 

Oder halluziniere ich am Ende doch und seh Gespenster?

Ich hab keinen Beweis für sie…

Das mit Ran kann Zufall sein… bei der Presse, die ich momentan kriege, ist alles möglich.
 

Aber andererseits… das hier lacht einem doch böse ins Gesicht...
 

Unwillig zerfurchte er sich mit seinen Fingern sein ohnehin wirres Haar, ließ seine Augen über das nächtliche London schweifen. Die Aussicht über die Stadt und den Hafen war atemberaubend - ein Lichtermeer erstreckte sich unter ihm, gekrönt von dem leuchtenden, sich langsam drehenden Rad des London Eye, das tatsächlich niemals stillstand.
 

Für heute würde er es gut sein lassen müssen.

Seinen Gespenstern würde er morgen weiter nachjagen.
 

Damit drehte er um, verließ das Loft, brachte hinter sich das Siegel wieder an, fuhr mit dem Aufzug nach unten. Er trat auf den Gehsteig und wollte sich gerade ein Taxi rufen, als er sie bemerkte. Und sie tat nichts, um sich zu verstecken, im Gegenteil.
 

„Are you shadowing me, Miss Shelley?“
 

„Of course.“

Sie lächelte.

„And I must confess, you are definitely worth the labour. So much love, so much pain, so much drama.“
 

Sie grinste.

„Hah – don’t you dare kidding me ever again. You and not knowing that Japanese girl. That looked pretty different today.“

Shinichi schaute sie sachlich an, versuchte mit keiner Regung seines Gesichtes zu zeigen, wie die Unruhe in ihm wuchs.

“I am impressed. Almost no one achieves to shadow me without my notice. Or do you use other means?“

„I am not telling my secrets, Mr. Holmes. As you don’t reveal yours, I guess…?”

Shinichi lächelte schmal.

“You know, I cannot tell you about the case. I can do nothing but implore you not to mention her again. She’ll be in grave danger, if…”

“If what?”

Sensationslust glomm in ihren Augen.

Shinichi seufzte leise.

“Just don’t. Please.”

“Ah.”

Sie seufzte, zuckte mit den Schultern.

„I am so sorry, really, I am…”, sie lächelte süffisant, ließ ihre perlweißen Zähne aufblitzen, “… but you must understand me, too. How shall I earn my living without writing stories? And how shall I write my story without you giving me a decent topic? I am not allowed to write about the case – though I see, that this house must have something to do with it and when I’d go in, I for sure would finde a police seal, wouldn’t I? Perhaps this is a crime scene… perhaps here the murder happened…”

Sie lachte leise, und kalt.

„And I got to know that this painter Brady and his girlfriend are missing. I’ve been at that university today, questioning the students – they are much more willing to give me information than you are.”

Shinichi erwiderte nichts. Er hatte ihr wortlos zugehört, gefühlt, wie sein Körper auf all das reagierte – Schweiß war ihm aus allen Poren gebrochen und eine Hitze war in seinen Kopf gestiegen, die seinen Schädel fast zum Bersten bringen wollte. Er fragte sich, warum sein Hirn nicht schon längst zu Brei zerkocht war.
 

Das würde zumindest einige Probleme schlagartig lösen.
 

Unbewusst griff er sich an die Stirn, schloss kurz die Augen.

„Oh. Are you not well?“
 

Die zunehmend unangenehm klingende Stimme Victoria Shelleys klang in sein Ohr – er ließ die Hand sinken, schüttelte den Kopf, lächelte unverbindlich.

„No. Just tired. And getting a headache by the thought of so much foolishness and lack of understanding.”

Sie starrte ihn an, merkte, wie Wut in ihr hochkochte – und sie sah ihm an, dass es ihm ähnlich ging.

„Honestly, Miss Shelley, are you aware of what you are dealing with? This is not just a story! There are humans involved, lifes threatened, and all that you can do is to interfere the investigation and my own life by gathering information that is not meant for you, by sticking your nose into things that are none of your business and by dragging that all out to the public, no matter if you harm her, harm me, harm one of those poor students, or… harm yourself.”
 

Er atmete durch, sichtlich verärgert und erregt.
 

“By all respect, you have no idea at all of what kind of fire you are playing with!”
 

Sie starrte ihn an – auf ihre Lippen war ein gefährliches Lächeln getreten.
 

“Oh. That may be the truth, but I’ll find out, rest assured. And not only this; you know I really am disturbed about your latest appearance, and not only me, the whole city of London is worrying about the reason for your latest look. Ill-looking is not really the new sexy, Sherlock… have you had a glance at the mirror, lately…?”
 

Und sie sah, das hatte gesessen. Ihm blieb die Spucke sichtlich weg, seine Gedanken rasten und überschlugen sich – er dachte nach, was er darauf entgegnen konnte und beschloss, dazu gar nichts zu sagen. Er wusste nicht, wieviel sie wusste und woher, und er wollte ihr kein Feuer geben, keine Neugier entfachen und nichts bestätigen, durch eine unbedachte Äußerung.
 

„Do your work and I’ll do mine.“, flüsterte er nur leise.

Damit wandte er sich um, winkte sich ein Taxi heran.
 

Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er wirklich Angst davor, was er morgen in der Zeitung lesen würde.
 

Er merkte nicht, dass ihn noch jemand beobachtete, als er das Gebäude verließ.

Gin saß in der Finsternis seines Porsches, und studierte die nur mäßig vom Mond beleuchtete Gestalt seines Gegenübers. Er konnte kaum lesen, welcher Ausdruck auf seinen Zügen lag – seine Haltung jedoch verriet ihm ohnehin alles, was er wissen musste.

Die Arme vor der Brust verschränkt, der Rücken durchgedrückt und gerade, den Kopf nach unten gewandt, sein Blick fest auf den Boden gerichtet sprach alles an ihm von Nachdenklichkeit, Grübelei und wilder Entschlossenheit.

Ein feines Lächeln kräuselte seine Lippen, als er ihm dabei zusah, wie er in ein Taxi stieg, dass die Straße heraufgefahren kam und vor ihm stehen blieb. Und er sah die junge Frau, diese Reporterin, die nur zu gern alles daran setzte, auf seinem Rücken die Karriereleiter weiter zu erklimmen.
 

Es lief, wie es schien, alles nach Plan.
 

Und er hatte eine gute Ahnung, wie das alles noch etwas mehr Spaß machen könnte.
 

Er stieg aus, ohne Hast, näherte sich der jungen Frau, die gerade in ihrer Handtasche wühlte, offenbar nach ihrem Handy suchte, um sich ebenfalls ein Taxi zu rufen. Breit grinsend trat er ihr gegenüber, genoss sichtlich den erschrockenen Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ihn anstarrte, scharf nach Luft schnappte und als ersten Reflex sich umdrehen und weglaufen wollte.
 

„Na, na.“, lachte er heiser. Sie erstarrte, blinzelte ihn an.

„I know, I don’t have what you would call a trustworthy appearance. But I had the chance to follow your little discussion with DS Kudô, and I wondered, if I could lend you a helping hand…”

Victoria schluckte, entspannte sich ein wenig – ein wenig nur. Allerdings, die Neugier in ihr war bei seinen Worten fast augenblicklich entfacht, drängte die Angst und das ungute Gefühl, das der Fremde bei ihr auslöste, in den Hintergrund.

„You know Sherlock?“

Gin grinste breit.

„Know? Better than you might guess, darling. I know him from his times in Tokyo…”

Er setzte eine Kunstpause, bemerkte mit diebischer Genugtuung, wie sie vor Aufregung zu zittern anfing.
 

Ihr Reporter seid in jedem Land der Erde gleich…
 

„You worked together?“, brach es aus ihr hervor. In ihr überschlugen sich ihre Gedanken – sie hatte hier tatsächlich jemanden gefunden, der ihr aus erster Hand exklusive Details über Kudôs Leben erzählen konnte – das war IHRE Chance!
 

„Kind of.“
 

Er lächelte schmal.
 

„But this does not matter. I heard you wonder about his haggard look. Did you ever think about…”

“Of course!”

Er sah ihr an, sie hatte Blut geleckt. Der Speichel troff ihr fast aus den leicht geöffneten Lippen, ihr Blick hing glühend an ihm.
 

Nun wirst du sehen, was du davon hattest, uns an die Öffentlichkeit zu zerren, Kudô…
 

„But there are so many reasons for this…“

Sie schluckte, merkte, wie sie zu zittern anfing.
 

„Now, Miss Shelley… think a little bit. Let’s compile what we have found out yet.

There is the pale teint, the tiredness, the very slim figure, the restlessness, the headache… a slight tremor in his hands. What could…”

“Some kind of illness?”, murmelte sie fragend.

„Not that kind of illness, you might suspect. You are much too… friendly. Go, think further…”

“Some sort of burnout or nervous breakdown…?”

“Will follow up.”

Gin lachte.

“I give you a hint. Think about your all-time hero… Think about Sherlock Holmes…”
 

Damit drehte er sich um, ließ sie hinter sich stehen, noch bevor sie ihm die Antwort sagen konnte, oder fragen, warum er ihr das erzählte – er blieb lieber der Unbekannte in ihren Augen, als der erklärte Feind ihres neuen Opfers.
 

Victoria Shelley unterdessen stockte der Atem, als sich das Puzzle in ihrem Kopf zusammenfügte, Teil für Teil.
 

Der übermüdete Anschein, den er machte, gepaart mit dieser ganz offensichtlichen Unruhe… das leichte Zittern seiner Finger, das er versucht hatte, in seinen Hosentaschen zu verstecken…

Die Kopfschmerzen.

Die blasse Gesichtsfarbe.

Seine hagere Statur.
 

Es passte einfach alles.
 

Alles!
 

Drugs.
 

Good lord, this is…
 

Sie merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, musste an sich halten, um nicht laut zu jubeln – das war tatsächlich DIE GESCHICHTE ihres Lebens. Sie würde ihn ausziehen bis auf die Knochen.
 

Allerdings, dafür brauchte sie noch einen Beweis.
 

Und sie ahnte, wen sie würde fragen können – einen seiner früheren Kollegen, denn die hatten Einsicht in seine Akten gehabt. Nicht die kleine Rothaarige, sie würde, das ahnte Victoria, für ihren Partner in die Bresche springen.

Nein, sie brauchte… einen Mann.

Ein überlegendes Grinsen zeichnete sich auf ihren sinnlichen Lippen ab, als sie versuchte, durchzuatmen. In ihren Fingern kribbelte es.

Sie wusste, mit wem Kudô zusammengearbeitet hatte, sie arbeitete schließlich bei der Zeitung. Und sie wusste von einem, der weder über ihre damalige Zusammenarbeit noch über seine Beförderung glücklich gewesen war.

Sein letzter Partner.
 

DI Henderson.
 

Ja, dieser schmierige Lackaffe würde ihr bestimmt gern alles erzählen, was er über seinen verehrten Ex-Partner wusste. Und bestimmt würde er mit Freuden nachschnüffeln und ihr jedes Detail liefern, das sie brauchte, um den Reißer ihres Lebens zu schreiben.
 


 


 

Der letzte Nachtschwärmer, der unruhig durch die Straßen Londons wanderte, war Eduard.

Er hatte eine sehr unruhige Zeit im Auto verbracht, nachdem er es nicht gewagt hatte, in seine Wohnung zurückzukehren. Er konnte sich denken, dass man bereits den Tatort in diesem vermaledeiten Loft gefunden hatte, und er ahnte auch, dass dieser Superintendent eins und eins zusammengezählt hatte – und vielleicht schon bereute, ihn laufen gelassen zu haben.

Er war sich sicher, dass er ihn verdächtigte.

Sie alle hatten ihn verdächtigt.
 

Es dämmerte, als er auf den Parkplatz fuhr. Die ersten Angestellten schwärmten bereits aus und in die Eingänge wie in Bienen in ihren Bienenstock. Er stieg aus, unauffällig, griff die Schachtel von der Beifahrerseite, in der das Chloroform und die Handschellen versteckte, zog sich die Jacke und Mütze der Speditionsfirma an, mit deren Hilfe er ins Gebäude zu kommen hoffte, setzte sich eine Brille auf, um sein Aussehen wenigstens ein wenig zu verändern und ging los.

Eduard musste nicht lange suchen, bis er dem ersten Mitarbeiter in die Arme lief, der ihm geeignet erschien.

„I am looking for your post office. I have a package for you.“

Er setzte ein harmloses Lächeln auf, hielt das Paket in die Höhe.

Der junge Mitarbeiter schaute ihn nachdenklich an, sichtlich ratlos über die unerwartete Aufgabe. Wütend rote Pickel überall in seinem ansonsten käsig-weißen Gesicht, besonders aber auf Stirn und Kinn dokumentierten seine Jugendlichkeit nur allzu deutlich. Wirr standen seine dunklen, fast schwarzen Haare ab, buschige Augenbrauen wucherten über einem paar dunkelbrauner Augen, die hinter einer Brille fast ein wenig träge in die Welt blickten – in ihnen stand die Müdigkeit noch deutlich zu sehen, offenbar war er das frühe Aufstehen nicht gewohnt.
 

Und obwohl Eduard eigentlich kein Verbrecher war, wusste er sofort, dass dies der Mann war, den er gesucht hatte.

Das ideale Opfer.
 

Das kleine Schildchen „Praktikant“ auf seiner Brust bestätigte ihn umso mehr.
 

„It’s my first day here, I don’t know, either… but I’ll take you to Karen, she can help you for sure.“

Damit drehte er sich um, um sie zu dieser mysteriösen Karen zu bringen, und Eduard folgte ihm hinein in den verschachtelten Bau, in dem die größte Wachsfigurenausstellung Europas aufgebaut war. Eduard wartete, bis er allein mit dem pickelgesichtigen Praktikanten war, ehe er flugs und lautlos in sein Paket griff, den feuchten Lappen herausfischte, das Päckchen fallen ließ und den nichtsahnenden Jungen von hinten packte, sein Überraschungsmoment ausnutzend, und ihm den Lappen auf Mund und Nase drückte. Er spürte, wie sich der Körper des Jungen verspannte, als er versuchte, sich loszuwinden, fühlte, wie seine Atemfrequenz nach oben schnellte – ein fataler Fehler, denn so gelangte das Betäubungsmittel nur noch schneller in sein Hirn, wo es die Lichter fürs erste ausschaltete. Als er merkte, wie der junge Kerl schlaff und schwer gegen ihn sank, steckte er den chloroformgetränkten Lappen wieder ein und zerrte ihn in einen Nebengang hinter die Kulissen. Schnell zog er ihm sein Mitarbeitershirt aus, dafür die Mütze und Jacke des Speditionsdienstes an, und sperrte ihn in einen Requisitenschrank, warf ihm den Lappen auf den Bauch, von wo er noch ein Weilchen sein Schlummergas verbreiten würde.
 

Dann trat er heraus, räumte die Schachtel beiseite und ging, wie als ob nichts gewesen wäre, wieder hinaus zu seinem Auto, wo er die sorgsam in Folie verpackte Leiche Junipers aus dem Kofferraum und die flache Schachtel mit dem Bild, an der ein Trageriemen hing, heraus hob. Er hängte sich die Schachtel um und nahm das Mädchen auf die Arme, straffte die Schultern und ging so entschlossen, wie er zustandebrachte, wieder in das Gebäude.
 

Und Gins Plan ging, wie immer, auf.
 

Er mischte sich unters Volk der emsig hin und herräumenden Arbeiter und machte sich auf den Weg zu seinem Bestimmungsort – dem Areal, in dem Madame Toussaud’s die Ausstellung „Scream“ präsentierte – eine anschaulich inszenierte Geschichte der gefährlichsten Kriminellen der Stadt, sowie ihren plastisch nachempfundenen Verbrechen. Sorgfältig schaute er sich um, stieg dann umsichtig über die Gleise, auf denen ein Bummelzug fuhr, der die Zuschauer den letzten Weg nach draußen fahren würde, als er den Ort fand, der für Juniper wie gemacht schien – ein Opfer von vielen des gefürchtetsten Serienmörders der Stadt – Jack the Ripper.

Er legte den Plastiksack ab, zog ihn auf, drapierte das Mädchen möglichst stilecht in die Szene, stellte das Bild daneben ab, wo es etwas versteckt und nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar, auf seinen Finder wartete. Dann nahm er die Puppe, die nun überflüssig geworden war, packte sie in den Plastiksack und trug sie durch einen der Gänge, die um diese Tageszeit noch nicht versteckt in den Kulissen waren, sondern noch offenstanden, aus dem Set.

Die wenigen Mitarbeiter, die an ihm vorbeigingen, beachteten ihn gar nicht.

Offenbar tauschte man diese Puppen ohnehin öfter mal aus.
 

Ein Gong verkündete, dass es nun Zeit war für sie alle aus dem Ausstellungsraum zu verschwinden – und während er durch die Tür schlüpfte, fiel sie hinter ihm auch schon zu.
 

In ein paar Minuten würden die ersten Besucher hereinströmen.
 

In ein paar Minuten würde man die Leiche von Juniper Torres finden.
 

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Hallo Leute –

Bitte entschuldigt die lange Wartezeit. Momentan ist bei mir einfach höllisch viel los. Ich hoffe dennoch, das Kapitel hat euch gefallen!
 

Vielen Dank an die Kommentatoren des letzten Kapitels!
 

Beste Grüße,

Eure Leira

Kapitel 29 – Der Baron der Nacht

Kapitel 29 – Der Baron der Nacht
 


 

Es war spät geworden, als er endlich nach Hause gekommen war. Das Gespräch mit der jungen Reporterin hallte ihm immer noch in den Ohren nach, hämmerte ihm jedes einzelne Wort tiefer in seinen Schädel – und er fragte sich, was sie eigentlich wusste. Ob sie überhaupt wirklich etwas wusste, oder ob sie nur so tat als ob, mit ihm nur spielte, um ihn weich zu klopfen.

Sie war, das musst er wohl zugeben, eine Frau, die ihren Job verstand.

Sie wusste, wie sie ihre Quellen fand und anzapfte, ohne sie auszutrocknen, sie hatte es drauf, sich bei Leuten einzuschmeicheln und ihnen ihre Geschichten zu entlocken, und war dabei skrupellos genug, sie auch gegen sie zu verwenden.

Und sie verfügte ganz offensichtlich über eine ganz ordentliche Beobachtungsgabe.

Shinichi strich sich über sein Gesicht, schluckte hart.
 

Es würde ihn nicht verwundern, hätte sie auch einen Spion in Scotland Yard. Käme das allerdings raus, wäre die Kacke mächtig am Dampfen und die Karriere des Betreffenden ruiniert. Shinichi seufzte leise.
 

Dennoch… wenn sie diese Andeutungen nicht haltlos machte, wenn sie wirklich einen Wink bekommen hatte, einen Hinweis, wenn sie wusste…
 

Gott, nein. Alles, nur das nicht.

Das darf niemals jemand erfahren.
 

Er ließ sich aufs Sofa sinken, schob sich mit seinen Zehen die Schuhe von den Füßen, atmete aus. Allein das mit Ran war schon eine Katastrophe.

Aber wenn die Öffentlichkeit erfuhr, was in seiner Akte stand…
 

Aber wer kennt die denn schon…?

Montgomery, aber ausgeschlossen, dass der dieser Presseschnepfe etwas erzählt hat.

Jenna hätte Zugang, aber ich bezweifle, dass sie sie überhaupt gelesen hat, und ausgeplaudert hätte sie es gleich dreimal nicht.

McCoy hat Zugriff, weil er nicht nur Pathloge ist, sondern auch psychologischer Berater, und als solchem wird man ihm vielleicht meine Akte sogar automatisch vorgelegt haben – zumindest aber gesagt haben, dass er mich auf dem Plan haben soll.

Was er nie hatte, denke ich…

Denn wie er ja sagte, wenn ich neben Jenna hier noch so etwas wie einen Freund habe, dann wohl ihn.

Mein früherer Partner und der Commissioner.

Eine überschaubare Zahl, eigentlich.
 


 

Shinichi seufzte, starrte unwillig in das Spiegelbild, das ihm der dunkle Laptopbildschirm zeigte, der noch von der gestrigen Recherche auf dem Sofa stand. Es stimmte schon, er sah etwas… heruntergekommen aus, um es mit böser Zunge zu sagen. Sein Teint war eine deutliche Spur zu blass – er war nie braungebrannt gewesen, aber diese bleiche Gesichtsfarbe war nicht sein Standard. Er bemerkte sehr wohl, dass seine Wangenknochen und seine Kinnpartie ein wenig zu scharf geschnitten waren, und er konnte auch die dunklen Ringe unter den Augen nicht leugnen. Und tatsächlich gefiel ihm dieser Anblick nicht wirklich – und bereute zum ersten Mal, die letzten fünf Jahre nicht ein wenig pfleglicher mit seiner Gesundheit umgegangen zu sein, gerade danach…
 

Aber mal Butter bei die Fische – wundert’s wen?

Ich weiß, ich hab die letzten Jahre wohl ein wenig zu viel gearbeitet – gut, ein wenig sehr zu viel, vielleicht – aber so durch die Mangel gedreht wie das hier hat mich das alles nicht.

Ich mach‘ mir Sorgen, das ist es.

Und vielleicht ist es auch Angst…

Aber nur Dummköpfe haben keine Angst, und wie sollte ich sie nicht fürchten, nachdem, was ich erlebt habe. Diese Angst lässt mich die Dinge im rechten Licht sehen, und ich hoffe auch, sie hilft mir, meine Entscheidungen diesmal ein klein wenig überlegter zu treffen.
 

Er seufzte leise.
 

Vielleicht sollte ich aber trotzdem heute mal ein wenig früher versuchen, zu schlafen. Diese grauen Schatten schauen grässlich aus. Sonst muss ich meine Mutter noch bitten, mit Makeup nachzuhelfen… wobei, wenn wir grad dabei wären, sollte sie mir wohl gleich das ganze Gesicht verkleistern.
 

Ironisch grinste er sein Spiegelbild an.
 

Andererseits, ein wenig am Fall arbeiten sollte sich schon noch… das alles muss doch jetzt endlich mal einen Sinn ergeben. Und ich sollte mal darüber nachdenken, wo wir unser nächstes Opfer finden könnten.
 

Also nur ein kleines Nickerchen...
 

Er gähnte, dann seufzte er, langsam, ließ sich zur Seite sinken, bis er längs auf seiner Couch lag, fand diese Position mit einem Mal äußerst entspannend und angenehm.
 

Im nächsten Moment war er weggenickt.
 


 

Er war aufgewacht, ein weiteres Mal – und diesmal wunderte es ihn wirklich.

Shinichi fühlte sich erschöpft, wie immer, wenn der Rausch vorbei war – fühlte sich enttäuscht, wie immer, weil er wusste, dass es wieder nur die Droge gewesen war, die ihm diese Dinge vorspielte, die ihm Ran herbrachte...

Er zitterte unwillkürlich, seine rechte Hand zuckte, und kam doch nicht los von dem Ledergurt, der sie festhielt. Es juckte an der Stelle, wo sie die Nadel ansetzten – es war immer die gleiche Stelle, und seine Haut über seinen Handwurzelknochen zeigte bereits mit einer deutlichen Verfärbung erste Reaktionen auf die unangemessene Behandlung.

Er schluckte, versuchte es zumindest. Sein Mund war trocken, seine Lippen spröde – und er wollte gar nicht wissen, wie sein Spiegelbild momentan aussah.
 

Sein Herz raste immer noch – und er wusste nicht, ob es die Nachwirkungen seines Traums waren, ob es immer noch… der Gedanke an ihre bloße Nähe war, die das Adrenalin durch sein System pumpte, in ihm diese Aufregung erzeugte, ihn kaum zu Atem kommen ließ – oder ob es die Droge war.

Fakt war, dass er selbst kaum glauben konnte, wie real es sich diesmal angefühlt hatte. Ihr Name lag noch auf seiner Zunge… und er meinte fast, den Kuss immer noch auf seinen Lippen prickeln zu spüren.

Ganz leicht.
 

>Ran…<
 

Er schloss die Augen, versuchte, zur Ruhe zu kommen und konnte nicht.

Und in diesem Moment war ihm klar, dass es nicht der Traum war, der ihn immer noch im Ausnahmezustandsmodus laufen ließ.
 

Es war das Halluzinogen.

Diese Symptome waren echt.
 

Shinichi schnappte nach Luft, als sich ein seltsam stechender Schmerz in seiner Brust einstellte, ließ ihn schaudern, aus seiner Lethargie erwachen.

Auf einmal drang das grelle Licht der Lampe nicht mehr gedimmt an seine Augen – sondern schien ihm fast den Sehnerv wegzubrennen.

Er stöhnte auf, wollte die Augen schließen, als sich ein Schatten in seine Sichtachse schob.
 

„Ran…“
 

Das Wort hing in der Luft – ausgesprochen von der Stimme, die er hasste, seit er sie das erste Mal gehört hatte. Jetzt allerdings verursachte ihm diese Stimme keine Abscheu – sondern pure Panik.
 

>Nein… nein… sag nicht, ich hab… bitte…!<
 

„Ran heißt sie also…“
 

>Nein…!<

Shinichis Atem stockte, als er sich die Tragweite dieses Satzes gewahr wurde. Alles in ihm schien auf einmal anzuhalten – sein Atem, sein Herz, sein Denken.

Alles.
 

Sie wussten ihren Namen.
 

„Weißt du, wir fragten uns seit Tagen, wie das Mädchen heißt, das dich so zum Lächeln bringt, Kudô…“

Ein gehässiges Lachen drang an sein Ohr, laut und unangenehm, riss ihn zurück aus seiner Starre. Shinichi wandte den Kopf ab, kniff die Augen zusammen, als sich seine Wahrnehmung verschob, grelle Konturen um den schwarzen Mann zu tanzen schienen. Er zerrte an seinen Fesseln, wollte sich die Ohren zuhalten, als der Mann weiterredete.
 

„… und dir doch gleichzeitig solchen Schmerz zufügen kann!“

Seine Stimme war laut geworden am Ende des Satzes, hatte ihm das letzte Wort fast ins Ohr gebrüllt. In Shinichis Kopf schien etwas zu explodieren, ließ ihn aufschreien.

Er roch den kalten Rauch im Atem des Mannes, schauderte, bäumte sich auf, wollte weg hier, weg…
 

Doch er konnte nicht.

Und sie lachten ihn aus.
 

„Ran Morî, also. Den Nachnamen herauszufinden war leicht, sie ging mit dir in eine Klasse, nicht wahr? Eine Sandkastenliebe, wie rührend. Dann sollten wir die junge Dame doch mal herholen… wer weiß, ob sie dich nochmal zum Lächeln bringen kann…!“
 

Shinichi versuchte, sich über die Lippen zu lecken, sich zu räuspern, versuchte krampfhaft, die Angst in seinen Gedanken zu bändigen.
 

„Ich weiß nicht, wen…“, fing er schließlich an, seine Stimme zitternd und rau. Er wollte abstreiten, leugnen.

Lügen.
 

„Ach.“

Die Stimme kam näher.

„Wage es ja nicht, es zu dementieren, Kudô, ich rate dir, mach nicht den Fehler… mich für blöd verkaufen zu wollen.“

Gefahr schwang in ihr mit. Shinichi schloss die Augen, verzog das Gesicht. Der Geruch des kalten Rauchs dieser widerlichen Zigaretten in seinem Atem biss ihn in der Nase.

Er würde ihn nie vergessen.

Sofern er überhaupt noch die Chance bekam, irgendetwas zu vergessen, jemals wieder.
 

„Du bist sicherlich ein schlaues Bürschen, und als solches solltest du auch eines wissen…“

Shinichi öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, ließ es, als die Stimme erneut an sein Ohr drang.
 

„… nämlich, wann du verloren hast.“
 

„Nein…!“, stöhnte er heiser.

„Nein! Sie hat… sie ist…“

Er verstummte, als jemand sein Kinn packte, mit einem Griff, der dem eines Schraubstocks gleichkam – rauchiger Atem streifte erneut sein Gesicht, drang an sein Ohr, leise, wispernd und doch schmerzend wie tausend Nadeln, bohrend.

„Dann sag uns was wir wissen wollen – und es wird vorbei sein…“

Shinichi wollte sich aus dem Griff winden, schnappte nach Luft.

„Nein…“

„Dann holen wir sie her… und du weißt, was wir dann machen, Detektiv…“

Shinichi keuchte.

„Nein… lasst sie… in Ruhe…“

Er brachte die Worte kaum über die Lippen, seine Stimme hörte sich seltsam fremd an in seinen Ohren.
 

„Dann sag uns, wo Sherry ist. Und wer hier drin ein Maulwurf ist. Wir wissen, es gibt sie… irgendwoher musst schließlich auch du deine Informationen haben, abgesehen von Akai und diesem alten Silberrücken vom FBI, und dieser Blondine mit dem Brillen-Tick…“
 

Shinichi starrte in die Lampe, merkte, wie sich um ihn alles drehte.

„Nein…“

Er merkte, wie sein Kopf langsam wieder abschalten wollte. Es war zu viel heute gewesen. Zu viel.

„Nein… hört auf – hört auf… Lasst sie in Ruhe… lasst… bitte…“

Er schüttelte den Kopf, langsam und mühevoll.

Vor seinen Augen hob sich die Spritze. Sie lächelte, wie sie immer lächelte, als sie sah, mit welchem Blick er die Nadel mittlerweile ansah.

Selbstverachtend und verlangend gleichermaßen.

Er schnappte nach Luft, als es ihn überkam.

Die Gier danach.

Und in seinen Augen diese unausgesprochene, aber nicht minder drängende Bitte, ihn davor zu bewahren, was gleich kam. Diese Bilder abzustellen, es nicht soweit kommen zu lassen, dass er sich das wieder ansehen musste.

Weil er wusste, dass das das einzige Mittel war, das ihn retten konnte, vor dem, gleich folgte – was dem Rausch immer folgte.

„Du weißt, mit „Bitte“ kommst du hier nicht weiter, auch wenn ich es schätze, dass mein Gast endlich Manieren zeigt. Ich bezweifelte bereits, dass du welche hast.“

Dumpfes Gelächter schallte an sein Ohr.
 

„Willst du es dir nicht überlegen, ob du nicht doch reden magst? Sicher nicht? Du ahnst, der Entzug diesmal wird grauenhaft sein… die Dosis war hoch.“

Fast ernsthaft besorgt hörte sich die Stimme des Bosses an – die Genugtuung konnte er jedoch nicht ganz aus ihr verbannen.

„Sag uns, was wir wissen wollen. Und du bekommst es… du weißt, sie wird wieder da sein, sie wartet auf dich… und sie wird lächeln, für dich, deine Ran. Du magst es doch so, wenn sie lächelt…“

Gins dreckiges Lachen ertönte im Hintergrund, stach in seine Ohren. Shinichi verzog das Gesicht angeekelt, ertrug kaum, wie er über Ran sprach.

Wie er über seine Gefühle für sie sprach.
 

Und er fühlte zum ersten Mal etwas wie Angst, als er sich bewusst wurde, wie verletzbar er geworden war… wegen ihr.
 

„Nun, wenn du nicht willst, dass sie nie wieder lächelt…“
 

Der Boss hielt inne, als er sah, wie sein Kopf wegknickte, er mit einem leisen Aufstöhnen die Augen halb schloss, als die ersten Lichter in seinem Kopf ausgingen.

Er schloss sie nie ganz.

Schließlich schlief er nicht.
 

„…sagst du uns, was wir wissen wollen!“

Er griff nach seinem Kinn, starrte ihn wütend an – allerdings ahnte er, dass es bereits zu spät war. Und seine Vermutung wurde bestätigt.

„It’s too late. You took too long.“

Sharons sachliche Stimme drang nur noch gedämpft an sein Ohr.

„He’s almost gone. And you’ll be lucky enough, if he survives that overdose.“
 

Shinichis Augen starrten geradewegs in die Lampe, seine Pupillen weit, unfokussiert, unfähig, sich zu schließen, obgleich sie sie immer mehr blendete.
 

„Holt sie mir. Bringt sie mir her. Wir werden ja sehen, ob er dann redet… wenn sie da ist…“
 

Damit beugte er sich über Shinichi, seine Lippen so dicht an seinem Ohr, dass er das geschmackvolle Aftershave, vermischt mit dem kalten Rauch teurer Zigarren riechen konnte – es stach so sehr in seine Nase, dass es ihn kurz klar werden ließ.
 

„Wir werden ja sehen, ob du zusehen willst, ob du erleben willst, wie man ihr das antut, was du jetzt gleich sehen wirst, Kudô… es sei denn, du stirbst jetzt.“
 

Shinichi stöhnte auf, wollte schreien, sich freiwinden – und war doch zu keiner Regung fähig. Er bemerkte noch, wie Brandy sich aus seinem Blickfeld entfernte, zusammen mit der Injektion.
 

Das letzte was er sah, war die Gestalt des Bosses, ein Katana in der Hand haltend, in der Tür – er stand im Gegenlicht wie der personifizierte Tod, ein schwarzer Schatten mit einer todbringenden Waffe.
 

Und er fand sich, wie immer, in einer Welt jenseits des Untersuchungsraumes wieder.
 

Die Luft war schwül, ein in der Ferne bereits grollendes Gewitter lag in der Luft, gab ihr fast ein Eigengewicht, das ihn niederpresste, auf seine Schultern drückte, ihm das Atmen schwer machte. Shinichi war gelaufen, raus aus dem Gebäude, ohne sich umzublicken, ohne zu wissen, wohin, einfach nur weg. Nun stand er um Atem ringend hier, und wunderte sich, dass sie doch so einfach hatten entkommen können– irgendetwas musste faul sein an der Sache, aber er wusste nicht, was.

Egal, dachte er, Hauptsache schnell weg hier.

Weg hier, und die Polizei einschalten. Und das FBI.
 

Unruhig schaute er sich um, sah niemanden, wandte sich dann ihr zu, als er fühlte, wie ihre schlanken, kühlen Finger seine Hand kurz drückten, sacht. Ran sah ihn an, ebenfalls vom Laufen etwas außer Atem, in ihren Augen spiegelte sich der Mond.
 

Er schaute sie an, unendlich erleichtert, mit ihr hier zu sein, sie rausgebracht zu haben aus diesem Loch, ohne dass ihr etwas passiert war. Nun musste er sie nur noch in Sicherheit bringen…
 

Ran musterte ihn, ein Ausdruck von Sorge in ihrem Gesicht, fühlte sich von ihr fast wie durchleuchtet, wusste, sie suchte nach Anzeichen für das, was sie ihm angetan hatten. Er schüttelte den Kopf, schluckte hart, konnte sich ihrem Blick kaum entziehen. Dann riss ein weiterer Donnerschlag aus seiner Paralyse, ließ ihn sich hektisch umblicken.
 

„Wir sollten weitergehen. Überhaupt, du solltest nicht hier sein, woher wusstest du überhaupt, dass ich…“

Sie sah ihn nur an, antwortete nicht, in ihren Augen, auf ihrem ganzen Gesicht ein Ausdruck unsäglicher Erleichterung.
 

„Ich hatte Angst, sie sagten, wenn ich nicht mitkomme, dann…“
 

Sie schluckte schwer, griff sich an den Hals. Er sah, wie ihre Lippen bebten, wie sehr sie sich zusammennahm, um nicht einfach loszuheulen. Sie schmiegte sich an ihn, legte ihre Arme um seinen Rücken.

Shinichi wand sich frei, vorsichtig, schüttelte den Kopf.

„Aber du…, Ran, du bist doch wahnsinnig, wenn ich daran denke, was die dir hätten antun können. Ich… du sollest mich doch hassen, wenn du schon weißt, wer ich war… dass ich dich angelogen habe, so lange. Und sag mir nicht, dass du darunter nicht gelitten hast. Warum bringst du dich selbst in Gefahr, wegen mir? Ich…“

Sie schüttelte den Kopf.

„Das ist jetzt nicht wichtig.“

„Aber…“

„Shinichi.“, fiel sie ihm erneut ins Wort, lächelte sanft, als sie das schlechte Gewissen, die Reue, auf seinem Gesicht sah.

Shinichi seufzte, merkte, wie ihm unbehaglich wurde.

„Du weißt, dass ich Conan war, ich…“

„Halt die Klappe, Shinichi.“, unterbrach ihn Ran einfach, hob die Hand, berührte seine Wangen vorsichtig mit ihren Fingerspitzen. Shinichi schluckte, spürte sein Herz bis zum Hals schlagen.

Zögernd legte er seine Hände um seine Taille, spürte, wie sie ihm entgegenkam, ihren Körper gegen seinen lehnte, zog sie weiter an sich. Er seufzte leise, schaute sie an, sah ihr in die Augen und konnte seinen Blick unmöglich abwenden. Sie lächelte immer noch.

„Du solltest mich wirklich hassen. Ich bin kein guter Umgang für dich, dein Vater hatte wohl doch Recht…“, begann er.

„Idiot.“, murmelte sie leise.

„Ich weiß doch, warum du das getan hast… warum du…“

Sie presste ihre Lippen zusammen, auf ihre Züge trat ein Ausdruck von Kummer und Sorge, als sie daran dachte, was er hatte durchmachen müssen.

„Ich liebe dich.“, murmelte er leise. Seine Stimme klang heiser und rau, und er schämte sich fast, ihr dieses Geständnis nicht mit festeren Worten machen zu können.

„Das weiß ich.“

Sie strich ihm über die Wange, lächelte ihn strahlend an.

„Du sagtest es bereits, in London. Damals war ich etwas…“

„Überrascht?“

„Überfahren, wohl eher.“

Sie lachte leise.

„Aber ich bin dir noch die Antwort schuldig…“

Er atmete leise aus, sagte nichts.

„Ich… ich liebe dich auch, Shinichi Kudô. Ich liebe dich. Und ich nehm dich jetzt mit nach Hause… du kannst vergessen, dass…“, begann sie mit leiser Stimme.
 

Doch diesen Satz sollte sie nicht beenden.

Etwas überrascht hielt sie unwillkürlich den Atem an, als sie seine Lippen auf ihren spürte, merkte, wie ihr Herz auf einmal bis zum Hals schlug. Wohlige Wärme breitete sich von ihren Fingerspitzen in ihren ganzen Körper aus, als sie den Kuss erwiderte, die Nähe zu ihm in vollen Zügen genoss.
 

Allerdings währte dieser Moment der Zweisamkeit nicht lange.

Gelächter hallte von den Mauern der Häuser wieder.

Ein eisiges, grausames Lachen.
 

Und es verfehlte seine Wirkung nicht.

Shinichi fuhr herum, sah ihn in der Gasse stehen und fühlte sich, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser über ihm ausgeschüttet, ein eiskalter Schock, der ihn schlagartig in die Realität zurückkatapultierte.

Erstarrt, zu keiner Bewegung fähig, blickte er ins Gegenlicht der Scheinwerfer eines schwarzen Porsches, wie ein Reh in der Nacht, das starr vor Schreck und Überraschung auf der Straße stehenbleibt und dem heranrasenden Wagen entgegenblickt, an seine Rettung vor dem unvermeidbaren Crash nicht eine Sekunde dachte.
 

Shinichi starrte auf die schwarze Silhouette, die vom Scheinwerferlicht umstrahlt wurde wie eine himmlische Erscheinung – nur kam diese hier wohl eher aus der Hölle.

Hinter ihr türmten sich die dunklen Gewitterwolken voller Unheil über Tokio auf. Strähnen seines hellen Haars leuchteten auf wie Spinnweben, als der Wind sie streifte, mit ihnen spielte.
 

Gin.
 

>Das hätte kein Hollywood-Regisseur besser inszenieren können…<
 

Ran krallte ihre Finger in seine Hand; sie waren von einem Moment auf den anderen kalt und klamm geworden. Er zog sie hinter sich, versuchte, sie mit seinem Körper zu beschützen, überlegte fieberhaft.
 

„Du musst versuchen wegzurennen, Ran. Ich werde versuchen, ihn zumindest ein wenig aufzuhalten.“

Sein gewisperter Vorschlag war kaum zu hören. Ran fixierte ihn mit aufgerissenen blauen Augen, unfähig zu sprechen, schüttelte aber entschlossen nur den Kopf.

„Bitte!“

Er sah sie flehend an.

„Nein! Ich lass dich nicht…“
 

Jegliche Fluchtpläne wurden im nächsten Moment allerdings ohnehin vereitelt. Gin trat näher, zog mit einer fließenden Bewegung seine Waffe. Ein silberner Lichtreflex hüpfte über die polierte Klinge des Katana, das er locker in seiner Hand hielt.
 

>Die Waffe vom Boss? Warum…<
 

Shinichi schluckte, erinnerte sich daran, das Samuraischwert bei seiner ersten und einzigen Begegnung nach seiner Ankunft im Büro des Bosses gesehen zu haben.
 

>Warum hat Gin es?<
 

„Du dachtest wohl, du kommst davon, Kudô?“
 

Shinichi sparte sich die Antwort; er überlegte, wie groß ihre Chancen waren, wenn sie einfach loslaufen würden; allerdings war er noch etwas angeschlagen, und Ran… Ran, das ahnte er, würde ihn nicht zurücklassen.
 

Nicht noch einmal alleine weggehen.
 

Shinichi kaute auf seiner Unterlippe, merkte, wie seine Kiefer vor Anspannung schmerzten, als Gin keine zwei Meter vor ihnen stehenblieb, versuchte, herauszufinden, wie der Mann seinen Angriff führen würde. Dem ersten Hieb wich er aus und stutzte; er hätte nicht gedacht, dass er auch nur den Hauch einer Chance hatte. Wie recht er damit gehabt hatte, bewies ihm der Tritt in die Magengegend, der ihn im nächsten Moment auf den Asphalt schickte; er prallte hart auf, schlug sich den Kopf am Boden an, sah kurz schwarze Kreise vor seinen Augen tanzen. Gin unterdessen wandte sich Ran zu, versuchte, sie zu fassen zu kriegen. Sie wich ihm aus, so gut sie konnte; zumindest war es das, was er mitbekam, solange sein Schädel noch benebelt war. Er wischte sich über die Augen, stemmte sich hoch, nahm all seinen Willen zusammen, sein Denken wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Gerade, als er sich dann soweit aufgerappelt hatte, passierte es.
 

Gin schnappte nach ihrem Arm, bekam sie zu fassen und hielt sie fest wie die Kiefer einer Bärenfalle, als sie sich wand, nach ihm trat, um sich zu befreien. Shinichi, der bis eben noch überlegt hatte, wie er ihn angreifen sollte, um Ran zu helfen, hielt auf einmal völlig still. Seine Augen starrten auf das rasiermesserscharfe Schwert, das Gin in der Hand hielt, und auf Ran, die keine Chance hatte, sich loszureißen, so sehr sie sich auch wehrte.
 

„Bitte… lass sie doch gehen…“
 

Seine Worte verhallten leise in der Dunkelheit. Gin sah ihn an, ein feines, triumphierendes Lächeln kroch auf seine Lippen, kräuselte seine Mundwinkel, ehe er lauthals zu lachen anfing.
 

Rans Gesicht verzerrte sich vor Qual. Shinichi starrte sie an, schnappte nach Luft.
 

>Ran…<

Er hob sein Schwert, setzte es ihr zart an die Kehle; die scharfe Klinge ritzte einen feinen Strich in ihre Haut. Seine Augen wanderten zu Shinichi, der den kleinen Blutstropfen, der sich aus der feinen Wunde drückte, beobachtete, wie er ihren Hals entlang hinabperlte, in ihrem weißen Kragen versickerte und zu einer roten Blume erblühte.
 

Gin lächelte immer noch. Endlich hatte er ihn da, wo er ihn schon so lange hatte haben wollen.
 

In der Falle.
 

„Na, wie fühlst du dich jetzt, Kudô? Hast du Angst?“

Shinichi antwortete nichts darauf. Er war blass geworden, bleicher als er es jemals gewesen war, und eine namenlose Kälte hatte von ihm Besitz ergriffen. Sein Herz raste, schlug unglaublich schmerzhaft gegen seinen Brustkorb, als sie ihn langsam übermannte, seine Gedanken vollends zum Stillstand brachten – diese unsägliche Angst um Rans Leben.

Er wusste, dass Gin sie nicht gehen lassen würde.

Unwillig blinzelte er, als seine Augen zu brennen anfingen, als er Ran ins Gesicht sah; Panik und Angst füllten ihre Augen.
 

„Du hast uns lange genug zum Narren gehalten, es musste dir doch klar sein, dass du am Ende dafür bezahlst…“

Er lachte leise.

Der Oberschüler biss sich auf die Lippen, schmeckte Blut.

Gins Lächeln wurde noch einen Tick kälter.

Alles was Shinichi sah, war ein silberner Blitz in der Dunkelheit, alles was er spürte, war namenlose Kälte, die ihn erfasste und mit sich riss, ihm jede Luft zum Atmen raubte, und alles was er hörte, war ihr Schrei.
 

„Ran!“
 

Er hatte sie nie so schreien gehört.

So markerschütternd, gellend, schmerzerfüllt schreien gehört.
 

„Shinichi…!“
 

>Ran…<
 


 


 

Er erwachte mit einem Schlag, war hochgefahren und gerade im Begriff von der Couch zu rutschen, als er sich abfing; sein Atem raste.

Trocken versuchte er zu schlucken, als er sich über die Augen wischte, sie mit den Handballen massierte, bis schwarze Kreise in seinem Sehfeld tanzten.
 

Sein Mobiltelefon brummte in seiner Sakkotasche, hatte ihn ganz offensichtlich aus dem Schlaf gerissen – wenn man von Schlaf überhaupt reden konnte.

Erneut versuchte Shinichi zu schlucken; er konnte kaum eingenickt sein, und ein Blick auf die Uhranzeige seines Smartphones, ehe er den Anruf entgegen nahm, bestätigte ihm dies.
 

Kaum eine halbe Stunde. Aber das reichte auch…
 

Dann hob er ab – den Anrufer hatte er vom Display bereits ablesen können.
 

„Shuichi.“, seufzte er ins Telefon.

„Was gibt’s?“

„Müde?“

Akais Stimme klang wie immer höchst sachlich durch den Äther.

Shinichi blinzelte, grinste dann säuerlich.

„Könnte daran liegen, dass du mich geweckt hast – ich bin gerade auf dem Sofa eingenickt, nicht, dass…“

„Es mich etwas anginge.“

Der Agent lachte.

„Ich bin gerade gelandet. Jodie kommt in etwa zwei Stunden an.“

„Ah.“

Shinichi setzte sich ein wenig weiter auf, fuhr sich durch die Haare.

„Also soll ich dich und sie jetzt abholen, in euer Hotel fahren und auf den neuesten Stand bringen.“

„Ich bitte darum.“

Shinichi seufzte, ließ den Kopf in den Nacken sinken, bewegte seine Schultern in kreisenden Bewegungen. Die Muskulatur schmerzte ein wenig, fühlte sich verspannt an.

„Also schön. Aber dir muss klar sein, dass das jetzt ein wenig dauert. Ich fahr gut ne Stunde raus nach Heathrow. Ich nehme an, von dort rufst du an?“

„Exakt.“
 

Shinichi stand auf, langsam.

„Dann such dir mal besser ein Café, wo du warten kannst. Ich ruf an, wenn ich am Flughafen bin. Das Hotel hab ich dir schon gebucht, du wohnst, wie du dir denken kannst, im selben wie Shiho und die anderen. Im Zimmer nebenan, ließ sich… einrichten, netterweise.“

Er konnte Akais grinsen fast hören.

„Scotland Yard macht’s möglich?“
 

Shinichi lächelte dünn, sparte sich die Antwort.

„Bis später.“
 

Er tippte auf das Display, würgte damit den FBI-Agenten ab, steckte das Handy nachdenklich zurück in seine Sakkotasche. Zu behaupten, er würde sich darüber freuen, jetzt nochmal Stunden im Auto zu verbringen, wäre gelogen – dennoch erleichterte ihn die Ankunft der Agents, das musste er zugeben. Ein weiteres Paar Augen, das ihm die Arbeit ein wenig abnehmen konnte.
 

Dann hielt er inne.
 

Er spürte sein Herz immer noch bis zum Hals schlagen.

Das war er gewesen – der Alptraum, der zur Wirklichkeit geworden war. Er fragte sich, woher das alles kam, nicht zum ersten Mal; vor ein paar Stunden erst der Flashback im Loft, nun das Déjà-vu dieses Alptraums, die Träume all die Nächte vorher, es war fast, als ob…
 

Nein, ausgeschlossen.

Woher denn…
 

Er bog kurz bevor er die Wohnung verließ ins Badezimmer ab, klatschte sich eine Ladung eiskalten Wassers ins Gesicht, um wach zu werden.
 

Die Szene mit Gin und Rans Foto kam doch ganz klar von dem Bild und dem Loft… ich meine, so nah war ich Gin schon lange nicht mehr, und dann muss ich fürchten, dass Ran etwas zustößt, da… kann das Kopfkino wohl angehen. Und daraus resultiert wohl auch der Traum gerade eben.
 

Es ist einfach… die Vergangenheit holt mich ein. Das ist es. Die Erinnerungen kommen hoch, eine nach der anderen, manche mit, andere ohne Vorwarnung, aber es sollte mich nicht wundern.
 

Und es sind nur Träume. Das alles ist nicht echt und noch dazu längst vergangen.
 

Er blickte in sein Spiegelbild.
 

Vorbei.
 

Nun denn.
 

Shinichi griff nach seinem Schlüsselbund, verließ seine Wohnung. In seinem Kopf spukte immer noch sein Lachen – und in dieses Lachen mischte sich James‘ Stimme von heute Nachmittag.
 

Was ist, wenn er noch da ist…
 

Langsam stieg er die Treppen hinab.
 

Kann das möglich sein? Ich hab ihn doch gesehen. Mitten in den Flammen.
 

Aber auch da trug er seine Maske, das weiß ich… ich wollte sie ihm doch vom Gesicht reißen, ich wollte wissen, wer der Mann war, der mir das angetan hat, der Tokio das angetan hat…

Der es geschafft hat, eine solche Organisation aufzubauen…

Ich wollte es wissen.
 

Aber dann explodierte alles, das Feuer kam zu schnell. Und ich bekam Angst um Ran.
 

Er drückte sich gegen die Haustür, stolperte hinaus in die Nachtluft, atmete tief ein.

Die Feuersbrunst, die Hitze der Explosion würde er nie vergessen. Es hatte sich angefühlt, als würde die Luft brennen, als reiche sie allein aus, um ihn anzusengen, ihn in Flammen aufgehen zu lassen.
 

Die Nachtluft strich kühl über sein Gesicht, wusch den Gedanken fort.
 

Wer immer das war, ist verbrannt.

Ganz sicher.
 

Aber ob er es war…?
 

Langsam trat er auf den Gehsteig, setzte sich in seinen Wagen, fuhr los, bemühte sich, all diese Gedanken zu vertreiben, als er sein Auto auf die Straße lenkte. Der Verkehr hatte sich schon etwas beruhigt, man sprach schon von Off-peak – die Rushhour war einigermaßen vorbei. Ruhig lenkte er sein Fahrzeug durch die Stadt, konzentrierte sich auf den Verkehr und fing an, wider Erwarten, es zu genießen, seinen Kopf dadurch zu leeren. Diese Träume machten ihn fertig, langsam, fast noch mehr, als es sein Wachzustand machte, jeden Tag.
 

Ich hätte zu gern einen echten Beweis…

Dass sie hier sind.

Dass sie dahinterstecken.
 

Aber noch…

Sie lassen einfach nichts übrig. Sie machen keine Fehler.

Und Brady wird nichts sagen, selbst wenn wir ihn finden, weil er Angst hat um Meredith, und…

… ich kann das verstehen.
 

Er schluckte, dachte an Ran, die wahrscheinlich im Bett lag und schlief.

Oder nicht schlafen konnte, einmal mehr, wegen ihm.
 

Shinichi wusste, ihre Argumente waren nicht von der Hand zu weisen, und er wusste auch, er tat ihr verdammt unrecht. Allerdings kam er gegen die Angst diesmal einfach nicht an.

Ihm war klar, dass ein Leben mit ihm wohl immer ein wenig gefährlich sein würde für sie. Als Polizist machte man sich immer Feinde, und damit musste man klarkommen. Allerdings – fast jeder Polizist hatte Familie und Freunde, und fast immer ging es gut.

In der Regel kam keiner zu schaden.
 

Allerdings…
 

Bei dir ist das schon passiert.

Jemand kam zu schaden.

Jemand hätte sterben sollen.
 

Du bist ein gebranntes Kind, Kudô.

Deshalb gehst du kein Risiko mehr ein, weil du gemerkt hast, wie schlimm das ist, wie weh das tut, was das aus dir macht.

Du bist ein Feigling, Kudô. Du tust das nicht nur wegen ihr, sondern auch wegen dir.

Vor allem wegen dir…

Weil du ihn nie wieder spüren willst, diesen Schmerz.

Weil du weißt, dass du diese Schuld nicht ertragen kannst.
 

Ist das nun einfach nur menschlich, oder schon schwach?
 

Der Flughafen war immer noch voll.

Wahrscheinlich, dachte Shinichi bei sich, gab es auch gar keinen Zeitpunkt am Tag, an dem es in Heathrow nicht zuging wie im sprichwörtlichen Bienenstock. Flugzeuge landeten und flogen ab, wurden be- oder entladen. Passagiere kamen an oder verließen die großen Hallen, strömten in den Gängen zwischen den Terminals hin und her, kauften ein in Duty-Free Shops, ließen sich durch all die Kontrollen schleusen, oder saßen irgendwo in einem der vielen, überfüllten Cafés und tranken eines der zuckersüßen, mit hippen Namen betitelten Getränke, vorzugsweise einen Frappu-, Cappu- oder Schokoccino und plauderten, passten dabei mehr oder weniger gut auf ihr Gepäck und ihre Kinder auf.
 

Oder man saß still für sich in einer Ecke und schockierte die Bedienung damit, einfach einen schwarzen Kaffee zu bestellen, so wie er.

Shinichi musste nicht lange suchen, um ihn in der Menge zu finden, nachdem er ihm den Namen des Cafés genannt hatte – und er ließ es sich nicht nehmen, mit dem zweiten schwarzen Kaffee die Bedienung restlos vom Hocker zu hauen.
 

Nun saßen sie sich also gegenüber, zwei Gestalten im Anzug über ihren Kaffeebechern hängend und schwiegen sich fürs Erste an.
 

Und natürlich war es nicht Akai, der anfing zu reden. Shinichi warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.

„Wie war dein Flug?“, begann er schließlich.

Akai schaute auf, fing dann an zu lachen, kurz.

„Was – wir haben uns fünf Jahre nicht gesehen und du fängst an, Smalltalk zu machen?“

Shinichi lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste kurz.

„Scheint so.“

Er machte eine kurze Pause.

„Ich wollte wohl mit der Tür nicht ins Haus fallen. Und ich bin wohl tatsächlich etwas müde. Wie du dir vorstellen kannst…“

„Ist in deinem Leben momentan die Hölle los. Oh ja. Ich kann mir das gut vorstellen. Das hier war im Übrigen eine gute Hilfe dabei, meiner Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen.“

Akai griff neben sich, ließ dann eine zerfledderte Zeitung auf den Tisch zwischen ihnen fallen. Auf der Titelseite prangte ein Archivbild seiner selbst, darunter der Titel.
 

THE ARTIST’S SECOND STRIKE – AND NO NEWS FROM SHERLOCK HOLMES
 

With a whole day delay we are able to present you with the latest developments concerning the case that is shaking the whole city of London – the Artist has presented us with his new victim, the day before yesterday.

Erin Shaughnessy was a promising young girl, a natural beauty – though we were not admitted to have a look for ourselves at the crime scene, the pictures provided by the Scotland Yard press departure still show her stunning features, as does the picture, that has been found at her side in the Champaign gondola of the London Eye.

We know that she was the fiancée of a handsome young man named Cedric Bakersfield, currently under psychological treatment as he seemed to have tried to commit suicide when learning of the death of his beloved one. She was stabbed, that is all that we know.
 

New Scotland Yard hardly is giving any news to us – and no news at all can be gained from the leading investigator, SI Shinichi Kudô, better known to us all as Sherlock Holmes. Though our reporter met him at the crime scene, he did neither give nor confirm any information concerning the possible culprit.
 

We are not sure, of course, but the goings-on in New Scotland Yard seem to be dubious; they never showed themselves very open towards the media, but they have never been so tight-lipped before. One might guess, they have something to hide themselves; and if we have a closer look at our dearest Sherlock, we might have found the reason for this lack of information provided to the press.

He seems not only to be bothered with his own private life more that should be acceptable concerning his position as leading inspector (we have reported on this), but perhaps there is still more about this young man that we know. We have learned some days ago that he is into major crime investigation since the tender age of fifteen – now further digging has brought up the most interesting topic. He has, indeed, at the age of nineteen taken on the challenge of defeating Japans most frightening and biggest crime organization – the so-called Black Organization. He therefore has let himself been caught – one does not need much fantasy to imagine what could have happened to a young man in the hands of his arch-enemy within ten days he spent there as a hostage. Nobody knows what they have done to him there – he never told anyone who would say a word to the press – but…”
 

Shinichi stöhnte auf, schob die Zeitung von sich und ersparte es sich, sich weitere Spekulationen über seinen desolaten Geisteszustand nach zehn Tagen Geiselhaft in der Organisation zu Gemüte zu führen.
 

„Da scheint eine Reporterin ja einen mächtigen Narren an dir gefressen zu haben…“, grinste Akai.

„Die ist nur beleidigt.“

Shinichi seufzte, massierte sich die Schläfen.

„Sie käut nur wieder, was ganz Japan schon seit Jahren weiß. Aber für Großbritannien ist das alles neu und aufregend und sie kennen mich nicht – ich bin Ausländer, das scheint ihnen jetzt erst aufzufallen…“, er grinste spöttisch, „… und da der Fall so schleppend läuft und wir jetzt schon zwei Morde haben, beziehungsweise drei, das weiß die Öffentlichkeit nur noch nicht… brauchen sie jetzt einen Sündenbock, beziehungsweise die Zeitung eine Story. Und, was soll ich sagen – ich hab schon immer Stoff für gute Stories abgeben.“
 

Er ließ sein Gesicht in seine Hände sinken, seufzte leise.
 

„Und was denkst du?“

Akai lehnte sich zurück, sah ihn nachdenklich an.

„Ich weiß nicht. Ich habe eine Ahnung, natürlich, sonst hätte ich dich nicht angerufen.“

Shinichi zog den Umschlag aus seiner Sakkoinnentasche, schob ihn über den kleinen Kaffeetisch, ehe er seine Tasse an die Lippen setzte um einen Schluck zu trinken. Akai öffnete ihn; sein Blick blieb ausdruckslos wie eh und je, einzig ein schmales Lächeln zog einen seiner Mundwinkel nach oben. Shinichi sah ihn an, seufzte.

„Das ist eigentlich ganz typisch für ihn.“, meinte der Agent schließlich, reichte Shinichi das Bild und den Umschlag, nachdem er es ausreichend betrachtet hatte.
 

„Das schon, ja. Aber ein Haar am Kleid der ersten Leiche, das zu Gin passt? Ein Kleid, auf das Gin gegossen wurde, sodass es danach riecht? Das ist eigentlich schon wieder eher die Art von Vorschlaghammer, die…“

„… eher unüblich ist für sie. Besonders der Gin, allerdings.“

Akai nickte nachdenklich, das schmale Grinsen immer noch auf den Lippen.

„Also ein Trittbrettfahrer?“

Shinichi lachte hohl.

„Ja, aber wer? Die Geschichte über die Organisation ist nachzulesen, aber weiß jemand, wie Gin aussieht? Außer uns, meine ich?“

Der Agent wiegte seinen Kopf nachdenklich.

„Eher unwahrscheinlich. Also ein niedriges, eher in groben Rastern denkendes Mitglied, das jetzt Rache üben will oder als Vorhut geschickt wurde… oder aber Gin benutzt bewusst eine ein wenig deutlichere Sprache, um dich…“

„Zu verunsichern? Zu verhöhnen? Zu…“

„Von allem ein wenig.“

Akai seufzte.

„Oder aber das ist ein irrer Zufall, und das alles das Werk eines Neiders, Stalkers, was auch immer – das Foto von Ran könnte darin begründet sein, dass man jetzt deine Vergangenheit ausgräbt und er oder sie deine Schwachstelle sucht und sie hier gefunden zu haben glaubt. Schwarz ist in westlichen Kulturkreisen die Farbe des Todes. Gin ist in London kein unübliches Getränk, und der Mann oder die Frau könnte sich beim Verüben der Tat Mut angetrunken haben und den Rest verschüttet; Blond ist…“

„… keine unübliche Haarfarbe, ich weiß, ich weiß, ich weiß…!“

Shinichi winkte ungeduldig ab.

„Aber solang es möglich ist, und dass es möglich ist, weiß ich von James, muss ich sie mit auf dem Plan haben…“

„Solltest du auch.“

Akai nickte langsam.
 

Dann hob er den Kopf, als er in der Menge ein bekanntes Gesicht erblickte.

Shinichi folgte seinem Blick, dann hob er die Hand, um ihr zu signalisieren, wo sie saßen – und Jodie Starlings Gesicht erhellte sich, als sie ihn sitzen sah.

Sie zog ihren Koffer eilig durch die Menge der Reisenden, nicht darauf achtend, wie vielen Leuten sie ihn über die Zehen schleifte, und zog Shinichi, der, um sie zu begrüßen aufgestanden war, kurzerhand an sich, drückte ihn fest.
 

„Oh, cool guy!“
 

Sie schob ihn etwas von sich, bemerkte den verlegenen Ausdruck ob so viel unverhofften Körperkontakts und lachte laut.

„Oh, won’t you, silly boy! It’s so good to see you!”

Sie seufzte laut, musterte ihn, kam nicht umhin, etwas wie Sorge zu verspüren, als sie in sein müdes Gesicht blickte.

„It really is.“

Er lächelte kurz, nahm ihr den Koffer ab, stellte ihn beiseite und zog ihr einen Stuhl zurecht.
 

„Da haben Sie Recht, Jodie, es… tut wirklich gut, Sie zu sehen.“

Er strich sich über die Stirn, nahm nun selber wieder Platz.

„Das hättest du auch früher haben können, dummer Junge. Du weißt, dass wir jederzeit…“

„Und Sie wissen auch, warum ich mich nicht gemeldet habe. Ich wollte nicht mehr daran erinnert werden. Nichts mehr damit zu tun haben. Ich weiß nicht, ob Sie wussten, dass ich…“

Er brach ab. Jodie wechselte einen kurzen Blick mit Akai.

„Er wusste nicht, dass Ran die Attacke überlebt hatte. Und jetzt schau mich nicht so an, Jodie, du weißt, ich hätte es ihm gesagt, hätte ich gewusst, dass er das nicht mitbekommen hat.“

Akai warf ihr einen nüchternen Blick zu.

„Mittlerweile sind die Fakten wieder gerade gerückt und Ran ist auch hier, und das ist wohl mit ein Grund, warum ein gewisser Jemand noch weniger schläft als wohl sonst schon.“

Jodie starrte ihn an, seufzte bedrückt; sie sparte sich, nachzufragen, warum er die Wahrheit so lange nicht gekannt hatte. Sie konnte es sich denken – sie hatte einen ähnlichen Fall schon einmal erlebt, damals, als…

Kurz, ganz kurz, huschte ihr Blick zu Shuichi.

Auch er war verschwunden, hinterher, hatte mit keinem mehr darüber geredet und als er wiedergekommen war, war er ein anderer gewesen, in vielerlei Hinsicht.
 

Shinichi jedoch hatte es auf die Spitze getrieben.
 

„She won’t be hurt again, I promise.“

Shinichi lächelte sie an, matt.

„Of course, she won’t.“
 

Er drückte die Schultern nach hinten, streckte kurz seinen Nacken, atmete tief durch.
 

„Jodie, darf ich Sie bitten, sich alles Weitere von Shuichi erklären zu lassen? Wir haben noch eine Stunde Rückfahrt vor uns, und wie Sie sich wohl denken können… wird der Tag morgen die Hölle. Wir haben mittlerweile das ehemalige Hauptquartier unseres Mörders, mutmaßlich Gin, gefunden, und damit den Tatort… und ich fürchte, morgen werden wir die dazu passende Leiche bekommen, und das alles… wird sehr unangenehm werden.“
 

Shinichi stand auf, langsam, sich der fragenden Blicke Jodies und Akais bewusst.

„Mein Boss glaubt, ein gewisser Eduard Brady wäre der Mörder. Nun. Ich hab besagten Eduard Brady gestern verhört und nicht in Untersuchungshaft genommen, ich denke, den Rest können Sie sich jetzt denken – die Mühlen mahlen hier diesbezüglich nicht anders als beim FBI.“
 

Er schob den Stuhl unter den Tisch, griff nach Jodies Koffer, versicherte sich, dass die beiden ihm folgten und verließ den Flughafen, um die Agents in ihrem Hotel abzuliefern.
 

Es war nach Mitternacht, als sie im Hotel ankamen, und er ahnte, sie alle schliefen bereits; dennoch wollte er Heiji, Kogorô und die Mädels noch darüber informieren, dass die Verstärkung nun eingetroffen war.

Jodie und Shuichi standen hinter ihm, als er der Tür zu Rans Hotelzimmer klopfte; seine Finger waren schweißnass, und er fragte sich gerade, warum es ihn so aufregte, so nervös machte, hier zu sein, als die Tür aufging.

Ihm entgegen blickte eine ziemlich genervt blickende Sonoko im rosa Rüschenpyjama, die kurz davor schien, ihm an die Gurgel zu springen; und auch wenn er nahelag, sie in diesem pinken Kleinemädchentraum gesehen zu haben war wohl nicht Grund eins auf ihrer Liste, ihm den Hals um zudrehen.

„Du hast Nerven, dass du dich traust hier aufzukreuzen, Kudô, nachdem was du heute abgezogen hast?! Und um diese Uhrzeit! Ich hoffe, du hast eine gute Entschuldigung parat, sonst…“

„Sonoko.“

Ran erschien hinter ihr, schaute ihn wach an. Shinichi schluckte, merkte, wie trocken seine Kehle auf einmal geworden war. Ran trug ein kurzärmeliges, rotes Nachthemd, schaute ihn mit zerzausten Haaren aus etwas verquollenen Augen an. Sie sah so ungeheuer verletzlich aus in diesem Moment.

Dass sie verletzt worden war, sah man ihr immer noch an.

„Hör auf, ich denke…“, begann sie dennoch mit ruhiger, verständnisvoller Stimme; und hielt inne, als sie die beiden FBI Agenten hinter Shinichi auftauchen sah, griff sich unwillkürlich die Decke vom Bett, hielt sie vor ihren Körper und merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Shinichi schluckte, merkte, wie in ihm ein leises Schuldgefühl seine winzigen Nadeln in den Bereich piekte, an dem sein Gewissen saß. Er hätte sich denken können, dass sie alle schon schliefen, und er wusste, dass es Ran nicht angenehm war, von anderen so gesehen zu werden.

„Ich… bin nur hier, um euch mitzuteilen, dass… die Agents Akai und Starling vom FBI eingetroffen sind.“

Er räusperte sich, als er sich bewusst wurde, dass seine Stimme zu bröckeln drohte.

„Sie… werden auf euch aufpassen, also macht es ihnen nicht schwerer als nötig, bleibt zusammen und tut bitte, was sie sagen.“

Shinichi fand nicht den Mut, ihr ins Gesicht zu schauen.

„Gu- Gute Nacht und entschuldigt die Störung. Bitte.“

Damit schloss er die Tür, sich Rans drängnedem Blick wohl bewusst, stöhnte lautlos auf, als er das Türschloss klicken hörte. Den Blick Jodies ignorierend ging er eine Tür weiter, klopfte auch hier, hoffte, dass er nicht wieder wen aus dem Schlaf riss – es war Heiji, der ihm hier öffnete.

„Hey, Kudô, was –… ah.“

Er hob die Augenbraue, winkte kurz.

„Alles klar. Wir sehn uns morgen?“

„So sieht’s aus.“

Shinichi seufzte leise.

„Gute Nacht.“

Damit wandte er sich den beiden Agents zu.

„Ihre Zimmer sind jeweils rechts und links von diesen beiden Räumen. Ich denke, Sie machen das unter sich aus.“

Er wischte sich über die Augen, gähnte unterdrückt.

„Wenn es nun in Ordnung wäre…“

„… go to bed. Sleep well, Shinichi, we’ll get into touch tomorrow.“

Jodie lächelte ihn an – er versuchte, es zu erwidern, etwas schief zwar, aber immerhin, ein kleines Grinsen huschte über seine Lippen. Dann hob er die Hand zum Gruß, drehte sich um und verließ das Gebäude ohne ein weiteres Wort.
 

Es wurde Zeit, dass er ins Bett kam.


 

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Ja, Leute...
 

ich weiß, diesmal hat's über Gebühr lange gedauert, und ich entschuldige mich vielmals, gerade, da ich ja auch nicht immer den Mund halte, wenn mir von eurer Seite mal wieder das Feedback fehlt ;///)

Bitte verzeiht also; als Entschädigung gibt's nach diesem Kapitel hier gleich das nächste!

Ich hoffe, ihr habt Freue daran -
 

FROHE WEIHNACHTEN!!!
 

Eure Leira :)

Tag 7- Kapitel 30: Fast wie echt

Tag 7
 

Kapitel 30 – Fast wie echt
 

„Und, was machen wir heute?“

Sonoko schaute Ran über ihren Frühstückskaffee hinweg an. Sie wusste, wie die nächtliche Störung Ran mitgenommen hatte, auch wenn faktisch nichts passiert war – nicht einmal geredet hatte er mit ihr – aber das FBI war jetzt da.

Es wurde ernst.

Wieder einmal.

Und wieder einmal erzählte Shinichi ihr keinen Ton.
 

Ran erwiderte nichts – sie hatte ihr Handy neben sich gelegt, ganz offenbar in der Hoffnung, er möge sich melden – bisher hatte Shinichi ihre stumme Bitte jedoch nicht erhört.

Deswegen ergriff nun auch Kazuha das Wort.

„Nun, nachdem es außer Diskussion steht, den Rückflug zu buchen und wir ja ein paar Profis als Aufpasser hab’n“, sie warf Shuichi, der sachlich wie eh und je über seinem schwarzen Kaffee saß und Jodie, die sich gutgelaunt ein Brötchen schmierte, einen eher missmutigen Blick zu, „würd ich sagen, wir machen endlich das, wofür wir hier sin‘. Wir seh‘n uns die Stadt an. Ich würde Madame Toussaud’s vorschlagen. Dafür sollt’n wir uns aber beeilen, weil die Schlange davor recht schnell recht lang wird.“
 

Da von den anderen kein Gegenvorschlag gemacht wurde, standen sie also eine knappe Stunde später in einer doch schon recht ansehnlichen Warteschlange vor dem berühmten Wachsfigurenkabinett. Immerhin waren sie früh genug dran gewesen, so dass sie nicht in der mittlerweile mehrere Dutzend Meter langen Schlange auf dem Gehsteig warten mussten, auf dem Schilder die geschätzte Wartezeit von einigen Minuten bis mehreren Stunden prophezeiten; sie standen bereits im Inneren des Hauses im ersten Stock, wo alle fünf Kassen versuchten, dem Besucherandrang Herr zu werden.
 

„Wir hätten online buchen sollen.“, murrte Sonoko leise. Ran wandte sich ihr zu, lächelte nachsichtig.

„Wenn wir das gewusst hätten, vor ein paar Wochen, hätte es was gebracht, Sonoko. Aber jetzt ist es halt mal so, also müssen wir warten. Und wir sind doch eh schon weit vorne…“

Sie rieb sich die Oberarme, warf Akai, der neben ihr stand, einen fragenden Blick zu.

„Wie läuft es denn mit seinen Ermittlungen?“

„Wie es eben läuft.“, meinte der schwarzhaarige Agent nichtssagend, schaute sie aus den Augenwinkeln an.

„Und denken Sie auch wie er, dass die dahinterstecken?“

Kazuha hatte sich nun ebenfalls umgedreht, schaute den Mann forsch an.

„Ich denke nicht…“

„Sonst wär er nicht hier.“, meinte Shiho sachlich, klang dabei fast ein wenig gelangweilt, ein Ton, den die Wachsamkeit in ihren Augen Lügen strafte.

„Glaubst du, er wär von Tokio hierhergekommen, wenn…“

„Und sucht Scotland Yard nun auch nach denen?“

Kazuhas grüne Augen ruhten immer noch auf Akai, der seinerseits Ran ansah.

„Nein.“

Jodie war es nun, die sich einschaltete, als sie merkte, dass Shuichi, wie meistens, nicht viel Lust zu reden hatte.

„No, unfortunalty not. So wie er sich anhörte, gestern, hat er ihnen diesen Verdacht auch noch nicht geäußert, abgesehen davon, sich unbeliebt gemacht zu haben, indem er seinem Chef gesagt hat, dass er Brady nicht für den Täter hält und jemand anderen dahinter vermutet, weswegen er den Studenten ja auch wieder auf freien Fuß gesetzt hat. Er hoffte, über ihn den wahren Täter zu finden.“

„Aber warum erzählt er ihnen denn nicht von der Organisation? Ich meine, die… zumindest im Yard müssen die doch um seine Vergangenheit wissen und die Hinweise…“

„… are, what they are – hints. Mere hints, and not a real proof. Er fürchtet, man würde ihm nicht glauben, und ich schätze, er hat Recht damit.“

Jodie seufzte leise, schob sich ihre extravagante Brille mit dem Zeigefinger weiter die Nase hoch, während Akais Blick Ran musterte, die nun ihrerseits den Boden studierte, auf ihrem Gesicht ein durch und durch bekümmerter Ausdruck.

„Auch das Foto, das man ihm hat zukommen lassen, ist kein Beweis. Jeder könnte das aus der Zeitung ausgeschnitten haben und ihm geschickt haben, um ihn zu erpressen. Er ist bekannt hier wie ein bunter Hund, fast prominenter als Sherlock Holmes selber, und in den fünf Jahren, in denen er hier arbeitet, hat er ordentlich aufgeräumt unter den Kriminellen Londons. Ihn holt vielleicht auch nur die Realität ein… die Tatsache, dass ein Verbrecher nie vergisst, wer ihn hinter Gitter gebracht hat. Und wenn der ihn beschattet hat, oder der Zeitung ein bisschen glaubt, dann weiß er auch, wie er ihn kriegt.“

Ran horchte auf.

„Also glauben Sie ihm auch nicht?“

„Das habe ich mit keiner Silbe gesagt.“

Akais Stimme klang sachlich.

„Kudô ist nicht der Mann, der mit haltlosen Vermutungen um sich wirft. Allerdings ist nachvollziehbar, warum er sie nicht seinen Vorgesetzten gegenüber geäußert hat. Es würde… seine Glaubwürdigkeit untergraben, täte er es, ohne handfesten Beweis.“
 

Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen.

„Für mich allerdings ist sein Wort Beweis genug.“
 

Damit war das Gespräch auch schon beendet – sie rückten in der Schlange bis an die Kasse vor und bezahlten ihren Eintritt. Wenige Minuten später ließ man sie zusammen mit einem Schwung anderer Touristen ein in die Welt aus Wachs der Madame Toussaud.
 

Ran hatte auf den Bildern gesehen, wie echt die Figuren aussahen, die Realität jedoch schlug jedes Foto bei weitem.

Staunend ließ sie sich mitreißen von Kazuhas und Sonokos Begeisterung über die Kunstwerke aus Wachs und Farbe, die sich nun vor ihnen über mehrere Stockwerke hinweg präsentierten. Tatsächlich schafften es die lebensechten Wachsfiguren, die ihnen aus jeder Ecke entgegenblickten und zwischen all den echten Menschen als künstlich geschaffene Abbilder kaum auffielen, dass sie zumindest für ein paar Stunden ihre Sorgen vergaß, zumindest größtenteils, als sie mit ihren Freundinnen zwischen Prominenten posierte, in die Kamera lächelte und sich von Jodie, die sich breitschlagen hatte lassen, fotografieren ließ – Akai folgte ihnen wie ein Schatten, verlor sie trotz des Menschengedränges nicht für eine Sekunde aus den Augen.
 


 

Eduard hingegen wurde zunehmend nervös. Er stand in der Nähe der Wachsrepliken von Brad Pitt und Angelina Jolie, schaute sich um und schwitzte Blut und Wasser.

Entgegen seines Plans, gleich nach der Deponierung der Leiche zu verschwinden, war er immer noch da – man hatte ihn als „falschen“ Praktikanten so sehr mit Aufgaben und Botengängen eingedeckt, dass er nicht einfach unbemerkt entschwinden hatte können. Jedes Mal, wenn er sich der Tür nähern wollte, rief ihn jemand zurück.

Ein Schweißtropfen perlte ihm über die Stirn, rann an seiner Schläfe entlang, an seinem Ohr vorbei über die Wange, runter über seinen Hals und in den Kragen des roten Shirts, als er gerade mit einer Schachtel Schminkutensilien, in die er seine Finger gekrallt hatte, möglichst unsichtbar durch die Zuschauermasse ging, nach hinten in die Werkstatt.

Er hoffte, er konnte sich in der Mittagspause schnell verdrücken.

Es konnte nicht mehr lange dauern, bis man Juniper fand – und dann wollte er weg sein.
 


 


 

Shinichi war mit einem mulmigen Gefühl zur Arbeit gefahren.

Er fühlte sich wie gerädert, pochender Kopfschmerz dröhnte immer noch in seinem Schädel, leiser zwar, aber nicht minder stet.
 

Das ist Folter, wirklich.
 

Ihm war etwas übel, Schwindel und Desoritierung plagten ihn, und er wusste auch, woher das kam. Er fühlte die Anspannung in seinem Körper, wusste, sein Puls war deutlich zu hoch, und damit auch sein Blutdruck.

Und er ahnte, warum dem so war. Die Ursache lag klar auf der Hand.

Er hatte einen Fehler gemacht, eventuell, als er Brady laufen ließ, und die Rechnung würde er bekommen, und zwar in mindestens dreifacher Ausfertigung.

Einmal in Form einer gewaschenen Rüge seines Bosses, gepaart mit der möglichen Degradierung.

Zum Zweiten in Form des Berichts, den diese Reporterin verfassen würde – davor graute ihm, ihre Anspielungen der gestrigen Nacht schmeckten ihm heute noch viel weniger als gestern – und dieser Bericht würde zweifellos weiter zu beruflichen Schwierigkeiten führen.

Und zum Dritten, weil er den Mord an diesem dritten Mädchen nicht hatte verhindern können.
 

Was ist nur los mit mir.

Warum kann ich es nicht mehr… warum krieg ich nichts mehr auf die Reihe?

Ich hab all diese Puzzleteile und krieg sie nicht zu einem Bild zusammengesetzt.

Ich ziehe jede meiner Schlussfolgerungen viel zu spät.
 

Was ist das nur?
 

Er wusste, ein wenig Gnadenfrist hatte er noch, jetzt gleich würde kein Donnerwetter stattfinden – sobald man die Leiche gefunden hatte, war es jedoch unausweichlich; entsprechend unter Strom stand er. Unentschlossen machte er sich auf den Weg in die Pathologie, um herauszufinden, ob es schon erste Ergebnisse zu den Spuren am Tatort gab, weil er irgendeine Beschäftigung brauchte, bis die Fahndung nach Brady Erfolg gehabt hätte, oder die Suche im Vermisstenregister nach Models – und wie er erwartet hatte, gab es die.

McCoy kam ihm bereits an der Tür zur forensischen Abteilung entgegen.

„Ah! Sherlock.“

Er winkte ihn zu sich.

„I just wanted to look for you. I’ve got news. A cup of coffee?”

“Good news or bad news?”, hakte Shinichi ein, als er dem Mann folgte, gedankenverloren die Tasse annahm, die der alte Forensiker ihm in die Hand drückte, und nun vor ihm herschlurfte. McCoy warf einen Blick über die Schulter.

„Neither nor, I guess. See for yourself.“
 

Shinichi folgte dem ausgestreckten Zeigefinger des Pathologen, der auf den Bildschirm deutete.

„The blood found at your crime scene is, as you might have assumed, as it still was rather fresh, not the blood of one of our other victims. That means…“

„There is a third corpse of a young woman out there.”

“Yes, this is the very case, I’m afraid. The DNA is very clear, it is a woman’s genetic fingerprint, a Latina, as it seems. As to the fingerprints…“

Er hob eine Akte mit der Analyse der Fingerabdrücke hoch, blätterte kurz durch, bis er die Stelle gefunden hatte, die er gesucht hatte, las dann vor, „they are not registered in our database. Not, except for…“

Er kam ins Stocken kurz. Shinichi merkte auf, griff sich die Akte und zog die Stirn kraus.

„Gallagher’s fingerprints are on that Bourbon bottle? Didn’t that man wear gloves at the crime scene – goddamn it, this is…“

McCoy runzelte die Stirn.

„Well, yes, it seems so. And think about it – he’s a rather young colleague…“

Dann schüttelte er den Kopf.

„Nevertheless, this is a greenhorn’s mistake which mustn’t happen… You should…“

„Yeah, sure.“

Shinichi seufzte leise.

„I’ll talk to him about at which point exactly he has slept in his basic police training.”

Seine Stimme klang missvergnügt, ehe er erneut seufzte, sich über die Augen strich. Er fühlte sich müde, ausgequetscht wie eine entsaftete Zitrone, irgendwie. Und er hoffte, wie auch immer, dieser Fall fand bald sein Ende.

Damit wandte er sich wieder dem Monitor zu.

„Nothing else?“

„No. Well, yes, perhaps…“

Er klickte sich eine Registerkarte auf dem Monitor weiter.

„The paint found on the floor really is the same as you took in samples from the atelier. That must mean…“
 

„You don’t have to tell me what that means.“

Shinichi schloss die Augen, hielt sich die Stirn.
 

„You know what his opinion on this topic is, was and will be.“

McCoy schaute ihn nachdenklich an. Ein Hauch von Sorge zeichnete sich in seiner Miene ab.

„Montgomery? Yeah, sure.“

Shinichi wandte den Blick ab.

„He’ll say it’s my fault. He’ll say I could’ve prevented that murder by imprisoning that painter, Brady.”

“And you did not do so because…?”

Shinichi schaute den alten Pathologen nachdenklich an.

„You know that. I don’t consider him to be the man we’re really looking for, I told you my opinion days ago, and it hasn’t changed. He is not that kind of guy. He’s no cold-blooded murderer, not such a mastermind that could set up a plan like this, and, moreover, I just can’t see a motive…“

„But he was there. The paint proves…“

“Yeah. And maybe he did kill her. I know.“

Shinichi massierte sich die Nasenwurzel.

„But he could have never hired that loft. And where is his girlfriend, anyway? Did…”

“No.”

McCoy schüttelte den Kopf.

“They haven’t got her yet, though they were waiting in their flat and at the university, as far as I know. But that must not mean that she was taken hostage, as you might presume. He could have merely gone into hiding with her…”

Shinichi schüttelte den Kopf.

“No.”

“But who then?”

Eine weibliche Stimme hallte hinter ihnen durch die Pathologie. Jenna Watson war gerade durch die Tür getreten, eine Tasse Kaffee in ihren Händen, dunkle Ringe, die sie nicht mehr hatte überschminken können, als Zeugen einer durchgemachten Nacht unter ihren Augen und blickte ihren Partner an, den sie ganz offenbar gesucht hatte.
 

„I believe you, when you say, it was not him alone, I don’t consider him capable of this crime series, either. But who is it then?“

Shinichi trank einen Schluck von seinem Kaffee, starrte kurz in die schwarzbraune Tiefe seiner Kaffeetasse, als er mit seiner Antwort zögerte. Unsicher warf er McCoy einen Blick zu.
 

„Them.“

Verwirrung stand auf Jennas Gesicht, ehe bei ihr der Groschen fiel.

„Them?“

Sie schaute ihn überrascht an.

„I mean – these guys, yeah? But how would you know? Do you have any proof?”

“No.”
 

Shinichi seufzte leise.
 

“And that’s the very problem. It’s just the way they are murdered. With a katana in their stomach, that was just how they k…- tried to kill Ran.”

Er fühlte McCoys fragenden Blick auf sich.

„Did you never look into my past – or my personal file, doctor?“
 

McCoy seufzte leise – dann nickte er zögernd.

„After that press conference, yes, I have. A… piece of paper very exciting to read. A curriculum vitae and a history which would provide a lot of stuff to make a movie out of them…“
 

Shinichi lächelte schief.

„Well, then… the parallel is just too obvious. It… was… my friend, who had almost been killed back then, through a hit by a katana.“

Er sammelte sich, schluckte hart.

„Along with that silvery long hair we found – that’s the way he used to carry his’, long and fair. The smell at the crime scene of Erin Shaughnessy…“

„…Gin…“, fiel Jenna ein.

„Yes. And Gin was his alias. And I know he is still on the loose. They did not get him five years ago. I… I did not catch him five years ago…”
 

„But couldn’t that be a big coincidence?“

McCoy sah ihn an.

„None of the things you mention does for a valid proof.“

„I know that for myself.“, entgegnete Shinichi gereizt, hob dann entschuldigend die Hand.

„I do know that… there was nothing in the loft as well, that would be proof for them being involved. I have no fingerprints of them, no DNA. I don’t have a letter of them telling me they are part of this game, nothing – I haven’t seen them either.”

McCoy seufzte, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er fühlte sich sichtlich unwohl, und die nächsten Worte, die er sprach, kosteten ihn offensichtlich Überwindung.

„Sherlock… don’t misunderstand me, please, but… don’t you think you’re on a ghosthunt? You know how much our brain likes to think in patterns, to fit in things in existing structures, to make them fit – you know, how fast we draw hasty conclusions, especially if they are similar to a scheme. Nevertheless, you know… you of all know best…“

„… It is a capital mistake to theorize before one has data. Insensibly one begins to twist facts to suit theories, instead of theories to suit facts. I know, I know, I know that…”
 

Er rieb sich die Augen, trank seinen Kaffee aus.

„And probably you are right and I should have a clear view on it… start at the beginning, at zero…“
 

Er hielt inne, vertrieb den Gedanken aus seinem Kopf, der sich dort gerade hatte festsetzen wollen. Unwillig schüttelte er den Kopf.
 

Sollte ich mich wirklich getäuscht haben?
 

„However. We should find Heiji and add those results to the report. After that… we should begin the search on the corpse matching our crime scene. As it happens, the artist does not hide them very well…“

Seine Stimme klang mutlos, als er die Hand zum Gruß in Richtung McCoy hob und die Autopsie verließ, eine recht nachdenkliche Jenna Watson im Schlepptau.
 


 

Ran und die anderen waren unterdessen am Ende ihres Besuchs angekommen und standen vor einem Schild in heftiger Diskussion.

Das Schild, das diese Diskussion verursacht hatte, verkündete ihnen in höflichem Englisch, dass zu ihrer linken Seite die Kammern des Schreckens folgten – eine Ausstellung, die ein Horrorkabinett beherbergte, das die ruchlosesten Verbrecher und ihre berühmtesten Taten in ihrer natürlichen Umgebung – die da variieren würden von einer dreckigen Londoner Seitenstraße des neunzehnten Jahrhunderts bis zu einem Hochsicherheitsgefängnis der Neuzeit– zeigte. Sollten sie nicht mit den richtigen Nerven für diese Schrecken ausgestattet sein, schlug ihnen das Schild den Ausgang rechter Hand vor.
 

Jodie und Akai standen neben ihnen und verfolgte die Diskussion stumm und mit leicht genervtem Ausdruck auf dem Gesicht. Ran neben ihm seufzte lautlos – sie war die Einzige, die nicht mitmischte.

„Aber wir haben dafür bezahlt! Und ich bitte dich, Kazuha – du bist mit Heiji zusammen, wir alle haben schon echte Leichen gesehen, ehrlich, was kann uns noch schocken?“

Sonoko stemmte ihre Hände in die Hüften.

„Ich mag keine Horrorkabinetts.“, wiederholte Kazuha stur ihre eben schon kundgetane Meinung.

„Aber bitte, das ist keine Geisterbahn! Wir schaun uns nur…“

„Verbrechen an.“, vollendete Shiho den Satz kühl.

„Und gerade weil wir uns das Zeug tagtäglich anschauen mussten, ist es unnötig, sich das hier jetzt anzutun… abgesehen davon ist es vielleicht nicht unbedingt das Richtige, gerade jetzt, für manche von uns.“

Sie warf einen Blick auf Ran, die hochschreckte.

„Was? Nein.“

Sie schüttelte den Kopf, kniff die Lippen kurz zusammen.

„Wegen mir müssen wir darauf nicht verzichten. Ich kann Realität und Fiktion ganz gut unterscheiden. Abgesehen hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.“

Sie hakte sich bei Sonoko unter, die ihr ihren Arm anbot.

„Sehr schön!“, flötete die Konzerncheftochter und marschierte los. Kazuha verdrehte die Augen, folgte ihnen, neben ihr schritt Shiho mit vor der Brust verschränkten Armen und undeutbarem Ausdruck auf dem Gesicht. Jodie zuckte mit den Schultern, ihr etwas besorgter Blick ruhte auf Ran, die, wie sie ahnte, mit den Gedanken überall anders war, nur nicht hier bei der Sache; und sie musste gestehen, sie war es auch nicht. Gerade hier, an diesem Ort, drängte sich der Gedanke an sie umso mehr auf.

Der Grund, warum sie gekommen war – der zweite Grund, neben dem, Shinichi helfen zu wollen.

Akai, der als letzter in das Dämmerlicht der Schreckenskammer getreten war, schaute sie an.

„Denkst du, ich weiß nicht, warum du hier bist?“, seufzte er leise. Jodie schreckte auf.

„Shu…“, setzte sie flüsternd an. „Ich…“

„Rache.“

Er sah sie nicht an.

„Glaub mir nur, ich will ihn auch kriegen. Aber wir dürfen nicht unsere Bedürfnisse vor ihr Wohl stellen. Du weißt, was er geopfert hat, für uns. Wen er fast hätte opfern müssen.“

Jodie nickte stumm. Man sah Ran an, wie sehr sie gelitten hatte – und wie sehr sie immer noch litt. Sie sah in ihren Augen diesen einen drängenden Wunsch, und es zerrte an ihrem Gewissen, wenn sie daran dachte, was ihr und ihm verwehrt war. Sie hatte sein Verhalten gestern im Hotel sehr wohl bemerkt.

Sie ahnte, wie er sich fühlte.
 

„Could we have prevented this?“

Sie seufzte in die Dunkelheit.

“If we had informed James about our action, about your plan… could we have prevented this?“

Shuichi warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, seufzte leise.

“Du weißt, warum wir James damals nichts gesagt haben. Wir mussten schnell handeln, und er war nicht zu erreichen. Wir hatten nur Stunden zur Vorbereitung, wir konnten nicht auf alle Genehmigungen warten; hätten wir nicht gehandelt, er und ich, wer weiß, wie diese Truppe heute aussehen würde.“

Er nickte auf die Mädchen, die vor ihm entlang marschierten.

„Und sobald wir konnten, informierten wir ihn doch. Abgesehen davon hatte Kudô das alles im Vorneherein allein geplant – seine ganz persönliche Exitstrategie, schließlich konnte er sich denken, dass dieser Tag irgendwann kommen würde; der Junge ist alles, aber nicht blöd, und auch nicht leichtsinnig – nicht mehr. Diesen Trojaner hatte er vom Professor programmieren lassen. All die sicheren Orte für seine Freunde von seinem Vater suchen lassen; das Dokument mit all den Verbrechen, Namen und Beweisen, die er bis dato gesammelt hatte, existierte schon längst, nur das Video musste er noch drehen, in dem er diesen letzten Beweis erbrachte. Er brauchte uns nur, um ihn wieder rauszuholen und den Laden schlussendlich hochzunehmen…“

„… und darin haben wir versagt.“
 

Jodie schluckte.

„We mustn’t fail again, Shuichi.“

Er erwiderte nichts, starrte nur in die Dunkelheit.
 

Die Kammern des Schreckens hatten nicht zu viel versprochen - es war wirklich schrecklich.

Ran klammerte sich schon bald an Sonoko, die sich ihrerseits an Ran festhielt – beide Mädchen starrten angsterfüllt um die Ecke, wie erstarrt von der plötzlichen Anwesenheit und Aufmerksamkeit eines „lebenden“ Insassen, der soeben heiser flüsternd an ihnen vorbeigehuscht war, sie in eine Ecke gedrängt hatte um dann in letzter Sekunde von ihnen abzulassen und mit seinem Plastikmesser auf die nächsten ahnungslosen Touristen loszuwetzen.

Die dargestellten Szenen waren wirklich schauderhaft, ließen ihr Herz bis zum Hals schlagen, und obwohl sie dachte, sie könnte Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden, so weckte dieser Ort doch viele unangenehme Erinnerungen.

Verzerrte Gesichter, Schreie, die durch die Räume halten, nachgemachte Leichen und Kunstblut, so irrsinnig echt, dass sich ihr der Magen fast umdrehte.

Und sie wusste, er hätte gelacht.
 

Shinichi… du hättest gelacht, nicht wahr?

Über so viel Mühe, die Leute zu erschrecken, mit etwas, das dich schon lange nicht mehr schrecken kann… und über meine Angst… um sie mir zu nehmen.
 

Sie schluckte, sammelte sich, kratzte ihren Mut zusammen und schritt weiter, Sonoko mit sich mitschleifend.

„Kommt schon. Ihr wolltet hier rein, also ziehn wir’s durch. Das alles ist doch nur Show, das müsst ihr euch nur immer wieder einred…“

Kazuha ging hinter ihr, hatte sich an Jodie und Shiho festgekrallt, als sie fast in Ran hineinlief, die abrupt stehen geblieben war.
 

„Erschrocken vor der eigenen Courage?“, fragte Shiho mit ihrer wie immer sachlichen Stimme, die schon fast an leisen Spott grenzte.
 

Dann sah sie, was Ran zum Anhalten bewogen hatte. Zu ihren Füßen lag ein bildhübsches Mädchen in einem hellgrauen Seidenkleid.
 

Ran schluckte.
 

„Die sieht aber… wirklich täuschend echt aus.“, murmelte Sonoko leise, trat näher.

„Allerdings.“

Akai zog die Augen kraus, schaute sich um, als Ran auch schon in die Hocke ging, nach einem kurzen Blick über die Schulter die Hand ausstreckte und die Finger des Mädchens berührte.
 

Sie zuckte zurück, als ob sie sich verbrannt hätte.

„Kein Wachs.“, flüsterte sie entsetzt, schaute Akai mit Angst in den Augen an.

„Das ist Haut. Das ist ein echter Mensch. Aber sie ist ganz kalt… ist sie eine dieser Schauspielerinnen, ist sie etwa umgekippt? Sollten wir…“

Akai hörte ihr gar nicht mehr zu, er trat auf den nächsten „lebenden“ Insassen dieses Gefängnisses zu, der gerade die nächste Zuschauergruppe erschrecken wollte, diskutierte kurz mit ihm. Der Mann trat näher, besah sich die Frau – drehte dann auf dem Absatz um und begann wie der Teufel zu laufen.
 

Und auf einmal ging das Licht an. Verwirrte Blicke zeichneten die Gesichter der Touristen, die, aufgrund der plötzlichen Helligkeit, erstaunt blinzelten.
 

„Das beantwortet deine Frage wohl. Sieht nicht so aus, als ob sie zur Truppe gehört.“, meinte die FBI-Agentin leise, wandte sich um, um die Leute im Auge zu behalten.

Ran hingegen trat langsam an der Frau vorbei, um die Ecke. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt – und nun sah Shiho auch, was es war.
 

Etwas aus ihrem Blickfeld gezogen und versteckt stand es – das Bild.
 

Ran merkte, wie ihr Herz fast stehen blieb, Kälte von ihren Fingern aus in ihren ganzen Körper kroch.
 

„Wir müssen Shinichi anrufen.“, wisperte sie.
 

Akai, der wieder zu ihnen getreten war, zog sein Handy aus der Tasche, reichte es ihr, während er sich vor die Leiche stellte, um ein Verändern des Tatorts zu verhindern, während Jodie versuchte, die Leute ein wenig zu beruhigen und den aufkommenden Tumult zu dämpfen.
 


 


 

Shinichi zuckte zusammen, als sein Handy in seiner Tasche losging. Er zerrte es heraus, warf Jenna einen entschuldigenden Blick zu und winkte Heiji, den er bei Jillian am Bürotisch entdeckt hatte, zu sich. Dann warf er einen Blick auf das Display – und stutzte.
 

Shuichi Akai ruft an
 

„Was will er denn?“, murmelte er leise fragend, ehe er abhob.

„Was gibt es, Shuichi?“

Ran schluckte, versuchte ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen.

„I-ich bin’s, Shinichi.“
 

Shinichi merkte, wie er unwillkürlich erstarrte, sich jeder seiner Muskeln verspannte.

„Hör… hör zu, bevor du etwas sagst. Ich bin mit den Agents Akai und Starling und den anderen bei Madame Toussaud‘s und wir haben hier… ein Mädchen gefunden. Ein totes Mädchen in einem hellgrauen Kleid, sie sieht… spanisch oder lateinamerikanisch aus und ein Bild, Shinichi…“
 

Er merkte, wie seine Verspannung wuchs, sich seine Finger um das Telefon krallten.

Dann schluckte er.

„Gut… wo genau seid ihr?“

Sie beschrieb ihm den Ort so genau wie sie konnte.

„Schön. Wir sind gleich da. Bitte sag Akai, er soll dafür sorgen, dass keiner das Haus verlässt, kein Angestellter und kein Besucher. Niemand. Und selbstverständlich darf keiner an der Leiche…“

„Ich weiß.“

Ran schluckte.

„Haltet die Augen offen, Ran.“, meinte er leise.

Dann legte er auf, schaute Heiji und Jenna ins Gesicht, Unwohlsein spiegelte sich auf seinen Zügen.

„Our girl has been found. Ran and the others are at Mme Toussauds and have tripped over her there.“

Er seufzte.

„We mustn’t lose time.“

Jenna schaute ihn an.

„The murderer is without doubt the same?“

Shinichi wandte sich nicht um, als er durch den Gang eilte mit weit ausholenden Schritten.

„Yes.“

Ein betrübter Gesichtsausdruck erschien auf seinem Gesicht.

„Young, beautiful girl, Latina, just as McCoy has supposed. With a picture beside her, as always“, er warf ihr einen müden Blick zu, „and dressed up in a light gray dress made of wild silk….“

Heiji fluchte lautlos, während er neben ihm hereilte.

„Wo hat man sie gefunden?“

„Unten im „Scream“, den Kammern des Schreckens. Aufgemacht, als gehöre sie zur Attraktion, deshalb haben sie sie ja auch erst jetzt entdeckt, schätze ich. Hielten sie wohl für ne künstliche Leiche, bei ihrem blutleeren Gesicht und der wächsernen Haut auch kaum verwunderlich.“

Er hob eine Augenbraue, seufzte dann.

„Wait a second. I’ve got to set up the operation before we’re leaving.“

Er blieb kurz bei Jillian stehen, um ihr die Order zu geben, ihm Verstärkung und die Spurensicherung hinterherzuschicken, eilte dann mit seinen beiden Kollegen weiter.

„Did she have any papers with her?“ Jenna ahnte die Antwort bereits. Shinichi schüttelte den Kopf.

„No, at least not obviously, Ran and the others did not touch her, of course. No hint concerning her identity... but… another problem, therefore.“

Er seufzte, fingerte nach seinem Handy und gab einen Suchbegriff ein. Wie erwartet schrien ihm auf allen Kanälen sozialer Netzwerke Bilder und Kommentare von der Leiche bei Madame Toussaud’s an. Er hob das Handy, zeigte es Jenna und Heiji.
 

„… lots of unwanted publicity.“
 

Shinichi verdrehte die Augen, stöhnte auf.

„That’s really what I needed today. He seems to cry for more attention.”

Er winkte Jenna und Heiji in den Aufzug, lächelte grimmig.

„Well. Let’s give him some.“
 

Etwa zwanzig Minuten später tauchte das Gebäude, das eine der größten Attraktionen der Stadt beherbergte, vor ihnen auf. Jenna starrte entgeistert auf die riesige Menschenmasse, die sich vor dem Eingang gebildet hatte. Tatsächlich, das musste Shinichi gestehen, sprengte dieser Auflauf alles, was hier sonst zugange war, und das war für gewöhnlich auch nicht gerade wenig.

Er hielt eine Hand mit seiner Marke aus dem Wagenfenster, als er einen Mitarbeiter ausgemacht hatte, der ihn erleichtert auf einen Parkplatz hinter dem Gebäude winkte und die drei von hinten in das Haus führte. Unzählige Gesichter starrten sie an, als sie sich ihren Weg durch den Shop bahnten, um zu einem der Mitarbeiter-Schleichwege zu gelangen – ernste, ängstliche, erregte, neugierige Gesichter. Shinichi ließ seine Blicke genau über die Menge gleiten, und wusste, dass Jenna es genauso machte; so wie er es ihr beigebracht hatte. Ruhig, aber präzise, nicht zu forschend, aber eindringlich.

Manchmal fand man in diesen Minuten bereits den Täter.
 

Sie tauchten ein in einen dunklen Gang, in dem der Mitarbeiter, ein schlacksiger junger Mann namens Oliver, wie sein Namensschild verriet, sie mit einer Taschenlampe führte, und wanden sich zwischen Jack the Ripper und einer Prostituierten wieder ins Licht – und wären fast über das Mädchen gestolpert, das zu ihren Füßen lag.

„No wonder she was mistaken for a part of the attraction.“, murmelte Jenna neben ihm, sah sich um. Shinichi schaute sie an, zog stutzig die Augenbrauen hoch.

„Don’t tell me you haven’t been at Madame Toussaud’s, too.“

„No, Sir.“

Sie grinste frech, ein Grinsen, das ihr allerdings nicht lange auf den Lippen haften wollte, als sie das Opfer genauer ansah.

„How beautiful she is. I might guess you are right with your suspicion that she might work in the model-business.“

„Jeah.“

Shinichi sah auf, als der Cockney-Akzent von Samuel Gallagher seine Aufmerksamkeit erregte.

„When have you arrived?“

„A few minutes ago, Sir. Lady McDermitts call advised the nearest team to come and handle the masses, and that was me and old Richardson over there.“

Er winkte in die Richtung eines alteingesessenen Streifenpolizisten. Shinichi hingegen starrte seine Hand an, die bereits in einem Einweghandschuh steckte.

„Well. Now. Gallagher…“

Er griff ihn am Arm und zog ihn kurz beiseite.

„Good for you, that you seem to remember what an investigation of a crime scene requires.“

„Hm?“

Der junge Mann schaute ihn verwirrt an. Shinichi zog die Stirn kraus.

„Well… your fingerprints were found in the loft, Gallagher. I am, of course, aware of the fact that they have taken our fingerprints into the database to be able to sort them away from other traces, but it is essencial, nevertheless, not to pollute a crime scene and therefore to wear gloves. I do not want to see that ever again anywhere.“

Er stutzte, als er den erschrockenen Blick auf den Zügen des jungen Mannes sah – dann besann er sich. Natürlich musste er sich erschrecken, wenn er getadelt wurde.

„Of course, Sir.“

Er schluckte.

„As to this crime scene, whe have only fenced it off, Sir. Nobody has left the building and the body was untouched. The girls who found her are waiting over there.“

Shinichi schluckte, als er seinem Finger folgte. Ran sah ihn an, scheu. Er winkte Jenna zu sich.

„Fine. Jenna, you’ll go and take the reports of the witnesses and the staff. Try to find out if the person, who has deposed off her here, is still here. If yes, don’t talk to him. Fetch me. This will be… our man.“

Er zog unwillig die Augenbrauen zusammen, als er sich ein paar Latexhandschuhe aus der Jackentasche zerrte und sie anzog.

„Samuel, you’ll go and help her with that.“

Shinichi blickte dem jungen Mann eindringlich in die Augen. Daran, dass der junge Mann bis unter die Haarwurzeln errötete, erkannte er, dass er den Wink verstanden hatte. Er wandte sich ab, als der Officer loseilte, seufzte leise. Die Jungs waren kaum jünger als er; und dennoch kam er sich hier auf einmal so viel älter vor.
 

Macht der Dienstgrad so viel aus?
 

Er seufzte, ging in die Knie, studierte Stoff und Farbe des Kleides. Von der Machart ähnelte es dem Kleid der anderen Opfer auffallend; eine zu große Ähnlichkeit, um zufällig sein zu können, allerdings folgte es dem Trend, der mit dem zweiten Opfer begonnen hatte – es war von einem mittleren Grau, ähnelte der Farbe von Eisen.
 

Sie werden also immer heller… das würde für ein Ende der Serie sprechen, wenn wir… bei weiß angelangt sind?
 

Er stutzte, zog die Stirn kraus, ehe er es sich weiter besah. Ebenfalls aus Wildseide war es aufwändig genäht mit vielen Falten und Fältchen, mit Spitzenborten und Perlstickerei. Ein Traum von einem Kleid.

Shinichi rieb sich die Schläfen.
 

„Und, was sagste?“

Shinichi seufzte leise, schaute zu Heiji hoch.

„Anhand dessen, was offensichtlich ist… dem Zustand der Leiche und der Leichenflecken, die kaum ausgeprägt sind, weil sie ja kaum Blut hat… sollte es das Mädchen sein, das wir suchen. Der Zeitraum passt. Die ethnische Gruppe auch.“

„Seh ich auch so.“

„Tja.“

Er stand auf, streckte den Rücken durch.

„Damit wars das dann… ich krieg heut sowas von Marsch geblasen…“

Er biss sich auf die Lippen, ließ seinen Blick über Leiche und Bild gleiten, ein weiteres Mal.

„Denkst du immer noch, dass die dahinterstecken?“

Heiji schaute ihn fragend an.

„Fängst du jetzt auch noch an, an mir zu zweifeln?“

Der Osakaner zog die Augenbrauen erstaunt hoch, schaute ihn fragend an.

„Wer zweifelt denn noch an dir?“

„Ich.“

Shinichi seufzte, massierte sich die Schläfen.

„Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es würde alles passen. Der Geruch von Gin, das silberweiße Haar. Die Vorgehensweise, die Tatwaffe. Aber nichts davon ist ein endgültiger Beweis. Ich hab auch im Loft nichts Konkretes, Stichhaltiges gefunden, und ich war…“, er senkte seine Stimme, „extra nochmal da, gestern.“

Er rieb sich die Nase.

„Was ist, wenn einfach nur ein Irrer ein Spiel mit mir spielt? Das Foto von Ran kann jeder auf Verdacht gemacht haben. Meine Vergangenheit ist ein offenes Buch für jedermann mit Internetzugang. Der Mann muss mich beschattet haben, und mein Verhalten war auffällig genug. Das seh ich ja jedesmal schwarz auf weiß, wenn ich dieses Klatschblatt lesen muss. Ich will gar nicht wissen, was da heute drinsteht, ich hab sie gestern noch getroffen…“

„Kudô…“

Heiji schaute ihn betroffen an.

„Ich… ich hab das Gefühl, ich dreh durch langsam, weiß nicht, ob ich mir selber noch glauben kann oder ob ich einfach nur Gespenster seh, ob ich nicht doch mehr abbekommen habe, von all diesen Dingen vor fünf Jahren, als ich immer glauben wollte. Ich… ich weiß nur, dass ich, wenn ich Brady hätte in Untersuchungshaft nehmen lassen, ich zumindest verhindert hätte, dass er den Mord begeht. Ob noch wer dahintersteckt oder nicht, erfahren wir erst, wenn wir ihn haben… und endlich mal zum Reden bringen. Was schwierig genug sein wird, weil seine Freundin seit gestern verschwunden ist, die er entweder selber versteckt hat, oder die nun Geisel seines Drahtziehers ist … beides wird er nicht zugeben.“
 

Er verdrehte die Augen. Dann hob er einen Arm der Leiche an, zog den seitlich gesetzten Reißverschluss auf, und fand, was er suchte – die Einstichwunde.

Unwillig schüttelte er den Kopf.

„Und wie gehabt, das gleiche Bild. Er lässt sie in den Kleidern malen, bringt sie um, zieht ihnen das Kleid wieder an und deponiert alles an Orten, an denen man sie leicht finden sollte. Was will er uns damit sagen? Wofür die Bilder? Das… ich seh nicht, wohin das führt. Was mir das sagen soll… diese Blumen, all das…“

Heiji schien ihn gar nicht zu hören.

„Wie kann jemand hier ne Leiche ablegen?“, murmelte er fragend. Shinichi hingegen schüttelte den Kopf, seufzte. Ein ironisches Grinsen huschte über seine Lippen.

„Es wurden schon an ungewöhnlicheren Orten Leichen abgelegt, Heiji. Das weißt du.“

Er warf einen Blick auf das Bild, das neben der Leiche an der Figur des Rippers lehnte. Die Farbe glänzte noch, lief langsam nach unten, so nass war sie noch.

„Allerdings… hier herein mit einer Leiche, wahrscheinlich in einem…“

„Schau dir das mal an.“

Heiji stieß eine Tür in der Kulisse auf – im matten Licht, das von außen hineindrang, sahen sie etwas matt schwarz schimmern. Shinichi stand auf, zog eine Taschenlampe aus seiner Jackettasche, leuchtete hinein.

„… um meinen Satz zu vollenden: wahrscheinlich in einem Sack hertransportiert.“

Shinichi griff mit seiner behandschuhten Hand nach dem Reißverschluss und zog ihn auf. Im Schein der Taschenlampe quoll ihnen das wallende Haar einer Kunsthaarperücke entgegen, das strähnig über einem ausgemergelten Leichengesicht lag – einem Puppenleichengesicht.
 

„Und da hätten wir die junge Dame, die mit unserer Leiche ersetzt worden is‘.“
 

Shinichi schaute ihn an.

„Er muss sich als Angestellter ausgegeben haben. Nur so kann er hier ein- und ausgehen, ohne dass er auffällt. Und eine Figur… austauschen.“
 

Dann bemerkte er, wie die Jungs von der Spurensicherung sich ihren Weg bahnten, stand auf und winkte sie her.

„Ich denke, hier sind wir fertig.“
 

Er seufzte lautlos.
 

„Wenn wir Glück haben, und wirklich keiner entlassen worden ist, ist er noch da. Allerdings könnte er seine Tarnung mittlerweile aufgegeben haben…und als Tourist rumlaufen. Also müssen wir doppelt genau hinschauen.“
 

Im nächsten Moment tauchte Gallagher schnaufend mit einem sehr blassen Paketlieferdienstarbeiter neben ihm auf.
 

„Den haben wir gerade in einem Spind gefunden. Er sagt, er wäre von einem Mitarbeiter dieses…“, er deutete auf das Logo, dass auf dem Shirt des Jungen prangte, „Lieferdienstes überfallen worden. Er hat hier als Praktikant angefangen, heute…“

Shinichi lächelte verhalten.

„Gut. Dann separiert mal alle Mitarbeiter in einem Raum. Ich will sie da sprechen.“
 

Er löste sich von Gallagher, der eifrig nickte und weitereilte und ging nun zu Ran, die ihn immer noch anschaute. Er wusste, sie hatte ihn die ganze Zeit über nicht einmal aus den Augen gelassen – der Blick aus ihren blauen Augen hatte ihm die ganze Zeit über kribbelnd im Nacken gesessen. Unwillkürlich fasste er sich an den Hals, ließ die Hand dann wieder sinken.

„Alles okay?“, fragte er schließlich leise, schaute sie ernst an.

„Was genau meinst du?“, entgegnete sie schließlich. Shinichi seufzte leise.

„Du weißt…“

Er strich sich über das Gesicht, mit fahrigen Fingern. Sie beobachtete ihn dabei, besorgt. Er sah übernächtigt aus, gestresst.

„Hör zu, ich war…“

„Sehr deutlich, gestern.“

Sie schaute ihn an, biss sich auf die Lippen.

„Und es ist mir heute genauso egal, wie es gestern war, sonst wär ich nicht hier.“

Shinichi kreuzte ihren Blick, schüttelte den Kopf.

„Das war es nicht, was ich sagen wollte. Ich war vielleicht etwas sehr drastisch und unfair, ich… wollte dir nicht die Schuld geben an meinem… Verhalten…“
 

…Versagen…
 

„… und habs doch getan. Das war nicht… korrekt. Dennoch wäre mir lieber, ihr würdet gehen. Wer auch immer hier wütet, er ist gefährlich, du siehst es nun selber. Und gerade für dich hat sich meine Nähe in letzter Zeit nicht sehr… gesundheitsfördernd erwiesen.“

Er seufzte lautlos. Ran schaute ihn bedrückt an.

„Wie dem auch sei, gleich könnt ihr ohnehin nicht gehen. Ich muss euch aufs Revier bitten, wegen eurer Aussage. Jenna wird mit euch fahren. Ich komm dann nach.“

Er zuckte zusammen, als sein Telefon läutete, runzelte die Stirn. Ran warf ihm einen fragenden Blick zu – er hielt ihr sein Handy hin, so dass sie den Anrufer vom Display ablesen konnte.
 

„Mein Vater.“
 

Mit einem letzten Blick zu ihr und einer kurzen Anweisung zu Jenna wandte er sich ab, nahm den Anruf entgegen.

„Hallo Vater.“

Yusaku Kudô fiel ohne Begrüßung mit der Tür ins Haus.
 

„Du hast dich gestern nicht gemeldet. Deine Mutter und ich haben uns Sorgen gemacht.“
 

Shinichi seufzte, sank gegen eine Wand.

„Ach ja, richtig… entschuldigt bitte. Ich habs schlichtweg vergessen. Ich war… beschäftigt.“

„So. Sag mir mal, wann du nicht beschäftigt bist, Sohnemann.“

Shinichi konnte den Zynismus aus der Stimme seines Vaters heraushören.

„Nie. Und ich bin auch jetzt beschäftigt, im Übrigen, wir sind an… einem Tatort. Aber wenn du so interessiert bist, dann warte doch in meinem Büro auf mich, ich komm da auch gleich hin.“

Er hörte am Tonfall seines Vaters, dass er mit der Abspeisung nicht zufrieden war - allerdings war Yusaku Kudô schlau genug, wann ein guter Moment zum Reden war und wann nicht.

Jetzt war er es nicht, soviel war klar.
 

„Gut. Dann sehen wir uns da.“
 

Shinichi seufzte, als er auflegte. Dann suchte er nach Heiji und ging in Richtung des Raums, in dem sie alle Mitarbeiter versammelt hatten, als eine Bewegung im Augenwinkel ihn aufsehen ließ – er erstarrte augenblicklich.
 

Kurz, ganz kurz hatte er ihn gesehen.

Ein schwarzer Schatten inmitten der bunten Touristenmasse, die sich im Foyer drängte.

Ein Hut, ein Schwung silberweißer Haare.
 

Heiji starrte ihn an.
 

„Was ist los?“

Shinichi blinzelte, drehte sich um die eigene Achse, mehrmals, ließ seine Augen über die Menge gleiten – er fand ihn nicht.
 

Gin!

Er ist nicht da – wo ist er hin?

Wo ist er hin?!
 

Dann sah er etwas anderes.

Ein bleiches Gesicht, in der Nähe des Ausgangs, auf dem pure Verzweiflung stand, als er umsonst an der Türklinke rüttelte.
 

Shinichi nickte nur in dessen Richtung, als er sich ohne Eile auf den Weg zum Eingang machte, um Eduard Brady eine Mitfahrgelegenheit und ein neues Dach über dem Kopf anzubieten.

Heiji folgte ihm mit grimmigem Gesichtsausdruck.

Kapitel 31 – Der kleine Fisch

Kapitel 31 – Der kleine Fisch
 

Der junge Mann schien fast zusammenzubrechen, als er die Hand auf seiner Schulter spürte – es war kein fester Griff, nur eine kurze Berührung, ehe er sich umdrehte, um dem Unausweichlichen ins Auge zu blicken.
 

„Eduard Brady…“

Shinichi schluckte, schaute den jungen Mann mit bitterem Lächeln an.

„We are, as you might assume, here to take you into custody because of the urgent suspicion of having comitted the murder of the young woman which was found in the “Chambers of Fear”. Besides, …“

Er holte Luft.

„… you are equally accused of having probably murdered Ayako Kanagawa and Erin Shaughnessy as well. Therefore, I may point your rights out for you…“

Sanft und ohne Hast drehte er den jungen Mann um, griff nach seinen Handgelenken, um dem vor Schock erstarrten Studenten die Handschellen anzulegen.

„You have the right to remain silent when questioned. You do not have to say anything, but it may harm your defence if you do not mention when questioned something which you later rely on in court. Anything you do say may be given in evidence. You have the right to consult an attorney before speaking to the police and to have an attorney present during questioning now or in the future. If you cannot afford an attorney, one will be assigned to you before any questioning, if you wish. Did you understand that?“

Er ließ seinen mutmaßlichen Täter wieder los, drehte ihn wieder zu sich, schaute ihn ernst an.

„Eduard Brady – did you understand what I was explaining to you?“, fragte er bestimmt, aber nicht unfreundlich.
 

„Yeah.“

Zitternd hing das Wort in der Luft. Eduard Bradys Gesichtsfarbe war weiß wie die Wand, vor der er stand.

„Well. We will take you to the Yard now. You are no longer a witness, but a suspect. This is why you will be arrested before and after your questioning. Am I right by assuming that you cannot afford an attourney?“

Der junge Mann nickte wie betäubt.

„Then I am going to get one assigned to you.“

Er schluckte, zögerte, ehe er diese Frage stellte.

„Eduard, where is Meredith? Where’s your girlfriend?“
 

Und diese eine Frage reichte.

Schlagartig wich sämtliche Farbe aus Bradys Gesicht, er verdrehte die Augen – warf Shinichi nur noch einen kurzen, gequälten Blick zu, ehe er kollabierte.
 

Shinichi fing ihn gerade noch auf, legte ihn mit Heijis Hilfe auf den Rücken, hielt ihm die Beine hoch, bis er wieder zu sich kam. Er sah den kalten Schweiß auf seiner Stirn glänzen, warf Heiji einen bezeichnenden Blick zu.
 

Angstschweiß.
 

Mein Gott… er wird nicht einen Ton sagen.

Nicht einen.

Und wenn doch, wird er uns nie im Leben die volle Wahrheit sagen.
 

Als seine Lider flatterten, er mit einem leisen Stöhnen wieder zu sich kam, half er ihm auf, vorsichtig, gab den mittlerweile eingetroffenen Polizisten die letzten Anweisungen, wie sie mit der Auflösung des Menschenauflaufs sowie mit den Mitarbeitern, die mit Brady gesprochen hatten und der Freigabe des Tatorts verfahren sollten, und geleitete Brady, den er und Heiji fest zwischen ihre Mitte genommen hatten, damit er ihnen nicht noch einmal zusammenbrach, hinaus in den Wagen. Heiji setzte sich mit ihm in den Fond, während Shinichi den Wagen zurück ins Scotland-Yard-Hauptgebäude lenkte.
 

In seiner Tasche bimmelte sein Handy, aber er machte sich nicht die Mühe, ranzugehen. Stattdessen beobachtete er durch den Rückspiegel seinen Tatverdächtigen.
 

„Do you know who has taken Meredith Rowling as his hostage? Or where she might be?“

Brady blieb stumm, starrte auf seine Schuhe.
 

„Who was employing you? Who gave you your orders?“

„Kudô…“

Heiji schaute ihn ungläubig an.

„Du…“

„Ich weiß sehr gut selbst, dass ich das nicht darf.“

Shinichi schluckte.

„Ich hab ihm seine Rechte gerade runtergebetet. Aber glaubst du, er wird mehr sagen, wenn er jetzt gleich im Verhörraum sitzt?“

Er seufzte.

„Brady, I want to help you. Who…“

„Her name is Juniper. Juniper Torres.“

Eduards leise Stimme klang gespenstisch durch die Fahrgastkabine.

„And I confess. I murdered her, it was me. And I murdered Aya. And Erin as well…“

Er würgte.

„Aya und Erin. I… it was me alone, no one helped me…“
 

Shinichi blieb die Luft weg – er drehte sich um und merkte fast zu spät, dass er beinahe eine rote Ampel überfuhr. Hart stieg er auf das Bremspedal, brachte den Wagen gerade noch zum Stehen.

Dann wandte er sich um, erneut.

„Why on earth are you signing responsible for crimes you have not committed?”

„But that’s not true! It was me, you have the …“

„… wrong guy.“

Shinichi stöhnte frustriert auf, verzweifelt über so viel Verbocktheit und Dummheit an einem Platz, schaute ihn ernst an.

„I beg you, Eduard, don’t consider me a fool, you know I am not, the whole British Isles know I’m not. I am long enough into this business, although one might not think that, looking at my age. I know when a murderer sits in front of me, fully capable of his deed. And I know if this is not the case. You for sure are not one of the first kind. You have not done that by yourself, this was not your idea and not your plan. You, for sure, did not do this alone.“
 

Er lehnte sich zurück, nur um sich kurz darauf nach vorne zu beugen.
 

„Perhaps you tell the truth by mainting to have murdered Juniper. But by no means the other two girls, I would have known the very second you sat in front of me two days ago. You have made yourself guilty of being a complice, yes. But you are not the one who has set that whole thing up. You did not enjoy it, either. So – why did you do this? Was it because of the money?“

Die Stimme des hageren Kerls klang weinerlich.

„Stop it! You are bringing me into big trouble...“

Shinichi lachte hohl. Heiji schluckte, schaute ihn an.

„Oh, no, not me. You are already in bigger troubles than you might even guess, and you will be in the worst of troubles if you don’t decide on speaking clear, now.“

Shinichis Stimme klang scharf.
 

Dann bog er auf den Parkplatz von Scotland Yard ein, wo bereits uniformierte Beamte auf ihn warteten.
 


 

Yusaku Kudô hatte sich ohne seine Frau auf den Weg gemacht. Er hatte sie dazu überreden können, ein paar Wellnessbehandlungen wahrzunehmen, die das Hotel im Angebot hatte, und sich später mit ihm und ihrem Sohn zu treffen – er hatte das Gefühl, wenn er mit Shinichi reden wollte, dann würde das besser funktionieren, wenn die Situation patt war. Einer gegen einen.

Von Ran hatten sie seither nur kurz etwas gehört – Yukiko hatte sie gestern angerufen und erfahren, dass sich in Sachen Shinichi nichts getan hatte – und dass die FBI Agents Starling und Akai nun auf sie aufpassten.

Immerhin.

Ihre Stimme wäre seltsam belegt gewesen, hatte sie gemeint.

Und er ahnte, dass Ran sie angeschwindelt hatte, als sie behauptet hatte, mit ihr und Shinichi wäre nichts gewesen.

Er traute sich wetten, dass sie sich gestritten hatten.

Und dass er sie wieder weggeschickt hatte.

Er war deutlich genug gewesen, im Restaurant, vor zwei Tagen. Und wie er seinen Sohn kannte, stur genug, um das auch durchzuziehen.
 

Dickschädel. Von wem hast du das bloß? Garantiert nicht von mir.

Müssen Yukikos Gene sein…
 

Als er das Yard betrat, um sich als Besucher anzumelden, lief ihm jemand anderes in die Arme – Kogorô Môri.

Der Mann blieb erstarrt wie zur Salzsäule stehen, als er den Kriminalschriftsteller auf sich zukommen sah.

„Ah. Kogorô.“

Er gab ihm die Hand, drückte sie kurz. Der Polizist nickte gesetzt, hatte offenbar seine Sprache wieder gefunden.

„Yusaku. Du kommst wohl wegen….“

„Shinichi, richtig. Er ist wohl gerade noch an einem Tatort. Weißt du…?“

„Nein.“

Er schüttelte kurz den Kopf.

„Wir haben gestern den Tatort gefunden, an dem ein weiteres Mädchen getötet worden ist – eine riesige Blutlache…“

Er brach ab.

„Nun. Ich nehme an, sie werden jetzt wohl das Opfer, das dazu passt, gefunden haben. Da ich mit den Kanagawas gesprochen habe, um Heiji etwas zu entlasten, war ich nicht dabei.“

Yusaku nickte langsam.

„Ich muss mich anmelden gehen. Wir können dann zusammen in sein Büro gehen, ich nehme an, du kennst den Weg?“

Kogorô nickte langsam.
 

Der Gedanke, die nächsten Minuten mit Shinichis Vater in einem Raum zu verbringen behagte ihm gar nicht - auch wenn er aus der Reaktion des Schriftstellers bisher schloss, dass Shinichi ihr Geheimnis wohl tatsächlich nur Heiji anvertraut hatte.
 


 

Jenna kam etwa eine halbe Stunde vor ihrem Partner im Yard an. Als sie die vier jungen Damen durch die Lobby zu den Zeugenvernehmungsräumen führte, hatten die beiden Väter die Szene bereits verlassen.

Sie warf einen Blick auf Ran – so nahe war sie der jungen Frau bisher nicht gewesen. Und sie musste zugeben, sie verstand langsam, was ihr Partner an ihr fand.

Lange, schokoladenbraune, glänzende Haare, elfenbeinfarbene Haut, etwas blass vielleicht, aber makellos. Hohe Wangenknochen, fein geschwungene Augenbrauen, ein zartes Näschen in den nahezu perfekt symmetrischen Gesichtszügen. Dazu ein paar sinnlich roter Lippen, die ihrem Gesicht so viel Wärme und Sympathie verliehen, wenn sie lächelten – sie hatte ein einnehmendes Lächeln, selbst wenn sie es sich aufzwang, so, wie sie es getan hatte, als sie ihr die Hand zum Gruß gegeben hatte, als sie sich ihr vorgestellt und sie gebeten hatte, ihr zum Wagen zu folgen.
 

Und dann diese Augen.

Groß, mit einem dichten Kranz langer Wimpern gesäumt, und von einem Blau, das einem schier den Atem raubte.

Kornblumenblau, fast violett.
 

Und als sie sie angesehen hatte, und ihr diese eine Frage gestellt hatte, hatte sie gewusst, dass sie es war – die Frau für ihn.
 

„How’s he doing?“
 

Jenna stutzte kurz – dann bemerkte sie Rans Blick, der auf Shinichi haftete, allerdings nicht lange – er eilte mit Heiji gerade um die Ecke, raus aus ihrer aller Blickfeld.
 

„He loves you.“
 

Rans Augen hatten sich geweitet, als sie diese Worte aus dem Mund der für sie fremden Frau hörte.

„What…“

„I know, you argued badly yesterday. I did not understand one word, but I could hear it in your voices, see it in your faces. But he… he is only reacting like that, because he fears to lose you again. I never saw him so fearful ever before.”
 

Jenna schluckte.

“He’s so confident, always. So cool, but friendly, so honest and patient. Seeing him off his nerves, off his wits, is unsettling, but makes him so much more human. You must forgive him. And never stop believing in him, because if you lose faith, I fear, he’ll lose hope… and the both of us don’t want to see what’ll happen then.”
 

Diese Worte von Jenna zu hören, einer Frau, die sie faktisch nicht kannte – hatte Ran nun doch aufhorchen lassen.

Als Sonoko ihr ihre Rede gehalten hatte, hatte sie das natürlich nicht abgetan. Aber Sonoko war nicht dabei gewesen, als Shinichi gestern mit ihr Schluss gemacht hatte. Sie hatte ihn nicht erlebt.
 

Jenna hingegen… hatte mit Shinichi die letzten Jahre nur professionell zusammengearbeitet, sie war eine Detektivin – und sie hatte ihn gesehen, gestern, und sah ihn jeden Tag.

Ihr nun zu sagen, dass sie den Glauben nicht verlieren dürfe, ihr zu sagen, was Sonoko ihr auch schon gesagt hatten, brachte die Botschaft auf einen völlig neuen Nenner.
 

Ist es wirklich so offensichtlich… was er für mich ist?

Was ich… für ihn bin…
 

Dann waren sie angekommen im Yard, und ihrer Führerin durch die Hallen und Gänge und Räume gefolgt, bis sie in einem kleinen Raum angehalten hatten – eine kleine Sitzgruppe befand sich darin, und Jenna hatte sich darum gekümmert, ihnen Getränke zu besorgen, damit sie den Schock des Funds einer Leiche etwas besser vertragen konnten. Nun saßen sie da, das Diktiergerät zwischen sich - sechs Frauen und ein Mann um einen Tisch gruppiert.

Und es war nur Ran, die sprach – sie hatte die Leiche als erste gesehen, also erzählte sie die Geschichte von Anfang an.

Man merkte ihr an, dass dies nicht die erste Aussage war, die sie machte, dachte Jenna. Sie war ruhig, fokussiert, präzise und detailliert, ohne abzuschweifen.
 

Und gerade, als sie fertig waren und Jenna zufrieden das Gerät abstellte, ging die Tür auf.

Herein kam AC Montgomery, sein Gesicht hochrot.
 

„Where’s he?“

Jenna stand auf, Unmut stand in ihren Zügen zu lesen.

„Good day to you, Mr. Montgomery. I have just ended the questioning of our witnesses. These ladies have found the corpse of the young girl. Did you know?”
 

Erst jetzt wandte sich der Assistant commissioner um, bemerkte, dass der Raum voller Leute war.

„Ah. Well. But that does not answer my question. Where’s Sherlock? I…“

SI Kudô searched for our suspect, as far as I know. I think, he’ll bring him here as soon as he has found him. Isn’t he back yet?”

“I… don’t…”

“What is it, that you want from him, though?”

Langsam wunderte sie sich, woher sie den Mumm hatte, mit ihrem Vorgesetzten so zu sprechen. Allerdings, und das war ihr schnell klar geworden, war die Kacke hier mächtig am Dampfen.

„I heard, we found the corpse. I wanted to speak to him about…”

Er brach ab, als ihm klar wurde, dass alle mithörten, was er sagte.

„Tell him I want a word with him.“
 

Damit zog er die Tür hinter sich zu. Ran trat neben Jenna, warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Seems that Shinichi’s getting trouble…?“

„Yeah.“
 

Jenna massierte sich die Nasenwurzel.

„You know, we had a suspect arrested, the estimated painter of those pictures. SI Kudô let him go, set me on his tail to watch him. He does not believe that that painter did it all by himself… but now, as it seems, he has at least murdered that last woman. And…”

“… if he had kept that painter arrested, that death could’ve been prevented?”

Shiho trat vor, schaute den jungen Sergeant ernst an.

„That is suspicion. If there is another man behind these murders, I guess, no. But it could’ve been prevented, that the painter killed her. Montgomery did argue with SI Kudô yesterday because of this. Then he found that loft with all that blood and colour stains, and so he knew since yesterday, that he’ll get the whole of Montgomery’s anger down his throat today. He did not make that decision light-headed, but Montgomery thought it was a wrong one… and today’s happenings will prove him right.”
 

Sie seufzte.

“Better I find him and alert him to be prepared. I guess, as soon as he’s done with that all, he’ll be with you. You can wait in the lobby. If I meet him, I’ll tell him to see you there.“
 

Sie stand auf, komplimentierte die Damen und den Herrn nach draußen.
 


 

Jennas Plan, Shinichi vorzuwarnen, ging allerdings nicht auf. Shinichi hatte Brady gerade in eine vorläufige Arrestzelle gebracht, bis sein Anwalt da wäre um mit ihm zu reden, als er und Heiji Jackson Montgomery in die Arme liefen.
 

Shinichi blieb augenblicklich stehen, als er das hochrote Gesicht des AC auf sich zukommen sah. Heiji hielt neben ihm inne, wartete, bis der Mann auf Augenhöhe bei ihnen angekommen war.
 

„Did you arrest him now, at least?“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. Shinichi nickte geschlagen.

„Eduard Brady was caught at the crime scene and is now arrested in room five. He is waiting for his attourney. He has voluntarily confessed the murder of Juniper Torres, this is the name of our new victim, in presence of me and Commissioner Hattori.“

Shinichi schluckte. Montgomery nickte grimmig.

„Alright. You will follow me, now. You may leave.“

Heiji schaute Shinichi alarmiert an. Der seufzte lautlos, unmerklich, nickte dann.

„Geh vor, such die anderen. Wir sehen uns später, ich finde euch schon.“
 

Damit folgte er seinem Vorgesetzten durch die Gänge des Yards in dessen Büro. Heiji schaute ihm unwillig hinterher, ehe er in die Lobby trat, wo er auf Kazuha und die anderen stieß. Sie hatten sich in eine Sitzgruppe gesetzt, sahen Heiji, der auf sie zutrat, erwartungsvoll an. Heiji trat neben Akai, seufzte leise.

„Er is bei seinem Chef. Der Mann schien ziemlich sauer.“

Unwillig verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Habt ihr ihn?“

Akai sah ihn nicht an, als er sprach, wie immer; und Heiji schaute ihn nicht an, als er antwortete, sondern beobachtete das rege Treiben draußen auf dem Parkplatz.

„Den mutmaßlichen Mörder, ja, wenn das stimmt, was er Kudô und mir erzählt hat. Es war Brady.“

Er seufzte leise, bemerkte Rans bekümmerten Blick.

„Ja, genau… er führt in diesen Momenten wohl ein sehr unangenehmes Gespräch. Dennoch finde ich, er hat richtig entschieden. Ich denke auch, hinter diesen Morden steckt noch wer anders. Ich kann mir diesen Wurm von Kunststudenten einfach nich‘ als jemanden vorstellen, der kaltblütig einen solchen Plan ausheckt. Ich denke, er war ein Handlanger, ein Komplize, der jetzt zum Mittäter gemacht wurde, weil er so noch gefügiger is‘. Und ich glaube auch, dass Kudô Recht hat. Dass diese Leute, wer auch immer sie sin‘…“

Er hielt inne, als er Akais Blick aus den Augenwinkel bemerkte.

„… dass die die kleine Freundin unseres Tatverdächtigen haben. Und solange dem so is‘, wird unser Künstler keinen Ton sagen, beziehungsweise… keinen wahren Ton.“
 

Heiji strich sich über die Augen.

„Dennoch… irgendwas scheint faul. Ihr hättet ihn sehen sollen – er brach fast zusammen, als Kudô ihn festgenommen hat, und ich hab nie jemanden einen Tatverdächtigen so… respektvoll und ruhig festnehmen sehen. Er hat ihn belehrt, und dann hat er ihn nach dem Verbleib seiner Freundin, Meredith Rowling, gefragt, und da kippt der Mann uns einfach um…“
 

Er wandte sich von der Szene vor dem Fenster ab, schaute zu Kazuha.

„Wir konnt‘n ihn gerade noch auffangen, mussten warten, bis er wieder bei Bewusstsein war. Wenn du mich fragst, lügt er, wenn er sagt, er war‘s alleine… und das is‘ der Beweis. Es war die schiere, pure Angst um das Leben seiner Freundin, die ihn da umgehauen hat, und Kudô weiß das auch. Er ahnte es die ganze Zeit.“
 

Unwillig stopfte er sich seine Hände in die Hosentaschen.

„Und dennoch wird er jetzt wohl für seine Entscheidung bezahlen müssen, weil er’s nich‘ beweisen kann, und weil das hier läuft, wie‘s überall läuft… man will schnell den Schuldigen einbuchten, um die Massen zu beruhigen, und wenns auch nich‘ der echte Schuldige is. Und der, der eine riskante Entscheidung traf, um der Wahrheit willen, muss seinen Kopf nu hinhalten.“
 

Er schaute in Richtung Treppenaufgang, in dem er verschwunden war.

„Bleibt bloß zu hoffen, dass Montgomery ein wenig Einsicht zeigt. Vielleicht sollt wer in seinem Büro auf ihn warten, falls er uns da sucht.“
 

Ran stand auf, schaute ihn an.

„Ich mach das.“

„Hm?“

Heiji schaute sie an.

„Hör zu, Ran, ich weiß nich‘…“

„Ich schneid das Thema nicht an, Heiji. Aber ich will… ich will einfach… ich weiß auch nicht. Helfen, auch wenn ich eigentlich nicht helfen kann.“

Sie lächelte unglücklich.

„Also?“
 

Heiji seufzte.

„Na gut, dann geh schon mal vor, ich komm dann gleich hinterher. Treppe rauf, dritter Stock, Gang rechts rein, dritte Tür auf der linken Seite. Ich schau noch schnell, ob ich Jenna find‘, dann komm ich nach.“
 

Ran nickte nur, stand dann auf, ging eiligen Schrittes durch die Lobby zur Treppe, in ihrem Blick pure Entschlossenheit.
 


 


 

Eduard saß in seiner Zelle, starrte auf den Boden zu seinen Füßen.

Die Handschellen hatten nicht fest gesessen, dennoch rieb er sich immer und immer wieder die Handgelenke, abwechselnd - zweimal mit der linken Hand seine Rechte, dann zweimal mit seiner rechten Hand seine Linke.

Er fühlte sich wie betäubt, seit er die Hand auf seiner Schulter gespürt hatte – in ihm war, so schien es ihm, kaum mehr Leben.

Erst Recht, seit diese Tür hinter ihm zugefallen war.
 

Seine Gedanken drehten sich nur um eins: Meredith.
 

Was würden sie mit ihr machen?

Nun, da er aufgeflogen war, in den Händen des Mannes, den sie doch eigentlich zerstören wollten… Sherlock Holmes.
 

Shinichi Kudô.
 

Er würde kein Mädchen mehr malen können, es würde kein weiteres Opfer mehr geben, das erleichterte ihn zwar, einerseits – andererseits lag ihm Juniper immer noch schwer im Magen und noch schwerer auf seinem Gewissen.
 

Er hatte sie umgebracht.

Und er hatte das gestanden.

Halb fragte der junge Maler sich, was ihn geritten hatte, als er dem jungen Polizisten gebeichtet hatte, dass er Juniper umgebracht hatte – er hatte keine Ahnung, wie die Beweislage stand, ob sie ihm den Mord überhaupt hätten anhängen können. Allerdings, der junge Mitarbeiter bei Madame Toussaud‘s, den er betäubt hatte, würde ihn wohl doch irgendwie wiedererkennen, genauso die anderen Mitarbeiter, die mit ihm geredet hatten.

Er wäre aus der Nummer so oder so nicht mehr herausgekommen, und es hatte gutgetan, sich das von der Seele zu reden…

Zu gestehen, zu beichten, eine Sünde zuzugeben, die sein Leben zerstört hatte.
 

Er hatte auch Morde gestanden, die er nicht begangen hatte, und er wusste, er würde bei dieser Version bleiben – einerseits, weil er sich schuldig fühlte, schließlich hatte er sie in ihr Verderben gerissen… andererseits, um Meredith nicht zu gefährden. Er ahnte, die einzige Möglichkeit, um sie zu schützen war, die Polizei mit allen Mitteln von ihnen abzulenken.

Von Kurosawa und seiner Begleiterin.
 

Eduard sank auf seiner Pritsche zusammen.
 

Damit war es amtlich – sein Leben war verwirkt.

Er hatte den Karren mit Wucht gegen die Wand gefahren, dabei sowohl die Scheinwerfer als auch die Achsen demoliert – er sah nichts mehr, und vom Fleck würde er auch nicht mehr kommen.

Er wusste nicht, was er tun sollte – er kam hier nicht raus, er wusste nicht, wie er Meredith aus ihren Fängen befreien konnte, und fast lockte es ihn, doch zu sagen, was er wusste. Scotland Yard alles zu stecken, angefangen von der Anzeige über den ersten Mord von Ayako, dem Mord an Erin, bis hin zu seinem eigenen Verbrechen an Juniper. Ihnen die beiden zu beschreiben, ihre Namen zu nennen.

Zu zwitschern, wo der zweite Unterschlupf dieses illustren Pärchens war.

Und dass sie Meredith hatten, dass man sie retten musste.
 

Er hatte sich nicht getraut, mehr Hinweise zu geben, als die Blumen, die er in die Bilder eingebaut hatte, sowie die Eintrittskarte, die er unter dem Schrank versteckt hatte.

Seit sie ihm die Liste der Tatorte gegeben hatten, und er wusste, wo das letzte Opfer deponiert werden würde, hatte er angefangen, unscheinbar Bezüge und Hinweise zu verstecken. Und er fragte sich, ob Holmes es herausfand.

Er schien zu ahnen, dass er nur der kleiner Fisch war – der große schwamm noch im Teich. Und er war sich sicher, deshalb hatte er ihn vor einem Tag auch nicht eingesperrt… er hatte als Köderfischchen dienen sollen.
 

Dieser Plan war schief gegangen.
 

Er wollte all das so gern sagen - und dieses hübsche asiatische Mädchen warnen, das ganz offensichtlich in Gefahr war.

Das Bild war nicht fertig, nur die Vorzeichnung stand, die sie mitgenommen hatten, zusammen mit Meredith, aber das reichte eigentlich.

Sie war faszinierend, ganz und gar erstaunlich, hatte einen Blick von solcher Intensität, dass allein diese Zeichnung schon alles über sie sagte.
 

Sehnsucht, das war ihr zweiter Name, wie es schien.

Liebe - verzweifelte, tragische Liebe zu ihm.
 

Er hätte zu gern ihren Namen gewusst.
 

Was er wusste, war, dass sie der Zugang zu Sherlock Holmes war, wohl. Sonst hätte dieser Kurosawa nicht so ein brennendes Interesse an ihr, daran, sie in die Finger zu bekommen, daran, ihr das Leben zu nehmen.

Er hoffte, ihn dadurch zu brechen, dessen war er sich sicher.
 

Und Eduard wusste, in dieser Hinsicht ähnelten sie sich wohl… wie er für Meredith würde Sherlock wohl für dieses Mädchen alles tun.
 

Er biss sich auf die Lippen, vergrub sein Gesicht in seinen Händen, konnte nicht verhindern, dass ihm die ersten Tränen über die Wangen liefen.
 

Meredith.
 

Er wusste, er konnte es ihm nicht sagen, so verlockend es auch war, endlich die Verantwortung abzugeben, sich helfen zu lassen, sein Gewissen zu erleichtern. Er durfte die Polizei nicht einschalten.

Denn wenn Kurosawa auch nur den Schatten von einem von ihnen sah, das ahnte er, war Meredith tot.
 

Und tot… war noch schlimmer als gefangen.

Mit etwas Glück ließen sie sie einfach laufen.
 

So recht glauben wollte er allerdings nicht daran.
 

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Hallo ihr Lieben!
 

Na? Die Weihnachtsfeiertage gut überstanden? Ich weiß, ich war etwas im Verzug mit meinen Kapiteln, dennoch hoffe ich, dass mir nicht allzuviele Leser abgesprungen sind, hier… es sieht noch ein wenig verlassen aus hier ;)

Ich hoffe, dass ich ab dem neuen Jahr nun wieder pünktlich hochladen kann; als ersten Vorgeschmack gabs nun dieses Kapitel hier. Wie ihr vielleicht ahnt, zieht sich nun die Schlinge um diverse Hälse zu… und Unausweichliches nimmt seinen Lauf.

Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr und ein erfolgreiches, gesundes und glückliches Jahr 2016!

Kapitel 32: Suspendiert

Kapitel 32 – Suspendiert
 

Shinichi und Montgomery waren mittlerweile in dessen Büro angekommen – und es herrschte immer noch arktisches Schweigen zwischen ihnen, was Shinichi nun doch aufhorchen ließ.

Er hatte geahnt, dass er eine Rüge einstecken würde müssen, aber das hier verhieß… mehr. Shinichi schluckte hart. Er saß, während sein Vorgesetzter aufgestanden war, um ihn herumlief. McCoy stand in einer Ecke des Raums nahe der Tür, beobachtete die Szene stumm. In seiner Hand hielt er eine Akte, aus der er eben noch vorgelesen hatte – die erste, kurze Leichenschau hatte bestätigt, was ihm schon am Tatort klar gewesen war.
 

Jackson Montgomery schaute ihn düster an, in seinen Augen eine Mischung aus Vorwurf und Mitleid, als er endlich sprach.

"I know, you did not make that decision light-headed or half-hearted. I suppose, you considered arresting him for investigative purposes, at least. It would have earned us time, time to save that girl, perhaps, time to gather proof against him. If we had not achieved this, we would have been at the same status quo than before. You decided against that option. Obviously you believed that a shadowing of that man would made more sense, would earn more profit – I just ask myself, what exactly did you expect? Just what?“

Er schnaufte erregt, seine Gesichtsfarbe hatte einen deutlichen Rotstich angenommen während der letzten Minuten.
 

"You have heard the report of the autopsy and the crime scene investigators. It is the same culprit, his method absolutely identical to the other murders. The lab confirms the formula of that paint and therefore the brand, as well as the match of the bloodstains in that loft and the corpse of that young girl, and yes, in this case you were right – we found the missing file report minutes ago, she indeed worked as a model.”

Shinichi biss sich auf die Lippen.

„The witnesses, the staff members at Mme Toussaud’s, have identified Brady for being the guy who worked there today, maintaining to be a trainee. And we have had him here! HERE! Well, yes, we could not proof anything at that moment, but we would have gathered the time to do so, like finding that picture or else – what the heck have you been thinking when you let him leave!?”
 

Zum Ende seiner Rede hin war er laut geworden. Shinichi schaute ihn unwirsch an - schüttelte dann den Kopf.

"I just doubt that he’s our man."

"You know that’s wrong."

Montgomery trat nun wieder hinter seinen Schreibtisch, beugte sich vor, stützte seine Hände auf der Tischplatte ab und beäugte seinen Angestellten über seine Brillengläser hinweg.

"He had her blood sticking in stains to his clothes, though he obviously tried to clean them, and, what is more important, it even glued underneath his fingernails. Her blood, Sherlock. The report about the lab result is explicit. He would not have this amount of blood splattered onto his clothes, if he’d just carried her, prepared to be deposed at the place in Madame Toussaud’s. Because, as always, she is again almost run dry of blood and there’s not a single drop of it on her dress! NOT ONE DROP, DAMN IT! And you have told yourself minutes ago, that he has confessed! CON-FESSED!”

Nun schrie er, Speicheltropfen flogen durch die Luft; er merkte es selber, strich sich über Bart und Kinn, versuchte, sich einigermaßen wieder unter Kontrolle zu kriegen. Shinichi schaute ihn müde an. Er wusste, worauf das hinauslief.

Montgomery atmete schwer.

"You are lucky enough, the press will not throw themselves on this topic, they don’t know that we’ve had him already. The murder case is solved with his arrest and…“

Shinichi schüttelte den Kopf.

"It’s not."

"It is! Damn it, Sherlock, I just told you the results are clear and unambigous! Since when have you been so stubborn and short-minded…“

Er hielt inne, als er merkte, wie eine von Shinichis Augenbrauen in die Höhe rutschte.

"Oh, I understand completely. And I may agree on the fact that he has killed that last victim. But I do not see any proof for the first two girls and additionally, I just cannot see the SLIGHTEST MOTIVE!”

Nun war er es, dessen Stimme laut geworden war.

"Which motivation is it, that drives him? He is a poor chap, and then, from one day to another, he just happens to kill three young girls, without earning him so much as a penny? He did not demand for ransom money, the girls were not robbed. So why?!“

"What do I know! Perhaps he’s nuts, it does not interest me. Sociopaths tend to…“

"But he is no sociopath. He is living in a stable and loving relationship with his girlfriend, he is following his studies eagerly, he…”

“…already was in conflict with the law, as you yourself have let check by Sergeant Watson…”

“…and so are many youths at his age, without being sociopaths at all…”

“ENOUGH!“, bellte Montgomery, atmete schwer, fing sich nur mühsam wieder.

"It’s enough! What the hell do you want?!”

Shinichi schaute ihn frustriert an, wandte sich kurz um, fühlte sich irgendwie unwohl, den Doktor im Rücken zu haben, wenn er mit seiner Vermutung vor seinem Vorgesetzten herausrückte.

Schließlich seufzte er, brachte die nächsten Worte nur mit Mühe und sehr leiser Stimme über seine Lippen, spürte, wie in ihm jetzt schon das Gefühl erwuchs, sich gleich verteidigen zu müssen.
 

"I think, it’s them."

Montgomery schaute ihn verständnislos an.

"Who, them?"

Der AC beobachtete, wie sich Shinichis Gesicht verzog, er sich auf die Lippen biss und zum ersten Mal in diesem Gespräch seinem forschenden Blick auswich.

Erneut blickte er über die Schulter, sah McCoy dort neben der Tür stehen, immer noch. Und wünschte sich, der Mann würde gehen. Allerdings wagte er nicht, Montgomery um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten.
 

"The Organization.", antwortete er schließlich, so sachlich und leise, wie es ihm möglich war.

So leise hätte er allerdings gar nicht reden brauchen - aus Montgomery brach es heraus wie aus einem Vulkan.

Tosendes Gelächter, das allerdings schnell einem bitteren Lächeln wich.
 

"You. Are. Kidding. ME!"
 

Er strich sich über seine Lippen, seinen Bart, schüttelte atemlos den Kopf.

"With all respect for your achievement five years ago, Sherlock, but this Organization does not longer exist. It is a nightmare that’s haunting you. You have ripped it into pieces by yourself. Tell me, just what makes you believe that they are still out there?“
 

Shinichi bewegte sich unruhig. Auf keinen Fall wollte er von dem Umschlag erzählen. Er wollte Ran nicht unnötig in Gefahr bringen, und erst Recht nicht zugeben, dass er gelogen hatte, als er sagte, er kenne sie kaum. Schließlich räusperte er sich, seufzte leise.
 

"The smell of Gin on the dress of the second victim, Erin Shaughnessy. A silvery blonde hair on the dress of the first one. The dresses that show various shades of black. The method how they are being killed… with a katana."
 

Unwillig presste er die Lippen aufeinander, starrte auf die Tischplatte.
 

Lange herrschte Stille im Büro.
 

Dann schüttelte AC Jackson Montgomery den Kopf, langsam, bedauernd.

„I really hoped you’ve coped with that. You know, none of those things you mention is real proof. You are seeing ghosts, Sherlock…”
 

Shinichi blickte auf, lächelte bitter, als sein Chef mit seiner Rede fortfuhr.
 

"I know, you have done exceptional work the last five years. And the recommendation letter of the FBI is talking for itself in a very convincing manner. Although I must make clear, that such a faux-pas, such a grand misjudgement as you have recently made, I never had thought possible. And I hoped for you, that you could give me a better explanation.”

Gedankenverloren schob der AC seine Akten auf einen Haufen.

"I am afraid, Sherlock, your promotion came too fast. I should not have presented you to that stress level, not yet. All in all you are not even twenty-five years old, and with your past…”

Shinichis Augen weiteten sich ungläubig - und nun war er es, den es nicht mehr auf dem Sitz hielt.

"What do you mean with that? My past?
 

Montgomerys Stimme klang entschuldigend.

"There must be consequences follow your mistakes. And when I must hear now, Sherlock, that you are tempted to believe your… halluzinations… more than the hard facts – expecially you, who is admiring Sherlock Holmes like no other…”
 

Er schaute auf, blickte Shinichi starr ins Gesicht.
 

"Never make the facts suit your theory, Sherlock."

Shinichi starrte ihn an, in seinen Augen glitzerte unverhohlen Wut.

"Shinichi.", brach es dann aus ihm hervor.

"Shinichi, damn it! Or SI Kudô, if you want to change to the correct address.“

Er atmete schwer.

"I did never put that stamp on myself! I work, like I’ve always worked, and if this is similar to some novel figure, that you and your fellow countryman worship, okay. But keep it to yourself! Do not put him in front of or above me, I am a completely different person! I am not Sherlock Holmes.
 

Shinichi war leise geworden zum Ende seines Satzes hin, gefährlich ruhig, hatte sich in Rage geredet.

"And it is just not true! You have, by no means, your man arrested! I know that! It’s you, to remain in your picture, who is making the facts suit his theory, Lestrade."

Er lächelte bitter und bemerkte mit Genugtuung den echauffierten Ausdruck auf Montgomerys Gesicht.

"It’s them working behind Brady, it’s them pulling the strings, I know it! The police did not arrest them all back then... You just don’t know...!"

"No."

Mit einer herrischen Geste schnitt der AC ihm das Wort ab.

"No, I don’t know. But I know very well, what language our proof speaks, and what is written down in your file. I know very well how much this case strained you. And I know, that persons, who had once gotten into contact with…”

Er brach ab, als er merkte, wie die Gesichtsfarbe seines Gegenübers von rot zu weiß wechselte.

"You are not implying that..!"

“You are lucky that I don‘t."

Er schaute ihn an, seine Stimme war auf ein eisiges Flüstern gesunken.

"Because I just would not only suspend you for this, but dismiss you, if I did."

Damit zog er ein kleines Fläschchen aus seiner Schublade. Shinichi starrte die klare Flüssigkeit an wie die Maus die Katze, ließ sich auf seinen Stuhl sinken, als seine Knie nachgaben. Seine Augen waren weit offen, Unverständnis sprach aus ihnen, aus er aufsah.
 

„What’s…“

„You know, what this is.“
 

Shinichi schluckte hart.
 

Diamorphin.
 

“Well, yes, but… why are you showing me this?”

Shinichis Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, als er in das Gesicht seines Vorgesetzten blickte. Das bittere Lächeln, das er dort fand, gefiel ihm nicht. Die Ahnung, die sich ihm aufdrängte, noch weniger.
 

"It’s been found in the drawer of your desk."
 

Die Druckwelle dieser Bombe schien ihn fast vom Stuhl zu fegen, ließ ihn sitzen, leer und emotionslos, für Momente nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, nicht einmal einen. Was das hieß, war ihm völlig klar.
 

Diamorphin! In meiner Schreibtischschublade… aber wie – wie kommt das dahin? Was… Wer?!
 

Seine Gedanken rasten, der Boden unter seinen Füßen schien sich immer weiter aufzutun. Er wusste, was das bedeutete, was nun gleich folgen würde, und er hatte das dumpfe Gefühl, dass jeder Widerstand völlig zwecklos war im Moment. Und so hörte er nur zu, wie betäubt, als sein Boss weiterredete.
 

Montgomery blickte ihn ruhig an.

"Unopened and without your fingerprints on it, that’s why it is not possible to trace it back to you. But it is definitely enough for me to get you suspended, along with your hallucinations and your mad thoughts about your Black Organisazion. Go, get yourself back to senses again, let somebody help you with that. Solve the problems you have with your life. Don’t try to deny that you have problems – I’ve seen the state you’re in for days now, I am not blind. And it’s partly my own fault, it was me, after all, who has burdened so much responsibility on your shoulders. I’ll call you when I consider the time ripe for your return. Get your belongings out of your office and hand over your weapon, mobile and sign.”
 

Shinichi starrte ihn an, wortlos. Er kam gar nicht dazu, ihn zu fragen, wie er dazu kam, bitteschön, in seiner Schreibtischschublade in seinem Büro zu kramen, oder wer es getan hatte, überhaupt. Wie in Trance zog er sein Telefon und seine Marke aus seiner Jackentasche, löste seine Pistole von seinem Gürtel, legte alles auf den Tisch seines Vorgesetzten und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort.
 

Und merkte erst draußen, dass er zum ersten Mal seit Jahren wieder an der Stelle kratzte.
 

Dort, wo die zahllosen Einstiche ihr Mal hinterlassen hatten, bis jetzt sorgsam verborgen unter dem Zifferblatt seiner Armbanduhr.

In ihm brodelte es, Wut über so viel Unvernunft, Wut über so viel Engstirnigkeit, Uneinsichtigkeit, und er spürte die nagende Enttäuschung über so wenig Vertrauen.
 

Er blieb stehen, ballte die Fäuste, zwang sich, diese Übersprunghandlung abzustellen, atmete tief ein und aus.
 

Draußen stand Jenna, schaute ihn fragend an - und auf einmal kam er sich seltsam nackt vor. Er war nicht mehr ihr Vorgesetzter und das katapultierte ihn auf eine ganz andere Stufe.

„What are we doing now? Question him again?“

Er seufzte leise, versuchte seine Sachlichkeit wieder zu erlangen, schüttelte dann den Kopf.

"We won’t do anything, Jenna. I am suspended, with immediate effect. You’ve got to handle this one on your own – or along with however will be assigned to that case.”

Sie schaute ihn ungläubig an.

"Suspended? Because of – because of this? Because of letting him go and not taking him into custody? Don’t make me laugh?!"

Er verdrehte die Augen, schaute an die Decke.

"Not only because of this, but… I don’t want to talk about it. Not now, that is. I guess, you’ll learn about it in the next hours nevertheless, and if you want to hear my point of view then, do contact me, please. I’ll be happy to tell you then.“

Wortlos bedeutete er ihr, von der Tür wegzugehen, schritt mit ihr den Gang entlang.

Sie schaute ihn lange an – dann schüttelte sie den Kopf.

„I don’t think that anything can change the picture I’ve painted from you, Sir – so – what now? How would you go along?”

Shinichi schaute sie überrascht an.

„What?“

„Well, you don’t believe that we have the right culprit. And I don’t either, honestly – this wannabe of a great artist genius should be able to plan a murder series like that, additionally, to drag his girlfriend into this – yeah, sure.”

Sie verdrehte die Augen.

“No, never. You think your special friends are pulling the strings, you did tell so, at least. So, what now? How are we to catch them?”

Shinichi seufzte, schüttelte den Kopf, langsam.

"You know I cannot prove it. And I don’t want you to get into trouble as well,..."

"Tell me, what you want me to do, Sir, and I'll do it."

Ihre Stimme klang entschlossen, wie es auch der Ausdruck ihrer braunen Augen war.
 

Shinichi schaute sie an, lange, ohne zu blinzeln – sie wich seinem Blick nicht aus, ihre Lippen zu einem dünnen Strich gepresst, ihre ganze Haltung verriet ihre Gespanntheit.

Er schloss die Augen kurz, sammelte sich, holte Luft.
 

"Try to get info from Brady. We must know where they are hiding. You know the story… if you need more info about them, ask Heiji.“

Jenna starrte ihn mit offenem Mund an.

„Be careful, they are very dangerous. They must not know that you are on their tracks. I am serious. Do you understand me?!“

Ein langsames Nicken genügte ihm kaum als Antwort, allerdings ließ Jenna sich zu mehr nicht erweichen.

„I do. What will you do in the meantime…?“

„I’ll investigate on my own."

Sein Blick wanderte den Gang entlang.

"Besides, please, try not to get yourself into difficulties here or to endanger your career – let alone your life. And please, don’t believe anything you’re told about me. At least not until I have… confirmed it to you.“

Er lächelte traurig.

"Why should..."

Er schüttelte den Kopf.

"Are Ran and the others done with their questioning?"

"Yeah.", Jenna nickte, etwas verwirrt über den abrupten Themenwechsel.

"I’ve sent them to the lobby, I guess, they are still waiting there."
 

Shinichi nickte nur – dann ging er eiligen Schrittes davon, ließ eine etwas verwirrte Jenna zurück.

Hinter ihr ging die Tür auf und AC Montgomery betrat den Gang. Jenna wandte sich um, sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Ah. Reading your facial expression, I guess you have already learned that SI Kudô was suspended for now...“

Ein bitteres Lächeln schlich sich über die Lippen des Sergeants.

„Yeah, Sir. He told me so just a few moments ago, before he left to tidy up is office.“

„Hm.“

Er vergrub seine Hände in seiner Hosentasche.

„I guess it would be best, if we assigened you to SI St. John in the meantime…“

„St. John? He is working on another case, as far as I know. But I want to close this case!“, unterbrach ihn Jenna, biss sich im selben Moment auf die Zunge. Ärger zeichnete sich auf Montgomerys Gesicht ab.

„Again, please? The case is closed, DS Watson. The culprit is caught, the last interviews will be conducted by DI Henderson, your efforts are no longer needed.“

„But I want to end it myself.“

Sie schluckte.

„Please, Sir. I was working on it from the beginning, please let me be part of the game when it is being closed…“

„What did our dearest Sherlock plant into your brains, Jenna?“

Jackson Montgomery war näher getreten, schaute sie scharf an.

„Are you lost to the same hallucination, the same weird idea as your partner? Listen, the very reason, why he is being suspended now, is not the wrong decision he made. It is the reason why he made it. He is fantasizing something, is still captive of this case he had to solve in his teenage years. This case must have gotten him traumatized, so much that he still seeks relief in…“
 

Er brach ab, als er Jennas kalkweißes Gesicht bemerkte. Dann lächelte er bitter.

„That is the reason for your admiration for him. You do not know what a fragile person he is… what a defective person, besides his brilliance, a man with flaws, a man who makes mistakes, just as we others, too. You should have read his file, Jenna. And what am I to think of you as a detective, if you don’t even inform yourself about the people you are working with on a daily basis…”

Jenna schluckte hart.

„You should take me for a detective who still believes in the best of people – in my eyes a most essential gift to do this job, otherwise – how would we be able to be considerate and fair to others, if we, the police, assume the worst in everybody?

And, what is even more important – I am an officer who trusts her partners with her live, unoccupied. A trust that has never been disappointed, just to let you know. And don’t you dare to say something different, he is the best man you have here, you would never have promoted him so early, if you haven’t been of that very opinion!”
 

Ihre Stimme war bissig geworden, die Hitze stieg ihr langsam zu Kopf.

„And now you abandon him, because you don’t like what he tells you, you let him fall like some hot potatoe, because he is thinking that there’s someone else involved in this case than this poor chap of a painter, this is…”

„I have suspended SI Kudô because he is suspected of consuming drugs.“

Jenna brach ab, abrupt, fühlte sich, als hätte man ihr einen Eimer Eiswasser über den Kopf gekippt, hätte sich beinahe auf die Zunge gebissen.

„Again.“, fügte Montgomery an.

„Go, get his file, read it. It is resting on my desk just now. We found diamorphine in his desk.”

Jenna schloss die Augen, versuchte die Gedanken, die sich in ihrem Kopf gerade zu dutzenden überschlugen, etwas zu bremsen.

„And you know for sure it’s his?“, fragte sie langsam.

„Well, it was in his…“

„I have heard what you said, besides, I am asking myself what you have lost in his office or, moreover, in his desk. But I want to know if there were fingerprints on that flask or was there an injection set found with his DNA on it? Did you get him tested?”

Sie wusste selbst nicht, wie sie die Sätze so ruhig formulieren konnte. Allein die Vorstellung von ihm, sich eine Spritze setzend, reichte eigentlich, um in ihr Übelkeit aufsteigen zu lassen.

Es passte so gar nicht.

„No.“, murmelte Montgomery zerknirscht.

„Then you cannot prove that he has in fact used that stuff.“

Jennas Puls raste. Sie wusste selber nicht, ob sie daran glaubte, was sie gerade sagte. Vor ihrem inneren Auge tauchte sein Gesicht auf, seine bleiche Haut, die tiefen Schatten unter den Augen, der fiebrige Glanz in seinen Pupillen, seine fahrigen Gesten.

Das alles… gepaart mit seiner Ähnlichkeit zu Sherlock Holmes… wer sagte ihr, dass er nicht auch in dieser Hinsicht…
 

No way, Jenna. That’s not him. He would not kill off his little grey cells like that…

Just why did he take that stuff earlier?
 

Montgomery schnaubte ungehalten, in seinen Augen glitzerte Ärger, der sich in seiner Stimme deutlich wiederspiegelte.
 

“Believe what you want, Watson. And for heaven’s sake, investigate Brady on your own, if you think that will change anything or do any good. You’ll see, it is like it is – he is the culprit, and that was it. Go into his flat and secure proof. Take someone of the crime-scene-investigators with you.”

Damit wandte er sich um, marschierte brüsk den Gang entlang, während sein Sergeant ihm mit bohrendem Blick hinterherstarrte.
 

Sorehead.
 

Jenna schluckte, schaute zur Tür des AC. Sie würde nicht die Akte lesen.

Sie würde ihn selber fragen.

Kapitel 33 – Ersatzstoff

Kapitel 33 – Ersatzstoff
 


 

Shinichi hingegen dampfte den Gang entlang zu seinem Büro, schäumte vor Wut fast über. Nach dem anfänglichen Schock war Ärger in ihm aufgewallt, Ärger darüber, dass man ihn wieder behandelte wie ein kleines Kind.

Dass man ihm nicht glaubte, nicht ernst nahm, weil in seiner Akte stand, dass man ihn behandelt hatte, gegen eine Sucht, die er nicht freiwillig auf sich genommen hatte – genauso wie er deren Behandlung nicht freiwillig ertragen hatte.

Dass man nie auf ihn hörte, nie respektierte, wenn er um etwas bat.
 

Wenn er bat, ihm kein Diamorphin zu geben.

Ihm zu glauben, dass sie den falschen Täter hatten.
 

Es ist immer das Gleiche. Ich werde diesen kleinen Fratz wohl niemals los…

Egal ob mit sieben, siebzehn oder fünfundzwanzig, man findet immer einen Grund, mir nicht zu glauben, nicht auf mich zu hören, nicht das zu tun, was ich für richtig halte.
 

Er stieg in den Aufzug, lehnte sich gegen die Rückwand, seufzte tief; dann zückte er sein Handy, wählte Jodies Nummer, um sie über die neueste Wendung zu informieren; lieber erledigte er das gleich, als dass er es ihr und Akai vor aller Augen und Ohren erzählen musste. Shinichi hörte sehr wohl die Sorge in ihrer Stimme, und er war sich auch sicher, dass sie lieber mit ihm und jetzt gleich unter vier Augen geredet hätte, aber dazu ließ er sich nicht breitschlagen.

Er hatte zuerst etwas anderes zu erledigen.

Oben im Büro stand wohl bereits sein Vater und wartete auf ihn. Zusammen mit Ran und den anderen, sofern sie schon hingefunden hatten.
 

Na prima. Denen darfst du dann auch gleich von deinem neuesten Erfolg erzählen…
 


 

Im Büro unterdessen schauten sich Yusaku und Kogorô abwartend an. Schweigend waren sie hoch gelaufen, und schweigend standen sie nun hier.
 

„Shinichi… sollte gleich fertig sein. Er war schon auf dem Weg zurück….“, begann Rans Vater nun langsam.

„Ich wartete hier eigentlich auf Ran, sie wollte mit mir Essen gehen, heute.“

„Aha.“

Yusaku zeigte sich kurz angebunden – etwas, das Kogorô noch mehr verunsicherte. Er kannte Shinichis Vater – wer kannte ihn nicht? – und hatte mit ihm auch damals, als er noch bei der Polizei gearbeitet hatte, das eine oder andere Mal zu tun gehabt.
 

Allerdings, allein in einem Raum hatte er sich mit ihm noch nie befunden.

Er geriet ins Schwitzen.
 

„Ja. Sie… waren bei dem Fund der Leiche in Madame Toussaud’s dabei, deshalb wollte man sie als Zeugin vernehmen. Sie hat mir eine SMS geschrieben.“

Er lächelte mühsam. Yusaku erwiderte nichts, schaute sich kurz in Shinichis Büro um.

„Du… kannst stolz auf deinen Sohn sein.“, brachte Kogorô schließlich hervor, um das Thema zu wechseln und einen versöhnlichen Ton anzuschlagen.
 

Allerdings, mit der Retourkutsche, die ihn sogleich überrollte, hatte er nicht gerechnet.
 

„Du musst es ja wissen, Kogorô. Du hast lange genug mit ihm gearbeitet.“
 

Yusaku hatte aus dem Fenster geschaut, die Reaktion seines Gegenübers in der Scheibe verfolgen können. Er hatte gesehen, wie Môri zusammengezuckt war, wie sein Blick zu Boden gehuscht war – der Schlag hatte definitiv gesessen.

Der Schriftsteller wandte sich um, schaute ihn musternd an. Hitze war dem Mann ins Gesicht gestiegen, zeigte sich vor allem in einer leicht geröteten Stirnpartie – Kogorôs Blick war immer noch starr zu Boden gerichtet, seine Hände hatte er in seine Hosentaschen gerammt.

„Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich stolz sein sollte, oder eher besorgt.“
 

Kogorô schaute ihn fragend an.

„Wieso? Ich meine, bis auf diesen Fall jetzt hat er doch großartige Arbeit…“

„Ja, genau.“

Yusaku ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen.
 

„Arbeit. Keine persönlichen Gegenstände, keine Fotos, nichts. Würde das Schild da nicht stehen, wüsste kein Mensch, dass das Shinichis Büro ist.“, fuhr er mit leiser Stimme fort.

Kogorô zog die Augenbrauen hoch.

„Ja… und?“

„Seine Wohnung sieht genauso aus. Er richtet sich sein Leben so ein, als wäre es nicht seins. Er wagt nicht, sich irgendwo breitzumachen, Spuren zu hinterlassen, weil ihm in seinen Augen sein Leben gar nicht mehr gehört – weil er es in seinen Augen nicht haben darf. Weil er es nicht verdient – nicht mehr.“

Kogorô schluckte.

„Traurig.“

Yusaku zog die Augenbrauen hoch.

„Nein. Das ist furchteinflößend. Und das alles, weil er fünf Jahre glaubte, er wäre Schuld am Tod deiner Tochter. Er führt ein Leben auf Sparflamme, jederzeit bereit, zu verschwinden ohne Umstände zu machen, ohne Erinnerungen zu hinterlassen… so war er niemals vorher.“
 

Der Schriftsteller betrachtete den Mann, der ihm gegenüberstand – bemerkte erst jetzt, wie dieser langsam unruhig wurde. Sah, wie sein Blick durch den Raum huschte, als müsse er sich von der Wahrheit Yusakus Worte überzeugen, rieb sich die Hände, zupfte an seiner Krawatte.
 

„Kann das… kann das nicht einfach Zufall sein? Ich meine, euer Sohn war doch schon immer ein ordentlicher…“

„Er hat uns nie gesagt, wer ihm damals diese Lüge aufgetischt hat. Wer ihn in die Hölle geschickt hat und dort brennen ließ, fünf Jahre lang.“

Klare blaue Augen hinter Brillengläsern fixierten Kogorôs.

Der Polizist ahnte nun, von wem Shinichi diesen Blick hatte – und auch bei Yusaku verfehlte er seine Wirkung nicht. Kogorô fühlte sich seltsam entblößt, hoffte und betete, dass Shinichi endlich zurückkehrte und mit seinem Vater abzog, bevor-
 

„Wir haben ihn gefragt. Obs ein Sanitäter war. Ein Arzt. Eine Schwester. Er hat immer andere Antworten gegeben, er konnte sich nicht merken, was er uns erzählt hatte, er stand unter Schock, schließlich.

Aber nie sagte er uns die Wahrheit.“
 

Der Schriftsteller sah, wie eine Schweißperle Kogorôs Schläfe hinabrann.

Die Schritte, die draußen näher kamen, hörten sie nicht.
 

„Seltsamerweise dachten wir an jeden… nur nicht an dich oder Eri. Dabei wart ihr auch im Krankenhaus. Und habt ihn dort gesehen. Und bis gerade eben wollte ich dich einfach nur fragen, ob du mitbekommen hast, zufällig, mit wem er dort in Kontakt gekommen war, wer es gewesen sein könnte…“
 

Kogorô hielt inne damit, seinen Ehering um den Ringfinger zu drehen.
 

„…aber nun, da ich dich so ansehe, Kogorô…“
 

Schlagartig war ihm alles Blut aus dem Gesicht gewichen.
 

„Du warst das. Du selbst hast ihn angelogen.“

Seine Stimme war leise geworden, klang bedrohlich.

„H-Häh?“

Kogorô schaute ihn an; verdutzt zuerst, versuchte den Unwissenden zu spielen, aber nicht lange. Yusaku schüttelte den Kopf; Wut flackerte in seinen Augen, als er näher trat.
 

Du hast ihm im Krankenhaus gesagt, dass Ran tot ist, gestorben wegen ihm.“
 

Kogorô merkte, wie Panik in ihm aufstieg – und dabei wusste er gar nicht, warum. Gut, sein Vater würde jetzt wütend sein, aber was sonst? Was hatte er zu befürchten…?

Allerdings konnte er dieses Gefühl nicht abstellen.

Und er ahnte, dass das auch einen anderen Ursprung hatte – Schuld.
 

Denn er sah sehr wohl, was Yusaku meinte.

Auch er hatte Shinichi gesehen.

Und er konnte nicht leugnen, dass er sich seither schuldig fühlte.

Dass sich in ihm die Ahnung langsam zur Gewissheit manifestierte, einen ganz und gar furchtbaren, unverzeihlichen Fehler gemacht zu haben, damals, vor fünf Jahren…
 

„Wie? Warum sollte ich… wie kommst du darauf, das wird ein Arzt gewesen sein… oder ein Polizist, der es auch nicht besser wusste, vielleicht?“

Er kratzte sich unsicher am Hinterkopf, schaute zur Tür in der Hoffnung, sie möge sich endlich öffnen, um ihm Erlösung aus dieser Situation zu bringen.

Sie tat es nicht.

Yusaku lachte auf, bitter.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Kogorô. Mir ist klar, dass mein Sohn es ihr nicht gesagt hat und nie gesagt hätte, weil er wohl denkt, es ist für Ran besser so, auf dich vertrauen zu können. Ich aber…“

Er schloss kurz die Augen, atmete durch.

„… sehe die Wahrheit, wenn sie vor meiner Nase herumtanzt.“

Seine Stimme war leise geworden, alle Bitterkeit war aus ihr gewichen; eine leise Drohung schwang nun in ihr mit.

„Hast du eigentlich auch nur den Hauch einer Ahnung, was du ihm damit angetan hast, Kogorô? Es ging ihm ohnehin schon schlecht genug, mit der Lüge, dass sie tot ist wegen ihm, hättest du ihm fast den Rest gegeben…“

Kogorô schluckte.

„Ich hab mit ihm bereits geredet, Yusaku. Und bei allem Respekt, das ist eine Sache zwischen uns. Er sagt, er versteht das. Damit solltest du…“
 

„Nein, das siehst du falsch.“
 

Yusaku trat näher, seine Stimme war auf ein gefährliches Flüstern gesunken.

„Das ist keinesfalls nur eine Sache zwischen ihm und dir. Du warst nicht dabei, als er fast den Verstand verloren hat, weil er nicht begreifen konnte, begreifen wollte, dass er sie nie mehr wieder sehen kann. Nie mehr wieder hören würde. Dass sie weg ist, auf immer, wegen ihm! Du hast ihn nicht gehört, als er darum gebettelt hat, sie nur noch einmal zu sehen, einmal! Als er schrie und weinte, als er… Du warst nicht dabei, als er den Sinn seines Lebens gesucht hat, nachdem man sie ihm genommen hatte. Du kannst nicht ermessen, wie groß der Schmerz und die Last dieser Schuld auf ihm wogen, als er gerade mal neunzehn war! Klar, jetzt nach fünf Jahren, versucht er es distanziert zu sehen, aber noch immer traut er sich nicht, hier einen Abdruck seiner selbst zu hinterlassen, weil er immer noch denkt, dass er dieses Leben nicht verdient, dass er besser tot wäre! Du hast ihn am Boden gesehen und liegen lassen, verdammt! Du weißt nicht, wie kurz er davor war, sich einfach aufzugeben und gehen zu lassen! Du. Warst. Nicht. Dabei!“

Langsam und schwer atmend wandte sich Yusaku zu Kogorô um.

„Du hast keine Ahnung, wie viel leichter es ihm gefallen wäre, hätte er gewusst, dass sie nicht tot ist. Der Gedanke hat ihn fast zugrunde gerichtet. Er hat an seinen Grundfesten gerüttelt, die letzten fünf Jahre lang. Und ich frage mich, was er dir getan hat, dass du ihn so hasst…“
 

„Das reicht jetzt, Vater.“
 

Shinichi war in der Tür erschienen. Yusaku schaute ihn an – genauso wie Kogorô.

„Es ist doch so!“ Wut flackerte in seiner Stimme.

„Wegen ihm hast du geglaubt, dass Ran tot ist! Und jetzt sag nicht, es wäre nicht einfacher gewesen für dich…“

Der junge Superintendent wandte seinen Kopf ab.

„Sicher. Dennoch gibt es dir nicht das Recht, die Schuld bei jemand anderem zu suchen.“

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

„Nur der, der ohne Schuld, werfe den ersten Stein.“

Mit langen Schritten durchmaß er sein Büro, griff nach seinem Mantel, der über seinem Sessel hing.

„Und welche Schuld habe ich mir in deinen Augen aufgeladen, die mir das Werfen des Steins verbietet?“, fragte Yusaku – und eine gewisse Schärfe in seiner Stimme war nicht zu überhören.
 

Kogorô starrte die beiden Kudôs an – er hatte Shinichi schon mit seinem Vater diskutieren sehen, nicht aber streiten.

Genau das schien sich jetzt aber anzubahnen.
 

„Ich wurde suspendiert.“
 

Der Satz schlug ein wie eine Bombe.

Kogorô war seltsamerweise der Erste, der seine Sprache zurückerlangte.

„Suspendiert? DU?!“

Shinichi schenkte ihm einen säuerlichen Blick.

„Nein. Sherlock Holmes.

Er lächelte bitter.

„Warum?“

Yusaku schaute ihn ernst an – ihm ging sofort auf, warum sein Sohn so dünnhäutig war.

„Weil ich eine falsche Entscheidung getroffen habe.“

„Die, Brady nicht in U-Haft zu nehmen? Aber bitte, du hattest doch Gründe…“

„Die für meinen Vorgesetzten nicht nachvollziehbar, um nicht zu sagen, halluziniert sind.“
 

Yusaku wurde bleich.

„Deswegen…“

„Genau.“

Shinichi rammte seine Hände in seine Hosentaschen.

„Er denkt, ich halte der Belastung nicht stand, er glaubt, ich bilde mir das ein und bräuchte Urlaub. Und er verdächtigt mich, dass ich…“
 

Shinichi seufzte, blickte sich um.

Irgendwer musste hier drin gewesen sein und ihm das Zeug untergejubelt haben. Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Denn wenn das stimmte, hieß das, dass auch unter seinen Kollegen einer von ihnen war. Unbemerkt von ihm, über Jahre, vielleicht. Der Gedanke fühlte sich ganz und gar nicht gut an.
 

Die Organisation.
 

„Shinichi!“

Yusaku griff ihn an der Schulter – anscheinend hatte er schon öfter versucht, ihn anzureden. Nun jedoch schien sein Sohn ihm endlich wieder seine Aufmerksamkeit zu schenken.

„Wie kommt er dazu? Du – ich meine -…“

Seine Stimme war leise geworden. Offenbar wollte er nicht, dass Kogorô hörte, was er sagte. Shinichi schluckte.

„Sie haben etwas gefunden. In… diesem… Büro.“

„Sag mal, wie kommt er dazu, in deinem Büro zu schnüffeln…“

„Akte. Probezeit, vielleicht. Mein Aussehen, meine Entscheidungen… was weiß ich. Es ist so, und lässt sich jetzt nicht mehr ändern.“

Yusaku stöhnte auf.

„Und?“

„Nun.“

Shinichi lächelte bitter.

„Da ich selber nichts deponiert hab, sind meine Fingerabdrücke nicht drauf, das ist das einzig Gute daran.“
 

„Wie – was gefunden? Suspendiert wegen Halluzinationen?“

Kogorô schaute die beiden Kudôs verständnislos an.

Shinichi bewegte sich unsicher, ganz, als ob er sich in seiner Haut nicht wohlfühlte – ganz offensichtlich schien das wirklich der Fall zu sein, denn er kratzte sich, seit er gekommen war, unbewusst am linken Handgelenk unter dem Ziffernblatt seiner Uhr. Als er Kogorôs Blick bemerkte, hörte er schlagartig damit auf. Dann seufzte er, starrte an die Decke, als er sich sammelte. Es schien jetzt ohnehin zu spät für alles zu sein.
 

Warum also nicht auch noch Kogorô. Einen Teil weiß er vielleicht ohnehin schon von Eri…
 

„Während… meiner Woche in der Organisation verabreichte man mir eine… Droge. Ein Halluzinogen. Um… Antworten zu bekommen.“

Er schluckte hart. Yusaku sah ihn an, merkte, wie schwer es ihm fiel, darüber zu reden.

„Das Zeug hatte all das, was eine gute Droge braucht.“

Sarkasmus klang in seiner Stimme.

„Euphorische Höhenflüge, Wahnvorstellungen, die jeden Horrorfilm in den Schatten stellen und… kaum zu ertragende körperliche Symptome im Entzug.“

Er fuhr sich mit seiner Zunge kurz über die Lippen, wandte sich ab.

„Da… es für dieses Zeug kein passendes Heilmittelchen gab und ich nach dem vierten Tag im kalten Entzug drauf und dran war zu krepieren, weil mein Herz den Marathon, auf den der Stoff mich schickte, einfach nicht mehr laufen wollte, entschlossen meine Eltern, eine Substitutionstherapie zu versuchen. Mit Diamorphin. Super Sache, das.“

Kogorô erbleichte. Shinichi wandte sich langsam um, schaute ihm in die Augen.

„Ich wollte das nicht.“

„Du wärst…“

„…draufgegangen. Ich weiß. Hättest du mich gelassen, wär das alles jetzt viel einfacher.“

„Shinichi!“

Yusaku sah in scharf an. Shinichi reagierte gereizt.

„Was?“

Er schluckte hart.

„Ja, ich weiß. Ihr meintet es nur gut. Aber… du weißt, dass ich es hasste. Du weißt, dass ich es nur zugelassen habe, weil ihr mich weichgeklopft habt. Weil ihr das Argument gegen mich benutzt habt, das sie alle immer gegen mich benützen. Ihr wisst, dass die Organisation sie als Druckmittel gegen mich benutzt hat, mich mit ihr manipuliert hat, aber habt ihr einmal darüber nachgedacht, dass ihr genau das gleiche macht? Ihr seid nicht besser. Immer und immer wieder… Denkst du, Ran hätte das gewollt. Denkst du, sie hat sich für dich geopfert, damit du jetzt stirbst. Tu’s für sie.
 

In seinen Augen glomm die Wut.

„Und du! Das gleiche in Grün.“

Er wandte sich zu Kogorô.

Verschwinde, und lass dich nie wieder blicken! Ohne dich wär Ran noch am Leben…. Ehrlich. Du wusstest genau, was du sagen musstest, um mich für immer loszuwerden.“
 

Er lachte hohl – dann brach er ab. Ihm war, als hätte er von draußen ein Geräusch gehört, und lauschte – aber nun war nichts mehr zu hören.

Unwillig schüttelte er den Kopf.
 

„Um Himmels Willen, seid einmal ehrlich. Du wolltest, dass ich lebe, für euch. Für dich und Mama, für niemand sonst. Und ich kanns verstehen, ihr seid meine Eltern, ihr liebt mich, und ich weiß, ihr wolltet immer nur mein Bestes… dennoch… heiligt der Zweck wirklich jedes Mittel? Und du, Kogorô, der du mich aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen nicht leiden kannst. Warum auch immer. Ich habs aufgegeben, mich zu fragen, warum, spätestens seit ich weiß, dass du mich angelogen hast, im Krankenhaus, wegen Ran…“

Er atmete aus, langsam.
 

Eine Hand schwebte über der Klinke, kurz, sank dann langsam wieder. Zitternde Finger schlossen sich zu einer Faust, bohrten scharfe Fingernägel in zartes Handballenfleisch.

Die Person vor der Tür blinzelte durch den Spalt, hatte den Atem angehalten.

Einzig und allein Shinichis leise Stimme dran an ihr Ohr.
 

Sein Vater räusperte sich.

„Shinichi.“

Der Schriftsteller schüttelte den Kopf, bedachte seinen Sohn mit einem ernsten Blick.

„Nein, wirklich. Ich will jetzt nichts hören.“

Shinichs Stimme klang unendlich müde. Er biss sich auf die Lippen, atmete gepresst aus.

Dann straffte er die Schultern, schaute seinem Vater entschlossen ins Gesicht.

„Egal wie man es nimmt, was ich sage, was ich will interessiert hier niemanden, nicht einmal meinen Vorgesetzten. Ihr benutzt mich alle – auf eure Weise. Ihr kümmert euch um mich, wenn euer Gewissen euch dazu bringt. Und lasst mich fallen, sobald ihr mich nicht mehr braucht, oder ihr seht, dass es von allein schon wieder geht. Ich weiß, Mama rief ständig an, und ich weiß auch, ihr sorgt euch wirklich; aber tatet ihr's für mich oder um euer Gewissen jetzt zu beruhigen, weil ihr quasi meine ganze Jugend nicht da wart? Weil ihr meint, ihr hättet etwas verhindern müssen? Warum erst jetzt?"

Yusaku schaute ihn an - er war bleich geworden, während seiner letzten Worte.

Sein Sohn hingegen schluckte, schüttelte den Kopf.
 

"Das Absurde ist... die einzige, die sich je wirklich um mich geschert hab, hab ich selbst fallen gelassen.“
 

Shinichis Stimme klang immer noch erstaunlich ruhig.

Yusaku schluckte.

Kogorô suchte nach einer Antwort – und blieb sie schuldig. Die beiden Männer drehten sich um, als sie das leise Schleifen der Tür vernahmen, als sie aufschwang. Shinichi hielt inne, wandte sich zusammen mit Kogorô um, um zu sehen, wer es war.

Und während Yusaku einfach nur schluckte, wünschte Kogorô sich, der Boden möge sich unter ihm auftun.
 

Im Türrahmen stand Ran.

Zitternd, sich am Türknauf festhaltend, ihre Augen unverwandt auf Shinichi gerichtet.
 

Ran starrte ihn an, ihr Teint war aschfahl geworden. Langsam wanderten ihre Augen zu Yusaku, dann zu ihrem Vater, ihr Gesicht sprach von Erkenntnis und Zweifel gleichermaßen. Er konnte das leichte Zittern, das sie schüttelte, mehr erahnen, als dass er es sah, und doch wusste er, dass sie sich die Frage sicherlich nicht zum ersten Mal gestellt hatte; bestimmt dachte sie seit sie wusste, warum er gegangen war, immer wieder darüber nach, wer ihm diese Lüge aufgetischt hatte.

Nun wusste sie die Antwort, und es war offensichtlich, dass sie sie erschütterte. Sie wandte den Kopf, ihr Blick traf den seinen.
 

„Ran, …“, fing Shinichi an – und brauchte dann doch kaum einen Blick, um zu erfassen, was hier gerade passiert war. Kogorô war bleich, lehnte immer noch an seinem Schreibtisch, wo er sich mit beiden Händen festklammerte, als würde er sonst umfallen. Sein Vater wich seinem Blick aus, die Hände tief in seinen Sakkotaschen vergraben.
 

Ran allerdings… Ran sah ihn an, mit zitternden Lippen, ihre Augen groß und glasig und vor Entsetzen geweitet.

Und zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit sah er ihn ihnen nichts als Schock, als er sich fragte, wie viel sie gehört hatte, draußen, vor der Tür.
 

Wie lange stand sie da schon?
 

Der junge Superintendent schluckte hart, merkte, wie schwer es ihm fiel. Stumm schüttelte er den Kopf, kniff die Lippen zu einem bitteren Lächeln zusammen, merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, als er ihren Blick auf sich spürte.

Nun wanderten ihre Augen langsam zu ihrem Vater, Verständnislosigkeit spiegelte sich in ihren Zügen.
 

„Paps, du hast… sag nicht, du hast… sag, dass das nicht stimmt…“

Ihre Stimme bröckelte. Langsam trat sie einen Schritt näher, unfähig, den Blick von ihrem Vater zu wenden, der seinerseits jedoch ihrem Blick nicht mehr standhielt und den Kopf abwandte, seine Zehenspitzen studierte.

„Du hast ihm nicht gesagt, dass ich tot bin. Paps, das…“

Kogorô schluckte hart. Rans Blick wurde immer drängender; sie suchte den Augenkontakt zu ihrem Vater, und fand ihn auch.

„Das hast du ihm… und mir nicht angetan, oder? Du…“

Ihre Stimme klang flehend. Ihr Vater sah sie an, Bedauern, echte Reue stand in seinem Blick.

„Mausebein…“

Er schluckte, seufzte.

„Du musst das verstehen, ich bin dein Vater, ich…“
 

Ran wich zurück, starrte ihn an, fassungslos. Sie fühlte sich, als hätte ihr gerade jemand mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Sie wandte sich um, suchte nach Shinichis Blick. Er sah sie nur an, unfähig zu irgendeiner Regung.

Ihr Atem ging schnell und immer schneller, in ihre Wangen war das Blut geschossen, als ihr bewusst wurde, was man die letzten Jahre mit ihr veranstaltet hatte. Wer sie so angelogen hatte. Und ihre Verletztheit, ihre Unsicherheit wich einem anderen Gefühl.

Zorn.
 

Ihre Augen funkelten bedrohlich, wütend.

Du hast ihn angelogen und ihm gesagt, dass ich wegen ihm gestorben bin!“

Ihre Stimme war laut geworden. Unwillig zügelte sich, biss sich auf die Lippen.

Du hast zugelassen, dass er geht, mit dem Gedanken, meinen Tod verschuldet zu haben…? Bitte, sag, dass das nicht wahr ist..?! So sehr kannst du ihn doch nicht hassen…“

Ihre Stimme verebbte. Ihr Vater blickte zu Boden, rang sichtlich nach Worten.

„Ran… Mausebein.“

Kogorô knetete seine Hände, schaute sie um Vergebung suchend an.

„Du wärst fast gestorben, wegen ihm… ich wollte, dass er die Gelegenheit nicht noch einmal bekommt, dich mit in seine Schwierigkeiten…

Ich… ich wollte nichts Böses, ja, ich habe nicht… an…“

Er schluckte, wandte den Kopf, schaffte es mit Mühe, Shinichi ins Gesicht zu sehen.

„Ich habe nicht an dich gedacht. Du warst mir egal in diesem Moment. Ran war schwer verletzt, und du warst der Grund, ich war… wütend.“

Shinichi strich sich über die Stirn.

„Ich weiß.“

Er versuchte, ruhig zu sein – Ran hingegen war das pure Gegenteil.

Sie wandte sich um, schaute Shinichi an, der merklich blasser geworden war, sich auf die Lippe biss, aber immer noch schwieg.

„Wann?“

„Ran, es ist doch…“, fing er an, leise.

Sie schüttelte den Kopf, unterbrach ihn rüde.

„Wann… Shinichi?“

„Als du im OP lagst.“

Shinichi schluckte hart.

„Ich kam… gerade an, im Krankenhaus. Da sagte er mir, dass…“

Er sah sie an. Ran erstarrte, und auch Kogorô zuckte zusammen bei dem Blick in die Augen des jungen Mannes.

„Dass du tot wärest.“

Seine Stimme versagte. Vor seinen Augen tauchte diese unwirkliche Szene wieder auf; das gleißende Licht des Krankenhausgangs, der Geruch nach Desinfektionsmittel und der Gestank des Blutes, das an seinen Händen trocknete und seine Finger zusammenklebte. Und dieser eine Satz, der ihn fast umgebracht hatte, ihn fast seinen Verstand gekostet hatte.
 

Sie ist tot, Shinichi. Ran ist tot. Wegen dir.
 

Er starrte auf seine Hände, fühlte fast, wie das Blut an ihnen klebte, rieb sie unwillkürlich. Yusaku schluckte hart. Ihm war diese Übersprunghandlung nicht entgangen.

„Ich war ja dabei gewesen, als du aufgehört hattest, zu atmen. Und er sagte, dass man dir nicht mehr hatte helfen können. Dass ich verschwinden solle, und nie wieder unter seine Augen treten. Genau das…“

Er schluckte mühsam.

„… hab ich gemacht. Ich hab seit fünf Jahren mit keinem von euch geredet. Wie du weißt… und auch nie erklärt, warum ich gegangen bin. Niemandem. Und meinen Eltern verboten, es zu tun.“

Shinichi warf seinem Vater einen kurzen Blick zu.

Ran fröstelte, rieb sich die Oberarme. Draußen prasselte der Regen auf die Straßen Londons. Als sie ihren Vater ansah, sprachen Verständnislosigkeit und Enttäuschung aus ihren Augen.
 

Shinichi seufzte leise, wandte sich seinem Vater zu.
 

„Und verstehst du jetzt, warum ich es ihr nicht gesagt habe, keinem gesagt habe? Schau sie dir an. Geht’s dir jetzt besser damit? Ich wollte nicht, dass sie ihrem eigenen Vater misstraut, denn ich weiß, auch wenn ich ihm am Arsch vorbeiging, für seine Tochter würde er sterben. Und jetzt sieh’s. Dir. An!“

Seine Stimme klang scharf. Unwillkürlich brach er ab, drehte an seiner Armbanduhr. Yusaku bemerkte es, presste kurz seine Lippen zusammen.

„Ran, vergiss es einfach. Ich... er hatte doch Recht. Ich weiß nicht, ob ich anders gehandelt hätte… ich kam mit mir selbst schon kaum klar, konnte die Schuld kaum ertragen, ich kann verstehen, dass dein Vater, der dich… seine Tochter… fast verloren hätte, kein Risiko mehr eingehen wollte.“

Er schluckte hart.

„Denn seien wir ehrlich, es ist doch so. Man überlebt es nicht leicht, wenn einem ein Schwert bis zum Heft in den Körper gestoßen wird, und ihr Ziel war auch nicht, dich schwer zu verletzen, ihr Ziel war, dich in meinen Armen sterben zu lassen, also, egal wie man es nimmt, ich habe verdient, was diese Lüge-…“

„Wir reden hier von deinem Leben, Shinichi!“

Ran starrte ihn entsetzt an.

„Na und?“

Die Gleichgültigkeit in seiner Stimme machte sie schaudern.

Shinichis Blick wanderte kurz zum Gesicht seines Vaters, als er redete, glaubte, an der Kälte, die in ihm emporkroch, erfrieren zu müssen. Überdeutlich tauchten diese Tage vor seinen Augen auf; und vor allem die Nächte, die diesen Tagen gefolgt waren.
 

„Ich war überheblich, arrogant, selbstbesessen, völlig geblendet von meinen Fähigkeiten, und hab mich hoffnungslos überschätzt, und damit dich und andere in Lebensgefahr gebracht.“

Unwillkürlich brach er ab. Seine Finger zitterten, Adrenalin pumpte durch seinen Körper. Und er sah sie wieder vor sich, fühlte sie fast in seinen Armen liegen, Ran…

Ran, die starb. Er schluckte hart, schaute auf.

„Ich hab wirklich… nichts Besseres verdient. Gerade auch nach gestern nicht… es ist, wie es ist. Wir tun einander einfach nichts Gutes. Deshalb habe ich gelogen, als du fragtest, wer mir das erzählt hat. Und ich…“

Ran blickte ihn an, ihre Lippen zitterten. Sie starrte in seine Augen, in dieses Gesicht, das sie so sehr liebte, immer noch. Und sah umso deutlicher die Veränderungen, die es gezeichnet hatten, seither. Und sie spürte die Wirkung seiner Worte, verheerend und zerstörend, noch ehe er sie ausgesprochen hatte.
 

„… ich würds wieder tun.“
 

Kogorô ballte seine Hände zu Fäusten. Mit Mühe unterdrückte er ein Zittern, als er die Abscheu in den Augen seiner Tochter las. Und erkannte erst jetzt, was er ihr angetan hatte, all die Jahre, als er sie angelogen hatte.

Ihrem Leiden zugesehen hatte, in der Hoffnung, es würde von alleine heilen.

Ihr verschwiegen hatte, was wirklich passiert war, in jener Nacht, und ihn zu seinem Mittäter gemacht hatte, als er ihn mehr oder weniger zu dieser neuen Lüge gezwungen hatte.
 

Und er sah den Blick, mit dem sie ihn nun bedachte.

Ihn, den sie doch eigentlich über alles liebte.
 

Ran.
 

Sie sah ihn an, sekundenlang, sprachlos.

Dann wandte sie sich um, ging, riss die Tür auf, und fing an zu laufen.
 


 

Shinichi stand da, wie erfroren, blickte dann mit trockenem Mund auf die beiden Männer; dann durchschritt er das Zimmer, griff nach seinem Sakko und wandte sich zum Gehen.

„Sie scheint von dieser Sache nichts mitbekommen zu haben, also bitte ich dich, einmal in deinem Leben, tu mir einen Gefallen und sag ihr davon nichts.“

Er schluckte hart, bedachte Kogorô mit einem eindringlichen Blick. Kogorô nickte nur, ernst, brachte keinen Ton heraus.

„Ich geh ihr jetzt nach. Aber ihr müsst hier raus.“

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Shinichis Lippen – hinter ihm erschien Heiji in der Tür, schaute ihn fragend an.

„Ich hab Jenna gerade getroffen. Stimmt es, was sie sagte? Suspendiert? Warum zum Henker…?“

„Weil man glaubt, ich halluziniere. Eine Annahme, die man mit einem Absatz in meinem Lebenslauf unterstreicht.“

Er warf seinem Vater einen berechnenden Blick zu. Yusaku nickte knapp – er hatte verstanden, worauf Shinichi hinauswollte.
 

„Hört zu, ihr geht jetzt, ich melde mich später. Ich versuche, Ran zu finden, was Besseres habe ich momentan ja ohnehin nicht zu tun.“

Er schluckte hart, warf den beiden Männern einen scharfen Blick zu.

„Ihr schlagt euch jetzt nicht die Köpfe ein, ich warne euch. Dich auch.“, wandte er sich zu seinem Vater. Dann eilte er Ran hinterher.
 

„Hör zu, es… es tut mir Leid…“ Kogorô schaute ihn schuldbewusst an.

Yusaku schluckte, schüttelte den Kopf.

„Sag das nicht mir, Kogorô.“

Damit ging er, ließ den Mann alleine zurück. Erst spät merkte er, dass Heiji ihm an den Fersen klebte – und so wurde er langsamer, ließ ihn aufholen.

„Welcher Absatz?“

„Hm?“

Yusaku betrachtete den jungen Mann abschätzend.

„Ich denke, er hat dir von dem Halluzinogen erzählt…?“

„Hat er auch, aber sowas taucht in keiner Akte auf. Das war ein Folterwerkzeug, sowas schreibt man nich‘ in einen Lebenslauf.“

Heiji stieg neben dem Mann in den Aufzug, schaute ihn prüfend an.

„Es sei denn…“, fing er langsam an, seine Miene bitterernst.

„Es sei denn.“, murmelte Yusaku leise.

„Ich dachte nicht, dass es ihm einmal das Genick bricht… was Yukiko und ich entschieden haben.“

Er wischte sich über die Augen.

„Also hat er dir nicht von der Therapie erzählt.“

Heiji schüttelte den Kopf, ließ sich matt gegen die Aufzugwand fallen, beobachtete die Türen beim Schließen.

„Unfassbar. Nein, davon hatter nix erzählt, wahrscheinlich schämt der Idiot sich…“

„Es gibt nichts, wofür er sich schämen müsste. Er wäre gestorben, wahrscheinlich, hätten wir es nicht getan. Wir konnten es unmöglich so weitergehen lassen… nach zwei, drei Tagen kam er kaum mehr zu Bewusstsein. Wir hatten ihn mit in die USA genommen, vorher schon, damit ihn die Presse in Tokio nicht in die Finger kriegt, denn sein Zustand und die Tatsache, dass er sich versteckte, wäre augenscheinlich geworden; und seien wir ehrlich, sie wären über ihn hergefallen wie die Geier über ein Stück Aas. Zum Glück kannte ich dort einen befreundeten Arzt, den wir hinzuzogen.“
 

Er schluckte, ballte seine Fäuste, als die Erinnerung vor sein Auge trat, so lebendig, als wäre es erst gestern passiert.
 

"Nein!"
 

Yusaku hielt ihn fest, fragte sich, woher sein Sohn die Kraft nahm, sich so zu wehren, sich so dermaßen dagegen zu sträuben. Er wand sich unter seinem Griff, bäumte sich auf und schrie, riss sich los, stolperte zur Tür, wollte raus – es blieb beim Wollen. Er taumelte, als ihm die Beine versagten – Yusaku, der aufgestanden war, fing ihn auf, ging mit ihm in die Knie, nahm seinen Kopf in beide Hände. Shinichi konnte sich kauf aufrecht halten, sein Atem ging heiß und unregelmäßig, machte ihn Schaudern.

Yukiko saß neben ihm auf dem Bett, in ihren Augen pures Entsetzen und unbändiger Schmerz. Sie ließ sich neben ihm zu Boden sinken, strich ihm über die Stirn, zart.

"Shinichi... das ist nur zu seinem Besten, bitte, halt still, wir wollen dir nicht mehr weh tun als ohnehin schon. Bitte..."
 

"NEIN!"
 

Er schrie nicht, dazu hatte er nicht die Kraft, aber die Deutlichkeit und Eindrücklichkeit, mit der er dieses eine Wort hervorpresste, versetzte Yukiko einen Stich. Ihr Sohn keuchte, schaute sie an, in seinen Augen Vorwurf, Wut und Verzweiflung. Er wollte sich wieder freiwinden, aber diesmal hielt ihn sein Vater zu fest.

"Ich will das nicht!", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Ich will das nicht, versteht das doch, ich will nicht noch eine Droge, ich will nicht…!“

Yusaku starrte ihn an, atmete schwer.

„Du stirbst sonst.“

Er versuchte, ruhig zu bleiben, während es um seine Frau längst geschehen war.

Tränen rannen ihr übers Gesicht, als sie ihm ins Gesicht sah, ihm über die Wangen strich.

"Verdammt, du hältst das nicht länger aus, Shinichi! Du bist fast am Ende, das..."

Sie schnappte nach Luft, als sie ihn ansah, diesen Schatten seiner selbst. Seine Augen waren fiebrig glänzend, seine Haut fast weiß und wächsern, seine Wangen eingefallen. Alles an ihm zitterte, wirkte kraftlos, sein Körper kaum mehr in der Lage, seinem Geist eine Hülle zu sein.

"Das weiß ich..."

Seine Stimme klang leise, und auf einmal war es gespenstisch still im Zimmer. Der Arzt, den seine Eltern geholt hatten, trat in sein Blickfeld, sah ihn ruhig an. Shinichi hingegen fühlte nichts außer blanker Panik.

„Aber ihr versteht das nicht, ich will das nicht, ich will nicht abhängig sein von noch einer Droge, ich will nicht… ihr habt keine Ahnung wie das ist…!“

Er kniff die Augen zusammen, als die Erinnerung ihn überrollte, das Gesicht dieser jungen Frau mit ihrer Injektionsnadel in der Hand.

Hörte ihre Stimmen und ihr Gelächter, als er aufgeschrien hatte, leise nur, als er den stechenden Schmerz gespürt hatte am Handrücken, aufgehört hatte, sich zu winden und zu wehren in Wodkas Griff. Er hatte nur auf sein Handgelenk gestarrt, wo man das Gift in seinen Kreislauf impfte.

Er vernahm die Stimme des Bosses in seinen Ohren, verstand die Worte kaum, weil das Rauschen seines eigenen Blutes sie fast übertönte, als sein Organismus auf die Substanz reagierte, seinen Puls in die Höhe trieb, während er machtlos zusah, wie die Ampulle sich leerte, und die junge Frau die Nadel wieder herauszog. Alles, was zurückblieb, war ein winziger Blutstropfen – und ihm wurde dennoch fast übel, als er zusah, wie er langsam aus der winzigen Stichwunde quoll. Seine Beine allerdings gaben aus ganz anderem Grund nach. Angst breitete sich in ihm aus, als er taumelte, haltsuchend um sich griff und keinen zu fassen bekam, einfach in die Knie ging, weil sein Körper ihm nicht mehr gehorchte.

Er war zusammengebrochen, völlig bewegungslos liegengeblieben, einfach so, jedesmal. Es schien ihm, als würde er sich selbst nicht mehr gehören. Unfähig, seinen Blick abzuwenden, den Kopf zu drehen, hatte er in die OP-Lampe über ihren Köpfen gestarrt, ihre Köpfe schwarze formlose Schatten ohne Gesicht im Gegenlicht, während er wohl gestochen scharf und bestens ausgeleuchtet vor ihnen auf dem Boden oder auf diesem Tisch lag. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, sich seine Ohren zunehmend mit Watte füllten, als sein Bewusstsein sich langsam verabschiedete. Seine Sicht flimmerte, sein Gefühl in seinen Fingern schwand, genauso wie das Gefühl, überhaupt am Leben zu sein - er wollte sprechen, irgendeinen Ton von sich geben, aber seinen Lippen entwich kein Laut – noch nicht.

Einzig und allein sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
 

Erst als sich die Substanz bis in seinen Kopf fortgepflanzt hatte, durchlief es ihn wie eine Kettenreaktion, als er Stück für Stück die Kontrolle über seinen Körper, über seine Gedanken verlor, über sich selbst - dann wurde alles schwarz.

So fing es immer an.
 

Es folgten die Wahnvorstellungen – und er wusste, er würde nie vergessen, was er hier sah.

Nein, was er erlebte.

Diesen ersten Moment unfassbaren Glücks, den er teilte, mit ihr. Den ersten Kuss, den er ihr gab, der so real schien, dass ihm noch hinterher der Kopf schwirrte von den Endorphinen, auf seinen Lippen dieses Prickeln lag. Ihr Lachen in seinen Ohren, ihre Haut unter seinen Fingern, ihr lieblicher Duft in seiner Nase, in einer Welt, in der endlich alles in Ordnung schien.

Dann der erste Absturz.

Gefahr, greifbar fast, einen bitteren, metallischen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassend. Ein unbestimmtes Gefühl von Angst, Nervosität. Sein Puls, der sich erhöhte, seine Atmung, die sich beschleunigte, die ersten Bilder, die ihm das schlechte Ende dieses Traums schon ankündigten.

Dann die kurzen Wachzeiten, wenn sie ihn herausholten aus seinem Rausch, in denen er sich auf einer Liege festgebunden wiederfand, wo man ihm Fragen stellte, immer wieder war auch der Boss dabei und nie erkannte er einen von ihnen – die Stimmen klangen verzerrt in seinen Ohren, ihre Köpfe unscharf, flirrend, und stets im Gegenlicht dieser erbarmungslosen Lampe.
 

Und immer wieder stellten sie die gleichen Fragen.

Wollten wissen, wo Sherry war. Wer hier drin ein Maulwurf war. Wie Akai hatte überleben können und woher er soviel wusste.

Sie wollten die Antworten, die er ihnen vollmundig angepriesen hatte, und mit denen er jetzt aber nicht herausrücken würde.

Er sagte nie auch nur ein Wort, solange er die Kontrolle hatte.

Seine Stimme – Anokatas Stimme – jedoch würde er nie wieder vergessen. Eine Stimme kalt wie Eis, berstend scharf wie Glas, dabei ruhig und tief, eindringlich und keine Widerrede duldend. Eigentlich.
 

Und wenn der Entzug kam, wenn man ihn allein ließ in einem Raum, einfach am Boden in eine Ecke geworfen wie ein Stück Abfall, er schrie und sich unter Krämpfen wand, vor Kälte zitterte, wenn er glaubte, sein Herz würde gleich einfach zerspringen – dann wünschte er sich den Tod.
 

Denn der wäre endlich echt, in dieser Welt, in der sich Rausch und Realität dank des Halluzinogens bald bis zur Ununterscheidbarkeit mischten.
 

Doch eines Tages hörten sie aus seinem Mund einen Namen- ihren. Und immer wieder flehte er um Gnade für sie.
 

Ran.
 

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie auf diese, sehr reelle Droge umschwenkten, deren Entzug ihn ganz sicher zerstören würde.

Der Tag hatte kommen müssen – und es war geschehen, was er befürchtet hatte.

Seinen schlimmsten Fiebertraum hatten sie ihm wahrgemacht.
 

Und nun lag er hier, sah den alten Mann, der ihn beruhigend anlächelte, und hätte alles getan, wenn er hier nur weggkam. Wenn man ihn in Ruhe ließ, einfach. Nur das.

Die Angst überwältigte ihn fast. Er merkte, wie sein Puls raste, und Yusaku merkte, wie er zitterte, fühlte sich elend dabei. Er spürte, wie sein Sohn sich fürchtete, vor dem, was man ihm angetan hatte und nun antun würde, weil er darüber nicht den Hauch von Kontrolle hatte.

So sehr fürchtete, dass er alles andere in Kauf nahm.
 

"Shinichi.", seine Stimme klang leise, langsam näherte er seinen Kopf dem seines Sohns, bis seine Stirn fast seine Schläfe berührte.

"Shinichi, ich kann mir vorstellen, dass du... das nicht willst. Dass du Angst hast..."

"Du...", begann er mit zitternder Stimme, brach dann ab. Er umschlang seinen Oberkörper, als ein Krampf ihn packte, krallte seine Finger in sein Sweatshirt, stöhnte schmerzerfüllt auf.
 

Yusaku spürte, wie sich Shinichi verkrampfte, seine Atmung gepresst wurde.

"Ich bitte dich, denk nach. Du hast gekämpft bis jetzt, weil du uns nicht verletzen willst, das weiß ich. Du willst nicht noch mehr Kummer bereiten, als du es schon getan hast. Also bitte, lass dir helfen. Du stirbst sonst. Es bringt dich um, du spürst das, und es wird ein grausamer Tod sein. Du kannst nicht von mir und deiner Mutter verlangen, dass wir uns das tatenlos ansehen. Du… hattest deine Chance.“
 

Er griff ihm in die Haare, hörte ihn keuchen, heiser und angestrengt.
 

„Ich weiß, dass du das nicht willst, und ich will es auch nicht, aber noch weniger will ich, dass du draufgehst, Shinichi, du bist mein Sohn. Und momentan nicht in der Lage, diese Entscheidung rational zu treffen.“
 

„Doch. Und ich will nicht –…“
 

Yusaku griff seinen Kopf, zwang ihn so, seine Aufmerksamkeit ihm zuzuwenden, fixierte ihn mit seinen blauen Augen.

„So lange, bis das Halluzinogen sich völlig abgebaut hat, der Entzug rum ist, hältst du nicht aus. Das Diamorphin hilft dir, es dämpft die körperlichen Entzugserscheinungen, die Schmerzen, bis sich dieses Gift zersetzt hat, weil es ähnlich wirkt - dich dann davon zu entwöhnen wird auch kein Spaziergang, aber deutlich leichter. Und ich schwöre dir, wir halten das so kurz wie möglich. Du bist in Sicherheit hier. Wir sind bei dir. Also bitte. Bitte. Lass dir helfen.“
 

Shinichi kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf.

„Ihr wisst nicht, wie das ist. Ich will nicht noch einmal – ich will einfach nicht – mir ist alles lieber als das, alles, wirklich – alles…“
 

Er merkte, wie sein Kopf dicht machte, ihm irgendetwas die Sinne raubte, und hieß es willkommen.

Bis ihn ein Satz aus seiner drohenden Ohnmacht riss.
 

„Ran hätte nicht gewollt, dass du stirbst. Sie kam, um dich zu retten, und so dankst du es ihr…?“
 

Shinichi erstarrte, in seinem Gesicht spiegelten sich pures Entsetzen und Schuldbewusstsein gleichermaßen. Er wollte sich hochrappeln und scheiterte erneut. Yusaku fing ihn wiederum, hielt ihn fest, spürte seinen flachen Atem und verzog das Gesicht. Shinichi war am Ende.

Wie sehr, wurde ihm klar, als er dieses eine gehauchte Wort an seinem Ohr vernahm, von einer Stimme, die er kaum mehr als die seines Sohnes erkannte.
 

>Ran…<
 

Yusaku spürte, wie Shinichi kapitulierte – Yukiko sah es. Sah ihn einbrechen, seine Augen zukneifen, als ihn Trauer und Schuld überwältigten und konnte sich kaum selber unter Kontrolle halten.

Sie sah, wie er zuließ, dass der Arzt, der langsam in die Knie ging und nach seinem linken Arm griff, ihm die die Manschette anlegte und festzog. Shinichi kniff die Augen noch fester zusammen, ließ seinen Kopf auf die Schulter seines Vaters sinken, sog scharf die Luft ein, als er den stechenden Schmerz der Nadel spürte, krallte seine andere Hand unwillkürlich in dessen Hemd. Yusaku kauerte auf dem Boden, hielt ihn fest und atmete selbst kaum.

Er hörte ihn leise aufstöhnen, als der Druck der Manschette sich löste, das Nervengift durch seinen Körper kroch, fühlte, wie er immer schwerer wurde, gegen ihn sackte, als das Opiat ihn in einen Dämmerschlaf schickte, der Rausch ihn ins Land der Träume bannte. Yukiko starrte ihn an, sah ihrem Sohn zu, wie sich seine Körperspannung löste, er gegen Yusaku sank, der ihn immer noch mit beiden Armen festhielt und an sich drückte. Als sie in das Gesicht ihres Mannes schaute, erschrak sie.

Er schien um Jahre gealtert.

Und er weinte.

Und erst jetzt merkte sie, dass auch ihr Gesicht bereits tränennass war.
 

Heiji war blass geworden, starrte den Schriftsteller mit angehaltenem Atem an.

„Deshalb... nur deshalb haben wir uns dafür entschieden. Ich dachte nicht, dass ihm das so einen Stein in den Weg legen könnte. Ohne ein Empfehlungsschreiben vom FBI wäre er hier wohl gar nicht reingekommen.“

Er schluckte hart.

„Wie – wie gings ihm damit?“

Yusaku schüttelte langsam den Kopf.

„Offengestanden, schlecht. Wir reden hier schließlich von einer Droge.“

„Richtig.“

Yusaku setzte sich wieder in Bewegung.

„Ich meine, man nimmt eine Droge, um einen Menschen von der anderen loszubringen, es ist aberwitzig. Körperlich ging es ihm etwas besser, immerhin, es nahm ihm die Schmerzen, nicht die Fieberträume. Dennoch… man merkte ihm an, in jeder Minute, dass das gegen seinen Willen geschah. Er verabreichte es sich ungern und wartete oft viel zu lange,… nun.“
 

Unwillig kratzte er sich am Hinterkopf. Heiji schaute ihn stirnrunzelnd an – ihm fiel erst jetzt auf, in wie vielen Dingen sich Shinichi und sein Vater ähnelten, bis in diese kleine Geste.

„Er wollte so wenig wie möglich davon intus haben, wollte möglichst schnell loskommen davon und das machte es nicht unbedingt immer einfacher.“

Er schluckte hart.

„Er war willens, das Zeug nicht die Kontrolle über sich bekommen zu lassen, fest entschlossen, dem wahnsinnigen Gedanken verfallen, er könnte selbst bestimmen, wann er es nahm und wann er aufhörte damit. Dabei verlaufen die Entzugsstadien immer gleich. Du kennst ihn. Er ist ein… verdammt sturer Bock, manchmal.“

Sie hatten mittlerweile den Ausgang erreicht.

„Yukiko meint, er hat das von mir.“

Sie traten ins Freie. Weder von Ran oder Shinichi, noch von Kogorô war eine Spur zu sehen.

„Er ließ uns nicht eine Sekunde darüber im Unklaren, dass das gegen seinen Willen geschah. Aber immerhin… hat es funktioniert. Er hatte nie ein Problem damit, es endlich nicht mehr zu nehmen, dieses Zeug. Es ist einfach nicht… seine Art.“

Er lächelte bitter, schüttelte den Kopf.
 

„Es ist ein schlechter Witz, zu hören, dass sie ihn gerade deswegen jetzt ausschließen. Allerdings… momentan tut er nicht viel, um diesen Verdacht zu entkräften, der Fall nimmt ihn ziemlich mit. Diese Zeit hat an seiner Substanz gezehrt, und er hat nicht viel gemacht, in den letzten Jahren, um sich Erholung und Regeneration zu verschaffen, und jetzt dreht ihn diese Geschichte gerade richtig durch die Mangel. Man könnte schon meinen…“

Heiji starrte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Wut an.

„Sie glauben doch nicht im Ernst…!?“

„Nein.“

Yusaku lächelte bitter.

„Ich weiß, dass mein Sohn der letzte Mensch auf dieser Welt ist, der freiwillig einen Rückfall provoziert.“
 

Er seufzte.

„Ich hatte allerdings gehofft, sie hätten hier genug Vertrauen in ihn, um ihm zu glauben, wenn er sagt, sie sind zurück. Und das ist es, was ihn auf Hundertachtzig bringt, momentan.“

Yusaku lächelte bitter, merkte, dass auch auf Heijis Lippen ein saures Grinsen geschlichen war.

„Einem Ex-Junkie, der noch dazu momentan ein bisschen wie ein solcher aussieht, glaubt man genauso wenig wie einem kleinen Kind.“

Yusaku seufzte.

„Exakt.“

Dann strich er sich über die Stirn.

„Ich hoffe, Ran kann ihn ein wenig zur Vernunft bringen.“

Kapitel 34: Zweifel

Kapitel 34 – Zweifel
 


 

Shinichi erreichte kurz nach Ran die Lobby, wo sie Kazuha, Sonoko und Shiho wieder in die Arme gelaufen war. Er eilte ihr hinterher, blieb schwer atmend hinter ihr stehen, schaute sich nur kurz um – keine seltsamen Blicke ruhten auf ihm, offenbar war die Kunde seiner Suspendierung noch nicht von der Chefetage nach unten gesickert.
 

„Ran…!“
 

Sie drehte sich um, starrte ihn an. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch, als sie ihn musterte. Er schluckte trocken, konnte den Blick aus ihren Augen kaum ertragen, als ihm bewusst wurde, woran sie nun dachte.

„Du bist nicht besser als er, Shinichi.“

Ihre Lippen zitterten, als sie die Arme vor ihrer Brust verschränkte, sich selbst festzuhalten schien.

„Du hast mich auch angelogen. Du…“

Shinichi holte Luft, fiel ihr ins Wort, aufgebracht.

„Du weißt warum. Ich hab‘s doch oben gesagt. Ich wollte nicht, dass du das Vertrauen in…“

„…meinen Vater verliere?! Das ist nicht deine Entscheidung! Du bist ein genauso mieser Lügner wie er, ihr beide passt wirklich gut zusammen, ich versteh gar nicht…“

Sie brach ab, als sie die fragenden Blicke der anderen bemerkte.
 

„Na los, sag ihnen, wer dir erzählt hat, dass ich tot bin.“

Böse zischte sie die Worte fast – Shinichi blickte sie matt an, massierte sich die Stirn. Langsam, das sah man ihm an, wurde ihm klar, in welche Richtung das hier lief – und was er wirklich angerichtet hatte, diesmal. Er hatte Ran noch nie so erlebt, und er wusste, dass er es war, weswegen sie jetzt so wurde.
 

„Das tut doch jetzt nichts –…“, versuchte er mit leiser Stimme das Gespräch wieder in ruhigeres Fahrwasser zu lenken.

„Oh doch, das tut es. Weil du mir nämlich gesagt hast, du wüsstest es nicht mehr, als ich dich fragte. Ich war voller Mitleid, voller… Schuldgefühl, dass du so gelitten hast, all die Jahre, und alles was du tust, ist… mich glatt wieder anzulügen, als ich dich fragte, wer dir das gesagt hat…!“
 

„Ich wollte dein Leben nicht kaputtmachen. Deine Familie…“

Er schluckte, wurde sich der Blicke der anderen bewusst, die ihn fragend anschauten – auch die Mitarbeiter des Yards warfen nun den einen oder anderen Blick in ihre Richtung, ob der etwas lauteren Szene, die sich in ihren heiligen Hallen abspielte.
 

„Aber das tust du!“

Sie schrie ihn fast an.

„Mit jeder deiner dummen Lügen ein bisschen mehr!“

Ran schluckte hart, sammelte sich.

„Und dumm sind sie, das weißt du! Und unnötig!“

Er zuckte zusammen, als er ihren verletzten, enttäuschten Blick bemerkte, der kurz auf ihm lag, als sie sich sammelte, versuchte, wieder ein wenig kontrollierter zu werden.
 

„Als du mir nicht sagtest, dass du Conan warst, fing es an. Ich war… verdammt nochmal, ich war die Letzte, die es erfuhr, und das auch nicht von dir. Damals verzieh ich dir, ich… sah ja, dass du es nicht böse meintest, dass du es als notwendig ansahst, um mich zu beschützen, um diese Leute von mir fern zu halten. Dennoch…“

Sie zerbiss sich die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte.

„Dennoch kann ich nicht leugnen, dass es mich traf, dass du so wenig Vertrauen in mich hattest. Du hättest es mir sagen können. Du weißt, ich hätte niemals… du weißt, dein Geheimnis wäre bei mir in guten Händen gewesen. Du weißt, ich hätte, mit allem was ich habe, dein Leben beschützt… so wie du meins.“

Ihre Worte verebbten, gingen unter im geschäftigen Raunen der vielen Menschen.

Shinichi schluckte hart, hielt den Atem an, unfähig, sich zu rühren. Jedes von Rans Worten traf mitten ins Ziel – traf ihn mitten ins Herz wie ein weißglühender Pfeil und blieb schmerzhaft stecken.

Denn er wusste, sie hatte Recht.

Er hatte keinen wirklich guten Grund gehabt, sie anzulügen.

Bequemlichkeit war es gewesen. Vielleicht auch ein wenig Scham.

Nein, nicht wenig. Ganz viel davon.
 

Und dennoch… hatte sie ihm verziehen.
 

Ran…
 

Ihre Stimme war leise geworden, auf ein Flüstern herabgesunken.

„Ich weiß nicht, mit welchem Recht du dir herausnimmst, der einzige zu sein, der sich Sorgen machen darf, der sich schlecht fühlen muss, der leidet, der…“

Er unterbrach sie.

„Aber ich weiß doch, dass du – eben deswegen will ich…“

„Ja. Du willst.“
 

Ran schaute ihn trotzig an, in ihren Augen kalte Wut, ein Gefühl, dass er dort noch nie gesehen hatte. Shinichi schluckte hart.
 

„Und das ist das Problem, Shinichi. Verdammt nochmal, du elender Egoist, hast du dir je Gedanken darüber gemacht, wie es für mich war, als ich erfahren hatte, was du getan hattest?!“
 

Ihr Atem ging flach, zitternd und gepresst, und er sah ihr an, wie sehr sie sich beherrschen musste, um ihn nicht anzuschreien oder loszuweinen – oder beides.
 

„Hast du eine Ahnung, wie es für mich war, als du zehn verdammte Tage weg warst! Glaubst du, ich hab nicht… gespürt, dass…“
 

Er sah sie an, wurde blass.
 

„Was…“, kroch ihm über die Lippen, langsam.

Sie schaute ihn an, unsicher, wandte dann den Blick ab. Fahrig knetete sie ihre Hände, und ungeheuer leise war ihre Stimme, als sie sprach.
 

„Ich weiß nicht, was du durchgemacht hast, denn darüber will ja keiner mit mir reden, du am allerwenigsten – und ich fürchte, keiner weiß etwas Genaues, denn wie ich dich kenne, musst du mal wieder alles für dich behalten. Aber ich… ich konnte kein Auge zutun. Schon bevor ich wusste, was du angezettelt hattest.“

Sie biss sich auf die Lippen, rang mit sich.

„Ich war unruhig, und nervös. Ich hab versucht, dich auf dem Handy zu erreichen, und nie gingst du ran. Du nicht – und Conan auch nicht. Ich fühlte, irgendwie, dass… ich kann es nicht beschreiben, aber ich… es war, als…“
 

Ran brach ab.
 

„Es war mir, als hörte ich dich meinen Namen rufen, Shinichi. Immer wieder. Und ich wusste, du brauchst mich, ich sollte bei dir sein, nicht da, wo ich war, so weit weg von Tokio, und als ich dann… als sie mir sagten, was…“
 

Eine Träne bahnte sich nun doch über ihre Wange. Die Wut in ihren Augen war für den Moment erloschen.
 

„Ich weiß nicht, warum du dir das verwehrst, warum du nicht zugeben willst, dass du mich brauchst. Wie ich dich brauche, verdammt. Warum…“

„Das weißt du doch.“

Shinichis Stimme klang matt, seltsam müde.

„Und gerade weil ich dich brauche, ist mir lieber, du bist irgendwo weg von mir, aber sicher, als in meiner Nähe und…“
 

Sie schüttelte den Kopf.

„Du verstehst es nicht, oder?“

Verzweiflung sprach aus ihren Augen.

„Oder willst du es nicht verstehen? Du ruinierst es. Alles. Uns.“
 

Sie zitterte.
 

„Als du… weg warst, ohne ein Wort, da dachte ich wirklich, ich… hätte mich in dir getäuscht, all die Jahre, und ich fürchtete, war drauf und dran zu glauben, dass der Lügner, der du gewesen warst, der Conan… gewesen war, dein wahres Ich war. Der arrogante, selbstverliebte, egozentrische Detektiv, der glaubte, die Welt läge ihm zu Füßen.“

Shinichi schnappte nach Luft.

„Ran, das -…“

„Nein.“
 

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein. Jetzt lässt du mich mal reden, Shinichi, und hörst zu.“

Sie atmete tief durch, schaute auf den Boden, um sich zu sammeln, ehe sie ihm wieder ins Gesicht blickte.
 

„Als ich dich auf der Brücke sah… den Blick in deinen Augen sah, hätte ich weinen können… vor Erleichterung. Nicht nur, dich zu sehen… sondern in deinen Augen dasselbe Gefühl zu erkennen, wie ich es spürte. Sehnsucht, Shinichi. Und als… als wir miteinander geredet haben bei dir, als du mir, bevor du mich rausgeworfen hast, erklärt hattest, warum du gegangen warst, da…“

Sie rang nach Luft, starrte heftig blinzelnd an die Decke, ehe sie es schaffte, sich wieder zu fassen. Sie wollte nicht weinen. Diesmal nicht.

„Da dachte ich wirklich, dass ich mich geirrt hatte. Dass ich mich nie getäuscht hatte in dir, dass du der… warst, den ich immer in dir sehen wollte, der strahlende Held. Verfechter der Wahrheit. Die… Konstante in meinem Leben, der Mensch, auf den ich mich immer verlassen konnte. Shinichi…“

Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten.
 

„…dabei hast du mich… da schon wieder angelogen…“
 

Eine Träne rollte ihr über die Wange und sie hasste sie dafür, wischte sie unwillig weg.

„Ich… kann verstehen, wenn du sagst, du wolltest meine Familie nicht zerstören. Mir ist klar, dass du weißt, wie sehr ich an Paps hänge, du hast es mitgekriegt, hautnah, als du Conan warst. Dennoch… zerstört hast meine Familie nicht du, sondern er, wenn schon. Und du hättest mir sagen müssen, verdammt, dass er es war, der dir im Krankenhaus gesagt hast, dass ich… dass ich… tot bin! Dass mein Vater es war, Shinichi. Du warst mein bester Freund. Ich hab dir… immer bedingungslos vertraut, dir jedes Wort geglaubt, dir alles entschuldigt. Bis heute.“
 

Sie hörte Kazuha nach Luft schnappen, sah Sonoko nach vorn treten, spürte ihre Hand auf ihrer Schulter.

„Ran…“

„Nein.“

Ran presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf, wand sich unter Sonokos Hand, bis sie von ihrer Schulter glitt, warf ihr einen Blick zu, der jede Aktion ihrerseits, ihre Freundin zu beruhigen, stoppte.
 

„Und damit bist du genauso ein Lügner wie er. Wie er traust du mir nicht zu, meine Entscheidungen für mich zu treffen. Und noch schlimmer – du lügst dich selbst an, indem du glaubst, dieses Leben ist besser für dich.“

„Das ist nicht wahr.“, murmelte Shinichi leise.

„Das ist einfach nicht wahr. Ich hab… dich angelogen, das stimmt. Ich… ach Gott, red mit deinem Vater über das Gespräch, das wir schon geführt haben, deswegen. Du weißt um unsere… Differenzen. Und er war wütend auf mich, damals… ich hatte ihn vorgeführt als Conan, ihm zu einem Ruf verholfen, den er nicht halten konnte, und mehr noch, ich war Schuld daran, dass seine Tochter lebensgefährlich verletzt worden ist. Das… rechtfertigt nichts, erst Recht nicht, dass er dich angelogen hat, was meinen Verbleib betraf, das weiß ich, aber ich wollte einfach… ich weiß, dass ich nicht da sein kann, in deinem Leben, verstehst du?! Ich… kann nicht, solange die noch da sind, und ich weiß einfach, dass sie da sind…“

Er zitterte, krampfte seine Finger in seiner Hosentasche zu Fäusten.

„Und da ich nicht da sein kann, um dir eine neue Familie zu sein, weil du zweifelsohne enttäuscht sein würdest von ihm, von deinem eigenen Vater, der deinen… besten Freund, dem Mann, den du…“

Sein Gesicht verlor jeglichen Ausdruck, kurz.

„… liebst, in… der Stunde, in der er ohnehin am Boden lag, einfach liegengelassen hat, anstatt ihm zu helfen…“

Er wischte sich über die Augen, seine Worte waren kaum verständlich gewesen, in dem Grad in unverständliches Murmeln verebbt, in dem auch sein Gesicht bleicher geworden war – und so räusperte er sich, ehe er weitersprach.

„… habe ich gelogen. Damit du deine alte Familie behalten kannst. Ich wollte einfach nicht, dass du so von ihm denkst. Ich wollte nicht, dass du… so fühlst, wie ich.“

Er spürte die Blicke der anderen auf sich, die mit angehaltenem Atem seinen Worten gelauscht hatten. Kurz sah er auf, sah Shiho, die ihn ansah – und zum ersten Mal sah er in ihren Augen so etwas wie Mitgefühl.

Sie wusste, was er getan hatte, um sie zu schützen.

Er hatte nicht sie verraten.

Er hatte sich selbst verraten.

Shinichi wandte sich ab, versuchte Ran anzuschauen, irgendwie ihren Anblick zu ertragen.

Schließlich schaffte er es, seine Stimme wieder zu sammeln.
 

„Weil es ein Scheißgefühl ist… zu wissen, dass man sich in dem Menschen, dem man geglaubt hat, in den man vertraut hat, getäuscht hat. Glaub nicht, ich wüsste nicht, wie sich das anfühlt, Ran. Ich wollte, dass du weiter glauben und vertrauen kannst, wenn auch nicht in mich, dann doch in ihn, weil er dein Vater ist, weil er dich liebt, weil er mit mir eine einzige Gemeinsamkeit hat – und nur deswegen verstehe ich ihn – weil er absolut alles tun würde für dich, Ran.“

Ran schüttelte den Kopf.
 

„Das rechtfertigt deine Lüge nicht. Es erklärt sie, aber…“

Sie sah ihn an.

„Ich muss doch selber entscheiden dürfen, wem ich vertraue und was ich tue… wie kann ich das aber, wie kann ich mir ein Urteil bilden, ohne alle Fakten zu haben… Holmes?“

Der Satz klatschte wie eine Ohrfeige in sein Gesicht.

Sie sah ihn an, in ihren Augen so viel Trauer und Bitterkeit, wie er noch nie in ihnen gesehen hatte. Nie hatte sehen wollen.
 

„Du hast sie mir damals nicht gegeben, als du mir nicht sagtest, wer Conan wirklich war. Als du mir verschwiegst, was du dir antatest, als du… als du in deinen verdammten Krieg zogst, allein. Und du hast mich wieder angelogen, als ich so sehr bemüht war, mir ein neues Bild zu machen von dir. Nun. Ich… hab ja jetzt alle Fakten über dich. Und ich… muss wohl einsehen, dass ich mich getäuscht habe… du bist wohl doch der arrogante, selbstverliebte Lügner, der sich alles so hinbiegt, wie es gerade bequem ist für ihn, der sich dazu noch selbst in die Tasche lügt, um sich sein Leben zu erklären. Ich gratuliere dir – du musst dich nun nicht mehr darum kümmern, mich loszuwerden. Ich gehe.“
 

Damit wandte sie sich um, verließ das Gebäude, ohne ihn noch einmal anzusehen. Kogorô war hinter ihn getreten, schluckte hart – und erst jetzt merkte Shinichi, dass der Mann hinter ihm stand. Er wandte sich nicht um, schaute ihn nicht an.
 

„Sagen Sie jetzt bloß nichts.“
 

Er schluckte, fühlte, wie sein Herzschlag fast zum Erliegen kam, als er an ihre Worte dachte – und an ihre Konsequenz.
 

„Ich wollte es ja nicht anders.“
 

Kogorô warf ihm einen Blick zu – Shinichi fing ihn aus den Augenwinkeln heraus auf, jedoch gelang es ihm nicht, ihn zu deuten. Er schaute ihm hinterher, als er die Lobby des Yards verließ, wollte ebenfalls gehen, als ihn ein Ruf zurückhielt.
 

„Sherlock?“
 

Es war McCoy, der ihn rief. Shinichi drehte sich langsam um, warf dem Heraneilenden einen fragenden Blick zu. McCoy winkte und hechelte, offenbar war er gerannt, um ihn einzuholen. Shinichi seufzte lautlos, verschränkte seine Arme vor der Brust.

„What is it?“, fragte er schließlich leise, als der Pathologe ihn erreicht hatte.

„As you well know, I was advised to leave this place.“

“Then let’s do this. But I have to talk to you.”

Der alte Forensiker griff Shinichi am Arm und zog ihn mit sich aus dem Gebäude, hinein in den nächsten Coffeeshop, wo er ihn ohne große Gegenwehr seitens Shinichi in einer Ecke absetzte und für sie beide zwei Becher Kaffee holte.

„I wanted to talk to you about what has just happened…“

„Well...“

Shinichi setzte seine Kaffeetasse an die Lippen nippte daran.

„I don’t“

„Shinichi.“
 

Shinichi stutzte, sah auf, eine Augenbraue irritiert nach oben gezogen. So hatte ihn der Forensiker Zeit seines Lebens nie genannt. DI oder SI Kudô, manchmal… aber eigentlich immer Sherlock.

So wie sie ihn alle nannten.

Der Mann sah ihn jedoch ganz ruhig an, erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln.
 

„I never read your file. But I was shaken to hear today that…“

Shinichi schaute ihn müde an, seufzte lautlos in seinen Kaffee.
 

„Then, go, read my file and leave me alone. Really, forgive me, but I don’t feel like talking… I’ve had enough of this today, it will last for the next couple of days.“

Der alte Pathologe indessen schien ihn gar nicht zu hören.

„I don’t know the reason why you started to take heroine. I am abhorred to just imagine…“

Shinichi schaute auf, grinste kurz.

„Strange to hear that from your mouth. Your ever so admired Great Detective, the very man whose name you stamped on me, was addicted to cocaine himself. One should believe the thought is accustomed to you.”

McCoy lächelte schmal, hob geschlagen die Hand.

„Touché. Although… this is… another story.“

Shinichi hob die Augenbraue.

„Yes, it is indeed. It was prescribed to me because of a substitution therapy. And if you had read my file, you’d now that I only had to undergo a therapy like this because while… being captured and taken hostage during the solution of my… big case… I came into contact with a substance that resembled very much a drug. To endure the treatment because of my addiction I made that therapy; diamorphine was the only substance that worked. You know, such things go on the record.”

Er schaute auf, Unwille spiegelte sich in seinen Zügen. Er war es Leid, sich zu erklären.

Es war doch eigentlich seine Sache, und noch dazu eine, die er am Liebsten vergessen würde.

„Is this explanation sufficient?“

„Almost, yes.“

McCoy setzte seinen Kaffee an die Lippen, nahm einen großen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.

„Was it yours?“

„No.“

Shinichi schüttelte den Kopf, fühlte sich auf einmal unsäglich müde – und merkte, wie der Kopfschmerz, der ihn gestern schon gepiesackt hatte, sich zurückmeldete.

Er nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse in der Hoffnung, das Koffein wirkte in der von ihm beabsichtigten Weise – kopfschmerzlindernd durch seine gefäßerweiternde Wirkung.
 

„Then you are facing a serious problem, Sherlock.“

Shinichi holte tief Luft, ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken.

„That’s true.“

Er nickte langsam.

„Because this means, somebody has put a flask of diamorphine into my drawer and therefore wants to give me a bad name. I just… have no clue who that person would be. Everybody has access to my office, I never lock it, there’s nothing of importance lying around. But who would profit from kicking me out? I don’t believe that some ordinary police officer would have a motive…”

Shinichi massierte sich die Schläfen, seufzte.

„That’s my opinion, too. It must be somebody close to you.“

„That’s pretty much restricting the circle of suspects.“

Der Superintendent lächelte ihn bitter an.

„Would be you and Jenna, and probably DI Henderson, my former partner. And I… would rather suspect neither you nor her… and not him, too, to be plain. Our relationship is not the best these times, but that’s never proof enough to face him with a suspicion like this. He is and was a decent and honest police officer.“

Er seufzte leise. McCoy schaute ihn an.

„For how long do you know Jenna, then?“

Shinichi hustete in seinen Kaffee.

„What? No. Now, honestly, this is ridiculous.“

McCoy schaute ihn an.

“No. Think, Shinichi. This mess began after she was appointed as your new partner, it started with this case. You know her for some months, not more. She is almost your age, but you have climbed the carreer ladder far more quickly than her. She has access to your file. She could know about your past. She could be jealous – you must not cross her of your list without having thought it over properly.”

Shinichi starrte ihn an, atemlos. In seinem Kopf schien ein Bergwerk zu hämmern, und allein der Gedanke, dass Jenna etwas damit zu tun haben könnte, schien ihm absurd.

Absurd.
 

Absurd…
 

Er schüttelte den Kopf, ließ es aber gleich wieder bleiben, als das Bergwerk einstürzen zu wollen schien. Er schloss die Augen, presste die Handballen auf seine Lider.
 

„And what about you, then?“
 

“I am lacking every motive.”

Der Pathologe lachte. Shinichi öffnete die Augen wieder, schaute ihn matt an.

„This is not funny.“

„No, it’s not. I could be guilty as well, but it’s far more unlikely. I know you since you began working here, and I would guess, if I had wanted to get rid of you, I could have done better and earlier. But let’s finish this, I did not want to upset you.”

Er nippte erneut an seiner Kaffeetasse.

„Why are you thinking the organization is behind this crime?“

Shinichi stutzte ob des abrupten Themenwechsels, massierte sich kurz die Schläfen.

„I’ve nothing but hints… but they are typical for them. Though…“

„… no proof at all.“

Shinichi zuckte hilflos mit den Schultern.

„Yeah. You heard him. It…“

„Go. Let’s have a closer look at them.“

McCoy lehnte sich zurück.
 

„Well then.“

Shinichi beugte sich vor, hob die Hand, hielt einen Finger hoch.

„Number one, the weapon. I know…“

Er winkte ab, als McCoy ihm etwas entgegnen wollte, weil er genau wusste, was er sagen würde.

„I know I’ve told you that I don’t know if there is someone out there wanting to take revenge on me. I said this because I knew that my theory would be rejected.”

Er zuckte mit den Schultern, lächelte zynisch.

„Quod erat demonstrandum – you’ve seen how right I was with my fear today. Well, nevertheless, with a sword of that kind, a katana as we call it, the Japanese razorblade-sharp long-sword – my girlfriend was hurt, five years ago, at the night of their downfall. The girl I considered dead, for five long years … because she had ceased breathing in my arms, that very night.“

Seine Stimme verlor sich kurz. Dann hob er die Tasse an seine Lippen.

„Well, she lives, she could be revived and rescued, which I did not know until a few days ago – and the reason for this ignorance of mine is my private issue.“

Er hielt kurz inne.

„You might have seen her today. She was one of the witnesses who found Juniper Torres.“
 

McCoy sah ihn aufmerksam an.

„Yeah, I’ve seen the young ladies. Which one of them was her?“

Shinichi schaute ihn kurz verwirrt an.

„The one with the long, chocolate-brown hair. I thought, you would know that after our talk when having a look at the first victim – Aiko, who looked so very much like her?”

Der Forensiker riss die Augen auf.

„Ah! Oh, I completely forgot thinking about that – you’re right. I didn’t know we were talking about the same girl.“

Shinichi runzelte die Stirn.
 

Klar… wie viele tote Mädchen pflastern denn meinen Weg?

Aber vielleicht ist er einfach überarbeitet… der Jüngste ist er ja auch nicht mehr.
 

Er schob seine Bedenken beiseite, rieb sich die Nase, kurz.
 

„Well, that was number one, the weapon. Second – you might remember the smell that clung to the dress of the second victim.”

„Gin.“, nickte McCoy.

„Gin.“, bestätigte Shinichi.

„And Gin was the alias of that member of the Black Organization that has tried to kill her and let me live… he was able to escape, back then. Gone with the promise to come back when time would be ripe.“

Er streckte den zweiten Finger aus, um gleich darauf den dritten folgen zu lassen.

„The fact that the first victim so much resembled Ran, to make me curious, number three. The flowers on the pictures are still mysteries to me, to be honest.“

Er seufzte.

„The silvery hair, number four; Gin wore his that way. I was imagining to have seen him today at the crime scene, five. Six… they have sent me a picture of Ran. The last time they did the same to get me talking, to see, if they’ve found the right girl or not. As I would not talk, they caught her as well.“
 

McCoy sah ihn nachdenklich an.

„This is an impressive amount of arguments, but as you’ve said – none of it is cast-iron proof.“

McCoy sah ihn an, mit hochgezogenen, buschigen, graumelierten Augenbrauen, die sich in der Mitte fast berührten und seine Stirn in tiefe Falten legten.

„A big pile of assumptions you are risking your promising carreer for, Sherlock…“

Ein bedauernder Blick aus grauen Augen streifte Shinichi.

„Let’s begin at the start… those girls were invited by this advert. That your first victim resembles your girlfriend so much could easily be conincidental. God alone knows how many girls have responded to that ad, but for sure fare more than they would ever need; it’s easily earned money. Would she have not called, they would have had their first problem here. With the very first victim. A daring project, if this was planned. They could not know who would respond.“

Shinichi schluckte hart, merkte, wie ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunterrann. Daran hatte er nicht gedacht.

„But as you said, there sure would be many…”

“Yes. But you could not deny the coincidence, the luck involved to find exactly her?”

Shinichi nickte widerstrebend.

“Yeah.”

„Then the Gin-issue. Who can promise you that she did not only lie in the leftovers of the champaign-gondola’s last guest. I mean, it’s the champaign-gondola, she was designed to celebrate parties in there. And the cleaning crew always arrives at the next morning. Now, if he was clothed like a cleaning man, no one would ever known that this gondola was not cleaned this morning.”

Der junge Detektiv sagte nichts, starrte nur in seine fast leere Kaffeetasse. Seine Gedanken begannen sich unangenehm bohrend durch seine Hirnmasse zu winden.

„The samurai-sword. Could be no more than the strange fetish of a madman. I mean, just think it through – no one knows better than you how strange the methods of murder can be, there seems to be no limit to bizzarreness. Let’s be honest – a sword like this is not common; not as common as a knife ore a gun – but it is by far not unlikely that two murders could be committed within five years on two different continents with the same kind of weapon. Especially if this is a personal revenge quest on you – an Asian weapon to conquer an Asian investigator with.“

McCoy lächelte bitter, blickte ihn dann ernst an, schwieg, so lange, bis Shinichi ihn ansah. Mitgefühl lag in seinen Augen, als er die Zweifel sah, die er gesät hatte – sein Gegenüber biss sich auf die Lippen, war auffallend bleich geworden.

„The figure of your enemy you saw could be a joke your tired eyes played on you. That silver-blonde hair might be exceptional in Japan, but is not at all unsual here, as you might have considered as well.”

Shinichi schaffte es kaum mehr, seinen Kopf zu einem Nicken zu überreden. Er wusste selber, dass er keinen Beweis hatte, nie gehabt hatte, aber es nun von fremder Stimme so ausführlich zu hören, wie sich all seine Hinweise anders erklären ließen, gab ihm für heute den Rest.

„The flowers… I guess you have already done your research – they could have something to do with Shakespeare’s Ophelia. Now, I am asking you – what does inspire you not to believe that this is just some kind of ritual murder, committed by some Hamlet-obsessed lunatic - a little painter, craving for admiration and publicity, for validation, the outcry of an existence, failed in coping with his own life.”
 

Shinichi atmete aus, langsam, krampfte seine schlanken Finger um seine Kaffeetasse, stierte auf die Tischplatte, als wolle er mit seinen Blicken Löcher in sie bohren.

„I…“

Er brach ab, schluckte hart.

„But what… what if I am right, nevertheless… I know, my arguments do not prove anything, but I can explain them just as well as you can…“

„That is true. But that is the very fact I wanted to show you – none of us can be sure. You must be aware that this alternatives do exist. And that they are just as likely as your explanations, your assumption that a mysterious organization pulls the strings in this play, an organization that is considered non-existant and dead for five years.”

Jahren als zerschlagen geltende Verbrecherorganisation.“

„But the photo…“, fing Shinichi an.
 

„Concerning the photograph, Sherlock, for you very likely the most important evidence, I have bothered myself to get you a list. You know it is a press photograph, so everyone could get it in his or her hands. And this list shows every name of every man and woman you have imprisoned the last five years and have come free this year. Every one of them is perfectly able to take his or her revenge on you. The first thing would be to have a close eye on you and what is written about you in the press. You would not be the first cop against such a vendetta is set up.”
 

Shinichi merkte, wie ihm die Luft zum Atmen wegblieb. McCoy schüttelte den Kopf, langsam.

„You have immersed yourself so much into your fears, Sherlock, that you got completely lost. Your ever so clear sight is clouded, you do not see the truth in front of you. Your emotional state of exception might sign itself responsible for that… it might sweep one of his socks to meet one’s love again after five years, especially if one has considered her dead. But you were controlled by fear, not by your ever so logical mind anymore.”
 

Damit stand er auf.

„Please, promise me to think about it. I would not like to see you driving both your live and your carreer against the wall. You are hunting ghosts, Sherlock.”
 

Er warf ihm einen letzten, bekümmerten und gleichermaßen ernsten Blick zu, dann drehte er sich um, ließ ihn allein zurück mit all seinen Gedanken, die er krampfhaft zu sortieren versuchte.

Wie gelähmt hing Shinichi in seinem Sessel, starrte auf einen Punkt in der Luft einen Meter vor seiner Nase, atmete kaum.
 

Und so unbewegt sein Äußeres wirkte, umso mehr fuhren seine Gedanken Achterbahn, überschlugen sich, fielen übereinander, hinterließen nichts als pures Chaos.
 

Kann das denn sein…

Lag ich wirklich so falsch…?
 


 

Ran ihrerseits kam auch nicht weit.

Sie war noch vor Shinichi recht forschen Schrittes aus der Lobby gegangen, durch die Tür – und hatte doch gemerkt, wie ein unsichtbares Gewicht sie immer mehr nach unten drückte, wie ihre Knie sich aufzulösen schienen, von fester Knochenstruktur in eine wabbelige Masse mutierten, die sich weigerte, sie aufrecht gehen zu lassen. Akai griff gerade noch rechtzeitig zu, als er merkte, wie sie kippte, griff sie unter den Achseln, wollte sie hochheben und hielt doch inne. Shiho und die anderen versammelten sich um sie, sahen ein Bild von Ran, wie sie es noch nie erlebt hatten.

Sie war zusammengesunken und weinte, völlig lautlos, vollkommen still, aber mit einem Ausdruck von Schmerz auf ihrem Gesicht, der es ihnen eiskalt den Rücken hinunter laufen ließ.
 

Und wenn Herzen brechen können… dann tut es dieses gerade.
 

Shiho schluckte, half Akai, sie hochzuziehen, damit er sie auf die Arme nehmen konnte. Kogorô war ihnen nachgelaufen, schaute seine Tochter an, sah das Leid in ihren Zügen und zum ersten Mal, viel deutlicher noch als oben in Shinichis Büro, sah er, was er angerichtet hatte.
 

Er hatte es geschafft, nicht nur ein, sondern gleich zwei Leben zu ruinieren.
 

Sie hatten Glück, bekamen ein Großtraumtaxi für ihre Rückfahrt ins Hotel.

Ran war still geworden nach ihrem Ausbruch, und blieb es auch im Auto. Ihr rannen zwar immer noch lautlos die Tränen über die Wangen, als ihr mehr und mehr klar wurde, dass sie nun wohl tatsächlich den endgültigen Schlusspunkt gesetzt hatte – und diese Tatsache riss ihr Herz in Stücke.

Was ihr eben von Wut und Enttäuschung befeuert entfahren war, all die Worte, die ihn so sehr getroffen hatten – sie hatte es gesehen, so blind hatte sie trotz ihrem Ärger nicht werden können – erschreckte sie nun selbst fast.

Die Grausamkeit, mit der sie ihn beschimpft hatte, ihn, den sie doch mehr liebte als ihr eigenes Leben, immer noch, mehr als je zuvor sogar… die Kaltherzigkeit mit der sie ihn weggejagt und aus ihrem Leben gestrichen hatte, tat ihr jetzt selber weh, ließ sie frösteln und zittern.

Und dennoch konnte sie ihm nicht verzeihen.

Sie sank nach vorne, langsam, ließ ihren Kopf in ihre Hände sinken, spürte Sonokos Finger auf ihrem Rücken, die sie zart streichelten, versuchten, ihr Trost zu spenden.

Langsam richtete sie sich auf, sah zuerst sie, dann Kazuha zu ihrer Linken an, lächelte traurig.
 

„Dann ist es jetzt wohl wirklich aus…“

Kazuha schaute sie betroffen an.

„Es ist so… unwirklich. Ich dachte, trotz allem, trotz gestern sogar noch… dass es ein Zurück gibt für uns. Dass wir doch noch zueinander finden, weil wir… weil ich doch dachte, dass wir zusammengehören.“

Sie fühlte, wie sich ihr Herz fast schmerzhaft verkrampfte, griff sich mit ihren Fingern an die Stelle, unter der es schug, massierte ihr Brustbein, kurz. Kazuha hingegen sah auf, betrachtete den Mann, der ihnen gegenübersaß. Kogorô hatte seine Augen auf seine Tochter gerichtet, sein Gesichtsausdruck war schwer zu lesen.

„Sie haben also… Sie haben ihm damals im Krankenhaus gesagt, dass Ran tot wär und er is‘ daraufhin gegangen und hat in den letzten Jahren in dem Glauben gelebt, dass se tot is…? Hab ich das richtig verstanden?“

Kazuhas Stimme klang ungläubig, als sie die letzten Minuten zu rekapitulieren versuchte.

Der Mann sagte nichts, hob nur seinen Blick, schluckte schwer. Sonoko warf ihm ebenfalls einen Blick zu; sie kannte Rans Vater ihr Leben lang, sie wusste, wie sehr er sein Mausebein liebte – allerdings, dass er in der Lage gewesen war, ihr diese Lüge vorzuleben, erstaunte sie. Und entfachte in ihr die Wut. Sie hatte gesehen, wie sehr Ran gelitten hatte, unter dem Glauben, von Shinichi zurückgewiesen worden zu sein – er musste es also auch mitgekriegt haben.

Und hatte dennoch geschwiegen.

Sie wandte den Blick von ihm ab, drehte sich zu Ran, seufzte leise.

„Und dann hat er dir, als du mit ihm geredet hast, dir was gesagt, als du fragtest, warum er das glaubte, was gesagt?“

„Dass er es nicht mehr wüsste. Er wäre an dem Abend ziemlich neben sich gestanden.“

„Woah.“

Sonoko ließ sich in die Polster zurücksinken, schnaufte.

Kazuha hingegen schaute Ran zurückhaltend an.

„Du weißt aber schon… Ran.“

Sie schluckte, fing noch einmal an.

„Ich kenn… Shinichi und auch…“, sie blickte zu Kogorô, zögernd, „deinen Vater zu wenig, als dass ich das… komplexe bis kompliziert zu nennende Verhältnis, dass die beiden da haben, beurteilen könnt‘. Aber jetzt… denk mal nach. Ich weiß, wie er mit Conan umgegangen is‘, und ich hatt‘ schon das Gefühl, dass, wenn ihn auch der kleine Junge manchmal genervt hat, er ihn mocht‘, und ich glaub, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Und nu. Shinichi war Conan. Als… ihm also aufging, dass der Mann, bei dem er die letzten zwei Jahre gewohnt hatte, ihn so angelogen hat… ihn immer noch so wenig schätzt, so viel Wut auf ihn hat, dass er ihn ins offene Messer laufen lässt, muss er… sauer gewesen sein, und enttäuscht. Und sich dann dafür zu entscheiden, einen Mann zu decken, der ihn fünf Jahre Hölle beschert hat, und Herrgott, sieh ihn dir an, Ran…“

Ran hob müde den Blick.

„Ich weiß ja, Kazuha. Was mich… aber so erschreckt, weshalb ich so sauer war, und so enttäuscht, ist… das Entsetzen darüber, dass er das kann. Dass er sich so ignorieren und mich gleichzeitig so dreist anlügen kann, und ihm dabei nicht klar wird, dass er uns beide mit demselben Schwert in den Rücken sticht.“
 

Sie schniefte, holte Luft.

„Ich meine, ihr habt beide… eure Freunde. Du Heiji, Kazuha, und du hast deinen Makoto, Sonoko. Wie würdet ihr euch fühlen, würden sie das tun…? Kann ich mir denn je sicher sein, dass er die Wahrheit spricht, so oft, wie er mich jetzt schon ohne mit der Wimper zu zucken angelogen hat… und grundlos, möchte ich meinen. Aus… um in seiner Sprache zu bleiben, niederen Motiven. Ich meine, die Sache mit Conan… ehrlich, warum sagt er mir das nicht? Ich sag euch, warum. Ich hatte fünf Jahre Zeit, nachzudenken darüber… aus Scham. Aus Bequemlichkeit, weil er wusste, dass ein Zusammenleben unaushaltbar sein würde, wüssten wir um einander. Nicht, weil ich in Gefahr wäre. Das war ich schon allein dadurch, dass ich ihn kannte.“

Sie ballte die Fäuste.

„Denn ich weiß, dass er sich im Klaren darüber war, dass ich ihn niemals verraten hätte. Das kann es also auch nicht gewesen sein.“

Sie biss sich auf die Lippen.

„Und dann… frage ich mich einfach, wann wollte er mir sagen, wer er gewesen war? Er hat nicht ein Wort hinterlassen. Er hat diese Email geschrieben, an alle anderen, aber zu mir keinen Ton, keine Silbe, keine Notiz. Keinen Brief, nichts. Er hat sich in die Schlacht geworfen, ohne mir etwas zu sagen...“
 

Sie schluckte, spürte den Blick der Forscherin auf sich. Als sie aufsah, begegneten sich ihre Blicke, kurz, ehe Ran sich wieder abwandte, müde gegen die Fensterscheibe sank.

„Ran…“

Shiho lächelte müde.

„Du weißt, dass er dir nicht deswegen nichts gesagt hat, weil er dir nicht vertrauen würde. Er würde sein Leben in…“

„Meine Hände legen? Dass ich nicht lache.“

Ran schaute sie an, schüttelte den Kopf.

„Du willst mir wirklich weismachen, er sagt mir nur deshalb nichts, um mich zu schützen? Das ist Unsinn. Du weißt das. Ich… ich kann einfach nicht… ich sehe einfach nicht, wie es für mich und ihn weitergehen kann, wenn ich nicht alles weiß. Wenn er nicht endlich gnadenlos ehrlich ist, wirklich alles offenbart, was… da noch ist. Und ich weiß, da ist noch was. Ich habs… vorhin erst wieder gemerkt, als… wir oben waren, in seinem Büro. Er hat mir gegenüber nur Geheimnisse.“

Sie wandte sich ab, schaute aus dem Fenster, sah das vorbeiziehen, was eigentlich ein schöner Urlaub hätte werden sollen.
 

„Natürlich hat er die.“

Kogorô schaute sie an; im Wagen wurde es schlagartig still. Ran wandte sich um, langsam. Ihr Vater hatte geschwiegen, bis gerade eben – und sie hatte auch nicht erwartet, dass er sich noch in das Gespräch einklinken würde, nachdem, was gerade herausgekommen war.

„Du könntest keine Minute mehr ruhig schlafen, wüsstest du, was er tut, was er riskiert oder was er schon erleben hat müssen, und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Du kannst ihm das nicht vorwerfen, Ran. Und gelogen hat er dieses letzte Mal wegen mir, das weißt du. Er hat dir seine Gründe genannt, du weißt, dass es diese eine Mal wirklich gute und nachvollziehbare Gründe sind… Mausebein.“

Er schluckte, runzelte die Stirn, schaute seine Tochter lange an, ehe er sich zum Weitersprechen überwinden konnte.

„Ich hab dir das verschwiegen, weil ich ihn in deinen Augen nicht schon wieder als Lügner dastehen lassen wollte. Ich hab geahnt, dass du ihm das übel nimmst. Du bist in der Hinsicht wie deine Mutter. Einmal in diesem Leben wollte ich auch etwas Gutes für ihn tun.“

Er lächelte schmal.

„Offen gestanden hatte ich aber nicht geglaubt, dass du ihn deswegen abschießt. Ich… hatte eigentlich gedacht, jetzt, wo du ihn wieder hast, lässt du ihn nicht mehr los, und das war es doch, was du die ganze Zeit behauptet hast. Sogar ich glaubte endlich verstanden zu haben, was das ist, das euch verbindet…“
 

Er sah sie an, sah den Kampf in Rans Augen, den sie mit sich selbst austrug. Dann wandte sie sich ab, schaute nach draußen, schlang die Arme um ihren Körper.
 


 

Kapitel 35: Die Story seines Lebens

Kapitel 35 – Die Story seines Lebens
 


 

Sie hatte sie diskutieren sehen, ihn und dieses Mädchen, und sie hatte sie gehen sehen, zusammenbrechen sehen, hatte geahnt, dass sich ein ganz und gar großartiges Drama abgespielt hatte.
 

Und sie hatte ihn das Yard verlassen sehen, zusammen mit diesem Pathologen, der neben ihm bei der Pressekonferenz gesessen hatte. McCoy, wenn sie sich recht erinnerte.
 

Victoria Shelley lächelte verhalten.
 

Er war blass gewesen, sah überspannt aus, seine Augen von Sorgen umwölkt und er schien eigentlich nicht in der Laune zu sein, noch irgendwohin zu gehen – aber der alte Forensiker hatte ihn am Arm gepackt und nicht losgelassen.
 

Und sie hätte ein Stück ihrer Seele verkauft für diese Story – ungeheuer lockend war die Versuchung gewesen, ihnen hinterher zu laufen und ihnen die Infos aus der Nase zu ziehen – oder eine wilde Geschichte aus dem zu machen, von dem, was sie abstritten.
 

Sie nahm, was sie kriegen konnte.
 

Allerdings war sie momentan auf der Jagd nach einem noch größeren Fisch.
 

Als sie in die Lobby gegangen war, getarnt mit einer sauberen, dunklen und recht biederen Kombination aus einem hochgeschlossenen Blazer und überknielangen Rock (den sie sich extra hatte kaufen müssen, weil ihre Garderobe so etwas gar nicht hergab) und sich als die „neue“ Sekretärin ausgab, hatte sie es dann gehört.

Der Fall war gelöst – und Sherlock Holmes beurlaubt.
 

Und in ihr hatte alles zu juchzen und tanzen angefangen, denn es war klar, glasklar, dass hier nicht alles glatt gelaufen war diesmal. Dass an diesem Gedanken, an dieser Vermutung, die ihr dieser Fremde gestern Nacht in den Kopf gepflanzt hatte, durchaus etwas dran sein könnte.

Man schickte einen Superintendent, so kurz nachdem er seinen Fall gelöst hat, nicht in Urlaub.

Und erst Recht sah der entsprechende Superintendent dann nicht so aus wie SI Kudô gerade eben.
 

Victoria Shelley zupfte ihre blütenweiße Bluse zurecht und marschierte sicheren Schrittes über den polierten Steinboden der Lobby, tat so, als gehöre sie schon zum Inventar und ließ sich von keinem fragenden Blick beunruhigen – und verströmte dadurch eine Selbstsicherheit, die sie vor lästigen Nachfragen schützte.

Sie ging zum Aufzug, stellte sich in die Kabine zwischen die anderen Beamten und Angestellten und las die Beschreibung der Stockwerke – sie wusste, DI Henderson arbeitete im Morddezernat.

Sie brauchte nur die dazu passende Etage.
 

Ganz wie sie gehofft hatte, war DI Richard Henderson in seinem Büro. Sie hatte geklopft, war dann aber ohne auf ein „Come in“ zu warten, einfach in das Büro getreten und hatte die Tür hinter sich entschlossen zugedrückt.
 

Vor ihr, in einem abgewetzten Ledersessel in einem leicht muffig riechenden Büro saß ein etwas untersetzter, wenngleich schlanker Beamter mit fliehendem Haaransatz, der sie über seine Brille hinweg fragend anschaute.

Er hatte nicht eine Regung gezeigt, weder mimisch noch gestisch, hatte einzig und allein innegehalten in seiner Schreibarbeit und sah nun die junge Frau vor sich konsterniert an.
 

„May I help you, Miss?“, fragte er schließlich gedehnt, lehnte sich zurück. Er freute sich nie über Unterbrechungen und Störungen, allerdings waren sie auch selten so attraktiver Natur.

„Oh. I am sure you may”, lächelte Vicky gewinnend zurück, zeigte ihre makellos weißen Zähne zwischen ihren sinnlich rot geschminkten Lippen.

„You are DI Richard Henderson.”

Eine Augenbraue rutschte nach oben, ein Stift wurde beiseite gelegt. Henderson sah sie an, abwartend.

„This knowledge is easy enough to gain. It reads so on the sign at the door of this office. So yes, I am DI Henderson. But who are you?”

Seine Stimme war immer noch leise, höflich zwar, aber dennoch von einem frostigen Klang begleitet, der sein Missvergnügen über die Unterbrechung seiner Arbeit eloquent zum Ausdruck brachte.

„Oh. How impolite of me.“

Die junge Reporterin kramte in ihrem Handtäschchen nach ihrer Visitenkarte, reichte sie dem Detective und nahm ungefragt auf dem Stuhl vor ihm Platz, schlug ihre Beine übereinander, ließ ihren Rock dabei ganz bewusst ein Stückchen ihren Oberschenkel hinaufrutschen.

Die Falten auf der Stirn des Detectives wurden tiefer.
 

„Reporter from… the Reporter. Hm. Lady, I am afraid, you have found yourself lost. The press department is…”

Doch ehe er ausholen konnte, hatte sie ihn auch schon unterbrochen. Ihre zierliche Hand schwebte vor ihm in der Luft, ihr manikürter Zeigefinger nur wenige Zentimeter vor seinen Lippen entfernt, die sie ihm mit ihrer Bewegung versiegelt hatte.

„Hush.“

Sie lächelte kokett, schenkte ihm einen Augenaufschlag, der, wie sie wusste, bei Männern immer wirkte.

„I don’t think I am lost. I am exactly where I wanted to be… I would so much love to have a little chat with you… with Detective Superintendent Kudô’s former partner, if I am not mistaken…”
 

Nun war es an Henderson, sich interessiert nach vorne zu beugen. Er streckte die Hand aus, hob das Telefon aus seiner Station, drückte eine Taste.

„DI Henderson, how may I help you?”, ertönte eine leise säuselnde Frauenstimme aus dem Hörer.

„I am not to be disturbed the next half of an hour.“

Damit legte er den Hörer zurück auf die Gabel.
 

„What is it exactly, that you want to know about SI Kudô?”, fragte er dann ruhig, lehnte sich wieder zurück.

„Well… you know I write those articles concerning the case…“

“… concerning SI Kudô’s private life, rather…”

“and I wonder. I mean, information is hardly to gain from him, but I mean, I have eyes in my head. And I realized that SI Kudô’s physical constitution changed, somehow. It’s not… much, but obvious, I mean.”

“Ah.”

Henderson schaute sie ruhig an.

“What kind of changes do you mean?”

Victoria zog ein gespielt besorgtes Gesicht, impfte ihrer Stimme einen Hauch leiser Beunruhigung ein.

„Well… he’s kind of pale. Shadows under his eyes. He looks so tired, all the time. Haggard. Unconcentrated. He told me he suffered a headache, last night when I met him. And his hands were shaking… just as if he had a tremor…”

“Ah.”, wiederholte DI Henderson.

“And now you came here to show your concern and sympathy about SI Kudô’s health state? Why don’t you ask him?”

Er lachte, hob die Hand, als er sah, wie ihre Gesichtszüge kurz entgleisten. Er ahnte, worauf sie hinauswollte, hatte das bereits geahnt, als sie sich vorgestellt hatte – dennoch, er wollte ihr nicht aus der Hand fressen. Nicht sofort, hieß das.

Das hier war nicht nur ihre Chance.
 

„Well…, I guess you don’t ask him, because he is not very… eager to provide information about himself. So… what do you want from me now? I was his partner, as you know. Why don’t you ask Sergeant Watson for…”

“I was wondering…”, unterbrach sie ihn.

„…if you, as his former partner, knows if he suffers some sort of… illness.“

“As I just try to tell you, why don’t you ask…”, fiel er ihr ins Wort. Victoria lächelte immer noch, als sie antwortete, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn sie der Gegenwind seitens des Beamten irritierte. Sie hätte gedacht, allein ihre Person und die Chance, die sie ihm bot, und die er sehr wohl gerochen hatte, das sah sie ihm an, würde ihn zu Wachs in ihren Händen werden lassen.

“Because I take it that you, who has worked almost five years with him, knows better, if not even… best.”

Sie lächelte immer noch, aber er merkte, wie es in ihren Mundwinkeln zu zucken anfing. Er wusste genau, worauf sie hinauswollte, auf seine Akte nämlich; und sie wusste genau, dass er wusste, worauf sie anspielte.

Und sie wusste, dass er sie gelesen hatte.

Dass er jedes Detail kannte, das in ihr stand.
 

Allerdings, er war Polizist bei Scotland Yard.
 

„Why don’t you talk straight what you want from me? This is not about an illness…”

Er lächelte gewinnend. Und an Victorias Lippen, die nun ihr Lächeln aufgaben, an ihrer Haltung, die sich anspannte, erkannte er, dass er gewonnen hatte. Sie beugte sich vor, zog ihren Rock wieder in eine angemessenere Position, fixierte ihn mit ihren Augen ohne zu blinzeln.
 

„That’s right, you got me. I see my tricks don’t work with you. So – yes. I am here to learn about the real reason why Sherlock was sent on holiday today. Don’t tell me it’s the closed case and his need for sun on his skin and a good lie-in.”

Ein schmales Lächeln kräuselte Hendersons Lippen.

“Well. May I ask why you are assuming that me, an officer of Scotland Yard, should be willing to give any intimate information to a reporter of a piece of yellow press and therefore endanger his own career, let alone destroying the life of another person even more?”

Victoria Shelley lehnte sich langsam zurück, schlug ihre Beine wieder übereinander. Ihr selbstsicheres Lächeln schlich sich langsam zurück auf ihre Lippen.

„Rumour had it, that you don’t like SI Kudô much. Rumour had it, too, that this dislike results from a promotion, that was due for you but given to him.”

Henderson zog seine Augenbrauen hoch, enthielt sich einer Antwort.

„Well… I guess, this sucks, doesn’t it?“

„I am a professional. And SI Kudô did a great job back then.”

“Well, but wasn’t that sheer luck? I mean… how long was he working for the Yard? Four years, five? And you?”

„Five. And it’s been twelve years for me.“

Henderson schaute sie kühl an.

„So – let’s assume that I am indeed a bit pissed off because of this – you still did not tell me how I would profit from this act of treason. And you know that it is this, what you want from me – you want intimate information about SI Kudôs file. This is a breach on data security, and as he is an officer of Scotland Yard, this assault would weigh even more.”

Die Reporterin blinzelte ihm zu.

„Nobody would ever know that you passed on that information to me. I am confidential with my sources; besides, there is another person who could be blamed for this.”

Sie lächelte kurz.

“And…”

Victoria zog das Wort in die Länge.

“I’ll give you revenge. I am just after a good story, and dragging London’s hero through the mud by uncovering his disturbing past will be a. Very. Good. Story…“

„So it’s just your carreer you are interested in?“

„Nothing else.“

Sie lachte leise.

„My work is everything I ever cared for, and, frankly, I didn’t want to work for a tiny leaflet like the Reporter for the rest of my life. And I know when to grab my big chance. It is waving at me just now – so – will you reach out for my hand?”

“He might lose his job when we do this.”

“Which would be just fine with me. What about you?”

DI Henderson ließ sich zurücksinken, legte die Fingerspitzen aneinander, grinste sie breit an.
 

„I am of the opinion, that you should better leave my office, Miss Shelley.“
 

Sie starrte ihn an, traute ihren Ohren kaum.

„Yes, you may trust your ears. There’s the door.”

Er hob die Hand, deutete auf einen Fleck hinter sie.

„But…“

„My answer is no. It is indeed true that I don’t like him that much since his promotion, yes. But I would never use his back to climb my own career ladder. Very unlike you, as it seems. And now leave my office, or I’ll make you leave.”
 

Sie stand auf, wortlos, verzog sich ohne ihn noch einmal anzusehen.

Vor der Tür atmete sie aus, gepresst. Das war nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte.
 

Bereit aufzugeben war sie allerdings noch lange nicht.
 

Sie straffte die Schultern; würde ihr niemand erzählen, was in der Akte stand, dann würde sie eben diese verdammte Akte selber suchen müssen. Und sie hatte schon eine Ahnung, wie sie sie finden würde.

Sie vermutete, dass die Akte wohl im Büro seines Chefs liegen könnte. Eventuell hatte er sie erst vor kurzem konsultiert – ein Versuch war es wert. Sie streckte den Rücken durch, ging dann sicheren Schrittes zurück ins Treppenhaus, suchte sich auf dem Plan unauffällig die Lage des Büros von AC Jackson Montgomery heraus, klemmte sich ihr Tablet unter den Arm, um den Eindruck einer fleißigen Angestellten zu machen, die auf dem Weg zum Meeting war, und schritt sicheren Schrittes die Flure und Treppen entlang.

In der Chefetage angekommen, geriet sie nun doch etwas ins Schwitzen. So unauffällig wie möglich, versteckt hinter einer Gruppe Sergeants, die plaudernd aus der Mittagspause kamen, schlich sie sich am Tisch der Chefsekretärin vorbei, um sich danach ebenso unbemerkt wieder abzuseilen und den Korridor zum Büro des ACs zu suchen. Sie hatte bewusst diesen Zeitpunkt gewählt; um die Mittagszeit war die Chance am größten, die Leute unbeschäftigt vorzufinden – oder auch gar nicht.

Letzteres war ihre Hoffnung in diesem Moment.

Mit dem Plan, sich damit zu entschuldigen, sich in der Tür geirrt zu haben auf dem Weg zum Press department (ja, sie hatte vor, sich als Reporterin zu outen, sollte Montgomery tatsächlich hier sein), klopfte sie an die Tür und wartete.
 

Durch zitternde Nasenflügel atmete sie langsam aus, lauschte angestrengt und hatte fast Angst, eine eventuelle Antwort durch das laute Rauschen des Bluts in ihren Ohren nicht zu hören. Jeden Moment konnte jemand hinter ihr im Gang auftauchen.
 

Niemand antwortete.
 

Langsam streckte sie die Hand aus, schickte Stoßgebete zum Himmel, als sie mit Schweißnassen Fingern die Klinke ergriff und langsam nach unten drückte.
 

Pretty, pretty please…
 

Die Tür ging auf.
 

Ihr Herz schlug bis zum Hals. Ein Zurück gab es nicht.
 

Flink huschte sie hinein, schloss die Tür hinter sich, eilte zum Schreibtisch. Sie ließ ihren Blick über den Tisch schweifen, merkte sich die Anordnung der Dinge, und fing dann an, die Akten eine nach der anderen kurz anzuheben, die dort lagen.
 

Als sie sie tatsächlich fand, hätte sie fast vor Triumph aufgeschrien. Fieberhaft schlug sie sie auf, ihre Finger zitterten so sehr, dass ihr die Blätter fast vom Tisch glitten, als sie sie überflog.

Hastig und mit von kaltem Schweiß klebrigen Fingern weckte sie ihr Tablet aus dem Standby-Modus und fing an, die Seiten zu fotografieren. Und was sie dort las, verschlug ihr den Atem gänzlich.
 

Als sie an diesem Tag Scotland Yard verließ, schien sie durch die Hallen mehr zu schweben als zu gehen. Sie fühlte sich so high, dass sie nicht glaubte, dass ihre Füße den Boden überhaupt noch berührten. Wie sie unerkannt aus dem Büro entwischt war, bevor der AC aus seiner Mittagspause zurückgekehrt war, wusste sie nicht mehr.
 

Die Blicke, die ihr die vorbeieilenden Beamten zuwarfen, waren ihr egal - ihnen mochte ihr breites Grinsen, das, wäre es ihr anatomisch nur möglich gewesen, von einem Ohr zum anderen gereicht hätte, vielleicht sogar einmal um ihren Kopf herum, befremdlich vorkommen. Sie selber konnte es kaum abstellen, auch wenn ihr die Backen mittlerweile schmerzten.
 

Victoria Shelley hielt das Tablet in ihrem Arm fest, ihren Schatz, der Schlüssel zu ihrem Erfolg, der Beweis für die Story ihres Lebens.
 

Denn schwarz auf weiß zu lesen war darauf… die Story seines Lebens.
 

Sie trat ins Freie und konnte einfach nicht mehr an sich halten – sie blieb stehen, jubelte auf, lachte laut, anhaltend und schallend und ihr waren die Blicke der Passanten immer noch herzlich egal.
 

Was sie in den letzten fünfundzwanzig Minuten erfahren hatte, war zu gut um wahr zu sein, zu unglaublich, um real zu sein – aber das beste daran war, es war alles beweisbar.
 

Schwarz auf Weiß zu lesen in seiner Akte in Scotland Yard.
 

Drug substitution therapy with Diamorphine.
 

God… Sherlock Holmes was a freaking yunkie!

I’ll rip that mask off his face… I’ll tear his clothes off his body, I’ll crawl under his skin…

I’ll leave him naked in front of the whole of London, no, better, the whole of Great Britain – the whole world! Gosh, I bet the news agencies of his mothercountry will pick that up, too…
 

His fucking reputation will be destroyed… no brilliant SI Kudô any more, no saviour of the police, no Sherlock Holmes, though…

Thinking of it, Sherlock Holmes seemed to be more of Sherlock Holmes than we all knew… nice headline for my article…
 

Sie hielt inne, lachte in sich hinein. Vor ihrem inneren Auge erschien der Titel ihres Artikels.

Und darunter die vielen, vielen Worte, die sie schreiben würde.

Sie konnte es kaum erwarten.
 

This is amazing.

This is awesome.

This will certainly make me famous over night…
 

This will certainly brake his neck.
 

Sie hielt inne, als ihr schlechtes Gewissen, während ihrer Karriere als Sensationsreporterin geschrumpft auf ein kleines, zärtliches Wesen mit noch kleinerer, fiepsiger Kinderstimme, sie mit leisen Worten mahnte.

Sie zerstörte das Leben eines Menschen mit diesem Artikel.

Sie konnte nicht beweisen, dass er Drogen nahm, jetzt. Auch nicht, obwohl in seinem Schreibtisch Diamorphin gefunden worden war, wie es in der Akte zu lesen gewesen war.
 

Unter Umständen zerstörte sie den guten Ruf eines verdienten Polizisten, zerstörte sie das Leben eines Menschen, der in seinem Leben ohnehin schon viel ertragen hatte müssen. Sie hatte immerhin keine Ahnung, warum er diese Ersatztherapie hatte durchziehen müssen; darüber stand nichts in der Akte.

Und kurz, ganz kurz, hörte sie nichts, nur die kleine Stimme, die ihr dies zu bedenken gab. Sie wusste es nicht. Sie kannte diesen Mann nicht.
 

Sie schrie die zarte Stimme nieder.

Wie immer.
 

Es war ihr egal.
 

Well, it’s his own fault. He just should have given me another story.
 

He had his choice.
 


 

Jodie war nach den Ereignissen im Yard zurück zu James Black gefahren. Sie hatte sich bedeckt gehalten, als der Streit zwischen Shinichi und Ran eskaliert war; ihr war klar gewesen, dass nichts, was sie dazu beitragen konnte, hilfreich wäre. Sie hatte Shuichi mit einem kurzen Handzeichen klar gemacht, dass sie nachkommen würde und zunächst zu James fahren würde. Sie hatte den alten Agenten noch gar nicht getroffen, und hielt es langsam für dringend an der Zeit, mit ihm ihr Handeln abzusprechen.
 

Und mit ihm über Shinichi zu reden.
 

Gedankenverloren ließ sie ihre Augen über die Gebäude schweifen, die an ihrem Fenster vorbeizogen, während der Taxifahrer sie souverän durch die Straßen der Stadt chauffierte. Allerdings, Sinn für die schöne Architektur hatte sie nicht; ihre Gedanken hingen an Shinichi.
 

Du hast sie schon wieder angelogen, cool guy.
 

Sie seufzte.
 

Ihr war bekannt gewesen, was er durchmachen hatte müssen. Sie war dabei gewesen, als Vertreterin des FBI, als er seine Aussage gemacht hatte, damals in Megurés Büro. Sie hatte ihn angehört, als er mit heiserer Stimme erzählt hatte, was er und Shuichi geplant hatten, wie der Stein ins Rollen gekommen war.

Nur nicht darüber was passiert war, dort drinnen, mit ihm.
 

You certainly did not want to talk about that.
 

Sie hatte es ihm angesehen.

Jodie hatte keine Ahnung gehabt, ob es Mégure und Takagi aufgefallen war, aber sie hatte es gemerkt.

Die fahrigen Bewegungen seiner Finger.

Der leicht fiebrige Glanz in seinen geröteten Augen, den sich die anderen vielleicht mit Shock und Trauer erklärten.

Der bleiche Teint, die dunklen Schatten in seinem Gesicht.

Und die Tatsache, dass er fast nie seine rechte Hand von seinem linken Handgelenk genommen hatte, darauf bedacht gewesen war, dass der Ärmel seines Sweatshirts fast über die Hälfte seiner Hand reichte.
 

Sie waren nach draußen gegangen, zusammen, um auf Meguré zu warten, der ihn nach Hause hatte fahren wollen – er war nur noch kurz mit der Fertigstellung des Berichts zugange gewesen.
 

Und sie hatte seinen Arm gegriffen, ohne Vorwarnung, den Ärmel zurückgeschoben – und ihr war fast schlecht geworden.

Panisch hatte er ihr seinen Arm entrissen, den Ärmel wieder darübergezerrt, sie erschrocken angestarrt, angsterfüllt.
 

„Shinichi…“

Sein Name war ihr langsam über die Lippen gekrochen.

„Shinichi, what have they done to you? Du hättest ihnen das sagen sollen, den beiden police officers, right there…”

Er hatte nur den Kopf geschüttelt, seine Augen waren zu Boden geglitten, und sie hatte es gesehen, dieses Gefühl, das so typisch war für sie alle.
 

Scham.
 

„Shinichi, dafür kannst du nichts. They have made you an addict. You need help! You must…“

Er hatte den Kopf gehoben, sie so fest angesehen, wie er konnte. Und sie erinnerte sich genau an den verzweifelten Glanz in seinen Augen, an den starren Blick, den er auf sie geheftet hatte.

„Gar nichts muss ich. Und Sie… behalten das bitte für sich, Miss Jodie. Sie wissen nichts…“

Sie hatte ihm an die Stirn gegriffen, den Kopf geschüttelt.

„You are feverish, Shinichi. You know the symptoms of the withdrawal are already approaching. Du wirst es nicht verstecken können…!”

Shinichi hatte sich gegen die Wand sinken lassen; er hatte gewusst, dass sie Recht hatte. Sein Blick war den Gang entlang gewandert, ehe er geantwortet hatte.
 

„Ich will nicht, dass jeder das weiß. Ich will nicht, dass die Welt weiß, dass ich ein…“
 

Junkie bin.
 

Sie hatte die Worte in ihrem Kopf vervollständigt.
 

Ein paar Wochen später hatten sie es im Büro alle Schwarz auf Weiß gelesen.
 

Und nun saß sie hier, in der luxuriösen Suite von James Black, in der Hand eine Tasse Darjeeling, auf dem Tisch vor sich ein paar vorzügliche Scones mit Clotted Cream und Erdbeermarmelade.

James Black saß ihr gegenüber, nippte seinerseits an seiner Tasse, schaute sie mit einem milden Lächeln an, wie immer; leichte Lachfältchen umkränzten seine Augen, zeugten heute mehr denn je von einem intensiv gelebten Leben, voller Freude – und auch voller Leid und Sorge.
 

„Jodie.“
 

„Could we have prevented that?“

Sie schaute auf, gedankenverloren. Er hatte ihre Gedanken wohl gelesen, denn das gütige Lächeln schwand von seinen Lippen, machte Sorgenfalten auf seiner Stirn Platz.

„What do you mean? Him, being made an addict? Her, being hurt, almost killed?”
 

Jodie seufzte laut.

“I don’t know. Both, I think. I have the feeling we have failed. You know we would never have come this far without him. Now… to see what consquences have followed his sacrifice for us, makes it even worse. The amendment in his file is putting him on constant surveillance, they think, he was a junkie, but he never was, we both know that he was forced into addiction. We know what horrible impact this drug had on both, his mind and his body, but instead on putting the fullstop at the end of this episode, it’s on his record and hunding after him everywhere he goes, just like his own shadow. And then, there are them, those few filthy black rats that are still out there, forbidding him to lead the life he deserves, a free life, a life among his friends, his family. A life with Ran. I…”
 

Sie schluckte hart.

“They have argued today. And I am afraid, it’s finally over. They seemed to have reached the point of no return.”

James Black zog die Augenbrauen hoch.

„Impossible.“

„Oh, I thought the same. But… well.”

Sie zögerte kurz.

„Did you ever know, why he thought she was dead?“

“No.”

James nippte an seinem Tee.

„He would never tell. Even a few days ago, this information was not to be gained from him.“

„It was her father. She didn’t knew about that. And he… he lied to her when it came to that question…“
 

Sie beobachtete, wie James seine Tasse sinken ließ, sie mit auf die weiße Tischdecke gehefteten Blick auf die Untertasse zurücksetzte.
 

„That must have been a severe blow for him. For both of them. I take it, she knows, too, by now?”

“Yeah.”

Jodie nickte bedächtig, ehe sie nach einem der Scones griff und ihn sich zur Hälfte in den Mund schob.

„What are we going to do now? I must confess, we can hardly ignore that the situation has changed a lot, now, with him being no longer an officer of Scotland Yard…”

James starrte sie an, hob seine Hand, gebot ihr Einhalt.

„What?“

„Oh.“

Jodie spülte ihren Bissen mit einem Schluck Tee ihre Kehle hinunter.

„That are the recent news, sadly. Because of his misjudgement – but moreover because of some special part in his record that is considered as valid proof for this “misjudgement” he made.”

“They are dragging his past to present? Why?”

Jodie atemete durch, sah James Black lange an, bevor sie sprach.
 

„They’ve found a flask of diamorphine in his desk.“

Bevor James doch ansetzen konnte, seinem Erstaunen Luft zu machen, fuhr sie fort.

„He sais, it’s not his. There were no fingerprints found, no DNA traces otherwise or any sign of actual use. But you can imagine, what consequences had to follow up to this discovery. You are a leader of a big investigative agency, too. How would you have reacted?”

James lächelte schmal.

“I’d have heard my agent on that topic, and decided afterwards. But I guess my assumption is right that there was no much listening to Shinichi?”

“Well, listening yes, but I guess, this had no impact on the decision of his boss, whatsoever. They don’t believe him when he says, that he considers the Black Organization to be back in that game. His boss rather believes that he has some undealt problems concering his past and is therefore not able to do his job properly.”
 

James ließ sich zurücksinken in seinen Stuhl, schaute Jodie ernst an.

„So, the result of this day is, the Yard has imprisoned the wrong man, has fired its best investigator and is closing the case, that is likely not finished at all, as there might be members of the Organization hiding behind, pulling the strings secretly.“

“Jup.”
 

Jodie seufzte schwer.

“Is there anything that we could do about his suspension? I can hardly bear the fact that he got dismissed because of this… fact in his file… he cannot sign responsible for.”

“What could we do? Talk with Montgomery? Do you think, he’d be happy to see agents of the FBI mixing up things in his territory? Do you think, he’ll like to be faced with his own inability to treat his employees right? Rather…”

“Not. Yeah.”

“Besides, I don’t think, Shinichi would want that. I guess, he’ll much more like to sort things out by himself – or his boss to show up on his very knees at his doorstep, when he realizies, what a big sorehead he had been.”

Er schmunzelte ein wenig, entlockte auch Jodie ein Lächeln.

„Yes. I guess, you are right.“

„I dearly hope so.“

James griff nach seiner Teetasse.

„Nevertheless, I’ll talk to Shinichi tomorrow. As he is no longer working fort he Yard, there’s no problem if he works for us, inofficially, of course. But I guess, for today, we should give him a rest.”
 

Jodie nickte langsam.

“Well then, thankyou for your time, James. I’ll be off to meet Shu. I don’t care if Scotland Yard does not believe in the black man – I do.”
 

Damit stand sie auf, rückte ihre Brille gerade und verabschiedete sich.
 


 

Yusaku hatte sich mit Heiji ein Taxi geteilt und hatte ihn auf dem Weg bei Kazuhas Hotel abgesetzt, um auf die Mädchen aufpassen zu können. Er war im Anschluss dann selbst zurück in seine Residenz gefahren, bzw. hatte sich fahren lassen von einem Taxifahrer, der sich über ein ordentliches Entgelt für seine Dienste freute, zurück zu Yukiko.

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, der sich langsam abzeichnete, als er ihr die Ereignisse des Tages resümierte, spiegelte wieder, wie er sich fühlte.
 

Schuldig.
 

„Aber er wäre sonst gestorben, Yusaku. Wir konnten…“

Er lächelte bitter, sparte sich, ihr zu sagen, was die Antwort seines Sohnes auf dieses Argument gewesen war.

Stattdessen schluckte er, schlüpfte aus seiner Jacke und hängte sie auf.

„Mich macht momentan viel mehr unruhig, wer ihm da was untergejubelt hat… wer ihm da offensichtlich etwas anhängen will. Denn seien wir ehrlich, das muss jemand gewesen sein, der im Yard arbeitet. Unter den Leuten, denen er vertraut, steckt ein Mitglied der Organisation, Yukiko… oder aber jemand, der seine Akte kennt und der ihm die Suppe abermal so richtig versalzen will.“
 

Er schaute sie ernst an – dann wandte er sich ab, trat an das Fenster ihres Zimmers, zündete sich eine Zigarette an und schaute hinaus in die hereinbrechende Nacht.
 

Shinichi…

Du bist wohl nirgends sicher… und kannst keinem vertrauen.
 


 

Heiji seinerseits wurde bereits erwartet, als er ins Hotelzimmer von Kazuha und Shiho kam. Er sah müde aus, und abgeschlagen. Die Ereignisse hatten sich überschlagen heute – was ihn allerdings wirklich niederschmetterte war nicht allein Shinichis Suspendierung, sondern der Grund dafür. Gedankenverloren hatte er die Tür geöffnet, war in seinen Gedankengängen stehen geblieben, hielt den Türknauf in der Hand, sich der Blicke, die ihm die beiden Mädchen zuwarfen, nicht bewusst.
 

Kudô… und während all der Zeit warst du allein…

Warum haste nichts gesagt, Idiot?
 

Er schluckte, merkte erst beim dritten Mal – und erst, als sie vor ihm stand und seine Wange mit zarten Fingern berührte - dass Kazuha ihn ansprach.
 

„Heiji? Alles in Ordnung?“
 

Heiji blinzelte. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ne.“

Er seufzte, schloss nun doch endlich die Tür hinter sich, trat ins Zimmer.

„Ne, kann man so wirklich nich‘ sag’n.“
 

Langsam atmete er durch, schluckte hart.
 

„Die hab’n ihn heut vom Dienst suspendiert.“

Er schluckte hart, ließ sich auf den Schreibtisch sinken, der im Zimmer stand. Ran, Sonoko und Shiho schauten ihn bass erstaunt an, zu keiner Reaktion fähig. Ran, ohnehin bleich und verweint, hatte sich der Farbe ihres alabasterweißen Bettbezugs angeglichen. Er hob den Kopf, sah sie an.

„Aber so wie du mich grad ansiehst, is das nicht der einzige Tiefpunkt seines Tages heute.“

Ran schluckte hart, wandte den Kopf ab, bekümmert.

„Sie hat mit ihm Schluss gemacht, weil sie heut erfahren hat, dass er ihr nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte, als sie ihn fragte, wer ihm erzählt habe, das sie tot sei, damals.“

Shiho schaute ihn eindringlich an.

„Warum hat man ihn suspendiert?“

Heiji zögerte kurz.

„Unter anderem wegen… seiner Entscheidung bezüglich Brady, den er ja laufen gelassen hatte, vorgestern… und der dann gestern ein Mädel umgebracht hat.“

Er rieb sich die Haare im Nacken, brachte sie in noch mehr Unordnung, als sie es ohnehin schon waren.

„Weil er… einen größeren Fisch dahinter vermutete… deshalb wollte er den Köder weiterschwimmen lassen. Ich hätt’s nich‘ anders gemacht.“

„Er denkt, die Organisation isses.“

Kazuha schaute ihn an. Heiji warf ihr einen kurzen, erstaunten Blick zu.

„Jap, das denkt er. Aber beweisen kanners nich‘, und deswegen… er trägt hier einfach ein großes Paar Schuhe in London, und momentan scheinen sie ihm nich‘ zu passen… ihrem Mr. Holmes.“

Ran zog die Augenbrauen zusammen.

„Aber ihr habt ihn doch heute gekriegt. Brady, meine ich. Und überhaupt, warum glauben sie ihm nicht? Er arbeitet seit fünf Jahren hier, und ich wette, er liefert exzellente Ergebnisse ab, Paps sagte schon, Superintendent wird man nicht so jung und nicht nach nur fünf Jahren…“

„… was auch stimmt…“, murrte Heiji.

„… da könnte man doch meinen, sie vertrauen ihm mehr...?“

Rans Unmut wuchs.

„Leider spricht außer der Tatsache, dass er nur Indizien, aber keine Beweise hat, noch was gegen ihn.“

Heiji krampfte seine Finger um die Tischkante.

„Aber da fragste ihn selber. Wenn er dir nochmal zuhört, Ran. Ehrlich, was haste dir dabei gedacht, ihn abzuservieren? Er leidet wie ein Hund seit Tagen deswegen. Und du…“
 

Ran schluckte.

„Ich erklärs dir nicht auch noch, Heiji. Könnt ihr Männer nicht verstehen, dass wir Frauen auch gern die Wahrheit wissen wollen… man muss uns nicht vor allem beschützen. Und noch weniger wollen wir angelogen werden. Erst Recht nicht von dem, den wir lieben…“

Sie rieb sich die Finger, und erst jetzt sah er, dass sie zitterte.

„Ich war enttäuscht. Ich… er war gestern so… hart, so abweisend, und dann zu erfahren, dass er mich bei der ersten Gelegenheit, bei der wir uns unterhalten haben, wieder angelogen hat… seine Motive in allen Ehren, und wäre das die einzige Lüge, die er mir je aufgetischt hat, würd ich keinen Ton von mir geben. Aber so geht das seit Jahren, und ich weiß, er… hat noch mehr Geheimnisse vor mir, und wenn ich dich so höre… „Da frag ihn mal selber…““

Sie lachte hohl, freudlos.

„Dann weiß ich nicht, ob ich wissen will, was da noch alles kommen kann, das ich nicht weiß, über den Menschen, von dem ich glaubte, ihn zu kennen wie keinen anderen, Shinichi Kudô.“
 

Heiji sah sie an, seine Lippen zu einem feinen Strich zusammengepresst.
 

„Wenn du so denkst, solltest du ihn wohl auch nicht fragen, Ran.“
 

Er stand auf, langsam.

„Ich geh mir einen Kaffee holen. Dann schieb ich Wache, bis Akai kommt. Wenn ihm auch sonst keiner glaubt, ich nehm‘ ihm ab, dass sie’s sin‘.“
 

Damit ging er – und ließ eine Ran mit sehr flauem Gefühl in der Magengegend zurück.

Ein Gefühl, das sie bis in einen unruhigen Schlaf begleitete.

Kapitel 36: Dreams are my reality

Kapitel 36 – Dreams are my reality
 


 

Irgendwann hatte er es aus dem Coffeeshop nach draußen geschafft.

Eigentlich waren es nur die Kopfschmerzen gewesen, die ihn dazu bewogen hatten, sich jetzt doch auf den Heimweg zu machen – kurz, nachdem McCoy ihn mit seinen Gedanken und Selbstzweifeln allein am Tisch zurückgelassen hatte – und verdammt noch mal, waren das unangenehme Tischgenossen gewesen. Sie hatten sich eingestellt und ihn dazu bewogen, jetzt doch aufzustehen und nach Hause zu fahren, um sich die Wunden zu lecken.
 

Und so stand er nun im Hausflur, hatte sich an die Tür gelehnt, die gerade schwer und dumpf hinter ihm ins Schloss gefallen war, hielt sich die Stirn – ihm war, als könnte er den Schmerz unter seinen Fingerspitzen pulsieren fühlen. Er fragte sich, wie er seinen Wagen hatte sicher durch die Straßen lenken können, bei der Migräne, die ihn gerade heimsuchte. Und er fragte sich, wo die so schnell hergekommen war – andererseits…

Andererseits wunderte es ihn auch wieder nicht, wenn man betrachtete, was er in den letzten Stunden alles hatte bewältigen müssen. Der Fund des dritten Opfers, die Festnahme Bradys, seine Suspendierung… und nicht zuletzt der Streit mit Ran, der ihn deutlich mehr mitnahm, als er es wollte.

Es war das eine, sie nach Hause zu schicken, sie von sich fernhalten zu wollen, weil er tatsächlich eine Gefahr war für sie… etwas anderes war, sie gehen zu sehen, weil sie an ihn nicht mehr glaubte.
 

Er schluckte hart, schloss kurz die Augen.
 

Wie soll man das im Kopf aushalten und dabei nicht den Verstand verlieren, ehrlich… Abgesehen davon, warum jammerst du… schließlich hast du doch jetzt, was du wolltest, Kudô. Sie hat versprochen, sich endlich von dir fernzuhalten. Etwas Gutes hat das doch… oder nicht?
 

Unwirsch rammte er seine Hände in die Taschen seiner Jacke, als seine Fingerspitzen Papier fühlten. Gedankenverloren zog er es heraus, als er sich auf den Weg nach oben machte. Er tastete sich mit den Füßen langsam Stufe für Stufe vorwärts, den kleinen Zettel vor Augen, den er gerade ausgegraben hatte.
 

Es war die Eintrittskarte ins Globe Theatre, die er im Loft gefunden hatte; im Eifer des Gefechts hatte er sie total vergessen. Nachdenklich starrte er auf die Informationen, die das kleine Kärtchen vermittelte; er kam ins Grübeln, ob er sie nicht doch hätte besser zu den Beweisen legen sollen. Allerdings kam dieser Gedanke deutlich zu spät; er war schließlich suspendiert.
 

Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
 

Die Blumen. Aus Sheakespeare’s Hamlet – die gleichen Blumen, die Ophelia im Stück verteilte. Ophelia, die mit jeder Blüte dem Empfänger eine Botschaft überbrachte. Sie alle hatten eine Bedeutung…

Und dann war da noch die Eintrittskarte.

Das konnte einfach kein Zufall mehr sein. Er sollte ins Theater gehen.

Vor allem wohl in diese Vorstellung.
 

Aber hieß das dann, dass Brady ihm bewusst eine Spur gelegt hatte? Oder war auch die Teil von Gins Plan – welcher Natur der auch immer war?
 

Mittlerweile war er vor seiner Wohnungstür angekommen, hatte seinen Schlüssel bereits in der Hand und sperrte er auf.
 

Was auch immer… zuerst muss ich mich hinlegen. Mit diesen Kopfschmerzen kann ja kein Mensch klar denken.
 

Er stemmte die Tür auf, hielt sich an ihr fest als er hineintaumelte und ließ sie hinter sich zufallen, tastete sich an der Wand in der Diele zur Wohnzimmertür und stieß sie auf.
 

Weiter kam er nicht.
 

Er schnappte nach Luft, als sein Gehirn offenbar seinen Schädel zum Bersten brachte, griff sich an den Kopf, wie um sich zu vergewissern, dass er noch intakt war. Leise, scharf kroch ihm die Luft seiner Lungen beim Ausatmen über die Lippen, gepresst, langsam, aber nicht minder qualvoll. Er merkte, wie sich alles um ihn drehte und tastete nach der Wand, um sich festzuhalten.
 

Was ist das nur…?!
 

Er kniff die Augen zusammen, atmete tief ein und aus, versuchte mit allen Mitteln, seinen Organismus zur Vernunft und zum Funktionieren zu bewegen – und ahnte doch, dass sein Kampf ein verlorener war.

Er spürte, wie sich Ohnmacht über ihn legte wie ein schweres, schwarzes Tuch wie diese lichtdichten Vorhänge, die man zur Verdunkelung von Räumen benutzte - und ihn zu Boden zerrte, niederwarf, alles ausblendete, was er mit seinen Sinnen wahrnehmen konnte.
 

Die Welt war leise, schwarz und kalt.
 

Wie sein Körper auf dem Wohnzimmerboden stürzte, sein Kopf dumpf auf dem Parkett aufschlug, merkte er nicht mehr.

Wie sein Ich ins Dunkel stürzte, dafür umso mehr.
 

Kurz fehlte ihm jede Orientierung – dann erkannte er, wo er sich befand und fragte sich, wie er es nicht hatte sofort wissen können.

Er stand am Big Ben, starrte hinauf zur Uhr, die gerade die letzten Töne des so charakteristischen, so typischen Glockenspiels verklingen ließ.

Sie schlug vier Uhr nachmittags.
 

Als der letzte Ton verklungen war, wandte er sich ab, langsam. Wind blies ihm steif und durch keinerlei Hindernis gebremst ins Gesicht – er war völlig allein hier.
 

>Nachmittags mutterseelenallein vor den Houses of Parliament auf der Westminster Bridge?

Was geht hier ab?<
 

Er schluckte, merkte, wie die Unruhe in ihm wuchs.
 

Es war absolut still jetzt – nicht einmal der Wind rauschte oder pfiff.
 

Es war grabesstill.
 

Aufmerksam schaute er um sich, ließ seinen Blick über die Themse schweifen, die Straße hinab zur U-Bahn Station – aus der nicht ein einziger Passagier trat. Alles war seltsam sauber, penibel aufgeräumt, nicht ein Blättchen regte sich, nicht ein Steinchen lag auf dem Gehsteig, kein Kaugummi klebte am Geländer, keine Kippe verunzierte den Asphalt.

Ein Idealzustand, wie man ihn nie antraf… nicht einmal dann, wenn die Stadtreinigung mit ihren Kehrmaschinen hier zum Großreinemachen durchfuhr.
 

Und über allem lag dieser bronzene Schimmer. Nicht das satte, helle Goldgelb der sommerlichen Nachmittagssonne.

Seltsamerweise eher der intensive, schon ins rötliche gehende Glühen, die die Abendsonne zur Erde schickte – und selbst unter diesem Aspekt schien die Atmosphäre noch unnatürlich.

Shinichi blinzelte, seufzte leise.
 

Das hier war surreal… ganz so, als ob jemand die Zeit angehalten hätte.

Sich die Erde entschlossen hätte, sich einfach nicht mehr weiter zu drehen und mit sich auch alles Leben, das auf ihr hauste, in den absoluten Stillstand zu verbannen –

jeden, bis auf ihn selbst.

Und diese Uhr samt ihrer Glocke.
 

Shinichi drehte sich weiter um die eigene Achse, und erschrak.
 

Mit wehendem schokoladenbraunem Haar in einem sommerlich leichten Kleid, mit dessen Saum der Wind spielte, stand sie da und sah ihn an, mit einem Gesichtsausdruck, den er beim besten Willen nicht lesen konnte.
 

>Ran.<
 

Sie war knapp anderthalb Meter von ihm entfernt, praktisch zum Greifen nah. Ihm stockte der Atem.
 

Er hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war – gerade eben war sie noch nicht dagewesen, darauf schwor er jeden Eid – und er hatte sie nicht kommen hören. Sie stand auch nur da, sah ihn an, sagte nichts, bewegte sich nicht.

Doch gerade, als er sprechen wollte, als er sich entschuldigen wollte, für all den Mist, den er gebaut hatte, sie um Vergebung bitten wollte, wo er keine Vergebung mehr erwarten durfte, hob sie die Hand – und schnitt ihm das Wort ab, bevor er die erste Silbe hatte äußern können.

Stattdessen trat sie vor, griff ihn an der Hand. Seine Haut prickelte, dort, wo ihre Finger sie berührten und doch spürte er ihren Griff kaum. Sie zog ihn mit sich, stumm, führte ihn über die Straße zu einem der jüngsten Wahrzeichen Londons – zum Giant Wheel.
 

Das London Eye stand wie alles andere in dieser Stadt völlig still. Wie immer hing es gewagt an seiner Konstruktion über der Themse, darauf wartend, in seinen großen, runden Gondeln Fahrgästen eine halbe Stunde lang mit einer einfach atemberaubende Aussicht über die Stadt von Conan Doyle zu beglücken.
 

Shinichi schluckte, schaute sie an. Er sah nur ihren Hinterkopf, ihre Haare wie immer offen und seidig glänzend in diesem seltsamen Licht, glimmend wie flüssige Bronze. Sie trug einen lockeren, leichten Strickpullover über ihrem Kleid, ihre Füße steckten ihn zierlichen Sandalen.

Sie sah wunderschön aus.
 

Erst vor dem Eingang des London Eye blieb sie stehen. Nicht ein Mensch stand Schlange – und auch kein Aufseher oder anderer Mitarbeiter war irgendwo in der Nähe auszumachen. Und so gingen sie ungehindert die Stufen hinauf, geradewegs zur nächsten Gondel, die unten bereits mit geöffneten Türen auf sie zu warten schien.
 

Und hier zögerte er, blieb stehen. Ran drehte sich um, sagte immer noch nichts – sah ihn nur an.
 

„Was wollen wir hier?“

Er schluckte, starrte in den Himmel, nach oben, zu dem Punkt, wo die höchste Gondel hing.
 

Sie lächelte nur. Dann ging sie weiter – und wie ferngesteuert folgte er ihr.
 

Er hatte geahnt, dass sich das Ding in Bewegung setzen würde, sobald sie sich hineinsetzten. Und genauso kam es auch, stellte er zehn Sekunden später fest, als sich die Türen schlossen und sich das Riesenrad langsam, aber stetig in Bewegung setzte.
 

„Ran, was tun wir hier?“
 

Sie sah ihn an. Seine Hand hatte sie losgelassen, als sie neben ihm Platz genommen hatte.
 

„Ich versuche, dir zu helfen. Ich versuche, dir Klarheit zu verschaffen.“

Seine Irritation wuchs.

„Indem wir uns London von oben anschauen?“

„Nein.“
 

Sie lächelte traurig.

„Indem wir zu dem Moment zurückgehen, an dem dein Leben diese folgenschwere Wendung nahm, Shinichi. Zu dem Moment, an dem du dich dazu entschlossen hast, auch wenn es dir damals nicht klar war, unser beider Leben auf immer zu verändern.“
 

Damit hob sie die Hand und deutete nach draußen – und erst jetzt sah er es.

Der Himmel war dunkel geworden, die Sonne war untergegangen – und das, was er vor dem Fenster sah, war auch nicht mehr London.
 

Es war ein buntes Lichtermeer, blinkend und glitzernd in allen Farben. Fahrtwind blies ihm auf einmal ins Gesicht – ohne dass er es gemerkt hatte, war das Glas verschwunden. Budenmusik strömte zu ihnen herauf, das Raunen tausender Leute, Gelächter und Stimmengewirr, Rufe…
 

Er war nicht länger in London.
 

Shinichi merkte, wie sich seine Härchen im Nacken aufstellten.
 

>Wir sind in Tokio.

In einer Gondel des Riesenrads des Tropical Island Rainbow Land…!<
 

Seine Augen huschten über die lärmenden und lachenden Menschenmassen, suchten zwei Gestalten in den unzähligen, ameisenkleinen Gesichtern – und fand sie.
 

Zwei Teenager.
 

Er trug diese grüne Jacke und redete gerade auf eine jüngere Version von Ran ein, die diesen ihm so vertrauten hellblauen Parka mit dem Kunstpelzbesatz an der Kapuze anhalte. Man konnte ihnen zuschauen, wie sie diskutierten – er legte ihr die Hand auf die Schulter, als sie sich über die Augen strich.

Er wusste, warum sie weinte.

Sie weinte um den jungen Mann, der gestorben war, ermordet von seiner Exfreundin, mithilfe einer Klaviersaite in einer Perlenkette.

Sie hatte unter Schock gestanden, ein bisschen zumindest. Ran kannte das Verbrechen, sie hatte ihn oft genug begleitet, und auch durch ihren Vater war sie mit der schrecklichen Seite der Menschen bekannt geworden.

Wie sie immer noch so unabdingbar an das Gute glauben konnte, erstaunte ihn immer wieder.
 

Nun aber weinte sie. Machte ihm Vorwürfe, dass er so locker reagieren konnte.

Und er spielte das alles herunter, er erinnerte sich genau.

>Was denn, nun wein‘ doch nicht mehr…

Ich bin schon an so vielen Tatorten gewesen, da ist so ‘ne kopflose Leiche nix Neues mehr…

Am Besten du vergisst das alles ganz schnell wieder…<
 

Und der krönende Abschluss…
 

>Sowas kommt alle Tage vor!<
 

Er schluckte hart, warf Ran, die neben ihm stand und die Szene unverwandt beobachtete, einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu.
 

Als er bemerkte, wie sein jüngeres Ich auf einmal zusammenzuckte, sich umwandte, schenkte auch er seine Aufmerksamkeit wieder dem jungen Hornochsen, das er sein früheres Ich nennen durfte.
 

Shinichi wusste, das war der Moment gewesen.

Er hatte Vodka gesehen, wie er sich hinters Riesenrad stahl und war ihm nachgelaufen, ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden, ob das wirklich eine so gute Idee war.

Getrieben von seiner Neugier, seinem… detektivischen Ehrgeiz…

Seinem Größenwahn.

Er sah, wie er Ran zuwinkte, wusste noch genau, was er ihr nachgerufen hatte.
 

>Tut mir Leid Ran, aber geh doch schon mal vor, ja? Ich komm gleich nach!<
 

Er war nicht nachgekommen.

Nie wieder.
 

Und dann sah er etwas, das er damals nicht hatte sehen können – und ihm stockte der Atem.
 

Er sah, wie sie ihm nachlaufen wollte und stolperte.

Zurückblieb.
 

Abrupt drehte er sich um, schaute zu ihr – Ran beobachtete die Szene immer noch unbewegt, ihr Gesichtsausdruck ernst. Er wollte etwas sagen, aber sein Mund war wie ausgedörrt, seine Kehle trocken wie der Sandstaub auf den Dünen der Sahara.
 

Und gleichzeitig wurde ihm klar, was hätte passieren können, wäre sie ihm gefolgt.
 

Vielleicht hätte sie ihn aufhalten können.

Vielleicht vor Gin warnen, der sich von hinten angeschlichen hatte, um ihn niederzuschlagen.

Vielleicht jedoch… hätte man sie umgebracht.
 

Langsam wandte er sich wieder ab, sah seinem jüngeren Ich zu, wie er Vodka beobachtete, Fotos machte, und nicht aufpasste. Er sah, was er damals nicht gesehen hatte, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, dem Verbrechen auf der Spur zu sein.

Er sah Gin, der sich ihm näherte. Der langsam einen Stock anhob.
 

Shinichi griff sich unwillkürlich an den Kopf und schluckte hart, als würde ihn der Schlag auf den Hinterkopf ein zweites Mal treffen. Shinichi konnte das Dröhnen fast spüren, das in seinem Schädel wiedergehallt hatte, genauso wie den dumpfen, pochenden Schmerz, die Dunkelheit, die ihn gepackt hatten.

Und wenn er das so sah, fragte er sich, wie er mit nichts weiter als einer Beule hatte davonkommen können.
 

>Muss wohl nen ganz anständigen Dickschädel haben…<

Er rieb sich den Hinterkopf, ließ seine Hand dann sinken, hielt sich am Rand der Gondel fest.
 

Als er sah, wie Gin seinen Kopf an den Haaren hochriss, um ihm das Gift zu verabreichen, wollte er sich umdrehen, sich abwenden – und schaffte es nicht. Es war wie beim Beobachten einer Katastrophe – eigentlich zu entsetzlich, um sich den Anblick anzutun, gleichermaßen aber zu faszinierend, um nicht hinzusehen. Er keuchte, fühlte die Schmerzen fast körperlich, es war ihm, als würde er es noch einmal erleben. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf den im Gras liegenden Teenager, der seine Finger in die Halme grub, hörte seinen eigenen Schrei in seinen Ohren und hielt es einfach nicht mehr aus.

Er stieß sich ab von der Gondelwand, taumelte nach hinten, rutschte auf der gegenüberliegenden Seite nach unten bis er auf dem Boden saß, presste sich die Handballen gegen die Augen bis er schwarze Kreise tanzen sah.

Und war froh, als sie endlich so weit gesunken waren, bis die Szene hinter dem Kassenhäuschen verschwand. Als sie weiterdrehten und wieder hochfuhren war es wieder hell, die Wände wieder durchsichtig und vollverglast und die ihm so vertraut gewordene Stadt Sherlock Holmes‘ tauchte wieder auf.

Zitternd zog er sich hoch, ließ sich auf die Bank in der Mitte der Gondel sinken. Schweiß stand ihm auf der Stirn, kalt, und er fühlte sich, als wäre er den Marathon gelaufen, so sehr raste sein Herz.
 

„Warum zeigst du mir das…?“

Er sah sie an.

„Du wolltest mir nachlaufen, warum…?“

„Um dich zu beschützen.“
 

Sie schaute ihn an.

„Um dich zurückzuhalten, Dummkopf. Weil ich ahnte… dass du in dein Verderben rennst. Du… hast nicht auf mich gehört. Ich bat dich… nicht zu gehen. Bei mir zu bleiben. Ich hab geweint, Shinichi, ich stand unter Schock, und du liefst deinen Verbrechern hinterher. Ich… ich wollte dich davon abhalten, da hin zu gehen. Ich hatte Angst… damals – und heute wieder.“
 

Sie hob die Hand, berührte seine Wange, sanft. Er schluckte hart, fühlte sich mit einem Mal völlig wehrlos, unfähig zu irgendeiner Gegenrede.
 

„Ich… gehör zu dir. Und immer schickst du mich weg, Shinichi. Wann war das je eine gute Idee? Es war damals keine gute Entscheidung… und wird es wieder nicht sein. Aber du... du glaubst mir nicht. Sieh dir also an, was passiert.“
 

Sie sah ihn an, mit bedauerndem Blick, den er nicht zu deuten wusste.
 

Als er aus dem Golden Eye ausstieg, drehte er sich um, um zu sehen, ob sie ihm folgte – doch sie war nicht mehr da. Shinichi schaute sich um, hektisch – nirgendwo war eine Spur von ihr.

Seine Verwirrung wuchs, als er sich umsah – London war immer noch die gleiche Geisterstadt wie vor ein paar Minuten.

Er trat langsam ans Themseufer, wie von einer unsichtbaren Macht geleitet, schaute über die Brüstung.
 

Der Anblick kostete ihn den Verstand.
 

Unter ihm trieb Ran. Sie sah wunderschön aus – der Stoff des Kleides war Seide, die sich sanft in den Wellen bewegte, sich bauschte, ihre Figur umschmeichelte, sie wie eine Wolke zu tragen schien. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen rot wie die von Schneewittchen, sinnlich, ohne aufdringlich zu sein, und um ihre zarten Gesichtszüge wehten ihre Haare im Wasser, wie als ob eine zarte Brise sie bewegen würde.
 

Sie war unfassbar blass.
 

Um sie herum waberte ein Meer von Blumen.
 

Vergissmeinnicht.
 


 

>RAN!<

Kapitel 37: Mrs Hudson räumt auf

Kapitel 37 – Mrs Hudson räumt auf
 

Mrs Hudson eine Etage tiefer fuhr aus ihrem Dämmerschlaf hoch, in den sie genickt war, als sie sich mit einem Glas Wein in ihren Ohrensessel vor dem Fernseher hatte sinken lassen.

Die Soap, die sie sich angesehen hatte, lief schon seit einer Stunde nicht mehr – und das Glas Wein, halbgetrunken, hatte sie sich fast über ihren Faltenrock gekippt, als sie hochgeschreckt war. Blinzelnd starrte die Zimmerdecke an, zögerte kurz – dann rumpelte sie aus ihrem Wohnzimmersessel hoch, schlüpfte sie in die erstbesten Schuhe, die im Flur standen, griff nach ihren Schlüsseln und eilte aus ihrer Wohnung die Treppe hoch, suchte im Gehen noch nach dem Schlüssel zu seiner Wohnung.

Sie wusste nicht, ob sie es sich nur einbildete – oder ob sie wirklich dadurch geweckt worden war.
 

Von diesem Schrei.
 

Oh, cool guy…
 

Als sie davor stand, den richtigen Schlüssel bereits in ihrer Hand, zögerte sie. Nie war sie hochgerannt, um ihn zu wecken, in all den Jahren nicht.

Aber diesmal schien es anders.
 

Sie wusste nicht, warum, aber sie scheute sich, sich einfach Zugang in seine Wohnung zu verschaffen. Noch dazu, wo sie gerade nicht wirklich sicher war, ob sie nicht einfach selber nur geträumt hatte.
 

Dann hörte sie es – und dieses eine, kleine Geräusch zerstreute all ihre Zweifel im Nu.
 

Ein gedämpftes, aber nichtsdestoweniger schmerzerfülltes Stöhnen.
 

Entschlossen rammte sie den Schlüssel ins Schloss, riss die Tür auf – und kam keine fünf Meter weit. Sie schritt durch den winzigen Flur und sah ihn im Wohnzimmer liegen, schwer atmend, sich den Kopf haltend, zusammengekrümmt wie ein Embryo.

Sie schaltete das Licht an, was ihm einen kleinen Aufschrei entlockte – offenbar war er wach, und anscheinend tat das Licht in seinen Augen weh. Sie ging zu ihm, kniete sich nieder, griff nach seinen Fingern, stemmte seine Hände von seinem Gesicht weg und wunderte sich, wie stark er immer noch war, trotz seines Zustands. Er wand und wehrte sich, bis sie sich mit einem Knie in seine Magengegend stützte, was ihm die Luft und damit auch jegliche Kraft zur Gegenwehr raubte.

Und jetzt konnte sie ihn ansehen.

Verschwitzt, zitternd, desorientiert, geweitete Pupillen. Offenbar war er nicht richtig bei sich.
 

Sie schluckte, löste seine Krawatte und den obersten Hemdknopf, öffnete seinen Gürtel und ging, um ihm ein Glas Wasser zu holen.
 

Als sie wieder kam, sah er sie zwar an – ganz im Hier und Jetzt war er immer noch nicht.
 

„What was it this time, Sherlock?“, murmelte sie leise, wischte ihm mit dem feuchten Lappen, den sie neben dem Wasserglas geholt hatte, über die Stirn.
 

„She drowned…“
 

Sie zuckte zusammen, sah ihn an. Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, umso mehr stutzte sie, als sich sein Blick langsam auf sie fokussierte.
 

„She drowned. Like Hamlet’s Ophelia. She told me this was the result of my rejection towards her… but I cannot believe she’s safer with me… than without me…“
 

Ungläubig sah er sie an- und wiederum doch nicht. Sein Blick verlor sich irgendwo hinter ihrem Rücken.

„Would you believe this?“

Seine Stimme verlor sich, genauso wie sein Blick. Und erst jetzt merkte sie, dass er eigentlich mehr mit sich selbst redete als mit ihr. Immerhin war er jetzt aber soweit wach, dass sie ihm aufhelfen konnte.
 

Sie ging in die Hocke, streckte ihre Hand aus, die er ergriff und sich beim Aufstehen helfen ließ. Er stützte sich an der Tischplatte ab, merkte, wie alles an ihm zittern und brechen wollte, zurücksacken auf den Boden, weil seine Muskeln den Befehlen seines Hirns nicht folgen wollten.

Er ließ sich von ihr auf einen Stuhl setzen, kam sich dabei furchtbar schwach vor, stützte seinen Kopf in seine Hand und atmete schwer. Das Pochen in seinem Kopf war auf ein dumpfes Domdom gesunken, die Bilder ließen langsam wieder nach, wurden blasser und verschwanden schließlich nach und nach – dorthin, wo sie hergekommen waren. Und langsam rückte die Realität wieder in seinen Fokus.
 

Irritiert starrte er auf seine Tischplatte, schüttelte den Kopf.

„What was that…?“

„Can’t you answer that question for yourself?“

“…and what are you doing up here, Mrs Hudson…? How did you…”, setzte er nach, schaute sie verwirrt an.
 

Sie schaute ihn ernst an – ihre Arme vor der Brust verschränkt, ihre Wirbelsäule durchgedrückt, ihre Haltung gerade, aufrecht und entschlossen – und alles in allem höher, als er sie in Erinnerung hatte.
 

Und er stutzte, als sein Blick zu ihren Füßen glitt.
 

Sie trug High Heels.
 

Shinichi blinzelte, musterte sie von oben bis unten und wieder zurück.
 

Mrs Hudson bemerkte seinen grübelnden Gesichtsausdruck, kicherte in sich hinein, hielt seinem fragenden Blick mühelos stand, den er ihr nun zuwarf. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen, in seinen Augen stand pure Verwirrung.
 

„Mrs Hudson?“
 

Er strich sich über die Augen, deutete dann auf den Stuhl ihm gegenüber.

„May I ask you a question?“

Seine Stimme klang erstaunlich heiser.

„Sure, my dear.“ Sie folgte seiner Geste, setzte sich.

Shinichi schluckte hart, leckte sich über seine trockenen Lippen – griff dann nach dem Wasserglas, um seine ausgetrocknete Kehle zu befeuchten.

„It’s not as if they don’t suit you… but aren’t those shoes a bit… unhealthy for you? At your age?“
 

Er zuckte zusammen, als sie lachte – lauter, als er es von einer derart alten Lady erwartet hatte, und so laut, dass es in seinen Ohren wehtat. Er stöhnte auf, hielt sie sich zu, kniff kurz die Augen zusammen. Dann spürte er ein Tätscheln auf seinem Kopf, wischte die Hand unwirsch beiseite.

„What’s that funny?“

Mrs Hudson lächelte nachsichtig.

„Well my dear – I thought they call you Sherlock Holmes? Think, detective, think… you’ve got two facts that exclude each other in your opinion – a 68-year-old lady, who should move in flat shoes, even if she’s in a good physical state – and high heels with fabulous nine centimeter stiletto heels. Which of these facts – isn’t a fact at all? And which theory do you make of it?“
 

Silver bullet?
 

Shinichi starrte sie an, sein Mund leicht geöffnet, sein Atem flach.

Sie sah, wie er nachdachte, konnte fast beobachten, wie sein Hirn trotz des offensichtlichen Anschlags auf seine grauen Zellen wieder auf Touren kam.

Fast konnte sie zusehen, wie ein Teilchen nach dem anderen an seinen Platz fiel in diesem Puzzlespiel, das sie seit Jahren spielte.
 

Er schluckte, griff nach dem Wasserglas, als sich die Wahrheit vor seinem inneren Auge manifestierte, trank einen Schluck, so hastig, dass er sich verschluckte.

Shinichi hustete kurz, dann sammelte er sich, ehe er sie wieder ansah.

Als er die Hand hob, sie ihrem Gesicht näherte, wich sie nicht zurück.

Auch nicht, als er hinter ihr Ohr fasste, um seine Finger nach dem suchen zu lassen, was er dort vermutete – und auch fand.

Sein Blick traf ihren – sie sah ihn an, wich ihm nicht aus. Als er anzog, an dem feinen Silikonrand, den seine Fingerspitzen ertastet hatten, schloss sie die Augen, verzog ansonsten aber keine Miene.
 

Erst als er die Maske in seinen Händen hielt, sie seinen fassungslosen Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte, obgleich er doch seine Vermutung bestätigt vorfand, lachte sie.

Laut und schallend.

Er hob die Hand unwirsch, und sie brach ab.
 

Shinichi sah sie an – dann legte er das, was von Mrs Hudson übrig geblieben war, auf den Tisch, wandte sich ab von ihr, trank sein Wasser aus, massierte sich die Schläfen – und schwieg.
 

Eine ziemliche Weile lang.
 

Sie saß neben ihm, schaute ihm dabei zu, wie er langsam versuchte, das alles zu verarbeiten. Und herauszufinden, wie er darauf reagieren sollte.
 

Schließlich ließ er sich zurücksinken, bis er im Rücken die stützende, starre Lehne seines Stuhls spürte, und sah sie an.

Sharon, die sich mittlerweile die Perücke abgenommen hatte und ein ganz und gar lächerliches Bild abgab, mit ihrem Modelgesicht auf dem Körper einer runzligen, aus der Form geratenen alten Frau, erwiderte seinen Blick gespannt.

Er seufzte auf, schüttelte immer noch konsterniert den Kopf.
 

„Himmel, Sharon… bitte sag mir nicht, du bist seit fünf Jahren…“

Sie grinste nur, zog sich eins der Polster unter dem Oberteil ihres Twinsets hervor. Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Schön, wenn es dir damit besser geht, sag ichs dir nicht.“

Ihr Grinsen wuchs – und er wäre jede Wette eingegangen, dass sie, wenn es ihr anatomisch möglich gewesen wäre, rundherum gegrinst hätte. Leider aber waren ihr ihre Ohren im Weg.
 

„Weißt du eigentlich, wie viele Bewerber ich abgewimmelt habe, bis endlich du vor meiner Tür standst? Verdammt, ich dachte, für den Preis könntest du dieser Wohnung keine fünf Minuten widerstehen- stattdessen lässt du mich Wochen warten…!“

Ein weiteres Seufzen kroch über seine Lippen.

„Und warum spieltest du dieses Spiel mit mir? Wärs nicht… leichter gewesen, du hättest mir von Anfang an reinen Wein eingeschenkt?“

Er sah sie an. Sein Gesicht war immer noch blass, aus seinen Augen sprach immer noch Erschöpfung, auch wenn in ihnen Unmut glomm, gepaart mit dem sturen Willen, aus ihr die Antworten, die er wollte, herauszukriegen.
 

„Hätte ich eine Chance gehabt, mich so um dich zu kümmern, wie als Mrs Hudson…?“, fragte sie – auf ihren Lippen lag immer noch dieses kleine Lächeln.

„Ganz sicher nicht.“, Shinichis Stimmte troff vor Sarkasmus – dann stutzte er, schaute sie erstaunt an.

„Warum wolltest du das?“

Sharon fuhr sich durch die Haare, atmete tief aus – und mit einem Mal wirkte sie nicht mehr wie Ende dreißig aus, sondern wie fast sechzig.
 

„Weil ich gesehen habe, was sie mit dir angestellt haben, cool guy. Das weißt du. Und mir war klar, dass du es nirgends lange aushalten würdest, wo irgendjemand war, den du kanntest, und der dich auch nur ansatzweise an dieses Drama erinnerte, nicht einmal bei deinen Eltern. Weil ich dich gesehen habe. Weil ich dich gehört habe. Weil ich weiß, in welchem Zustand du uns verlassen hast und weil… ich Gin habe höhnen hören, was er dir angetan hat… dir und Angel.“
 

Shinichi schloss die Augen, atmete leise aus.

„Ich machte mir Sorgen. Und ich hatte… well, call it guilt, I guess, that’s what I felt. Ich fühlte mich schuldig. Deshalb beobachtete ich dich, deshalb folgte ich dir, deshalb… diese Wohnung, dieses Haus. That’s why I am sitting here this very moment. What the hell was that, just now, by the way?“

Sie wedelte mit ihrer Hand, gestikulierte seinen Körper entlang. Shinichi zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.

„Ich weiß nicht… und du lenkst ab. Du hättest es mir ruhig früher sagen können. Dass du… du bist. Außerdem bin und war ich kein Kind, ich brauch keinen, der auf mich aufpasst wie eine Glucke auf ihr Küken…“

"Apropos Glucke. Deine Mutter wusste sofort wen sie vor sich hatte, als sie mich vor ein paar Tagen getroffen hat... im Gegensatz zu deinem Vater, um deine Ehre ein wenig zu retten. Ihr Kudô-Männer scheint ein wenig blind zu sein..."

Sie lachte vergnügt, als sie sah, wie Shinichis heruntergefallene Kinnlade fast den Boden zu streifen schien. Er ächzte, seufzte dann.

"Prima. Das werd ich mir für den Rest meines Lebens anhören dürfen. Aber diesmal lenkst du ab. Warum glaubst du, bitte schön, ich bräuchte ein Kindermädchen? Ich bin kein..."

„Might be correct for the last months – except the last days, I suppose - but for sure it wasn’t, when you came here five years ago. And now, you are misleading me. What was it? You, lying breathless on the floor, screaming, telling me something of Ran drowning…”, unterbrach sie ihn unwirsch.
 

Shinichi fuhr zusammen, starrte sie an.

„Ach ja…“, murmelte er. Die Erinnerung an den Traum war schon teilweise verblasst, hatte nicht viel mehr als ein paar vage, geisterhafte Bilder in seinem Kopf zurückgelassen.

„Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Wirres Zeug über Ran und…“

„Ihren Tod?“

Shinichi lächelte schief, warf ihr einen Blick zu, der äußerst bitter auf ihrer Zunge schmeckte.

„Wär ja nichts Neues. Wie du wohl weißt, soviel wie ich aus deinen Andeutungen vor ein paar Tagen heraushören konnte. Das Haus ist diesbezüglich wohl sehr hellhörig.“

Er wandte sich ab, wischte sich übers Gesicht, betrachtete seine Hand, die immer noch leicht zitterte, sichtbares Merkmal für seinen rasenden Puls.
 

„Ich weiß es wirklich nicht. Ich hatte einen anstrengenden Tag heut, das wird’s gewesen sein.“

„Mhm.“

Sharon zog eine Augenbraue hoch.

„Wenn man den Gerüchten des Reporters Glauben schenken darf, hat sich Sherlock Holmes Urlaub genommen nach der Lösung seines letzten Falls.“

Shinichi starrte sie an, völlig verständnislos – dann lachte er laut auf.

Sharon schaute ihn unwillig an. Der Ton dieses Lachens gefiel ihr nicht – hohl, unecht und wütend.
 

„Tja, so kann mans auch nennen, schätze ich. Man hat mich suspendiert vom Dienst heute, soviel also zu meinem „Urlaub“. Wegen des Funds eines Fläschchens Heroin in meinem Schreibtisch. Natürlich sind meine Fingerabdrücke nicht drauf –…“, schob er ein, als sie ihn durchdringend ansah, „und es ist auch nicht meins. Jemand muss es mir untergeschoben haben, der mich da weghaben wollte. Jemand der entweder meine Akte oder meine Vergangenheit kennt. Oder beides. Abgesehen davon, wären meine Fingerabdrücke drauf, wär ich nicht suspendiert auf Zeit, sondern gefeuert, endgültig.“

Er schluckte.

„Daneben hab ich mich mit Ran gestritten, was ja ebenfalls nichts Neues ist… nur weiß sie seit heute, dass es ihr Vater war, der mir seinerzeit im Krankenhaus ihren Tod verkauft hat. Ich wollt ihr das nie sagen, ich weiß, wie sehr sie ihn liebt, und ich weiß… dass sie ihm das nicht verzeihen kann, genauso wenig wie mir meine erneute Lüge. Sie hat mich wohl endgültig abgeschrieben… seit Tagen versuch ich genau das, sie loszuwerden, von mir abzubringen, mit wenig Erfolg – aber die Methode, die ich nicht hatte wählen wollen, fruchtet wohl nach wie vor am Besten. Ihr eine Lüge auftischen und sie draufkommen lassen…“
 

Er schob den Stuhl zurück, stand auf, tigerte unruhig hin und her.

„Zu guter Letzt kam dann unser Gerichtsmediziner und hat mir ausufernd und erschöpfend erläutert, dass all meine Indizien, dass sie in diesen Fall verwickelt sind, a) hanebüchen und b) allesamt anders zu erklären sind, als ich dachte und ich meine Karriere völlig grundlos gegen die Wand fahre. Wie auch wohl mit dem gleichen Tritt aufs Gaspedal, um im Bild zu bleiben, meine Beziehung zu Ran, die ich ja nur abschiebe, weil ich Angst um sie habe…“
 

Er blieb stehen, lehnte sich gegen die Wand, mit der Stirn die kalte Mauer berührend, seine Hände in die Hosentaschen vergraben.
 

„Angst habe, dass sie sie mir noch einmal wegnehmen. Dass sie noch lebt ist…“
 

„A mystery.“

Sharon sah ihn unergründlich an; er schenkte ihr einen Blick aus den Augenwinkeln, rührte sich nicht.

„A heavenly gift. Du denkst also, die Organisation steckt hinter den Morden – Gin steckt hinter den Morden?“

„Ich dachte es, ja.“

Shinichi seufzte gegen die Mauer.

„Den Kerl, den wir haben, diesen kleinen Kunststudenten Brady… halte ich einfach nicht für fähig, so etwas zu planen und durchzuführen, mir fehlt zudem das Motiv…

Ja, wahrscheinlich hat er unser letztes Mädchen umgebracht, aber hinter der Planung steckt er nicht. Und wenn ich den Grund hinter dieser Tötung suchen muss, so denke ich, dass Gin seine Freundin gekidnappt hat. Sie ist nämlich verschwunden.“
 

Er warf ihr einen weiteren Blick aus den Augenwinkeln zu, runzelte die Stirn.

„Why on earth do I tell you this?“

Er schüttelte den Kopf, stieß sich langsam von der Wand ab.
 

“Abgesehen davon ist es ohnehin egal. Ich weiß nicht, was stimmt. Ob ich richtig lag. Scotland Yard denkt, seinen Mörder gefasst zu haben, und wird nicht weiter suchen. Mich werden die erst in Wochen dort wieder haben wollen, am Liebsten wohl mit dem Attest eines Therapeuten. Ran wird mich nie mehr wieder haben wollen. Wen… interessiert da noch, ob sie es waren oder nicht. Wenn sie mich hätten töten wollen, hätten sie’s längst getan, seien wir ehrlich…“

Sharon reagierte nicht. Sie sah ihn nur an, erkannte ein Gefühl, das sie in seinen Augen nie gesehen hatte – in seinen schwärzesten Stunden nicht.
 

Kapitulation.
 

„Wenn sie da noch draußen sind, und Rache wollen… warum kommen sie nicht einfach und nehmen sie sich…?!“, murmelte er müde.

„Warum dieses Katz – und Maus-Spiel, warum… warum können sie mich nicht einmal unmissverständlich wissen lassen, dass sie es sind…“

„Weil das nicht ihr Stil ist. Nie war, das weißt du. Sie arbeiten im Verborgenen.“

Shinichi setzte seine unruhige Wanderung durch sein kleines Wohnzimmer fort, den Blick starr auf den Fußboden gerichtet, bis er stehenblieb.

„Weißt du denn etwas von ihnen?“

Sharon schüttelte den Kopf.

„No. Du weißt, warum. Ich hab es geschafft, mich ähnlich unbeliebt wie Sherry zu machen… indem ich euch entkommen ließ, hab ich mich zur Verräterin gemacht.“

Ein feines Lächeln ließ ihre Zähne blitzen. Shinichi seufzte still.
 

„Why are you asking?“

Er schüttelte den Kopf.

„Wie gesagt. Ich bin nicht sicher… ich hab keine Beweise und momentan… bin ich wohl ohnehin kaum zurechnungsfähig.“

Ein zynisches Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus.

„Ernsthaft, Sharon, ich habs verbockt. Den Job, Ran, mein ganzes, kümmerliches Leben. Seit fünf Jahren treffe ich eine falsche Entscheidung nach der anderen, und das Fatale daran ist, ich machs immer mit den besten Absichten und merke immer erst viel zu spät, dass es ein großer Fehler war. Die beste Entscheidung war die, mich aus dem Leben anderer rauszuhalten…“
 

Er seufzte, strich sich über die Augen. Sharon schaute ihn an.
 

„You know that’s…“

„… the very truth.“

Sharon zog die Augenbrauen hoch, lächelte traurig.

„That’s bullshit, and you know that. Your life isn’t ending here. It’s still in your hands… take it and use it properly!”

Shinichi wandte den Kopf minimal, schaute sie konsterniert an.
 

„Und was soll ich machen, deiner Meinung nach? Mir sind die Hände gebunden. Ich bin eine persona non grata, momentan.“

„Was auch nicht zum ersten Mal so ist.“

Sie lehnte sich zurück, schlug lächelnd die Beine übereinander, verschränkte ihre Arme hinter ihrem Rücken. Shinichi zog die Augenbrauen hoch ob des grotesken Anblicks.

„Don’t look, if you don’t like what you see.“

Sharon grinste noch breiter.
 

„Was du machen sollst, fragst du? Musstest du bei der Polizei arbeiten, um sie das letzte Mal dranzukriegen? Außerdem, Schwachkopf, hast du Kontakte zum FBI. Sie sind hier und drehen Däumchen; ich glaube kaum, dass sie sich nur deswegen hierher bemüht haben, um Babysitter für deine Lieben zu spielen und dir beim Nichtstun und Herumjammern zuzusehen.“
 

„Du weißt, warum ich nicht mit ihnen gearbeitet habe. Scotland Yard...“

„… has dismissed you...“

“… suspended me. That’s a difference.“

„Call it as you want. At this very point, their case is closed and you are not working for them.”

„Das siehst du jetzt ein wenig zu einfach, Sharon. Actually, I am still an officer of…“

“Tell me, Shinichi, can’t you or do you not want to understand what I am trying to suggest you…?!”

Sie starrte ihn genervt an. Shinichi lächelte schmal.
 

„I know very well what you want me to do. You are suggesting to ally with the FBI again and to deal with the case myself.”

“Clever boy.“

Sie lächelte breit.

„Ich weiß sehr wohl, was du offiziell noch bist; aber inoffziell interessierst du da momentan keinen, also tu und lass was du willst! Abgesehen davon… denk mal nur für fünf Pennies weiter, silver bullet. Du bist beurlaubt, weil du die Organisation hinter all dem vermutest. Und dein Chef glaubt dir weshalb nicht?“

Shinichi stöhnte auf.

„Wegen einem Fläschchen Heroin. Das mir wer untergejubelt haben muss. Und wenn die Theorie…“

„Von der Organisation stimmt, läge es doch nahe…“

„… dass im Yard einer von ihnen ist.“
 

Shinichi fuhr sich mit seiner Hand übers Gesicht, schüttelte den Kopf.

„Das weiß ich. Soweit war ich auch schon.“

Sharon nickte.

„Egal ob es stimmt oder nicht, dass sie dahinterstecken - dass dich jemand in die Pfanne hauen will, ist eine Tatsache.“

Sie schaute ihn durchdringend an.

„Ich wage mich sogar noch weiter aus dem Fenster zu lehnen, cool guy…“
 

Shinichi presste die Lippen zusammen. Er ahnte, was sie nun anführen würde.
 

„I don’t reckon that this little blackout just now was a result of too much work and distress...“
 

Sharon stand auf, schaute ihm ins Gesicht – dann hob sie die Hand an seinen Hals, drückte gegen die Hauptschlagader.

„Your blood pressure is still extraordinary high…“

Shinichi wich zurück.

„Was soll es sonst…?“, fing er an, unwillig, ahnte er doch die Antwort.

Sie ließ ihre Hand sinken, verschränkte die Arme vor der Brust.

„You very well know what I mean. And don’t you dare to tell me that you did not think about that, liar.”
 

Shinichi schaute sie abwehrend an.

„Das ist Schwachsinn, Sharon. Woher…“

„Well. I might guess, if something manages to hide a flask of heroine in your desktop drawer, he’ll easy enough will achieve to pour something in your coffee cup, for example, Shinichi.“

„Das glaub ich nicht.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Du weißt, ich hab… diese Träume doch die ganze Zeit. All die fünf Jahre kehrten sie immer wieder.“

Er brach ab, als er ihren warnenden Blick sah.

„She never drowned, Sherlock.“

„Woher willst du das wissen.“

Zwar gab er sich abwehrend, aber sie sah an seinem Blick, dass sie Recht hatte.

Er hatte immer wieder von diesem Abend geträumt.

In keinem seiner Träume war sie je ertrunken.

Shinichi griff sich an die Stirn, schüttelte langsam den Kopf.

„Sharon, es spielt keine Rolle, was ich träume. Aber das HLZG - ich würds doch wissen, hätt ichs intus. Ich hab… diese Entzugserscheinungen doch miterlebt, ich wär fast draufgegangen beim Entzug, das hier war nie so heftig. Ich glaube kaum, dass das…“
 

Die Blondine schaute ihn ausdruckslos an.

„If you say so.“

Sie lehnte sich gegen die Tischkante.
 

„The other thing you can fix is your relationship with Ran. Go and talk to her.”
 

Sie fixierte ihn mit ihren eisblauen Augen. Er sah sie an, lange – und schwieg.
 

„That’s impossible.“

„You just told me, she said to you that she would be safer with you than without you…“

Ihre Stimme war leise.

“And don’t you think, that could be right?”

Er hatte sie mehr oder minder zur Tür gedrängt, schaute sie müde an.

„That was a dream. A nightmare, to be correct. I don’t believe messages my nightmares tell me. I don’t want them to become true.“
 

Sie schaute ihn an, schüttelte den Kopf.
 

„But let’s face the truth, Shinichi… that’s what your nightmares tend to do.”
 

Sharon trat näher an ihn heran, blickte ihn starr ins Gesicht. Sie mochte seinen fahlen Teint nicht, und auch nicht die Schatten unter seinen Augen. Sie mochte nicht, dass sein Gesicht ein wenig hager wirkte, ein wenig ausgezehrt – ein wenig nur, aber dieses Bisschen war in ihren Augen ein bisschen zu viel.
 

„You don’t do yourself any good if you reject her. Don’t you see that you need her like the air you breathe, the water you drink, you stupid boy?”
 

Ärger klang in ihrer Stimme.

Er schüttelte nur den Kopf.

„I do know that. You know that, you’ve heard it and you’ve seen me, though I definitely prefer you hadn’t. But… she’ll be safer and happier without me. You do remember what had happened to her, the last time she went with me. Und du konntest sehen, was diese Zeit ohne… Luft und Wasser aus mir gemacht hat. Einen Geist, Sharon.”
 

Er schüttelte den Kopf, um seine Lippen lag ein verkniffener Zug.

„Egal, ob sie hier dahinterstecken oder nicht,… es ist zu riskant. Sie lebte fünf Jahre sicher in Tokio… das will ich nicht aufs Spiel setzen. Sie sollte wieder zurück. Ich weiß jetzt, dass sie lebt, dass es ihr gut geht, das muss mir reichen…“

„Nobody can talk of wellbeing or happiness, Shinichi. She is not well-…“
 

Sie brach ab, als sie das wütende Funkeln in seinen Augen bemerkte.
 

„It’s none of your business, Sharon. And now leave me alone, I’ve got to go to sleep – I’m pretty tired, and as you are so worried about my health…”

Er trat einen Schritt auf sie zu, zwang sie, zurückzuweichen. Sie warf ihm einen resignierten Blick zu – hier und heute würde sie bei ihm nicht weiterkommen, soviel machte er ihr gerade ziemlich deutlich.
 

Er zweifelte und er war müde.
 

Sie schüttelte den Kopf, langsam, ging zur Tür und öffnete sie. Ehe sie hinaustrat, drehte sie sich jedoch noch einmal um.
 

„Shinichi – you’re up to making some more wrong decisions, you know that, don’t you?“
 

Damit drehte sie sich um, ließ ihn allein.

Shinichi schloss die Tür, lehnte sich kurz dagegen – dann machte er kehrt, ließ sich im Schlafzimmer aufs Bett fallen, wie er war – und blieb entgegen seiner Hoffnung, sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu gleiten, noch lange wach, starrte in die Finsternis seines Schlafzimmers, hörte gedämpft den Lärm der nie schlafenden Stadt durch seine Fensterscheibe.
 

Und seine Gedanken drehten sich im Kreis, genauso wie das London Eye vor seinem Fenster.

Tag 8 - Kapitel 38: Holmes und Watson

Tag 8
 

Kapitel 38 – Holmes und Watson
 


 

Und für noch jemanden war diese Nacht eine schlaflose gewesen.
 

Jenna fühlte sich am nächsten Tag wie frisch gerädert. Sie hatte nicht seine Akte eingesehen – sie war sich schon schäbig vorgekommen, als sie ihn gegoogelt hatte, wie hätte sie sich gefühlt, hätte sie seine Akte gelesen? – aber sie hatte versucht, sich in den Fall von damals einzulesen, mehr und tiefer, als sie es bei ihrer ersten Internetrecherche schon getan hatte.

Es war ihr schwer genug gefallen, gingen ihr Montgomerys Worte einfach nicht aus dem Kopf. Und auch nicht die Bilder, die damit einhergingen.
 

Heroin?
 

Es passte einfach nicht. Ihr Boss…?

Nein.
 

Die einzige Substanz, die sie ihn regelmäßig konsumieren sah, war Koffein. Ja, er sah abgearbeitet aus. Blass, schlaflos. Aber er zeigte keine dieser Anzeichen für Drogenkonsum.

Keine auffälligen Unregelmäßigkeiten im Bewegungsablauf, die auf Schmerzen in den Gelenken oder Krämpfe deuten würden. Keine geweiteten Pupillen, keine Schweißausbrüche oder Schüttelfrost, keine Erkältungssymptome, nichts.
 

Er sah nur müde aus.

Sehr müde zwar, ausgelaugt… aber das war durchaus mit seinen privaten Problemen und dem anstrengenden Fall zu erklären.
 

Was auch immer los war, das war es nicht.
 

Wenn er dann also aber kein gewöhnlicher Drogensüchtiger gewesen war – wofür dann das Diamorphin?

Sie hatte Google kurz bemühen müssen, bis sie herausgefunden hatte, dass man es in seltenen Fällen auch für eine Substitutionstherapie verwendete.
 

Was sie genausoweit gebracht hatte, wie sie vorher gewesen war.

Substitutionstherapien waren schließlich für Drogenabhängige gedacht.

Von welcher Substanz hatte man ihn mit Diamorphin abbringen müssen, sollte sie mit ihrer Theorie richtig liegen?
 

An diesem Punkt ihrer Nachforschungen hatte sie ihre Stirn ein paar Mal gegen die Tischplatte geklopft – und mit Bitterkeit bemerkt, dass sie wirklich nicht sehr viel über ihren Chef wusste.
 

Auch die Recherchen zu seinem großen Fall erwiesen sich nicht als sehr aufschlussreich.

Jenna erfuhr wie groß die Organisation gewesen war, wo ihr Hauptquartier gelegen hatte, und sie erfuhr jede Menge Namen – unter anderem von Leuten, die ihr tatsächlich ein Begriff waren – aber nicht, was er damit zu tun hatte.

Er war über eine Woche weg gewesen, wohl… das zumindest erfuhr sie aus einem mehr oder weniger reißerischen Bericht eines mehr oder weniger gut aufgestellten Klatschblattes, das sich ebenfalls mit seiner „Flucht“ beschäftigt hatte – und aus „Insiderkreisen“ erfahren haben wollte, dass der „Erlöser der japanischen Polizei“ wohl anderthalb Wochen in den „Fängen von grausamen Verbrechern“ gewesen war.
 

In dieser Zeit musste es passiert sein.
 

Mit dieser unbefriedigenden Antwort war sie gegen halb drei Uhr ins Bett gewankt – um um sechs wieder von ihrem Wecker hochkant rausgeschmissen zu werden. Manchmal fragte sie sich wirklich, ob ihr Bett einen Schleudersitz hatte, von dem sie nichts wusste, der aber auf das Signal des Weckers hörte und darauf prompt reagierte – auch heute war so ein Morgen, als sie sich vom Boden hochrappelte, auf dem sie gelandet war, als sie sich im Kampf mit ihrer Decke über die Bettkante gerollt hatte.
 

Die Welt hatte sich gegen sie verschworen.
 

Heute stand das Verhör mit Brady an, die Untersuchung seiner Wohnung – und heute würde sie mit ihrem ehemaligen Partner und Vorgesetzten reden, das zumindest hatte sie sich vorgenommen.

Reden.

Über das, was sie von ihm noch nicht wusste.

Sie wusste zu viel, und gleichzeitig zu wenig, als dass sie noch einen Tag länger warten konnte.

Jenna musste wissen, woran sie an ihm war.
 

Sie seufzte in ihren Kaffee, der seit ein paar Minuten vor ihrer Nase stand und kalt wurde. Kleine, konzentrische Ringe brachten die spiegelglatte Oberfläche in Wallung, ehe sie sich die Tasse an ihre Lippen setzte, das lauwarme Gebräu auf Ex runterkippte, das Gesicht vor Abscheu verzog – er war bitter geworden, stellte sie fest – und schließlich entschlossen aufstand. Sie verließ ihre kleine Erdgeschosswohnung, klemmte sich hinter das Steuer ihres mokkabraunen Minis und kurvte ihn mit entschlossener Miene durch die morning rush hour Londons ins Yard.
 

Es war seltsam, sich nicht mit Sherlock zum morgendlichen Briefing zu treffen.
 

Allein durchquerte sie die Lobby, um die Treppe in den zweiten Stock zu nehmen – sie nahm nie den Lift – und sich von Jillian McDermitt sagen zu lassen, dass der Anwalt von Brady um neun Uhr kommen würde.

Sie merkte der Sekretärin an, wie mitgenommen selbst sie war. Sie hatte ihn gehen sehen, gestern, die Wut kaum verborgen auf seinem Gesicht, gepaart mit einem Ausdruck von Enttäuschung und Bitterkeit, den sie sich kaum erklären konnte. Auf ihre Rufe hatte er nicht reagiert – sie hatte auch nicht ernsthaft versucht, ihn aufzuhalten.
 

Sie hatte Montgomery gesehen, im Gegensatz zu Shinichi, der eher bleich gewesen war, rot wie ein Hummer im Gesicht, vor Wut schäumend. Er hatte ihr nur ein paar Anordnungen hingebellt bezüglich der Pressekonferenz und war dann abgedampft.
 

Sherlock nicht wie gewohnt gedankenversunken an ihrem Tisch vorbeigehen zu sehen, ein freundliches Lächeln und ein „Good Morning, Lady Dermitt“ auf den Lippen, mit dieser Stimme, die fast akzentfrei und wohlklingend tief Worte an sie richtete.

„Good morning, Sergeant Watson.“

Sie lächelte der rothaarigen, blassen jungen Frau zu.

„Did you hear something…?“

„No.“
 

Jenna schüttelte den Kopf.

„He’s devastated, that’s all I could gather from him yesterday. Exhausted, angry, because…“

Jillian schaute sie aufmerksam an, wartete darauf, das sie weitersprach.

„Well, anyway. I wanted to visit him today and have a look at how he does. I guess, though I don’t like the way they came – he could do with some free days. Some time off… he had none since I first met him.”

“He had none since he started here in the first place. For five years, that is.”, korrigierte Jillian sie. Jenna schaute sie entsetzt an.

“I didn’t know that.”

Sie schluckte, seufzte leise.

„He’ll do good if he cares a bit about himself…“

“Well.”, begann die Sekretärin langsam.

„I’d wish he could do that. But I fear, this day will not help him to find some peace of mind.”

Sie schob Jenna die heutige Ausgabe des Reporters zu, sah sie ernst an.

Jenna las nur die Schlagzeile, und merkte, wie ihr Mund schlagartig austrocknete.
 

TOO MUCH OF SHERLOCK HOLMES?
 

Hastig rollte sie die Zeitung zusammen – und erst jetzt merkte sie, dass die Leute hier herumrannen wie Hühner, in deren Hühnerstall der Fuchs eingebrochen war.
 

Es herrschte pures Chaos und helle Aufregung, und daran konnte nur eins Schuld sein.
 

„Well. I’d better be off and plan that day – as I have to plan it on my own.“
 

Damit ging sie, langsam und scheinbar ruhig, auch wenn ihr Puls raste.
 

Sie schluckte, bog in das Großraumbüro der Sergeants ab, setzte sich nach einem kurzen Hallo an alle an ihren Platz und begann leise und für sich an ihren Fragen für Brady zu arbeiten.

Sie würde das Verhör wohl nicht alleine führen, also würde sie die Fragen nach der „Organisation“, beziehungsweise den Hintermännern seiner Tat versteckt stellen müssen. Abgesehen davon war sie der Ansicht, wenn Brady wirklich so ein kleiner Fisch war, würden sich diese Leute ihm gegenüber nicht als ominöses Verbrechersyndikat geoutet haben.
 

Sie musste das schlau anstellen.
 

Etwa eine halbe Stunde später stand ein mehr als angeödeter DI McIntosh in der Tür, schaute sie an, seine Arme vor der Brust verschränkt.

„Watson?“, fragte er in die Runde – und Jenna räumte ihre Notizen und die Akte zusammen, stand auf.

„That would be me, Sir.“
 

Godfrey McIntosh war ein bulliger, übergewichtiger Mann mit fleischigen Händen und einem krebsroten Gesicht. Sein Bauch hing ihm über den Bund seiner Hose, seine Haare waren an seinen Schädel geplättet – Jenna hatte mit ihm noch nicht viel zu tun gehabt.

Und insgeheim wurde ihr langsam klar, wieviel Glück sie nicht nur mit Shinichis Intelligenz und Kombinationsgabe hatte, von dem sie so viel lernen konnte – nein, auch seine äußere Erscheinung war von der Art, mit der man gerne zusammenarbeitete.
 

McIntosh roch bis hierher nach Schweiß und kalten Kaffee.
 

Dennoch stand sie auf, schob ihren Stuhl unter ihren Tisch und trat zu ihm raus auf den Gang.

„Well, Watson.“

McIntosh räusperte sich.
 

„I hope, you are well prepared. I won’t hide that I consider this action as a total waste of time. Had Sherlock been more…“

„SI Kudô.“, korrigierte Jenna ihn unwillkürlich, fiel dabei in den sich gerade Bahn brechen wollenden Redeschwall ihres Kollegen – und Vorgesetzten.

„What?“, hakte der ungläubig ein, sah sie scharf an.

Jenna schluckte, wandte dann den Kopf, während sie den Gang entlang gingen.

„SI Shinichi Kudô.“, wiederholte sie.

„And this interrogation is not unnecessary. If you have a suspect, you have to question him. No matter how much he has already confessed at his capture, he has the right to repeat or to repeal his confession within the presence of an attorney.“
 

Sie wandte den Kopf wieder ab, schaute stur geradeaus, zog ihre Unterlippe zwischen ihre Zähne. Eigentlich war sie nicht der Typ, der gern aufmüpfig wurde, aber das konnte sie weder auf sich noch auf ihrem Partner sitzen lassen.
 

„And yes. I am well prepared.“, setzte sie nach, bevor sie die Tür zu Verhörraum drei aufstieß.
 

Brady, kalkweiß wie die Wand, vor der er saß, sowie sein Anwalt, eine Gestalt, die Jenna das Blut in den Adern gefrieren ließ, warteten bereits auf sie.
 

Jemanden wie ihn hatte sie noch nie gesehen.

Smart, auf eine distanzierte Weise gutaussehend, mit einem absolut symmetrischen, makellosen Gesicht, kantig und scharf geschnitten, fast wie aus Marmor gemeißelt – so glatt, und mindestens genauso unlesbar war es.
 

Ein Mann, an dem alles abzuperlen schien wie Flüssigkeiten in einer Teflonpfanne.
 

And that’s what they provide as duty solicitors nowadays?
 

McIntosh neben ihr schien etwas ganz ähnliches zu denken, wie sie bemerkte, als sie ihm einen kurzen Blick zuwarf; dann wandte sie sich wieder ihrem Gegenüber zu.

Er schien etwas… Ausländisches an sich zu haben, aber sie konnte nicht genau festmachen, was es war. Als er jedoch zu sprechen anfing, mit einer Stimme die jegliche Emotion ausblendete, sachlich und nüchtern, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
 

„Good morning.“, begrüßte er sie mit akzentfreiem Englisch.

Er trug einen dunkelgrauen, scheinbar maßgeschneiderten, weil perfekt sitzenden Anzug und keine Krawatte – dafür hatte er den ersten Hemdknopf geöffnet. Er setzte sich gelassen wieder hin, bedeutete auch seinem Mandanten, sich zu setzen und lehnte sich nun entspannt zurück.
 

Sie fröstelte, als sie Platz nahm – der Blick aus seinen Augen war stechend, ganz ähnlich dem von SI Kudô, wenn er verhörte – nur sollten doch eigentlich sie selbst hier in dieser Position sein.
 

Jenna. Get a grip!
 

„Good morning, Mr Brady. My name is Detective Sergeant Jenna Watson and this is…“, sie deutete auf DI McIntosh, der sich in den Stuhl neben ihr fallen ließ, „Detektive Intendent Godfrey McIntosh. We are conducting this interview today. If you and your lawyer don’t mind, I would switch on the tape now…“
 

“Where’s he?”
 

Bradys dünne Stimme zitterte im Raum. Jenna, die gerade das Diktiergerät auf dem Tisch platziert hatte, stutzte. Und sie bemerkte auch den scharfen Blick, den der Anwalt dem jungen Künstler zuwarf.
 

„Sherlock. Where is he? Isn’t this his case, can’t he…?“
 

Er schluckte, leckte sich über seine trockenen, aufgesprungenen Lippen.
 

“No.”
 

McIntosh nahm es ihr ab, dem Mann eine Antwort zu geben.

„SI Kudô…“, er warf Jenna einen abschätzigen Blick aus einem Augenwinkel zu, während sie sich damit beschäftigte, ihre Unterlagen vor sich auszubreiten, „is currently not available. But rest assured, we, too, know how our work is done properly.“

Ein ekelhaftes Grinsen huschte über seine wulstigen Lippen.

Jenna schluckte nur – dann wandte sie sich dem Anwalt zu.

„Well – Mr…“

„Kuro.

Der Anwalt lächelte unverbindlich.

„Jinsuke Kuro. And, no – don’t bother yourself with switching on that thing. My client wants to withdraw his confession. Furthermore, he wants to issue a complaint against the mentioned SI Kudô – my client was illegally interrogated by him, while they drove from Madame Toussaud’s to Scotland Yard after his arrest, obviously without the presence of his lawyer. SI Kudô must have known that this was a criminally liable action.“

„What?!“

Jenna starrte ihn an.

„But your client has confessed voluntarily! And he had been at the crime scene! The trainee has identified him as the man who drugged him and locked him in! His DNS is on the clothes he put on, there were his hairs sticking to it! No matter what has happened in a car afterwards…“
 

„Right, right. But none of your arguments proves him of being involved with the murder itself. So he will withdraw his confession, definitely, Miss Watson. It’s his good right to do so.“

Der Anwalt lächelte spöttisch – dann stand er auf, überging den entrüsteten Ausdruck auf Jennas Gesicht ob der Missachtung ihres polizeilichen Ranges – genauso wie der Tatsachen, die sie ihm gerade entgegengeschmettert hatte.

„The complaint will follow up the next days. I am very clear about the fact that you don’t even think about letting my client leave this place because you are still and rightly suspecting him of murder – you’ve been very frank about this, just now.”
 

Er zog Bradys Stuhl zurück, zwang ihn so zum Aufstehen.
 

“That’s why I would very much appreciate, if you could provide us with a silent room where we can settle down to talk about this case and his defence. Thank you so much...“
 

Jenna starrte ihn an wie vom Donner gerührt und mit ungläubig offen stehendem Mund – erst ein paar peinliche Sekunden später merkte sie auch, dass ihr die Kinnlade heruntergeklappt war. Unwirsch schloss sie ihren Mund wieder – so fest, dass ihre Backenzähne fast knirschten.
 

„Of course.“, presste sie hervor.

„Of course. I’d recommend the room we currently provide for your client.“
 

Sie stand auf, langsam, räumte dann betont gelassen ihre Unterlagen wieder zusammen, steckte das Diktiergerät weg, schob ihren Stuhl penibelst genau und gerade unter den Tisch.

„If you and your client would accompany me, please, I’ll guide you there.“
 

Damit verließ sie das Zimmer – ein mehr als zufriedener McIntosh seilte sich gleich vor der Tür ab. Man sah ihm an, dass er es genoss, seine junge Kollegin knöcheltief in der Scheiße waten zu sehen, die sie und ihr oberschlauer Partner sich selbst aufgehäuft hatten. Jenna führte die beiden eine kurze Strecke weiter, gefolgt von den Wachmännern, die aufpassten, dass ihr Gefangener nicht flüchtete, zeigte ihnen die Zelle und kehrte ihnen ohne ein weiteres Wort – aber mit einem sehr durchdringenden Blick, zielgenau abgeschossen in Bradys Richtung – den Rücken.
 

Sie dampfte vor Wut wie ein überkochender Teekessel.

Anmerken lassen durfte sie sich das natürlich nicht.
 

Und so ging sie nur hinaus, auf dem Weg schon den Hausdurchsuchungsbefehl herausziehend aus ihren Akten, zu ihrem Wagen.

Sie würde sich ihre Beweise dann eben anders suchen müssen.
 


 


 

Der Schlag traf ihn unerwartet – aber nicht überraschend. Brady heulte auf, wohl wissend, dass ihn niemand hören würde, wich zurück bis an die Rückwand der Zelle, presste sich gegen die kalte, harte Mauer, in seinem Kopf nichts als der intensive Wunsch, einfach von ihr verschlungen zu werden, einbetoniert, unerreichbar für diesen Mann, der mit eisigem Blick vor ihm stand.
 

Langsam trat er näher, zog dabei eine flache, silberglänzende Schatulle aus mattiertem Aluminium aus seiner Sakkotasche.

„I guess you knew that this end was unavoidable, Eduard. Nobody will come and rescue you from here. You already painted enough pictures for us… the quintet is completed.”
 

Eduard starrte ihn angsterfüllt an – sein Magen fühlte sich an, als befände sich ein Kilo Gips darin, der langsam abband und ihn von innen heraus versteinern ließ.

Diese Worte verhießen nichts Gutes.

Flache Aluminiumschatullen in den Händen dieses Mannes wohl auch nicht, schoss es ihm durch den Kopf.
 

Er hatte ihn sofort erkannt, trotz der Verkleidung, die er trug, als er heute in seine Zelle getreten war. Er war der blonde Asiate, Kurosawa.

Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, woher sie ein fünftes Bild hatten. Sie hatten die Zeichnung von Sherlocks Freundin – aber das ergab nur eine Summe von vier.

Es hingen aber noch zwei von Merediths Kleidern in der kleinen Lagerhalle am Apple Market… ihrem zweiten Quartier.
 

Er merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als Gin vor ihm stehen blieb, einen halben Meter von ihm entfernt. Der Geruch von kaltem Rauch, der im Stoff seines Anzugs hing, stieg ihm in die Nase, schien dort die kleinen Härchen zu verätzen und dann seine Lunge hinunterzubrennen.

Wie eine Maus die Katze beobachtete er voll unruhiger Furcht Gins schlanke Finger, die nun einen Schließmechanismus an dem Etui betätigten und so es aufschnappen ließen.
 

Zum Vorschein kam, eingebettet in schwarzes Schaumstofffutter… eine Edelmetallspritze.

Der blonde Mann zog sie mit seinen langen Fingern fast liebevoll heraus, ließ einmal das Licht der Zelle über das polierte Metall blitzen, bis zur Spitze der Injektionsnadel.
 

Aus Eduard Bradys Kehle wand sich ein Wimmern – es klang fast nicht mehr menschlich, ein kläglicher, klagender Laut, wie der, den ein kleiner Hund hören lässt, nachdem man ihn getreten hat.

Und genau so fühlte er sich jetzt.
 

Gin bedachte ihn mit kaltem Blick.
 

„Don’t look at me like that, Eduard. It is not my fault – you shouldn’t have let them catch you. Now you are a risk for us – and as I told you, you are of no use any longer…”

„But you have only four pictures yet! And only, if you want to use that drawing of this Japanese girl already…!“

Seine Stimme klang weinerlich – und doch hatte er eine gewisse Lautstärke erreicht. Verzweiflung sprach aus seinem Blick, die allerdings nichts war im Vergleich zu dem, was ihn gleich übermannen und ins Dunkel reißen würde.
 

„False.“
 

Gin schüttelte tadelnd den Kopf, ließ einen Tropfen der Substanz, die im Bauch der Spritze schwamm, aus der Spitze quellen.
 

„False, I’m sorry. We allowed ourselves to take one more picture from your flat. The matching girl is already within our possession…“

Er lächelte breit.

„… and that was the plan from the start on. Your girlfriend would have been the last victim – and you would have died after her.“
 

Brady erstarrte.
 

„But things have developed a different way – and I consider it more suitable, if the honor of wearing the white dress is passed on to Sherlock’s girlfriend… And as you are now within the grip of Scotland Yard, you must be put to silence.“

Er seufzte.

„But well, on the bright side – you do not have to watch her die. Unlike him.“
 

Er hielt inne, als er das laute Keuchen vernahm. Brady stand vor ihm, starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, seine Brust hob und senkte sich hektisch.

Es war klar zu sehen, woran der in diesem Moment dachte.
 

Meredith!
 

Dann heulte er auf.
 

„Noooooo!“

Er stürzte sich auf Bourbon, sein Gesicht wutverzerrt, getrieben von blinder Verzweiflung, Angst und Schmerz.

„No! Not her! Not-“

Er versuchte, auf den Mann einzuschlagen – Gin jedoch wischte ihn mit einer ausholenden Bewegung seines Armes zur Seite, ohne auch nur einen Tropfen der Ampulle zu verlieren.

Eduard landete am Boden, stieß sich hart den Kopf. Blut rauschte in seinen Ohren, überlaut, vor seinen Augen tanzten Sterne.
 

„It’s your own fault.“

Gins Stimme klang sachlich – und kam doch nur wie durch Watte an Eduards Ohren an, sank wie durch Gelee gebremst in sein Gehirn.

„You little fool, you have lain a trace for him, haven’t you? The flowers, am I correct? You want to tell him where he’ll find his last victim. But you made one big mistake…“
 

Er lachte leise.

„Sherlock Holmes is not the only bright mind in this game. I got curious about that rosemary twig, too, and I made my researches. But I let you continue… you are luring him into our trap, the sooner, the better. Nevertheless, you won’t live to see the trap close on him. Anyway, my congratulations, Edward, your last piece was your masterwork.“
 

Er griff Eduards Arm, presste ihn unwirsch gegen die Mauer, als dieser sich wehrte, schob einen Ärmel zurück.

Gezielt presste er die Spritze durch die Haut am Handgelenk, geradewegs in die Vene, die sich deutlich gewölbt unter der dünnen, fahlen Haut abzeichnete. Er drückte den Kolben durch, langsam, bemerkte, wie sich Bradys Körper entspannte.
 

„Good night, you great artist.“
 

Automatisch verstaute er Injektion und Schatulle wieder sachgemäß, ging zur Tür und klopfte. Als der Wärter öffnete und einen Blick hinein, an seiner Schulter vorbei, warf, lächelte er nachsichtig.

„Er schläft. Das alles nimmt ihn ziemlich mit. Einen schönen Tag noch, Detective.“
 

Damit trat er auf den Gang, bemerkte zufrieden wie der Wärter die Tür anstandslos wieder schloss, und verschwand fast unbemerkt aus den heiligen Hallen von New Scotland Yard.
 


 

Jenna ihrerseits stand jetzt etwa fünf Minuten in der Wohnung des Künstlerpärchens – und fand es auf erschreckende Weise unverändert.

Von Meredith fehlte jede Spur – tatsächlich schien seit ihrem letzten Besuch hier nichts passiert zu sein. Die Betten waren unbenutzt, das Geschirr stand genauso in der Spüle wie vorher auch. Die rußgeschwärzte Kochstelle hatte niemand sauber gemacht. Im Kühlschrank trocknete ein Stück Käse ein und in der Obstschale überzog sich eine Mandarine mit weißgrünem Pelz – Jenna fröstelte, schluckte hart.
 

Es war gespenstisch – wenn auch nicht verwunderlich. Meredith war offenbar tatsächlich verschwunden; und Brady saß bei ihnen ein.

Jenna runzelte die Stirn.
 

Dennoch schien irgendetwas komisch hier.

Als würde etwas fehlen. Sie verließ die Küche, schritt ruhig und routiniert, aufmerksam ihre Augen über die Einrichtung gleiten lassend, durch die wenigen Zimmer. Im Bad fiel ihr nichts weiter auf – auch in Merediths Arbeitszimmer nicht. Sie bemerkte die Reste der Wildseide, die dort bereits vor zwei Tagen gehangen hatten – weiß und hell silbergrau gefärbt.

Sie schluckte.

Ihr war klar, wovon diese beiden Fetzen erzählten.
 

Auf der Leinwand hingegen befand sich nichts… und das beunruhigte sie fast noch mehr.
 

Brady konnte keine Bilder mehr malen, aber offenbar gab es noch zwei weitere Kleider.
 

Sie schluckte.
 

Entweder hatte er auf Vorrat produziert – wogegen die kurze Zeitspanne und der noch sehr feuchte Zustand des letzten Bildes sprachen.
 

Das hieß, sollte SI Kudô Recht haben, dann müssten die Hintermänner dieser Verbrechensserie Bilder aus anderer Quelle haben.

Unschlüssig verließ sie das Arbeitszimmer und betrat das kleine Schlafzimmer der beiden.
 

Jenna ließ ihre Augen über die Einrichtung, über die Wände wandern, um zu sehen, was sie vielleicht vorhin nicht bemerkt hatte – als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel.
 

Über dem Bett war sie.

Eine Stelle, die dunkler war als die Farbe drumherum. Ein rechteckiger Fleck, mit einem kleinen schwarzen Punkt an der oberen Kante.
 

The picture hung there, two days ago.
 

Merediths picture.
 

Meredith fühlte, wie ihr ein Schauer eisiger Tropfen den Rücken hinabrieselte, ihre Atmung zum Erliegen brachte und ihre Nackenhärchen dazu, sich aufzustellen.
 

Sherlock was right!

I’ve got to tell him!
 


 

Shinichi seinerseits saß nach einer mehr als unruhig zu nennenden Nacht sehr ernüchtert vor seinem Morgenkaffee.

Lustlos rührte er in seiner Tasse, in der es nichts zu rühren gab, eigentlich – er trank den Kaffee immer schon schwarz.
 

Seine Haare standen wirr, noch wirrer als sonst, von seinem Kopf ab, wie als ob er versucht hätte, sich mit Schweizer Krachern zu frisieren und der leichte Grauschleier eines Barts hatte sich über seine Wangen gelegt, bildete die passende Ergänzung zu den graublauen Schatten unter seinen Augen.
 

Ihm ging das Gespräch mit Sharon gestern nicht aus dem Kopf.

Mittlerweile waren seine Kopfschmerzen fast nahezu verschwunden – nicht allerdings die Erinnerungen an seinen Traum.

Es stimmte… immer, wenn er unter dem Einfluss dieser Droge gestanden hatte, hatte er von Rans Tod halluziniert – allerdings zuerst war dem immer ein euphorischer Höhenflug vorangegangen.
 

Davon hab ich gestern reichlich wenig mitbekommen…
 

„Gerade gestern wäre so ein kleiner Trip echt nett gewesen.“, murmelte er leise, lächelte zynisch in sein Kaffeespiegelbild.

Dann schüttelte er den Kopf, wischte sich über die Augen.
 

Aber das spricht eigentlich gegen diese Droge… die Wirkung war nicht die gleiche. Und auch der Inhalt des Traums war… seltsam.

Sie hat mir nie eine Botschaft überbracht.

Sie hat mir nie… meine Vergangenheit gezeigt.
 

Er schluckte, trank seinen Kaffee auf Ex aus, sog scharf die Luft ein, als die Flüssigkeit sich den Weg seine Kehle hinunterbrannte.
 

Ist sie mir damals wirklich nachgelaufen?
 

Der Gedanke löste nun doch wieder Kopfschmerzen bei ihm aus. Wenn sie wirklich hatte nachlaufen wollen… nicht auszudenken, was hätte passieren können, hätte man sie auch gefunden.

Womöglich hätte man ihr auch das Gift verabreicht.

Womöglich wäre sie daran gestorben.
 

Unwillig schüttelte er den Kopf – dann raffte er sich auf und ging ins Badezimmer. Irgendwann musste er sich schließlich rasieren und anziehen, und es war ohnehin schon später Vormittag.

Und außerdem… hatte er etwas vor.
 

Gerade, als er aus dem Badezimmer kam, klingelte es an seiner Wohnungstür.

Shinichi zog die Augenbrauen hoch – dann ging er zur Tür, presste auf den Türöffner und öffnete die Tür zu seinem Appartement, darauf wartend, wer gleich die Treppen heraufschnaufen würde.
 

Es waren Heiji und sein Vater – und er sah genau, was dieser in seiner Hand hielt.

Eine Zeitung.
 

Und die Headline ließ nichts Gutes ahnen.
 

TOO MUCH OF SHERLOCK HOLMES?

The rise and fall of Detective Superintendent Shinichi Kudô
 

Als er wenige Minuten später an seinem Küchentisch saß, das Zeitungspapier zwischen seinen Fingern, musste er feststellen, dass auch der Rest des Artikels nicht besser wurde.
 

We all loved him.

We all admired him.

We all considered him to be the new embodiment of our alltime-hero, our personalized knight of justice and truth –

We all saw Sherlock Holmes in him.
 

Him? You know whom I’m talking about.
 

SI Shinichi Kudô, Scotland Yard’s brightest brain.
 

That’s what we all believed.
 

What now? Some of you might have already got the news that he is off duty and gone on holiday – the first holidays in five years.
 

Not surprising, one might think – after five years of continuous work one might need some time off.

To relax.

To recover.
 

But now, you’ll hear the real reason for this holiday.

You’ll read what Scotland Yard so eagerly swept under the rugs of their offices over the past five years.
 

It seems, that we all have been blinded… for five years.
 

The case about one of the cruellest and most frightening murderers of the past years is finally solved – yet not closed, as it seems.

By yesterday it got obvious, that at least one life more could have been saved.

One whole live of love, of pain, of joy and fear, of friendship and family… extinguished by “The Artist”, now known as Eduard Brady, a young student of fine arts at the UAL, our most renomméed school for young talents like him. Troubled and shaped by a sad, hard past, a life of loss and being abandoned, crime and drugs, he had his go on those four girls – one of them being his own girlfriend. It is rumoured, that she wanted to leave him – so, perhaps, he willingly fitted her in his row of murders.

But she was rescued – so what girl do we talk about?
 

We talk about Juniper Torres, victim number three, a stunning beauty, working as a newcomer model for various magazines, making her way to the shimmerhing heaven of high fashion. High cheekbones, a skin the colour of coffee with not more than a drop of milk in it, big, hazelnut eyes, and hair, curling in shiny, black waves over her shoulders.
 

A gorgeous picture.
 

And how could she have been saved?
 

Easy enough. If the police, on the top of them SI Shinichi Kudô, aka Sherlock Holmes, had kept him arrested. What?! Will you say. And YES!, I say: they had him captured the day before she got killed!
 

So why on earth did they not keep him in investigative custody? No one knows for sure. But rumour says, SI Kudô let him leave because of lack of evidence – he commanded a young sergeant to shadow him. But why? What good should this action do?
 

He thinks, and it is not rumour telling us this, but a trustworthy source within the Yard, that there was someone else setting up the masterplan for this crime.

Now – the girl got killed, and it is proven that it was Brady, no one else.

No other mastermind to be seen.
 

And now, think.
 

Another guy pulling the strings in this crime case?

Who could come into his mind?
 

Yes.
 

What he was thinking about is that mysterious organization he got arrested five years ago. Poor chap, one might say. Perhaps he’s anxious there are some left out there, hunting after him.

Maybe this is true.
 

But another fact seems more liable.
 

SI Kudô, perhaps soon DI Kudô again, was suspended from service yesterday.

Not because of making a wrong decision concerning that painter – they got him, by the way, and this time he’ll rest arrested for the rest of his life, be sure of that – but because of something that was found in his office.

Now, take a seat, if you’re not sitting already.
 

It was a flask of heroine.
 

And again, we know something special from our source at Scotland Yard.

There is a notice in SI Kudô’s file.

He was treated five years ago with a substitution therapy.

A drug substitution therapy.
 

We all know what that means.
 

Could it be, that our admired detective has a bit too much in common with our beloved fictional figure? Dealing with drugs is no bagatelle.

So… it seems that the pressure was too much for this young man. He is, after all, just twenty-five years old. And with this disturbing past, dealing with murder and death since the age of fifteen, it might not surprise that he looked for peace and distraction.

We all see Sherlock Holmes in his stories giving himself a shot of cocaine, and we see Watson next to him, critizizing him.

We swallow hard, because we know, drugs are bad, and being bored is no reason to take them.

But thinking about this man, Shinichi Kudô, a man of our police forces, taking that stuff, ruining both his carreer and his health – Scotland Yard, have you had a look at him, lately? - , swallowing hard does not do the trick.
 

And now, let us conclude, let us play Sherlock Holmes, for once in this case.
 

We know about his mistake, this wrong, this very wrong decision.

And from our reporter we know, that he is suffering headache, a tremor in his hands, obvious sleeplessness and has no appetite.

So, with all we know from his file, this case and information that he himself gives us… what is our verdict?
 

It might be just stress, that makes him look so worn.

But it might be drug addiction as well…

And now, the last evidence will be delivered… there was a bottle of heroine found in the drawer in his desk – and this is the very reason why SI Kudô is suspended for now.
 

We all know which of those two options we have is the right one.
 

It is unsettling, it is disturbing, and it makes one think about how a Superintendent can be drug addicted and is not discovered until he makes a mistake another one has to pay for – the name of which is in this case Juniper Torres.
 

Our star has fallen deeply.
 

Er hatte es kommen sehen und dennoch zog ihm der Artikel den Boden unter den Füßen weg.

Sein Vater schaute ihn mit ernstem, musternden Blick an, als er das Zittern in den Fingern seines Sohnes bemerkte, der die Zeitung beim Lesen fast zerriss – und nichts anderes hätte dieses Klatschblatt wohl verdient.

Als er fertig war, faltete er sie stattdessen fein säuberlich zusammen, sehr kontrolliert, zog die Falzkanten nach und legte sie vor sich auf den Tisch, schob sie in mit beiden Händen in die Tischmitte. Sein Blick war unfokussiert, sein Teint blass, seine Lippen fast blutleer.

Und er schien kaum zu atmen.
 

„Shinichi.“
 

Yusaku sprach ihn an, mit leiser Stimme.

Er hatte den Artikel heute morgen gefunden – oder besser gesagt, der Artikel hatte ihn gefunden. Wie jeden Tag hatte eine Auswahl an Zeitungen neben dem Frühstücksbuffet gelegen; der Grund, warum er sich entgegen seiner Gewohnheit heute intensiver damit beschäftigt hatte als sonst, waren die Blicke des Personals gewesen.

Es war schließlich bekannt, dass er sein Vater war.
 

Yusaku Kudô hatte seine Frau mehr oder weniger sitzen lassen, war zu Heiji ins Hotel gefahren, hatte den jungen Mann kurzerhand ins Taxi gezogen und war hierher gefahren – und nun saßen sie beide Shinichi gegenüber, der seinerseits immer noch wie schockgefroren schien.
 

Als er nun aufsah und ihre Blicke sich kreuzten, schluckte Yusaku hart. Heiji neben ihm war aufgestanden, durchmaß den kleinen Raum unruhig mit langen Schritten wie ein Panther im zu kleinen Käfig.
 

„Das… war’s dann wohl.“

Shinichi lächelte bitter. Seine Stimme klang rau, und unsicher griff er sich an den Hals.

„Ich denke, nicht einmal ein DI wird noch reichen. Wahrscheinlich kann ich morgen meine Habe in einem Karton abholen. Und das Land verlassen, am besten.“

Er lächelte matt, konnte die Bitterkeit in seiner Stimme nicht verbergen.
 

Warte ein, zwei Stunden, dann wissen es alle.

Dann weiß ganz Großbritannien, dass du drogensüchtig warst.

Und morgen weiß es in Japan auch jeder… ich fürchte fast, das Land zu verlassen allein reicht nicht.

Den Planeten verlassen wohl eher.
 

Langsam ließ er seinen Kopf in seine Hände sinken, knetete mit seinen Fingern seine Haare, atmete langsam ein und aus, versuchte, sich zu sammeln und scheiterte.

Heiji blieb stehen, schaute ihn an.
 

„Haste ne Ahnung, wer diese „Quelle“ sein soll?“
 

Und erst diese Frage schien ihn tatsächlich wieder aufzuwecken. Er hob den Kopf, schaute Heiji ernst an; Verwirrung zeichnete sich in seinem Gesicht ab.

„Wie?“

„Na, se spekuliert hier ja nich‘ wild ins Blaue… sie scheint genau Bescheid zu wiss‘n, das heißt, sie muss Insiderinformationen haben. Aber von wem?“

„Du hast Recht.“

Er strich sich über den Hals.
 

Shinichi leckte sich über die Lippen, die langsam trocken und spröde geworden waren.

„Es muss jemand gewesen sein, der meine Akte einsehen konnte. Es bleiben nur eine Handvoll Leute übrig; außer die Putzfrau hat gestern mal reingeschnuppert, als sie bei Montgomery sauber gemacht hat; die Akte lag auf seinem Schreibtisch.“

Er lachte hohl.

Dann zog er sein Mobiltelefon heraus.

„Montgomery, McCoy, Henderson, Jenna. Zumindest mit ersterem sollte ich reden, es werden eine Unmenge an unangenehmen Fragen auf das Yard...“

Er wurde unterbrochen, als das Telefon in seiner Hand zu klingeln anfing. Als er die Nummer erkannte, stutzte er – hob dennoch ab.
 

„Listen, I don’t know where this woman got that information…”

Shinichi schluckte.

“Hello, Richard.“

Heiji blickte auf – sein Vater unterdessen runzelte nur fragend die Stirn. Shinichi hingegen lauschte mit gerunzelter Stirn seinem ehemaligen Partner bei Scotland Yard.

Er hörte den Mann am anderen Ende der Leitung schnaufen. Lang – und schwer.

„Yeah. Shinichi.“

„Now, please – believe me, I did not let one word slip –…”

“Wow, wait, Richard. Don’t tell me that means, you actually talked to Miss Shelley?”

Stille am anderen Ende der Leitung und ein leises “Crap!“ waren die Antwort.

„Yeah.”

Er knurrte das Wort fast, sein Widerwillen war deutlich zu hören.

“In fact, she visited my office yesterday. Thought she could talk me into blabbing about you and your past by offering me…”

“… the revenge you might desire. Or not. It’s not up to me to judge this…”

Er konnte die Bitterkeit in seiner Stimme nicht ganz vertreiben. Henderson schien sie nicht zu hören – oder sie geflissentlich zu ignorieren.

“I told her to leave. I told here that I am an officer of Scotland Yard and would not climb my career ladder over your back. She left.”

“Ah.”

Er fing die fragenden Blicke Heijis und seines Vaters ein.

“So you are suggesting that she looked for another source.”

“Yeah. Listen, I won’t blame anyone here, but have you talked to Jenna yet…?”

“Jenna?”
 

Shinichi schluckte hart.

„No way…“

Er hörte, wie sein früherer Partner zögerte, wusste, er zerstörte sich gerade seinen gekämmten Schnurrbart, weil er bei Situationen, die ihn in eine emotionale Zwickmühle brachten, immer mit den Fingern in den struppigen Haaren suchte, ganz so, als könne er die Antwort daraus hervorzaubern.

„Listen. I am very well aware that we are not best buddies at the moment. But I think, you are in a situation that does not allow you to not pursue every hint and every trace there is. Talk to her. Talk to everybody.“
 

Ihm schwirrte der Kopf; einerseits glaubte er nicht, dass Richard ihn anlog; andererseits wollte er auch nicht glauben, das Jenna etwas erzählt hatte. Noch dazu, wo sie bis gestern zumindest von seiner Drogensucht nichts gewusst hatte, und also auch, wenn überhaupt, erst seit gestern nach dem Studium seiner Akte oder einem Gespräch mit Montgomery davon wusste.

Andererseits war Henderson, unabhängig von McCoy, schon der zweite, der ihn auf ihre Fährte setzte.
 

Warum?
 

Er schüttelte den Kopf, unwillig.
 

„Does Montgomery already know?“

„Yeah.“

Er hörte, wie sich sein ehemaliger Partner räusperte.

„He’s boiling anger like a kettle of water on fire. Actually, he’s the one that told me to call you. At the moment he’s questioning Jenna, anyway. Wants to find out how and where this Information leaked out, and actually, he wanted to me not only to confirm to you that it wasn’t me, but actually to ask you, whether…”

“I have in my anger turned into a whistleblower. Yeah, sure. Tell him to…“

Er verdrehte die Augen und verkniff sich, was er sagen sollte.

„Tell him, I am still angry because of yesterday. But not yet angry enough to ruin both my life and my career on this entire planet. Despite this – the article does not actually read like a confession of an addict, does it?”

“No; but you know the yellow press. And I take it, you’ve more than once encountered that woman. I guess, she’s not so neat with…”

“Sticking to the truth. Yes. Ah, no, she isn’t, I mean. Well. Have fun investigating who was that mole in your backyard, then. Goodbye.“

Damit legte er auf. Shinichi ließ die Hand sinken, starrte eine Weile blicklos auf das leise tutende Handy, bis das Zeichen, dass der andere Gesprächsteilnehmer aufgelegt hatte, erstarb.
 

Er legte auf, schnaubte.

„Nicht zu fassen.“

Yusaku hob beredt eine Augenbraue, kommunizierte seine Frage, ohne sie aussprechen zu müssen; Heiji gestaltete seine Äußerung weniger subtil.

„Die glauben net im Ernst, dassde selber dieser Skandalnudel von einer Reporterin…“

„Skandalnudel?“

Shinichi hob eine Augenbraue, lächelte matt, indem er müde einen Mundwinkel hochzog, strich sich die Stirnfransen aus dem Gesicht, fahrig. Yusaku musterte ihn wortlos.

„Glaub mir, ich hätt ganz andere Namen für sie, aber das lässt meine gute Erziehung net zu.“

„Gute Erziehung?“, echote Shinichi erneut, brachte seinen Freund damit endgültig auf die Palme.

„Sag mal, was denkste eigentlich, wer de…!“
 

„Ist da was dran, Shinichi?“
 

Die leise, nichtsdestoweniger ernste Stimme des Schriftstellers riss die beiden aus ihrem kurzen Wortgefecht.

„Was, bitte?“, entgegnete Shinichi gereizt.

„Dass ich dieser Pressetussi…“, er brach ab, warf Heiji einen schrägen Blick zu, der bissig lächelte, „und ja, auch ich denke gerade noch an meine Kinderstube, erzählt hätte, was damals passiert ist? Dass ich ne Substitutionstherapie gemacht hab? Klar. Nein.“

„Das meinte ich nicht.“

Yusaku schluckte hart, sah seinen Sohn dennoch ruhig in die Augen.

„Du weißt, wofür ich diesen Artikel halte. Und du weißt, dass ich immer hinter dir stehe. Aber du musst zugeben, dass einige Dinge, über die sie da schreibt, nicht von der Hand zu weisen sind. Dinge, die sie erst dazu gebracht haben dürften, nachzuforschen, über dich.“
 

Shinichi erbleichte, merkte, wie seine Hände kalt wurden.
 

„Du willst nicht im Ernst sagen, dass…“, begann er leise. Heiji horchte auf; den Tonfall kannte er bei Shinichi nicht, und er ahnte, dass er ihn auch lieber nicht kennen lernen wollte. Der Blick des jungen Mannes war starr geworden, seine Stimme unterkühlt, und er schien fast die Luft anzuhalten.
 

„Nein. Aber kannst du ausschließen, dass man es dir verabreicht hat, ohne dass du es merkst?“
 

Der suspendierte Superintendent schluckte, schaute dann weg; eine Weile antwortete er nicht, sondern starrte gedankenverloren aus dem Fenster, knetete seine Finger. Als er schließlich sprach, war seine Stimme merklich ruhiger geworden.
 

„Du weißt, wer unter mir wohnt?“, fragte er schließlich leise, während er sich seinem Vater wieder zuwandte. Yusaku lächelte verschmitzt.

„Ich schon. Anscheinend du jetzt auch.“

Shinichi nickte geschlagen.

„Seit gestern.“

„Und wie kommst du darauf…?“, setzte Yusaku an, ehe er von Heiji unterbrochen wurde, der zwar bis jetzt geduldig geschwiegen hatte, dem nun aber so langsam der Kragen platzte.

„Sagt mal, könntet ihr eure Geheimsprache beenden und…“

„Sharon.“

Shinichi hob den Kopf, schaute seinen Freund sachlich an, der hinter seinem Stuhl stand und die Rückenlehne festhielt.

„Was bitte?“

„Wer bitte.“, korrigierte Shinichi ihn und fuhr fort, ehe Heiji ihn unterbrechen konnte.

„Aber ja. Sharon. Du hast mich richtig verstanden.“

Yusakus Blick haftete immer noch auf seinem Sohn.

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Weil sie mir die gleiche Frage gestern schon stellte.“
 

Shinichi ließ sich zurücksinken, seufzte lange, betrachtete seine schmalen Hände, rieb sich über die Finger.

„Ich hatte gestern einen… nennen wir es… kurzen Blackout.“

„Du bist umgefallen?“

Heiji zog sich den Stuhl zurecht, ließ sich auf die Sitzfläche fallen.

„Ja.“ Unwillig verzog Shinichi das Gesicht.

„Ich meine, wen wundert‘s. Es war ein furchtbarer Tag, gestern, nach nicht wirklich viel weniger schrecklichen Tagen davor, ich hab wenig geschlafen, wenig gegessen, viel gearbeitet und viel nachgedacht und gestern bin ich einfach… heimgekommen und…“

„Ohnmächtig geworden.“

Yusaku schaute ihn an.

„Shinichi…“

Der hob die Hand, schüttelte den Kopf.

„Ich hab… geträumt.“

„Halluziniert“, unterbrach ihn sein Vater; während in seinen Augen die Sorge wuchs, schien sein Sohn nur gereizter zu werden.

„Nenn es wie du willst“, fauchte er, merkte doch, dass seine Anspannung nur von einer Angst herrührte; der Angst, dass wirklich etwas dran war.
 

Dass er schon wieder nicht mehr allein Herr über seine Gedanken war.
 

Heiji starrte ihn an.

„Und?“, murmelte er leise.

„Und was?“, seufzte Shinichi, fingerte an seiner Uhr, schluckte.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich es wissen will. Und ich weiß nicht, wie – ich meine, ihr müsst mir glauben, ich hab garantiert nicht selbst – ich würde nie – nie wieder will ich…“
 

Abhängig sein.
 

„Das weiß ich.“

Yusaku schluckte.

„Aber wenn du das Gift intus hast, solltest du dir Klarheit darüber verschaffen. Und wer überhaupt…?“

Shinichi zuckte mit den Schultern.

„Lass das bitte meine Sorge sein. Abgesehen davon - ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wer ein Motiv hätte. Ich meine… sowohl Henderson als auch McCoy haben ihre Vermutung schon geäußert, wer mir vielleicht etwas anhängen wollen könnte; allerdings das in Bezug auf meine Karriere, nicht bezüglich meiner… Gesundheit.“
 

Heiji wusste sofort, auf wen Shinichi anspielte.
 

„Sie meinen, Jenna hätte dir das Diamorphin in die Schublade gesteckt und dich bei der Presse verpfiffen?“ Ungläubig riss er die Augen auf. Shinichi nickte nur kurz, währen Yusaku ihn fragend anschaute.

„Jenna ist meine Partnerin bei Scotland Yard.“, er lächelte müde.

„Jenna Watson.“

Der Schriftsteller lachte kurz auf.

„Und wie war euer Verhältnis?“

„Hervorragend.“

Shinichi, der immer noch auf seine Uhr gestarrt hatte, hob den Kopf.

„Wirklich gut. Im Ernst.“

Heiji nickte bestätigend.

„Mag se auch. Helles Köpfchen, und scheint eigentlich…“, er grinste kurz, „im besten Sinne um dich besorgt zu sein.“
 

Shinichi seufzte laut.
 

„Ich mag’s auch nicht glauben. Aber ich wäre ein schlechter Ermittler, würd ichs ausschließen. Aber wie…“

„Konfrontier se.“
 

Heiji fixierte ihn starr.

„Du weißt, das klappt am Besten. Ich bin mir eh fast sicher, sie wird dich heut noch heimsuchen. Spätestens nachdem se die Zeitung gelesen hat. Vielleicht seh ich sie hernach noch, dann schick ich sie dir gleich vorbei – ich muss mich jetzt dann mit Kogorô noch treffen, wir sollen noch einen Abschlussbericht verfassen. Und dann wollen die Mädels einkaufen gehen, und ich nehme an, es ist dir Recht, wenn ich…“

„Ein Auge auf sie werfe. Ja bitte.“

Shinichi nickte langsam, massierte sich die Schläfen.

„Ich nehme an, du gehst zurück in eure Hotel?“, fragte er, an seinen Vater gewandt.

„Versuch, sie ein wenig zu beruhigen, ich nehme an, sie hat den Artikel sicher auch schon gelesen. Sieh zu, dass sie nicht gleich loszieht um diese Schnepfe von einer Reporterin zu finden.“

Er grinste schief, stand langsam auf. Yusaku seufzte, erhob sich ebenfalls, folgte ihm und Heiji zur Tür.

Und gerade, als er die Tür öffnete, um die beiden in den Flur zu verabschieden, erschallte die Türglocke erbarmungslos laut direkt über ihren Köpfen.
 

Draußen, mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Türklingel gepresst, ihr Blick entschlossen auf eben jenen Knopf gerichtet, stand… Jenna.

Ihr Kopf war hochrot und mit nervösen Flecken übersät, ihre Haare standen wirr, als sie ihn anblickte, erschrocken – Indiz dafür, dass sie offenbar bis gerade eben in ihrem Mini gesessen hatte und sich die Frisur zerzaust hatte auf der Suche nach den richtigen Worten.

Sie zitterte merklich, hörbar sogar, als die Seiten der Zeitung in ihrer Hand raschelten. Sie war bleich, ihre Lippen zusammengepresst zu einem schmalen, blutleeren Strich, ihre Augen rot und glasig. Er konnte nicht sagen, ob sie geweint hatte; sicher war, sie war erschüttert.
 

Und noch sicherer war – egal, wer ihm etwas Schlechtes wollte; sie war es nicht.
 

„Sir…“, begann sie mit zitternder Stimme, merkte, wie sie versagte, als sie die beiden Männer hinter seinem Rücken bemerkte.

„I… I don’t know why I am here, actually. I am sorry. I am for sure disturbing you. I’ll better leave. Please…“

„Don’t be stupid.“, meinte Shinichi ruhig, trat zur Seite und griff sie am Ärmel ihrer Jacke, um sie hereinzuziehen.

„They were already leaving. And don’t call me Sir, Jenna.“
 

Er verabschiedete seinen Vater und Heiji mit einem kurzen Nicken, drückte dann die Tür hinter ihr zu, bedeutete ihr, ihre Jacke auszuziehen. Sie stand da, schien fast ein wenig geschockt, nun tatsächlich hier zu sein; sie war noch nie in den vier Wänden ihres Vorgesetzten gewesen, und unter normalen Umständen wäre ihr nie eingefallen, ihn daheim zu besuchen. Allerdings, nachdem sie heute die Zeitung gelesen hatte und den Tumult in der Arbeit erlebt hatte, hatte sie es nicht mehr länger ausgehalten.
 

Sie musste sie wissen. Die Wahrheit.
 

Und zwar von ihm selbst.
 

Ungelenk zog sie sich die Jacke aus, ließ zu, dass Shinichi sie am Garderobenhaken aufhängte, schluckte hart, die Zeitung immer noch in ihren verkrampften Fingern.
 

„As for the reason why you are visiting me, Jenna – I guess, it is not too daring to assume it has something to do with that paper in your hand. Especially with one certain article. One prominent fact. You want to know whether if it’s true ore not.“

Jenna schluckte.

„Montgomery has… indicated yesterday that you had… contact with…“

„Drugs.“

Das Wort klang laut und scharf in ihren Ohren, auch wenn seine Stimme nicht lauter geworden war, auch nicht eisiger oder härter. Im Gegenteil; er schaute sie ruhig an.

Wie immer.
 

„Yeah. Drugs.“, murmelte sie leise.

„And that paper says, you had a substitution therapy, and I am so sorry, but I…“

“Yes.”, unterbrach er sie kurzerhand.

„What, yes…?“, kroch es ihr langsam über die Lippen, obwohl sie die Antwort wohl schon kannte.

„Yes.“, wieder holte Shinichi leise.

„Yes, I was an addict. And yes, I had to undergo a substitution therapy. But I guess, a bit more context would be useful for you to understand in what kind of situation I’ve been back then – and in what great a mess I seem to be now. So please, do come in. I think, it’s about time to talk straight.”
 

Sie seufzte, während sie an ihm vorbeitrat, wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen. Er schloss die Tür hinter sich.

„In fact, I came to ask you some questions. And no. I haven’t read your personal file, though Montgomery strongly recommended that.“

Sie schlüpfte aus ihren Schuhen.

Dann bemerkte sie seinen Blick, als sie sich wieder aufrichtete, schluckte hart.

„I wanted to hear your explanation. I wanted to hear it from my partners lips.“

Shinichi kniff die Lippen zusammen.

„If this is indeed the case, you should definitely take a seat, Jenna…“

Er strich sich über die Haare.

„Would you like to have a cup of tea? People say, a cup of tea solves every problem. Well, at least, helps solving problems. Besides… we are in England.“

Ein kurzes Lächeln strich ihm über die Lippen, brachte sie dazu, es zu erwidern.
 

Ein paar Minuten später saßen sie zu mit einer Tasse Tee vor sich am Tisch in Shinichis Wohnzimmer.
 

„Nun.“

Er schluckte.

„You already know quite a lot. You know about my case, you know that I’ve vanished for about ten days. And as you are a clever girl and an officer of Scotland Yard, you might have been counting one and one together and are assuming that this incident is likely to have occurred at that time. I was their hostage; they have crossed our plans to destroy them. Our plans, that means, my plan – and the plan of the FBI.”
 

Jenna hob erstaunt die Augenbrauen, sagte jedoch nichts.

„Our intention was to push them into self-destruction. We wanted them to grow nervous because of fake news of them being uncovered and unveiled. We wanted them to make mistakes. We had planted a nice little computer virus into their system; this programme spread those false information while smuggling out names, data, addresses of their headquarters and so on straight towards the servers of the FBI. It went… well, at first, despite my capture, which was part of the plan. But of course, they did not want to just sit down, wait and drink tea until the FBI would run their walls, no. They planned their counterstrike, and to aim it precisely, they wanted information from me. I did not intend to give it freely.”
 

Er schaute auf seine Hände, die auf der Tischplatte ruhten, flach und ausgestreckt.
 

„That was the very beginning.“

Shinichi schluckte.

„They had caught me, but they did not figure out what I had done while roaming their place. They did not know that the rumours were faked. They panicked. They wanted to find out what I knew. And as I was not very willing to provide the information they asked for, they started to treat psychopharmaka on me.“

Er starrte in seinen Tee, sah Jenna nicht an, als die Erinnerung an diese Zeit in Fetzen vor seinem inneren Auge auftauchten und wieder verschwanden; er hörte nur, wie sie die Luft einsog; und anhielt. Ihr entsetzter Blick brannte auf seiner Haut.

„It was called HLZG 0405.“

Zögernd hob er den Blick, sah in Jennas nussbraune Augen, die ihn abwartend anblickten. Mitgefühl und Angst sah er darin.

Angst vor dem, was er ihr erzählen würde.
 

Und in diesem Moment ging ihm auf, dass sie beide ihre Partnerschaft mittlerweile wohl weit über eine rein berufliche Zusammenarbeit gehoben hatten.
 

Sie brachten ihn nicht zurück in seine Zelle.
 

Und als er nun wieder aufwachte wusste er, er war in der Hölle angekommen.
 

Shinichi seufzte, kratzte sich gedankenverloren am Handgelenk.
 

„First came some sort of dumbness in my arms and legs. Then I blacked out, right into some sort of… euphorical trip. After this I would wake up again, with a clear mind, at first; this was when they tried to make me talk. Shortly after came the withdrawal – some sort of hallucination of the worst kind, accompanied by physical symptoms and more fever dreams; after this, it began all over again.”
 

Er hielt kurz inne.

„I never told them anything, at least not voluntarily. But I… fantasized. And at some point, I called her name. Ran’s. They caught her, brought her into their quarters. The plan was to ask me in front of her.”
 

Sie saß da, als man ihn hereinführte.

Shinichi, den man gerade noch mehr den Gang entlang gezerrt und gezogen hatte, als dass er freiwillig und aus eigener Kraft hätte gehen können, erstarrte auf der Stelle, fühlte, wie sich scheinbar jeder einzelne Muskel in seinem Körper versteifte, mit dem festen Willen, so zu bleiben, offensichtlich.

Zu Stein erstarrt.
 

Und er lachte nur.
 

Wie immer stand er im Gegenlicht, weder für Ran noch für ihn war sein Gesicht erkennbar – Anokata.

Gin stieß ihn ins Zimmer, mit einer Wucht, die ihn taumeln ließ. Er stolperte und stürzte unter ihren Blicken, rappelte sich wieder hoch.
 

„Setz dich doch.“

Shinichi schluckte, atmete schwer. Sein Blick glitt zu Ran, die ihn ansah, mit schier unermesslicher Furcht in ihren blauen Augen. Ihr Gesicht sprach von Schock, ihre ganze Haltung von Angst und Entsetzen.
 

„Setz dich… sagte ich.“

Shinichi wandte sich um, langsam. Dann ging er zu dem Stuhl, ließ sich nieder, wehrte sich nicht, als man ihm die Hände an die Lehne fesselte.
 

Er hatte dieses Spiel verloren.
 

„Ich habe mich bereits ein wenig mit unserem Gast unterhalten. Ein sehr höfliches Kind, muss man bemerken. Und ausgesprochen hübsch – für die Tochter eines verkappten Detektiven, immerhin.“

Shinichi verbiss sich den Kommentar.

„Also…“

Gin trat hinter Ran, wohl auf ein unsichtbares Zeichen von ihm.
 

„Du weißt, was wir wissen wollen. Ich finde es müßig, diese Fragen jeden Tag aufs Neue zu wiederholen. Du siehst nun, wer hier ist – und weil ich dir diese Fragen nicht mehr stellen will, wird sie es tun. Und für jede falsche Antwort… oder gar Verweigerung…“
 

Shinichi wandte sich nicht um, schaute auch Ran nicht an, starrte nur stur geradeaus, ließ seinen Blick sich irgendwo in dem Quadratmeter Luft vor seiner Nase verlieren.
 

„Für jedes Mätzchen, das du machst, wird sie es sein, die dich bestraft. Lügner müssen bestraft werden, das siehst du doch genauso.“
 

Shinichi zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

Er wagte kaum, den Blick zu heben, tat es doch – sah die Träne aus ihrem Augenwinkel laufen, als sie ihn ansah, in ihren Augen diese eine, unausgesprochene Frage.
 

>Warum hast du es mir nicht gesagt… Shinichi?<
 

„Nun gut. Wenn ich dich bitten dürfte, meine Liebe. Vielleicht zeigt er sich dir gegenüber mitteilsamer.“
 

Ran nahm mit zitternden Fingern ein Blatt Papier, das Gin ihr hinhielt. Ihre Lippen bebten, als sie die erste Frage vorlas.

„Wo ist Sherry?“

Sie sah auf, verwirrt.

„Wer oder was ist Sherry, Shinichi? Und wer… wer sind diese… was hast du…“

Shinichi schüttelte hilflos den Kopf.

„Ich dachte, sie hätten sich dir vorgestellt. Das hier ist der Grund… warum ich mich die letzte Zeit über so wenig gemeldet habe. Das hier… ist der Fall, Ran.“
 

Langsam sah er auf, blickte ihr in die Augen.

„Ich wollte… dass du nicht in Gefahr gerätst, deshalb habe ich dir nichts erzählt – das… klappte gut, bis… jetzt.“

Er stöhnte auf, leise, unterdrückt. Ran warf ihm einen beunruhigten Blick zu.

„Und Sherry… ist ein ehemaliges Mitglied dieser Organisation. Sie versteckt sich. Sie haben ihre Eltern und ihre Schwester umgebracht… und sie werden auch sie umbringen.“
 

Er lächelte bitter.
 

„Aber was soll ich machen… wenn ich es ihnen nicht sage, dann…“

Shinichi sah sie an, Verzweiflung lag in seinen Augen; sie sah ihm an, dass er in einer Zwickmühle steckte.
 

Ran schaute ihn an, in ihren Augen ein schwer zu deutender Anblick.

„Hat sie verdient, dass du sie beschützt, Shinichi…?“

Er sah sie an.

„Sie ist… kein schlechter Mensch.“

Unwillkürlich rang er nach Atem, schluckte hart, spürte Rans fragenden Blick auf sich ruhen.

„Dann darfst du ihnen nicht sagen, wo sie ist.“

Sie beugte sich vor, ohne dass jemand sie hindern konnte – strich ihm über die Wange, sacht.
 

„Denn seien wir ehrlich… wir sind beide hier und sie werden uns nicht gehen lassen.“

Ihre Stimme zitterte kaum.

„Da… sollten wir versuchen, ein anderes Leben zu schützen, wenn es in unserer Macht steht.“
 

Shinichi starrte sie an, sein Herz raste, schlug ihm bis zum Hals und schien viel zu viel Blut auf einmal in sein Hirn zu pumpen.
 

„Ich liebe dich, Ran…

Das… das ist es, was ich dir unbedingt noch sagen wollte…

Egal wie das hier endet, ich… liebe dich…“
 

Dann sah er Gin, der auf ihn zutrat.
 

Spürte zwei Hände, die ihn am Kragen packten, hochrissen und gegen die Wand drückten – sein Kopf prallte unsanft gegen die gekachelte Mauer – und der kurze, scharfe Schmerz riss ihn in die Realität zurück.

Erschrocken schnappte er nach Luft, blickte desorientiert um sich, suchte nach ihr.

Aber Ran…

Ran – war nicht da.
 

>Was habt ihr mit ihr gemacht? Wo ist sie?!<
 

Seine Gedanken rasten durch seinen Kopf, doch ehe er sie artikulieren konnte, spürte er Gins Unterarm, der ihm die Luftröhre abdrückte, als er sich gegen ihn lehnte.
 

„Du hältst dich wohl für besonders schlau. Warte nur, wir kriegen dich schon noch zum Reden – sie sollte bald da sein…“
 

Shinichi starrte ihn an, als sich die Wahrheit langsam in seinem Kopf manifestierte.
 

>Wovon redet er? Von Ran etwa?<
 

„Wir werden ja sehen, ob sie in Wirklichkeit auch so ein Samaritergen hat wie du. Und ich bin gespannt auf das, was du zu erzählen hast, wenn du zusehen musst, wie wir…“
 

Den Rest hörte Shinichi nicht mehr. In seinem Kopf kreiste nur ein Gedanke wie im Karussell, ließ ihn sich auf einmal seltsam leicht und schwerelos fühlen.

Losgelöst. Euphorisch.

High.
 

„Ihr habt sie nicht…“, wisperte er leise, lachte dann.
 

Ran war nicht da. Wirklich nicht da.

Noch nicht, zumindest.

Das was er gesehen hatte, war nichts weiter als ein weiterer Fiebertraum gewesen, ein neuer Versuch, ihn mürbe zu machen.
 

„Du hast keinen Grund zu lachen, Detektiv.“

Gin spukte ihm das Wort ins Gesicht. Shinichi grinste nur, schnappte nach Luft.

„Ich denke schon.“
 

Er schloss die Augen, atmete aus, langsam. Ein winziges Lächeln lag auf seinen Lippen, als er die Genugtuung spürte, nichts verraten zu haben.
 

„Nein, ich denke nicht…“

Tief und zufrieden schmiegte sich diese Stimme in sein Ohr.

Die Stimme des Bosses.

Shinichi, der gerade dem Drängen der aufkeimenden Ohnmacht nachgeben hatte wollen, fuhr jäh hoch, merkte, wie sich jeder seiner Muskeln verspannte, hielt den Atem an, unwillkürlich.
 

„Schließlich hast uns nun endlich dein ach so gut gehütetes Geheimnis verraten, Kudô…“
 

Er bekam davon nichts mehr mit. Sein Bewusstsein glitt ohne weitere Gegenwehr zurück in das dunkle Loch, aus dem man es gerade gerissen hatte.
 

Er schluckte.

„As I proved to be a very tough nut which was not likely to break anytime too soon, they decided to confront me with her. They knew from my dreams that I had… someone I loved. They staged her… arrival, I do not know how they did it. I dreamt it up, I guess, they told me that they had her, pretended a questioning and that was enough for me to hallucinate the rest. I was… quite a few days already within their walls and well… you know how drugs work.“

Er wischte sich über die Stirn.

„Well. I mentioned her name, then, and it was not very difficult for them to proceed from there. They found her, and they caught her.”
 

Kurz hielt er inne, nahm einen Schluck Tee, biss sich auf die Lippen.

„It was in one of those waking hours. She did not realize what was wrong with me.“

Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte.

„Her capture was rather short, but…“
 

Er lag auf dem Boden, zitternd und schwitzend gleichzeitig, seine Augen verdächtig glänzend.

Ran hätte ihn fast nicht mehr wieder erkannt, als sie die Tür öffneten, sie hineinstießen. Sharon blieb hinter ihr stehen, eine Hand auf ihrer Schulter, als Gin und Wodka zu ihm hintraten, ihn hoch zogen.
 

„Bist du wach? Schau an, wer da ist!“
 

Der Blick aus seinen Augen, als er sie erkannte, erschütterte sie ins Mark.

Das heiser gewisperte „Nein!“ aus seinem Mund, kaum zu hören und doch voller Angst und Entsetzen ließen bei ihr keinen Zweifel mehr übrig, dass sie beide in großen Schwierigkeiten steckten.

„Weiß der Boss schon…?“, fragte sie leise.

„Nein.“

Gin drehte sich um, ließ Shinichi los, der sich mit Mühe an der Wand aufrecht hielt.

„Aber gleich. Solange können sich unsere Turteltäubchen voneinander verabschieden…“

Er lachte, drehte sich zu Shinichi um.

„Na – dir ist das Grinsen wohl vergangen?“, wisperte er leise – so leise, dass nur Shinichi es hörte.

„Wart nur ab… das wird ein sehr amüsanter Tag noch werden mit euch zwei…“
 

Damit ging er – Vodka folgte ihm.

Sharon war die Letzte die die Tür schloss – sie warf ihm einen langen Blick zu, den er müde erwiderte.
 

Er hatte die Hoffnung aufgegeben.
 

Und so stand sie nun vor ihm, Ran.

Lebendig und wunderschön und voller Angst.

Und er wusste, er würde sie nicht einmal in die Arme nehmen können, weil er kaum selber auf den Beinen stehen konnte. Langsam ließ er sich mit dem Rücken an der Mauer zu Boden gleiten – Ran tat es ihm gleich, blieb neben ihm sitzen.
 

„Es tut mir Leid…“, wisperte er dann langsam, wischte sich mit kalten Fingern den Schweiß von der Stirn.

„Das ist meine Schuld… du bist nur hier wegen mir…“

„Shinichi… was haben die mit dir gemacht?“

In ihrer Stimme klang Sorge und Beunruhigung. Sie streckte ihre Hand aus, strich ihm über die Stirn, spürte die Feuchtigkeit unter ihren Fingern. Er war patschnass geschwitzt.

„Shinichi, was ist das… was haben sie dir angetan…?“

Er war ihrem Blick ausgewichen, hatte nur den Kopf geschüttelt.

„Das spielt jetzt keine Rolle mehr, Ran…“

Reuevoll schaute er sie an – wollte ihr sagen, was er angestellt hatte. Wer er gewesen war. Dass es ihm Leid tat.
 

Dass sie jetzt sterben würden.

Weil er einen Fehler gemacht hatte.
 

Er sah auf.

„The fact, that there was no questioning that day, that nothing more happened, was sheer luck. It had absolutely nothing to do with my… brilliance.

Er spuckte das Wort förmlich aus, wie einen ekelhaften Geschmack, der einem auf der Zunge lag. Unsicher lehnte er sich zurück, sah sie an, mit diesem Blick.
 

„We could not have sat there for the quarter of an hour, I just wanted to tell her how I got into that mess, when it began. A loud, high-pichted tune. A siren. It was the alarm.“
 

Er sah auf, die Lippen aufeinandergepresst.

„And we could her them, running, their footsteps were overhead and underneath us, everywhere – they all fled, driven by panic and fear. The black rats left the sinking ship. The good news for us – the alarm unlocked all doors. Ours included.“
 

Shinichi atmete durch.

„Later on I realized it must have been Sharon sabotaging the system, she was always so fond of Ran… I guess she did not want her to get hurt. I gripped her hand, ran out with her, straight into Sharon’s arms, and she took her outside. I ran back.”
 

Shinichi hielt inne, Jennas entsetzten Blick auf sich spürend, sah auf. Müde wischte er sich mit der Hand übers Gesicht.
 

„I needed to know who he is.“
 

Er schluckte.

„That sounds insane, I know. But I needed to know whom I was to thank for all of this. And I saw him, standing amidst the inferno. At the end of a hallway, a black silhouette surrounded by an ocean of fire, flames licking with burning tongues at his legs and hands. I did not wait to see what would happen to him. I only heard him… laugh.“
 

Tief holte er Luft.

„I didn’t know why he was laughing at all – I don’t know it down to the present day. I just heard the explosion and took to my heels, ran for my life. The boss had inducted the self-destruction mechanism, the whole building collapsed, nothing should remain to tell about the organisation, no matter if dead or alive.“

Er rieb sich über den Nasenrücken.

„I found Ran some time later in a little alley; and there they had already been waiting for us. I… realized too late that this had been their plan all along. They led us flee, destroyed everything so that the FBI would not find anything. The must have known that Sharon was about to change sides, I cannot imagine that she had been planning this with them. They sensed that the FBI was close on their heels, but they would not let us go without a decent goodbye. And this was the moment they let my darkest nightmares come true.“

Shinichi hob beide Hände, massierte sich die Schläfen, um seinen Kopfschmerz in Schach zu halten, der während der letzten Minuten angefangen hatte, seinen Kopf zu zerlegen, schluckte hart.

„I mean, I was a wreck. Ran fought… bravely, but she had never had a chance against Gin. He stabbed her with that sword, and left her with me… promisining me he would come back one day to deal with me as well.“
 

Unwillkürlich wischte er sich über die Augen, fuhr sich übers Gesicht. Spürte seltsam kühle Haut und Feuchtigkeit unter seinen Fingern und verfluchte sich und diese Organisation einmal mehr.

„She died in my arms, stopped breathing. I did not know she could be revived in hospital; her father told me she was dead and… I left. I did not look back. Wasn’t able to look anywhere for the next weeks.“

Er rieb sich das Handgelenk.

„The memories I have from these days are very vage. They are mainly impressed by my fever dreams. I know my parents did not waste time, they took me to LA, tried to help me.”

Shinichi seufzte, als seine Gedanken zurückdrifteten zu jenen Tagen, in denen die Realität an ihm vorbeigezogen war wie ein Stummfilm mit Bildrauschen.
 

„They tried a substitution therapy. With diamorphine. That’s why this fact is on my record. I was treated officially.”
 

Langsam hob Shinichi den Kopf.

„I never took drugs deliberately or voluntarily. And I never had a relapse. But nevertheless, I am regarded as an ex-addict.“
 

Laut seufzte er. Jenna schaute ihn nachdenklich an. Einige Momente zogen an ihnen vorüber, in denen keiner sprach. Shinichi sah ihr an, dass er ihr mächtig zu denken gegeben hatte; Jenna studierte ihre kurzgeknabberten Fingernägel, ihre Augenbrauen trafen sich fast in der Mitte.
 

„That‘s…“, begann sie schließlich, presste ihre Lippen kurz aufeinander.

„… an exciting story.“

„Indeed.“

Er seufzte leise. Sie wandte sich um, sah ihn fest an.
 

„Then… somebody has…“, sie bemerkte seinen Blick, lächelte kurz, „… smuggled that flask of heroine into your desktop drawer?“

Langsam nickte Shinichi, blickte auf, sah in ihre braunen Augen.

„Yeah. And do you know that there are persons who believe that you did it?“

Jenna schrak auf, starrte ihn an. Dann atmete sie ein, langsam, versuchte, den Schock zu verdauen.
 

„Do you believe this?“
 

Shinichi schaute sie musternd an, schwieg kurz.

„Would I have told you all of this, if I did?“, bemerkte er schließlich leise, der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen.

„No, to be honest, I don’t believe that you are involved in this. But we have to face the fact that there really is someone within the walls of Scotland Yard who wants to give me a bad name. More than that. Besides…“

Er nickte auf die Zeitung, die Jenna immer noch in ihrer Faust hielt, „someone musst have been blabbing out.“

Jenna hob die Augenbraue.

„Your file was in Montgomery’s bureau. It’s not locked, just like you never lock yours. Everybody could have gained access, so why not she, as well? I heard she had a little chat with…“

„… Henderson, yes. He already called me, reassuring me that he was not the one to tell about my past. But even if you are right, I don’t think that she put that flask into my bureau. That has to be someone else. A member of Scotland Yard.“
 

Jenna nickte bedächtig.

„Does Montgomery know about…“

„The HLZG? For heaven’s sake, no. And I won’t tell him. Never.“
 

Shinichi stand auf, schüttelte den Kopf, trat ans Fenster und blickte gedankenverloren über die Stadt, ehe er weitersprach.

„This, Jenna, was the darkest chapter of my life, and only a very few persons know the full story – most of them only hear the text with blackened parts…“, er lächelte bitter über sein eigenes Wortspiel.

„You know the full version and I take it for granted that you remain silent about this…“
 

Dann schaute er Jenna wieder an.
 

„The way you look at me tells me that this was not the only reason you came to visit me. Am I correct?“
 

Jenna nickte langsam mit den Kopf. Ihre Miene war ernst geworden.
 

„Yes – you are.“
 

Kapitel 39: Alte Allianz

KAPITEL 39 – ALTE ALLIANZ
 

„No.“
 

Jenna schüttelte den Kopf, seufzte leise.

„This was not the only reason. That’s quite right.“

Sie seufzte.

„First, I really wanted to know the whole truth. I mean, being confronted with the fact that your partner and boss, whom you have considered brilliant and flawless“, sie wurde kurz rot, „is been suspended because of drug misuse. That costed me two third of my night’s sleep.”

Sie zog die Augenbrauen zusammen.

„I wanted to know what’s right and what’s wrong of all the rumours I’ve heard…“

Sie schluckte.

„…bevore telling you the latest developments.“
 

Shinichi schaute sie überrascht an.

„But Jenna, you mustn’t tell me anything. I am suspended. Off duty...“

Sie bemerkte, wie ernst er sie anschaute.

„If you keep providing me with information about actual cases you are risking your job…“
 

„The picture is gone.“
 

Er brach abrupt ab.

Dann schüttelte er den Kopf.

„Honestly, Jenna, you shouldn‘t…“, begann er ein letztes Mal, unüberzeugt. Er war zurückgesunken in seinen Stuhl, in seinem Kopf drehte sich alles.

„You know what that means.“, unterbrach sie ihn unnötigerweise, schaute ihn ernst an.

Shinichi seufzte, hielt sich den Kopf, verzog das Gesicht.

„I’m afraid, yes, I know what that means.“, murrte er dann leise.

„That means, they – whoever „they“ are – have already their fourth victim along with its matching decoration. Possibly they don’t need Brady anymore…“
 

Er hob den Kopf, legte ihn schief, schaute Jenna nachdenklich an.

„But four? Which colours have we already seen?“

Ungelenk fischte er sein Mobiltelefon aus seiner Jackentasche, klickte sich zurück zu den Bildern aus Merediths Näheckchen im Atelier ihrer Wohnung.

Das Foto einer Stoffprobensammlung war zu sehen.

Shinichi legte das Smartphone auf den Tisch, schob es zu Jenna.
 

„But there are five colours. Black, anthracite, grey, light grey and …“
 

„White.“
 

Jenna zog die Augenbrauen hoch.

„What if the white fabric is only hanging there for comparison? She must have done the dyeing of the silk herself, the store I’ve been visiting is only selling natural wild silk.”

Sie beobachtete, wie seine Augenbrauen zusammenrutschten – unbewusst stützte er sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch auf, legte die Handflächenaneinander und stützte sein Kinn auf seine Daumen, berührte mit den Zeigefingern seine Nasenspitze. Ein leicht Pfeifendes Geräusch entstand, als er langsam ausatmete.
 

„Possible. But we can’t be…“

„… sure. No.“
 

Er verdrehte die Augen.

Sie lehnte sich zurück, betrachtete ihren Partner nachdenklich – ehe sie hochfuhr.

„Ah – something else has happened today. Brady’s attorney was here today. He was to be questioned by myself and McIntosh today…“

„McIntosh?!“, warf Shinichi entrüstet ein, war hochgefahren.

„Why on earth did Montgomery…“

„Don’t be upset.“

Jenna lächelte schmal.

„That the two of you are not best buddies was clear to me within the first couple of seconds when I heard him talk about your work. But that is not what should be of interest for you – McIntosh really did nothing. Literally. To be plain, nobody did anything. The attorney has explained to us very politely that his client is denying his assertion and withdrawing his confession-…“, sie bemerkte, wie Shinichi sich versteifte, er sie mit starrem Blick anschaute, „… furthermore he wants to file a complaint against you; he is maintaining that you’ve forced his confession without the presence of his lawyer yesterday. Brady had been confessing as he was terrified by you, that’s how he put it.”

Shinichi starrte sie immer noch an – und Jenna fragte sich, was in seinem Kopf wohl gerade vorging. Ärger, wahrscheinlich. Eventuell auch etwas Nervosität, so ein Disziplinarverfahren war schließlich…
 

Lautes Gelächter ließ sie aus ihren Gedanken schrecken.

Verblüfft starrte sie ihn an.
 

Shinichi hatte sich zurückgelehnt und zu lachen begonnen – es war kein freudvolles Lachen, viel mehr durch und durch getränkt mit einer ordentlichen Ladung Sarkasmus – dennoch schien er bei weitem nicht so beunruhigt von der Aussicht auf ein Disziplinarverfahren wie sie es wäre, hätte man ihr gerade diese Ankündigung gemacht.

Fragend zog sie die Augenbrauen hoch – und er seufzte, schüttelte dann den Kopf.

„Jenna, if the mastermind behind this whole desaster is the man I am suspecting, this complaint is my smalles problem. Despite – I am suspended anyway. What else is there to come? A dismissal? Good lord…“

Er strich sich über die Augen.

„Honestly? After this article today, after all this mess these last days, I don’t care. This job was my life to long anyway, I’m afraid. I have entirely lost my sight of the world outside…”

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

„And if it comes to my dismissal, I’ll have to write crime novels like my old father…“
 

Er ging in die Küche, um sich ebenfalls ein Glas Wasser zu holen.
 

„But do tell me – where did that attorney come from? Had he already been assigned to a duty solicitor?“

Jenna nippte an ihrem Glas.

„No. I don’t thing so – this guy just looked to spick and span for this.“

Shinichi zog die Augenbrauen kraus, seine schlanken Finger um das Wasserglas gelegt, die die Brechung unvorteilhaft deformierte. Kurz beobachtete er das Phänomen, dann schaute er zu Jenna auf.

„Spick and span?“

„Jap.“

Sie seufzte, merkte, wie ein Schauder ihr vom Kreuzbein die Wirbelsäule hinaufkroch, auf seinem Weg wie mit kleinen, kalten Fingern all ihre Härchen einzeln aufstellte, bis er unter ihrem Haaransatz angekommen war und dort ein unangenehmes Kribbeln verursachte.

„Sharp-edged, pale face, long, silvery-blonde hair bound in a pony-tail, eyes steel-blue and cold. Freezing, really. I couldn’t believe he was an attorney at all; despite knowing that many of them look and behave like sharks. But how Brady could afford a man like him, I cannot tell. Perhaps he has a patron?“

Sie schaute unkonzentriert auf die Tischplatte, sah nicht, wie blass ihr Vorgesetzter geworden war.

„I couldn’t even tell if he was a foreigner or not; he spoke perfect, accent-free English, but he seemed alien nevertheless. He had an appearance like a lotus leaf…”

“Lotus leaf?”, murmelte Shinichi fragend, schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Yeah. Everything I said and every look I shot him just seemed to pearl off him.“
 

Ihre Stimme war leise geworden – und als sie aufsah, erschrak sie. Shinichi saß ihr gegenüber, sein Blick unfokussiert, sein Atem flach.
 

„Long, silvery-blonde hair, yes?“, wisperte er leise.

„Yes.“

„A dark, sonor voice, not uncomfortable for your ear, but making every word sound like a hidden threat? A linkish smile, left corner of the mouth slightly higher than right?”

Jenna nickte.

„Yeah, but how do you know?“

„Jenna, think… a long, silvery-blonde hair…“

Jenna stutzte.

„Oh my god.“
 

Jennas Kinnlade klappte nach unten.

„Don’t tell me…?“
 

Shinichi schüttelte den Kopf, lächelte schmal.

„I don‘t.“
 

Er rieb sich über die Stirn, merkte, wie es dahinter wieder sachte zu pochen anfing.

„Have you, by any chance, a picture? Do you remember his name? Just to make sure…“

„No picture. But his name, of course.“

Sie atmete kurz durch.
 

„Jinsuke Kuro.“
 

Das Glas glitt aus seinen Fingern, stürzte um und hinterließ eine Wasserpfütze auf Shinichis Tisch. Bevor es jedoch zu Boden fallen konnte, hielt er das rollende Trinkglas auf, stellte es wieder hin. Die Wasserlache schien ihn gar nicht zu interessieren. Vor seinen Augen lief längst ein ganz anderer Film – Jenna schaute ihn nur an, wagte nichts zu sagen. Sie wusste, wenn er so kuckte, war er mit seinen Gedanken woanders - und sollte dort besser nicht gestört werden.
 

„Ich bin wie James Moriarty, Kudô… meine Fäden spinne ich überall, und wie Moriarty es bei Holmes war, bin ich dir immer einen Schritt voraus. Meine Augen, meine Ohren, meine Hände sind überall… und warten nur auf meinen Befehl…“

Shinichi starrte die Gestalt an, die in der Dunkelheit stand, eine Stimme leise wie das Flüstern des Winds in den Bäumen und kalt wie der sprichwörtliche Hauch des Grabes.
 

„Du hast verloren, Detektiv. Mein Syndikat ist dir weit voraus. Deine kleine Show hier war amüsant, aber nicht mehr. Denn anders als James Moriarty… verfüge ich nicht über nur einen Colonel Moran, sondern über Hunderte. Und sie alle reißen sich darum, meine Befehle auszuführen.“
 

Er trat näher – so nahe, das Shinichi, der kaum bei Bewusstsein war, seinen Atem auf seiner Haut spüren konnte. Er focht gegen die Ohnmacht, weil mit ihr der nächste Traum kam, und er wollte nicht träumen – auf gar keinen Fall schlafen und träumen und diesen Bastarden eine neue Gelegenheit bieten, sein Innerstes zu sehen… und zu hören.

Um es gegen ihn zu benutzen.
 

„Weißt du, einer dieser Morans ist ganz scharf darauf, endlich zu vollenden, woran er vor zwei Jahren gescheitert ist, Sherlock…“

Ein heiseres Lachen streifte sein Ohr – mehr der Hauch als das Geräusch kam in seinem Gehirn an.

„So scharf drauf, dass ich mir nicht sicher bin, ob er nicht auch gegen meinen Befehl handeln würde. Noch wagt er es nicht, aber wer weiß, wie lange dein unbedingter Gehorsam und deine Geduld noch anhalten - was… Gin?“

Er lachte erneut.

„Und ich sage dir, es stört mich nicht einmal. Ich finde es spannend zuzusehen, wie ihr beide euch bekriegt. Wie ein kaum achtzehnjähriger Bengel es schafft, meinen fähigsten Mann so vorzuführen ist erstaunlich erfrischend zu beobachten. Ich mag das.“

Er tätschelte Shinichis Kopf – der daraufhin fast zu explodieren schien. Shinichi stöhnte auf, versuchte, seinen Kopf unter der Hand wegzuziehen.
 

„Ja, wirklich…

Höchst amüsant. Ich würde mir dieses Schauspiel um nichts in der Welt entgehen lassen wollen…“
 

Shinichi schnappte nach Luft, schaute sie an.

„Kuro, you say?“

Jenna nickte.

„Yeah. Has the name a meaning?“

Shinichi lächelte bitter.

„Kind of. Kuro means „black“ in Japanese. Did you do a background-check on that attorney, anyway?”

Sie schüttelte den Kopf.

“Well, then do it. Just for fun, and send the result to Montgomery immediately, I’d die to see his face then…“
 

Müde massierte er sich die Schläfen.
 

„What’s Kogorô doing now?“

Jenna seufzte leise.

„Waited for Heiji to complete their report. In Montgomery’s eyes this case is closed. He’s literally purchased them their ticket back home to Japan, to be frank.“

Shinichi nickte langsam.

„Not especially surprising.“

Dann räusperte er sich aufgeräumt, knetete kurz seine Hände.

„And you should be back, too, Jenna. I don’t want you to become suspicious to your boss… while I have to talk to some guys, I think.“

Sie schaute ihn an, fragend.

„Guys…?“

Das breite Lächeln, das nun auf seinen Lippen erblühte, irritierte sie.

„You’ll see soon enough, Jenna.“

Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust.

„I’m curious to find out what they’ll say about attorney Jinsuke Kuro.“
 

Dann hielt er inne.

Vor seinen Augen flackerte die letzte Nacht auf – und gesetzt der Tatsache, dass es sich bei Moran wirklich um den handelte, den er dahinter vermutete, erschien ihm Sharons Verdacht in ganz neuem Licht.
 

„Ich denke nicht, dass dein… kleiner Blackout hier vom Stress kommt.“
 

Er schluckte, starrte auf den Wasserfleck, der langsam ins Holz zog und es dunkel färbte.
 

Was, wenn sie Recht hatte… und mein Vater auch…
 

Ihm wurde schlagartig übel. Zu deutlich war die Erinnerung an das Gift, das ihn fast Leben und Verstand gekostet hatte. Sein Herz begann zu rasen, seine Handflächen zu schwitzen, als seine Gedanken sich seinen Weg durch diese schauderhafte Wahrheit bahnten.
 

Was, wenn sie wirklich da sind.

Wenn man mir das Gift untergeschoben hat… in kleinen Dosen.

Oral, vielleicht. Wenn einer von Ihnen im Yard rumläuft…

So, dass ich es nicht gleich merke, es abwiegle…

Bis es…

Solange, bis es eine Konzentration erreicht hat, die…
 

Scharf zog er die Luft ein, wobei ein leicht pfeifender Ton entstand. Jenna schaute ihn irritiert an, wartete jedoch ab. Sie sah, wie es in ihm arbeitete und wollte ihn nicht unterbrechen.
 

Aber wie weise ich das nach?

Wie kann ich mir sicher sein… ich hab hier ja kein Labor.

Und die Symptome sind noch nicht eindeutig genug…
 

Er riss seinen Blick vom Wasserfleck, schaute auf – geradewegs in Jennas Gesicht.
 

Richtig. Hier habe ich kein Labor.
 

Hier nicht.
 

Woanders aber…
 

Er schluckte hart.

Und er haderte sichtlich mit sich, ehe er seinen nächsten Satz formulierte.

„Ah. Jenna.“

Jenna, die gerade Anstalten gemacht hatte, ihre Tasse in die Küche zu tragen, hielt inne, sah ihn an. Der Blick, der sie traf, als sie in sein Gesicht sah, verursachte ihr ein mulmiges Gefühl. Langsam ging sie zurück, setzte sich wieder, sagte nichts, wartete, bis er weitersprach.

„Before you go, Jenna, I… You could do me a favour. A rather… extraordinary, favour, though, and if you don’t want to do it, I won’t…”

„Just tell me what it is.“

Sie schaute ihn an, merkte, wie ihre Fingerspitzen kalt wurden. Seine Anspannung fing an, sich auf sie zu übertragen und eigentlich war sie gerade soweit gewesen, den Schock der letzten Neuigkeiten einigermaßen verdaut zu haben.

Er zögerte, biss sich auf die Lippen, wich ihrem Blick aus. Jenna stutzte – sie hatte ihn so nie gesehen. Er rieb sich übers Handgelenk, kratzte unbewusst über seine Haut. Sie beobachtete ihn genau, merkte, wie sich in ihrem Bauch ihr Mittagessen rührte, als sie darüber nachdachte, woher diese Übersprungshandlung kam, schluckte.

„I’ll do anything you want.“

Er atmete aus.

„Well. Would you… would you test a blood sample, in our laboratory? Of course nobody mustn’t take notice what you are up to…”

Überraschung zeichnete sich auf ihrem Gewicht ab, als ihre Augenbrauen zusammenrutschten.

„A blood sample? Whose?“

Langsam atmete Shinichi ein, dann wieder aus.
 

„Mine.“
 

Sie starrte ihn an, unfähig zu irgendeiner Regung.

Als sie das nächste Wort äußerte, glich ihre Stimme eher einem heiseren Krächzen.
 

„What… shall I look for?“
 

Als er sie ansah, lächelte er bitter. Es zeugte von ihrer Loyalität und ihrem Sinn als Polizistin, dass sie nicht sofort fragte, warum.
 

„Psychotropic drugs.“
 

Sie stand auf, wortlos. Dann ging sie in die Küche, wo er kurz Wasser laufen könnte, drehte sich nicht um, als er sie wieder hereinkommen hörte. Sie setzte sich wieder ihm gegenüber, trank mit kleinen Schlucken das Glas Wasser aus, das sie sich geholt hatte, stellte es mit einem lauten „Klonk!“ zurück auf den Tisch, schaute ihn mehr oder minder entsetzt an.
 

„Are you suspectiong yourself to be…“
 

Er ging auf ihre Frage nicht ein, unterbrach sie, ehe sie sie fertig formulieren konnte.

„Listen, this is important. You mustn’t let that sample unattended. If you’ve finished with testing, you’ll have to destroy it. Nobody mustn’t know what… but I’ll need to know if I…“
 

Er wischte sich über die Stirn, fühlte den Schweiß an seinen Fingern. Sein Kopf pochte leise – fast fiel es ihm nicht mehr auf, weil er sich daran gewöhnte, an diesen leisen Schmerz, der nicht verging, stetig auf gleichbleibendem Niveau seine Schmerzrezeptoren strapazierte.

Jenna sah ihn an.

„Do you want to tell me that you afraid of having been drugged without noticing it? But how?“

„I don’t think at all. If I knew anything specific, I would not have to ask you for this favour. But I am afraid that I can’t exclude it – I mean, somebody has managed to put a flask of heroine in my desk’s drawer, without me taking notice of it. So, please, Jenna, are you going to do this? You are the only person within Scotland Yard that I am trusting at the moment…”
 

Lange schaute sie ihn an, stumm.

Dann nickte sie nur – nicht mehr, und nicht weniger.
 

„Yeah, sure, but… how are we going to get that blood sample…?“

Er lächelte, winkte ab.

„Shouldn’t be a problem, we don’t need much…“

Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf, ging kurzerhand in die Küche, kam zurück mit einem Obstmesser und fischte eins der Beweismittelröhrchen und einen Beutel aus seiner Tasche, sowie ein Heftpflaster.

„Well, we won’t have a forensic valuable sample, but that’s not our aim. If you can’t see blood, you should not look at this, now…”, meinte er gelassen, als er sich setzte.

Kurz und scharf war der Schmerz, den er spürte, als er sich über die Kuppe seines rechten Zeigefingers ritzte, aber er verzog keine Miene dabei.

Er presste seinen Finger gegen seinen Daumen, um ein paar Tropfen Blut herauszuquetschen, die er in das Röhrchen fallen ließ. Jenna schluckte hart, als sie ihm dabei zusah – ein wenig weiß war sie tatsächlich um die Nase geworden. Er verschraubte das Fläschchen ruhig, ließ es in das Beutelchen fallen und verschloss es gewissenhaft. Genauso ruhig klebte er sich das Heftpflaster um den Finger und reichte ihr sein Beweisstück, ehe er das Messer zurück in die Küche trug.

Als er wieder kam, saß sie immer noch da, das Beweismitteltütchen in ihren Händen, biss sich auf die Lippen – dann ließ sie es in ihre Aktentasche gleiten, zog stattdessen einen Umschlag heraus.
 

„Ah, well. I thought, you’d like to think about this case a bit. I have copied your files and added the latest reports and photos.“

Sie reichte ihm das dicke, große Kuvert. Er nahm es entgegen, seufzte leise, schaute sie resignierend an.
 

„Honestly, Jenna, what have I been teaching you? How to lose one’s job most effectively? I hope nobody saw you copy these…”

Sie winkte ab.

„Nobody cares about me, you know that.“

Damit stand sie auf, ein bitteres Lächeln war auf ihre Lippen getreten.

„And fort he first time in my life, this is my big advance. I’ll call as soon as I have the results – or other news.”

Shinichi erhob sich ebenfalls, begleitete sie zur Tür.
 

„Take care, Jenna.“
 

Mehr sagte er nicht – sie schaute ihn nur an, erwiderte nichts. Ihre Antwort konnte er in ihren Augen lesen.
 

Sie war kaum gegangen, als sein Telefon klingelte. Verwirrt schaute er auf die Nummer, die ihm das Display zeigte – er kannte sie nicht.
 

„Kudô Shinichi?“, meldete er sich mit ruhiger Stimme, wartete gespannt auf die Reaktion seines Anrufers.

„What’s the newspaper is telling us? Case closed and Sherlock on holiday?”

Blacks Stimme klang ruhig, wenn auch milde erstaunt an sein Ohr.

Shinichi seufzte leise in den Hörer.

„Concerning Scotland Yard this is the story they want the public to believe. The bitter truth is that I was suspended because…”

Er schluckte, hielt inne. Bitter schmeckte der Gedanke, dass man ihm so wenig Vertrauen entgegenbrachte bezüglich der Geschichte in seiner Akte, immer noch.

Noch bitterer der, dass man ihm nicht glaubte, was den Fall betraf.
 

„… they found a… little bottle of diamorphine in the drawer of my desk.“
 

Die Stille, die folgte, war fast zum Schneiden dick.

Dann dröhnte ein lautes Räuspern an Shinichis Ohr, das den nächsten Satz gebührend einleitete.

„Is there something you want to tell me, Shinichi?“
 

Shinichi verdrehte die Augen, lächelte schmal, ehe er zu einer knappen Antwort ansetzte.

„Yeah. It’s not mine.“

Erneut entstand Stille im Äther, als der alte Brite seine Schlüsse zog.
 

„Well, that’s good news – but bad enough, though. Seems, you have a serious problem, more serious, than we could’ve expected. Is there any chance you have a little time for a little talk between four eyes?”
 

Shinichis Lächeln wurde zunehmend zynisch. Es war immer wieder faszinierend, wie der Engländer es schaffte, Sätze wie „Schwing deinen Hintern sofort hierher und rück endlich raus mit der Wahrheit!“ so unendlich diplomatisch und formvollendet höflich zu formulieren.
 

„What do you expect? I’m on holiday, so I have plenty of time. I expect you would prefer the cosy ambiance of your hotel room for our chat?”
 

“Precisely.”
 

Etwa eine halbe Stunde später saß er gegenüber von James Black, fand sich von dessen hellen Augen fast geröngt.
 

Jetzt weiß ich mal, wie sich das anfühlt.
 

Ein paar Minuten waren bereits in völligem Schweigen vergangen – sie hatten sich vom Zimmerservice Kaffee bringen lassen, und geduldig gewartet, bis der junge Page gekommen und wieder gegangen war.
 

Langsam griff er nach der feinen Porzellantasse und setzte sie an die Lippen – ganz seinem Stand gebührend residierte Black in einem der nobelsten Häuser Londons. Shinichi ließ seine Blicke über die schlichte, aber exquisite und geschmackvoll zusammengestellte Einrichtung schweifen.

„Also. Wann wolltest du uns denn von deiner Suspendierung erzählen, Shinichi?“

James Blacks Stimme klang ruhig – Shinichi wusste dennoch, dass der Mann mit seiner Geduld einigermaßen am Ende war. Seine Selbstkontrolle war es einzig und allein, die ihm einen harscheren Ton verbot.

„Du trommelst uns zusammen und speist uns mit der halben Wahrheit ab. Was ist passiert?“

Shinichi seufzte – dann setzte er langsam die Tasse zurück auf den Unterteller, ehe er mit knappen Worten schilderte, was sich gestern zugetragen hatte – von der Festnahme Bradys bis zu seiner Suspendierung.

Wegen seiner Entscheidung, ihn tags zuvor laufen zu lassen.

Wegen seines Zweifels, was dessen Täterschaft betraf.

Wegen des Funds von Diamorphin in seiner Schreibtischschublade.
 

Als er geendet hatte, räusperte er sich, trank seinen Kaffee in einem Zug aus.
 

„Sie wissen, was in meiner Akte steht. Diese…“

Black schaute ihn ernst an.

„Hat man einen Drogentest gemacht bei dir? Ein negativer Test könnte doch sofort widerlegen…“

Shinichi fuhr hoch.

„Nein.“

Er merkte, wie er zu schwitzen anfing unter den kalkulierenden Blicken des Agenten.
 

„Du scheinst nervös.“
 

Shinichi wischte sich über die Stirn. Von seinem Verdacht hatte er ihm eigentlich nicht erzählen wollen – allerdings hatte er wohl für einen kurzen Moment vergessen, wem er gegenübersaß.

Einem leitenden Agent vom Federal Bureau of Investigation.
 

„Willst du nicht endlich mal mit der ganzen Wahrheit herausrücken? Muss ich dir wirklich alles aus der Nase ziehen?“

Shinichi zögerte.
 

„Diese Vermutung in den Raum zu stellen ist aber nicht ganz ohne. Offen gestanden… wäre das eine Katastrophe. Und spräche nicht gerade für meine Fähigkeiten als Ermittler…“

Ein zynisches Grinsen war auf seine Lippen gekrochen, verzog sie zu einer Grimasse, die sich jedoch schnell auflöste, als er mit ernster Stimme weiter sprach.
 

„Ich… bin mir nicht sicher, bitte bedenken Sie das. Und ich habe Beweise für nichts - weder für die Anwesenheit der Organisation, noch für die… Vermutung, die ich jetzt äußere.“

Er schluckte hart, merkte, wie trocken sein Mund schlagartig geworden war.
 

„Seit… ein paar Tagen, vielleicht… zwei oder drei… bemerke ich… Veränderungen.“

Blacks Augenbrauen rutschten zusammen.

„Changes? Where? And what kind of changes do you mean?“

„An mir.“

Shinichi massierte sich die Schläfen.
 

„Kopfschmerzen. Zunehmende Müdigkeit. Unruhigen Schlaf. Letzte Nacht… ein Alptraum. Und ich weiß…“

Er ließ die Hände wieder sinken, löste seinen Blick von der Tischfläche, auf der er bis gerade geklebt hatte, schaute dem Agent unsicher ins Gesicht.

„… ich weiß, dass das aus den Umständen resultieren kann. Aus der Tatsache, dass ich nicht wusste, dass Ran noch lebt und jetzt überfordert bin mit der Wahrheit – nämlich fünf Jahre umsonst durch die Hölle gegangen zu sein, gepaart mit der Angst, dass ihr erneut etwas zustößt. Aus der Größe dieses Falls, der Tatsache, dass sich der Täter kaum fassen lässt, dem Druck, der auf mir lastet, weil sie mir hier diesen Namen aufdrücken…“

Er lächelte bitter.

„Gott, was war ich früher geehrt, wenn man mich so nannte. Geschmeichelt. Hab mir die Zeitungsausschnitte ausgeschnitten und gesammelt. Und heute könnte ich ihn verfluchen…“
 

„Sherlock Holmes.“
 

Black sah ihn an. Shinichi nickte müde.

„Die Vergangenheit holt mich ein und die Gegenwart wirft mir auch ein paar harte Brocken zu kauen hin. Es wäre kein Wunder, wenn mein Körper mich langsam darauf aufmerksam macht, dass er das auf Dauer nicht mehr mitmacht. Dennoch… und bis heute morgen wollte ich es nicht glauben…“
 

„You think you were poisoned.“
 

James Black ließ sich zurücksinken.
 

„Why now? Why not yesterday?“
 

Shinichi seufzte.

„I doubted my conclusions. I still don’t know whether I am right or not, playing the Black Organization card in this game.“

Er schaute auf.

“Sie wissen, was ich dachte, sonst hätte ich Sie nicht gerufen. Ich glaubte die Organisation hinter all dem. Das lange helle Haar, das man gefunden hat, das schwarze Kleid, die Ähnlichkeit des ersten Opfers mit Ran, der Geruch von Gin in der Champagnergondel des London Eye, das… Foto… und Jenna meinte, Brady’s Anwalt habe Ähnlichkeit mit Gin. Allerdings, sie hat Gin nie gesehen, und ich habe diesen Anwalt nicht gesehen, also...“

Er schluckte hart.

„Also… was beweist das? Ich habe keinen von Ihnen gesehen. Auch wenn ich mir einbildete, Gins Schatten bei Bradys Festnahme gesehen zu haben weiß ich doch nicht, ob mir nicht meine Wahrnehmung einen Streich spielte. Das alles machte mir unser Pathologe gestern klar. Und ich musste zugeben, er hatte nicht Unrecht. Im Yard nahm man meine Befürchtung nicht ernst; Montgomery glaubt, ich wäre einfach überarbeitet, und würde Gespenster sehen – bestenfalls. Im schlechtesten Fall meint er, ich bin wieder süchtig.“
 

„Shinichi…“
 

Der schüttelte den Kopf.

„Ich hab mich mit Ran gestritten, weil ich sie wieder angelogen habe. Ich…“

Er schluckte.

„Es spielt keine Rolle, ob Sie’s nun wissen oder nicht, weil sie es ja jetzt weiß – also warum sollte ich es Ihnen nicht sagen. Der Mann… der mir damals erzählt hatte, dass Ran tot ist, war ihr eigener Vater. Kogorô Môri.“

Mit kalten Fingern wischte er sich übers Gesicht, schaute in seine leere Kaffeetasse. Er hörte und sah keine Regung von James Black, aber er ahnte, dass dessen Blick ernst, starr und unverwandt auf ihm lag.

„Sie wissen, ich war… lange bei den Môris. Und ich dachte, unser Verhältnis hätte sich verbessert. Ich habe ihm geglaubt, ohne wenn und aber. Ich dachte nicht, dass er mir das antut… dass er mich so anlügt. Deshalb hab ich nie nachgefragt, nie nachgeforscht. Für mich war das Fakt.“
 

Er schüttelte den Kopf.
 

„Gestern fand sie heraus, dass ich sie angelogen habe vor ein paar Tagen, als ich ihr sagte, ich wüsste nicht, wer mir das gesagt habe. Ich wollte nicht, dass sie ihrem eigenen Vater misstraut. Ihrer Mutter. Ich wollte keinen Streit in ihrer Familie säen, und da ich nicht da sein können werde, um ihr… Halt zu geben, ihr eine neues Familie zu gehben, dachte ich, es wäre klüger, diesen Tod zu sterben und sie ein letztes Mal anzulügen. Nun.“
 

Langsam hob er den Kopf. Ein bitteres Lächeln war auf seinen Lippen erblüht, seine Augen dunkel von Trauer.
 

„Diese letzte Lüge war eine zuviel.“
 

Er räusperte sich.

„Wir haben uns gestritten und sie hat mich stehen gelassen. Und nach diesem desaströsen Tag fuhr ich dann heim – und fiel einfach um. Ich hatte Kopfschmerzen und mir war übel, und ich weiß, ich hatte einen Fiebertraum… aber ich…“
 

„Jetzt weißt du nicht, ob einfach nur die Umstände deinen Zustand verschulden oder ob man dir tatsächlich etwas untergeschoben hat.“
 

Black starrte ihn an.

„Wo könnte denn…?“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Sie wissen, dass diese Frage eine rhetorische ist. Es gibt nur einen Ort, wo man mir konstant etwas hätte unterjubeln können.“
 

Ein langes Seufzen gab ihm die Antwort.
 

„Du weißt also nicht, ob man in einem Test nicht wirklich etwas finden könnte, und deswegen hast du ihn auch nicht vorgeschlagen, um dich zu entlasten.“

Shinichi nickte müde.

„Um ehrlich zu sein… und ich soll ja ehrlich sein… habe ich Jenna heute drauf angesetzt. Sie wird eine kleine Probe heimlich testen.“
 

Black schaute ihn alarmiert an.

„Kannst du ihr denn trauen? Ich meine, wenn du vermutest, dass du einen Feind im Yard hast, könnte dann nicht auch sie…?“

„Sicher.“

Shinichi schaute ihn ernst an, sein Gesicht war blass geworden. Der Gedanke war ihm natürlich gekommen.
 

„Allerdings, wenn ich mich… nicht mehr auf meine Menschenkenntnis verlassen kann bezüglich einer Person, mit der ich nun schon über ein halbes Jahr fast täglich zusammenarbeite, kann ich meinen Job an den Nagel hängen. Abgesehen davon habe ich sie gerade eben erst gesprochen. Allein die Reaktion auf meine Geschichte…“

Er brach ab. Der Brite nickte langsam.

„Gut, wenn du ihr traust, wirst du deine Gründe haben. Uns bleibt also nichts weiter, als abzuwarten. And to drink tea…“
 

„So ist es.“

Der junge Superintendent nickte langsam.

„Well, then. I’ll have to tell Agents Akai and Starling about this news. They, too, will try to find out who’s behind your suspicious attorney and I’ll tell them to have a look at you…” Er erstickte Shinichis Protest mit einem scharfen Blick im Keim, “too. We can’t have you lying half-dead on your living-room floor. What are you going to do in the meantime?“

Shinichi lächelte müde.

„Sie hat mir meine Akten kopiert. Ich denke, mit denen werde ich mich noch einmal beschäftigen, irgendetwas muss da doch zu finden sein. Bis sich an der Front etwas tut, wäre ich froh, ihr habt weiterhin ein Auge auf Ran.“
 

Damit stand er auf, seufzte leise.
 

„Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.“
 

Und ohne auf ein weiteres Wort von James Black zu warten verließ er die Suite.

Kapitel 40: Zeilen aus der Vergangenheit

Kapitel 40 – Zeilen aus der Vergangenheit
 


 

~ Für Ran
 

Er hatte nie gedacht, dass er doch noch dazu kommen würde, ihr diesen Brief zu geben. Unschlüssig saß Yusaku Kudô auf der Kante ihres King-size-Doppelbettes ihres Hotelzimmers, drehte und wendete den Umschlag in seinen Händen, auf dem in der immer etwas hastig wirkenden Schrift seines Sohnes „Für Ran“ geschrieben stand. Yukiko trat näher, schaute ihn nachdenklich an – dass sie den Raum überhaupt betreten hatte, merkte er erst, als sie eine Hand auf seine Schulter legte, sich ihr zartes Parfum in seine Nase schlich.
 

„Was hast du da?“

Sanft klang ihre Stimme an sein Ohr. Als er aufsah, kam er einmal mehr nicht umhin, sich zu wundern – sie war immer noch so schön, wie an dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte – als Schauspielerin in einem Film.

Große, blaue Augen, klar und tief wie das Meer vor Japans Küste, rotblondes, volles Haar das ihr in großzügigen Wellen über die Schultern fiel – zusammen mit dieser frechen Locke, die sich in ihre Stirn kringelte, und sie immer noch so jung aussehen ließ wie vor zwanzig Jahren.
 

Er liebte sie.

Und der Brief in seinen Händen brach ihm das Herz, denn er ahnte, was darin stand.
 

Die Worte, die dein Herz dir diktierte, Shinichi… nicht dein Verstand.

Denn Zeit zum Nachdenken konntest du kaum gehabt haben.
 

Ich hab ihn ihr nie gegeben, weil ich nicht wusste, dass sie lebte… wie du auch, dachte ich, sie wäre tot.

Es wird Zeit, dass sie endlich erfährt, was du ihr sagen wolltest.

Gerade, da du es ihr momentan nicht sagen willst…
 

Du zerstörst dein Leben, Shinichi.

Ich weiß, du ahnst, was dir entgeht… aber wirklich wissen tust du es nicht.

Sonst würdest du sie festhalten und nie mehr loslassen.
 

Er griff nach Yukikos Hand, zog sie neben sich aufs Bett, reichte ihr den Umschlag, wortlos. Sie nahm ihn entgegen, schluckte, als sie die Schrift ihres Sohns erkannte.

„Woher…?“, begann sie, brach ab, als sie bemerkte, dass er sie ansah.
 

„Er hat ihn mir gegeben, an dem Tag, als er in die Höhle des Löwen ging.“

Langsam zog er sich die Brille von der Nase, massierte sich die Nasenwurzel.
 

„Er gab ihn mir mit der Bitte, ihn ihr zugeben, falls ihm was passiert. Ich hab ihn ihr nicht gegeben. Wie du auch wusste ich nicht, dass sie noch lebt. Sonst hätte ich ihn ihr längst geschickt, in der Hoffnung, dass sie ihn endlich zur Vernunft bringt.“
 

Yusaku stand auf, schaute sie an.

„Verdammt, dass sie beide so stur sein müssen! Sie gehören zusammen… aber seit Jahren reden und rennen sie aneinander vorbei. Er stößt sie ständig von sich… und es scheint, als habe er es diesmal geschafft, sie…“

Yukiko seufzte leise.

„Sie hat ihm viel verziehen.“

Er lächelte bitter.

„Aber das wird sie ihm ohne Erklärung nicht verzeihen. Und ich… finde auch, er ist sie ihr schuldig. Er… mein Gott, du hast ihn gesehen, damals. Du siehst ihn heute, Yukiko. Und ich…“

Er zog sie hoch, langsam, legte seine Arme um sie, vergrub seine Nase in ihren Haaren.
 

„Es wird Zeit, dass sie liest, was er zu sagen hatte. Und was er ihr momentan anscheinend nicht sagen will.“

Sacht zog er den Brief aus ihren Fingern, fühlte ihre Lippen an seinem Ohr, als sie ihm einen Kuss auf seine Wange hauchte.
 

„Sie hat ein Recht auf die Wahrheit. Und wie du ja weißt… ist er ja ein großer Fan der Wahrheit.“
 

Langsam ließ er sie los, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
 

„Bis später, Yukiko.“
 


 

Eigentlich hatte sie sich nur kurz frisch machen wollen – nun stand sie unschlüssig in ihrem Zimmer, schaute in ihr Spiegelbild. Die anderen tranken nach dem Shoppingtrip, den sie nun endlich nachgeholt hatten, nach den Wirren der letzten Tage, bereits in der Hotellobby einen Cappuccino – und sie hatte sich kurz abgeseilt, um mal fünf Minuten Zeit für sich zu haben.

Sie hatten Spaß gehabt – es versucht, zumindest. Sie waren die Oxford Street entlangflaniert, hatten ihre Garderobe aufgestockt, hatten geplaudert und getratscht, und Ran wusste, wie sehr sie sich angestrengt hatten, Kazuha und Sonoko zumindest.

Shiho, das ahnte sie, war sauer, auch wenn sie das nie zeigen würde.

Sie war ruhig, wie immer.

Sagte kaum ein Wort, betrachtete sie nur mit diesem nachdenklichen, bohrenden Blick, der jede ihrer Entscheidungen und Worte in Frage stellte, die sie am Vortag getroffen oder gesagt hatte.
 

Und einmal mehr fragte sie sich, was das mit ihr und Shinichi war.
 

Akai war ihnen gefolgt wie ein Schatten – irgendwann hatte sie ihn fast vergessen, so formvollendet hielt er sich im Hintergrund.

Dennoch wusste sie, dass er sie nie aus den Augen ließ.

Sie nicht – und Shiho nicht.
 

Und nun stand sie da, blickte in ihr blasses Gesicht, sah den Glanz in ihren Augen, der sie ein wenig glasig schimmern ließ, sah den verwirrten, zerrissenen Ausdruck in ihnen.
 

Sie wusste nicht mehr, wem sie glauben oder trauen konnte.
 

Seit gestern fühlte sie sich nicht mehr zuhause – nirgends.

Mit ihrem Vater hatte sie seither nicht mehr gesprochen. Denn wenn auch Shinichi viel gelogen hatte – mit einem hatte er Recht gehabt.

Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass ihr Vater mit ihm und auch ihr so umgegangen war. Shinichi war, ungeachtet allen Dingen, die passiert waren, ihr Freund seit Kindertagen, und sie war in ihn verliebt gewesen, schon bevor diese Sache mit Conan begonnen hatte – und sie traute sich wetten, ihrem Vater war das klar gewesen, so abschätzig, wie er sich immer über ihn geäußert hatte.
 

Es schien fast, als habe er nur auf einen Moment gewartet, ihn endlich endgültig aus ihrem Leben streichen zu können – und die Grausamkeit und Konsequenz, mit der ihre Eltern das getan hatten, stieß ihr mehr als sauer auf.

Es stieß sie ab.
 

Sie hatte ihr Handy abgeschaltet, als ihre Mutter zum fünften Mal angerufen hatte – sie hatte keinen Anruf angenommen, denn sie ahnte, sie rief an, weil ihr Vater ihr gesagt hatte, dass ihre Lüge nun aufgeflogen war. Sie konnte einfach nicht mit ihr reden; jetzt zumindest nicht.

Shinichi zu sehen, gestern, diese Hoffnungslosigkeit und Selbstverachtung in seinen Augen zu lesen hatten sie fast ihre Wut auf ihn vergessen lassen.

Das einzige, das sie hatte nicht sofort umfallen lassen, war ihre Enttäuschung.

Und der Schrecken darüber, dass er ein solch großer Lügner war, ein solch kompromissloser Lügner, dass er sich mit seiner Lüge auch noch selbst verletzte.
 

Das war nun fast vierundzwanzig Stunden her – ein ganzer Tag, den sie nun mit dem Gefühl verlebt hatte, dass er für sie Geschichte war.
 

Gestorben war.
 

Shinichi hatte sich nicht gemeldet, mit keiner Silbe.

Sie fragte sich, ob es ihm genauso bescheiden ging wie ihr.

Ja, er tat ihr Leid. Er war suspendiert worden, das musste ihn schwer treffen. Er hatte wahrscheinlich nicht einmal einen Fehler gemacht – in beruflicher Hinsicht nicht.
 

Was sie betraf jedoch sehr wohl.
 

Sie fühlte sich immer noch hintergangen und betrogen. Und dass er sich nicht meldete, keine Entschuldigung oder Erklärung anbot, sich einfach abwandte von ihr und nicht einmal den kleinen Finger rührte, geschweige denn um sie kämpfte, ließ sie sich fragen, wie viel sie ihm wert war.
 

Gut, er hatte gewollt, dass sie von ihm wegblieb.
 

Jedoch… sie glaubte kaum, dass er sich ein solches Ende ersehnt hatte.
 

Das kann nicht dein Wunsch gewesen sein, Shinichi…

Sag mir, warum verhältst du dich so…

Warum benehmt ihr alle euch so…
 

Was denkt ihr euch dabei…?

Verbindet mir die Augen und dreht mich im Kreis, so lange, bis ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, wo links und rechts…

So lange, bis sich alles dreht und ich nicht mehr weiß, was Wahrheit und was Lüge ist.
 

Fest presste sie die Lippen aufeinander, ballte die Hände zu Fäusten.
 

Dass er nicht kam, um sie um Verzeihung zu bitten, um sie zu sehen, um… irgendetwas zu tun, zu sagen… verletzte sie.

Und sie merkte, wie sie weich wurde, wie sie wieder den ersten Schritt machen wollte, weil sie sich angezogen fühlte von ihm wie die Motte vom Licht, weil ihr Herz nach ihm schrie, so laut, dass ihr Verstand fast taub geworden war – was ihn gleichzeitig auch unempfindlicher gegenüber der Stimme ihres Herzens machte.

Ein Teufelskreis.
 

Sie liebte ihn. Immer noch.

Egal wie weh er ihr tat, sie verzieh ihm, immer wieder.

Suchte immer wieder nach Gründen, die ihn rechtfertigten.

Aber etwas verbot ihr, diesmal wieder nachzugeben.

Er war der, der den ersten Schritt machen musste.
 

Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie fast zu Tode erschrak, als sie auf einmal Schritte hinter sich hörte.
 

Sie wirbelte herum, griff haltsuchend nach der Lehne des Stuhls, der vor der Kommode stand in dessen Spiegel sie gerade gesehen hatte, mit der anderen Hand hatte sie einen Parfumflakon gegriffen, bereit, ihn auf ihren Gegner zu schleudern.
 

Mit der Person, die in ihrem Zimmer stand, hätte sie nie im Leben gerechnet.
 

„Hallo, Ran.“
 

Ran atmete aus, merkte, wie die Anspannung, die sie gerade ergriffen hatte, wieder wich.

„Herr Kudô.“

Sie holte Luft.

„Sie haben mich erschreckt…“

Langsam ließ sie ihre Hand sinken, stellte den Flakon wieder ab.

„Das war nicht meine Absicht.“

Sie schloss die Augen kurz, ließ seine Stimme in ihrem Ohr nachklingen. Sie klang der Stimme seines Sohns sehr ähnlich – wenn auch ein wenig tiefer.

Und bei weitem nicht so gehetzt, nicht so unruhig, nicht so gejagt.

„Schickt Shinichi Sie?“, fragte sie dann. Er horchte auf – Ablehnung und Hoffnung gleichermaßen schwangen in ihrer Stimme.

Als sie ihn lachen hörte, schaute sie ihn verwirrt an. Es war ein trauriges Lachen, das seine Augen nicht erreichte, die sie unverwandt anblickten – dunkel, aber voller Zuneigung.

Väterlich.
 

„Gewissermaßen stimmt das sogar, Ran. Allerdings…“

Er wischte sich über die Stirn.

„Allerdings sollte ich diesen Botengang vor fünf Jahren schon machen.“
 

Sie starrte ihn an, hielt die Luft an.

„Du erinnerst dich sicher, er…“

Ran sah ihm an, wie er mit sich rang.

„Wollen Sie sich setzen?“

Sie bot ihm einen der Stühle an, die um einen Tisch gruppiert waren, nahm ihm gegenüber Platz.

„Ich weiß… von Agent Akai, wie er es eingefädelt hat.“, fing Ran seinen Gesprächsfaden auf.

„Sehr… gut.“, murmelte der Schriftsteller gedankenverloren.

„Nun… dann weißt du, dass er… es gemacht hat, damit man erstens… Shiho nichts antat und zweitens, wir alle anderen nicht… in Gefahr gerieten. Er… brachte uns alle außerhalb der Schusslinie, nahm das temporäre Gegengift und wartete darauf, dass sie ihn holten. Ich… sah ihn, kurz bevor…“
 

Er biss sich auf die Lippen.
 

„Er hatte Angst, dass… es schieflaufen könnte. Dass er…“

Ran starrte ihn an, sprachlos.

Akai hatte nichts davon erzählt. In seiner Darstellung hatte er ein toughes Bild von ihm gezeichnet – den selbstlosen Retter, den Draufgänger, den Verfechter der Wahrheit, Shinichi Kudô.

„Gleichwohl sah er keinen anderen Weg. Nicht, um Shiho zu retten… und auch für seine eigene Zukunft nicht. Eure… Zukunft.“

„Herr Kudô…“
 

„Nein, Ran, bitte. Hör mir zu.“

Sein Gesicht verzerrte sich kurz.

„Du weißt, dass er dich liebt. Er hat… manchmal eine seltsame Art, das zu zeigen, das weiß ich. Dennoch… keiner kann dir… besser sagen, wie sehr ihn der Gedanke, dass du tot wärst, zugrunde gerichtet hat, als ich. Er war kurz davor, sich selbst aufzugeben, Ran. Die haben ihn da drin fast umgebracht, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was er danach durchmachte. Was du gesehen hast, als ihr geflohen seid, war nur die Spitze des Eisbergs. Und danach… als er nach Hause kam und ihm der Gedanke klar wurde, er langsam das Ausmaß begriff, was dein Verlust für ihn bedeutete, hielt ihn… hielt ihn fast nichts mehr. Und glaub mir, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag quälte ihn der Gedanke, dass er dich nicht hatte beschützen können… dich nie wieder zu sehen. Dich für immer verloren zu haben. Ran...“
 

Er sah sie eindringlich an. Sie schluckte, schaffte es nicht mehr, seinem Blick standzuhalten, schaute auf die Tischplatte, auf der sie ihre Fingerspitzen plattdrückte, so fest, dass aus ihnen das Blut wich, sie einen leicht gelblichen Farbton annahmen.

„Ich hab ihn gesehen. Tage, Nächte, zerfressen von diesem Gefühl von Schuld, das er sich auflud, jeden Tag eine Schippe mehr, und unter dessen Last er fast zusammengebrochen ist. Die Trauer, der Verlustschmerz, Ran… er dachte, du wärst für immer aus seinem Leben verschwunden, du, die er doch… um jeden Preis, und sei er sein eigenes Leben, schützen wollte. Stattdessen hatte er dich in tödliche Gefahr gebracht, das…“

Er brach ab, schüttelte den Kopf, knitterte den Umschlag in seinen Händen, den er während er sprach aus seiner Sakkoinnentasche gezogen hatte, legte ihn auf den Tisch und strich ihn wieder glatt, als er merkte, was er tat.
 

„Die letzten Jahre hat er nicht gelebt, Ran. Starr, eingefroren, nicht in der Lage, aufzustehen und irgendetwas zu tun, irgendetwas zu denken, so war er, als er ankam, in dieser Nacht, und so war er Wochen danach – und zum Teil ist er das auch heute noch der Zustand, in dem er sich befindet. Er… ich wollte ihn nie so sehen. Und ich wusste nicht, wie ich ihm helfen konnte, wenn er… wenn er…“
 

Er brach ab, merkte, wie dieses Gefühl von Hilflosigkeit in ihm aufstieg, dass sich damals seiner bemächtigt hatte.
 

„Ran, du kennst ihn so nicht, deshalb weißt du nicht, wie du umgehen sollst damit.“
 

Er wartete, bis sie ihn ansah.
 

„Er hat Angst, Ran. Dieses Gefühl ist nicht nur dir vorbehalten.“

Sie merkte, wie ein leiser Schauer sie ergriff.

„Er hat… entsetzliche Angst.“
 

Ran presste ihre Lippen aufeinander.
 

„Du weißt, was Angst aus uns macht. Sie lässt uns nicht mehr klar denken. Dinge sagen, die wir anders meinten. Dinge tun, die wir bereuen. Ran…“
 

Drängend sah er sie an.
 

„Shinichi tut das nur, weil er es nicht überlebt, wenn dir noch einmal etwas passiert. Du bist… der Funke, der sein Feuer am Brennen hält, und als solcher verpflichtet, auf dich aufzupassen, weil du ihn sonst mit dir reißt, Ran, wenn dein Funke erlischt. Er braucht dich wie die Luft zum Atmen. Du kanntest ihn vor fünf Jahren und schau ihn dir jetzt an – sag mir, was blieb von ihm… wieviel von dem Shinichi, der vor fünf Jahren mein Sohn war, existiert denn heute noch…“
 

Yusaku brach ab, merkte, wie seine Stimme kratzig wurde und räusperte sich.

„Ich wünsche mir, was du dir wünschst. Ich will ihn glücklich sehen. Ich will euch beide glücklich sehen. Allerdings ist er wohl etwas schwierig momentan und… es gibt diese eine Sache, die ihn an einer Rückkehr hindert. Du weißt, was ich meine.“
 

Ran holte tief Luft, schaute auf.

„Die Organisation.“

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern.
 

„Richtig.“
 

Yusaku nickte.

„Sie beherrscht sein Denken und Handeln mehr, als er es zugeben will. Er wird immer alles tun, um dich zu schützen, aber vielleicht hindert ihn das manchmal, das zu tun, was er eigentlich tun müsste… und es lähmt ihn, wenn er sieht, dass er dich gefährdet, wenn er agiert. Deshalb musst du ihm den Rücken freihalten und dich fernhalten, wenn er sich in den Kampf stürzt, und dass er das tun wird, wissen wir beide. Er wird das nicht auf sich sitzen lassen… er ist kein Mann der halben Sachen. War er noch nie.“
 

Er seufzte.
 

„Aber du darfst ihn nicht aufgeben, Ran. Bitte gib ihm… diese eine, letzte Chance. Verbau ihm nicht den Weg zurück… oder nach vorn.“
 

Langsam schob er den Umschlag über den Tisch.
 

„Den gab er mir, vor fünf Jahren. Ich sollte ihn dir geben, falls ihm etwas passierte. Ich dachte… du wärst tot, deswegen gab ich ihn dir nie. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ihn liest.“
 

„Was… steht drin?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Das weiß ich nicht. Aber… Ran, bitte versprich mir, rede mit ihm. Ein letztes Mal. Lass ihn… lass ihn nicht fallen.“
 

Ran strich mit ihren Fingern über das Papier.
 

„Sie wissen, dass ich ihn liebe.“

Ihre Lippen zitterten.

„Aber ich… es… ich kann nicht so weitermachen. Ich kann nicht… nicht wenn ich nicht endlich alles weiß.“

Yusaku lächelte verständnisvoll.

„Dann ließ den Brief. Und rede mit ihm. Triff dich mit ihm. Versuch es… bitte nur noch einmal. Dieses eine, letzte Mal.“

Sie schaute auf.

„Aber wird er denn kommen? Er machte nicht den Eindruck, als wolle er seine Meinung ändern. Und ich war… ich war nicht gerade entgegenkommend. Ich hab ihm gestern… den Rest gegeben, wohl, nach der Suspendierung.“

„Lass das mal meine Sorge sein.“

Yusaku lächelte.
 

“Sei einfach… heute um neunzehn Uhr am Big Ben. Ich werde schon dafür sorgen, dass er auch da sein wird.“
 

Damit stand er auf, bedeutete ihr sitzen zu bleiben.
 

„Ich finde allein raus, Ran, mach dir keine Umstände. Ich… danke dir für deine Zeit.“
 

Als er die Türe hinter sich schloss, hörte er das leise Reißen von Papier.
 

Ich hoffe, du fandest damals die richtigen Worte, Sohnemann… momentan ist es ja mit deiner Beredsamkeit nicht so weit her.
 

Damit drehte er sich um, ging langsam den Hotelflur entlang.
 


 

Ran stockte der Atem, als sie die Blätter aus dem Umschlag zog. Es waren insgesamt drei, und sie alle engst beschrieben, beidseitig, mit der immer gleichen, kleinen, regelmäßigen Schrift.
 

Sie hätte sie unter tausenden wieder erkannt, und das, obwohl sie sie jetzt schon seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Unwillkürlich schluckte sie – und merkte, dass ihr Mund seltsam trocken geworden war, sich in ihrer Kehle ein Kloß gebildet hatte. Unsicher leckte sie sich mit ihrer Zunge über ihre Lippen, griff nach der Flasche Wasser, die auf dem Tisch bereit stand und schenkte sich ein Glas ein, leerte es in einem Zug, ehe sie es über sich brachte, die Blätter auseinander zu falten, ihre zitternden Finger über die Zeichen gleiten zu lassen.
 

Tief holte sie Luft – dann begann sie zu lesen.
 

Ran,
 

bitte verzeih, dass ich dir das, was nun folgt, nicht persönlich sage. Eigentlich hättest du es verdient, dass ich dir bei dieser Beichte gegenübersitze – und mir all das anhöre, was du dazu zu sagen hast.

Und ich bin mir sicher, das wäre einiges gewesen, und genauso sicher bin ich mir, dass ich alles davon verdient hätte – jedes einzelne Wort.
 

So… läuft dieses Gespräch nun etwas einseitig ab – aber ich verspreche dir, sollte das, was gerade im Gange ist, und in dessen Getriebe auch ich ein Rädchen bin, auch nur annähernd so laufen, wie ich geplant habe, dann höre ich mir gern alles an.

Und werde es ertragen.
 

Wenn nicht… und das ist wohl wahrscheinlicher der Fall, wenn du diesen Brief liest - dann kennst du jetzt wenigstens die Wahrheit.
 

Als letzte von allen.
 

Der erste Punkt, der dir bitter aufstoßen dürfte.
 

Du wirst dich fragen, warum ich dir das nicht alles viel früher erzählt habe.

Wirst dich fragen, warum ich dir nicht vertraut habe.

Du wirst enttäuscht sein, dass ich dich so angelogen und dein Vertrauen missbraucht habe.

Du wirst dich fragen, ob du dich nicht wirklich in mir getäuscht hast, wenn ich dich schon so täuschen konnte – was meinen Verbleib in den letzten zwei Jahren betrifft.
 

Und all das kann ich verstehen.
 

Denn du hattest Recht mit deiner Ahnung.

Ich… war Conan.
 

Vielleicht weißt du das jetzt schon, hast es von anderen erfahren.
 

Ich würde jetzt gerne sagen, ich hatte keine andere Wahl, als es vor dir geheim zu halten. Das wäre allerdings gelogen und eigentlich wollte ich jetzt ja aufhören damit, nicht? Nach zwei Jahren, in denen ich in einer Lüge gelebt habe, soll jetzt Schluss sein.
 

Mein… erster Impuls war, es dir zu sagen. Gleich, als du kamst, damals, zu Professor Agasa und den kleinen Conan fandest.

Conan… war damals noch keine Stunde alt.
 

Ran schluckte, hielt kurz inne. Man hatte ihr erzählt, dass er Conan gewesen war, ja. Allerdings wusste sie nichts über die genauen Umstände – und wie sie glaubte, wusste darüber wohl keiner wirklich Bescheid.

Sie hatte natürlich darüber nachgedacht – und das Zeitfenster war entsprechend klein gewesen.

Irgendwann zwischen dem Zeitpunkt, als er weggelaufen und sie zurückgelassen hatte mit der Äußerung, doch schon einmal vorzugehen – und ihrem Auftauchen bei Agasa.
 

Sie schluckte, ließ ihre Augen weiter über die Schriftzeiten gleiten.
 

Du erinnerst dich doch sicher daran… wir sind damals ins Tropical Island Rainbow Land gegangen, weil du es dir wünschtest, wenn du Karatestadtmeisterin würdest.

Ich wär auch mit dir hingegangen, hättest du nicht gewonnen… aber das gehört wohl nicht hierher…
 

Wir… hatten an dem Abend viel Spaß, und eigentlich hätt‘s dabei bleiben sollen. Stattdessen stießen wir auf dieses Grüppchen, das mit uns in die Achterbahn stieg – ich muss dir den Fall wohl nicht in Erinnerung rufen.
 

In dieser Achterbahn sah ich sie zum ersten Mal. Ich weiß nicht, ob du dich noch an sie entsinnen kannst – zwei Gestalten, ganz in schwarz gekleidet, der eine hager, groß, mit langen, hellen Haaren. Der zweite kleiner, etwas untersetzt, mit Sonnenbrille.
 

Mir waren sie sofort suspekt – mit diesem Fall hatten sie jedoch nichts zu tun.
 

Ich weiß noch, als der Fall gelöst war standen wir wieder draußen, schlenderten langsam zum Ausgang – und du hast geweint. Du hast wegen ihm geweint, der sterben musste – du hast um das Mädchen geweint, das ihren Freund verloren hatte… und ich traue mich wetten, auch wegen der Täterin hast du geweint, weil sie dir Leid tat. Weil dich ihr Dilemma mitnahm.

Du leidest mit ihnen allen… und am meisten leidest du mit mir.
 

Ran schluckte. Sie konnte die Bitterkeit seiner Stimme fast in ihren Ohren klingen hören.

Die Reue.
 

Ich weiß noch, ich war nicht sehr sensibel. Ich nahm das damals viel gelassener, als ich es heute tue, denn schauen wir der Wahrheit ins Gesicht – ich war ein arroganter Schnösel. Völlig geblendet vom Erfolg, völlig gefangen im Rausch der Suche nach der Wahrheit, des Lösens von Fällen… die Presse, die Aufmerksamkeit, die man mir schenkte verdrehten mir wohl gehörig den Kopf.

Ich sah‘s… zu sachlich, sehr distanziert, sah nur die Herausforderung meiner grauen Zellen und verdrängte ganz gerne das, was damit einherging… menschliche Tragödien.

Immer wenn ich merkte, dass es mich doch packte, versuchte ich, es wegzuschieben.

Ich war nicht schuld daran.

Ich hatte diese Verbrechen nicht begangen.

Ich löste sie nur. Überführte die wahren Schuldigen und glaubte, damit so etwas wie Gerechtigkeit erreichen zu können.
 

Was für ein Humbug.
 

Ran zuckte zusammen, schluckte hart. Ihr war die Zeit damals noch deutlich in Erinnerung… die Artikel in der Zeitung über ihn, die Publicity, die er genoss, die Mädchen, die ihn umschwärmten wie Ameisen einen angelutschten Lolli. Die vielen Liebesbriefe, mit denen er ihr vor der Nase gewedelt hatte, erschienen ihr vor Augen – dennoch, ausgegangen war er nur mit ihr.
 

Um sie dann stehen zu lassen. Sie hatte sich ein wenig verlassen gefühlt. Sie war etwas sauer gewesen und hatte Angst gehabt, um ihn. Sie hatte gespürt, dass etwas in der Luft lag.
 

Dennoch hatte sie immer daran geglaubt, dass sein Einsatz etwas Gutes hatte.

Dass er der Wahrheit half.

Nun stand er hier und sah in seinem Tun keinen Sinn mehr, kritisierte sich und sein Verhalten und verurteilte sich zusätzlich, auch noch seine Freundin im Stich gelassen zu haben.
 

Sie biss sich auf die Lippen, seufzte leise.

Langsam wurde ihr klar, wie sehr er sich wirklich verändert hatte.
 

Ich Hornochse hab dich stehen gelassen, wo du doch weintest. Hab versucht, es abzuwiegeln, und ich schwöre – mit den besten Motiven und dilettantischer Unfähigkeit, ein Mädchen zu trösten.
 

Und dann sah ich einen von ihnen wieder. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie er hinters Riesenrad lief, und setzte im Folgenden meiner gnadenlosen Dummheit die Krone auf – ich ließ dich stehen und lief ihm hinterher.
 

Mein Gott.

Mich packte der Ehrgeiz, die Neugier, ich dachte, du kämst schon klar, und du ahnst nicht, wie es mich… schmerzt, wenn ich daran denke, dass ich dich für einen Fall hab stehen lassen.

Was für ein ignoranter Bastard ich war.

Ich dachte, mein Leben wäre gut so; gewissermaßen fühlte ich mich wohl unbesiegbar, nicht aufzuhalten und ich ahnte nicht einmal im Traum, dass sich daran etwas ändern könnte.
 

Es änderte sich in der folgenden Viertelstunde fundamental.
 

Ran merkte, wie sich ihre Finger ins Papier bohrten. Sie hörte ihn fast nach Luft ringen, als er nach Worten suchte – sie hatte ihn in den letzten Tagen so oft gesehen, wenn er versuchte, etwas zu erklären und die richtigen Worte zu finden, dass sie ihn nun fast vor sich sah.
 

Den Oberschüler, der versuchte, ihr klarzumachen, was passiert war.

Versuchte, zu erklären, warum er ihr so wehgetan hatte.
 

Das, was ich dir nun erzähle… hat keiner je von mir gehört.
 

Ich lief dem Kleineren hinterher, beobachtete ihn, wie er ein Geschäft abwickelte und passte nicht auf, witterte den Fall meines Lebens – tja, den bekam ich. Und zuerst einmal war es der Fall auf meine Nase, aber sowas von.
 

Ich sah ihn einfach nicht kommen…
 

Ihn.
 

Gin.
 

Ran schob den Brief weg, japste nach Luft.
 

Er kam von hinten – ich war so abgelenkt durch das, was ich sah, dass ich ihn nicht hörte. Wie gesagt, ich witterte die Sensation. Den größten Coup meiner Karriere.
 

Das sollte er werden…
 

Ich weiß nicht, was es war. Ein Stock, ein Knüppel…

Ein stumpfer Gegenstand, würden die Forensiker sagen.

Gewalteinwirkung eines stumpfen Gegenstands auf den Hinterkopf.
 

Von den Minuten, die dem folgten, hab ich nicht wirklich viel mitbekommen. Ich hörte sie reden. Ich sah die Grashalme vor meiner Nase und ihre Schuhe.

Sie sprachen davon, dass sie mich loswerden müssten, weil ich sie gesehen hatte, und dass sie mich nicht erschießen könnten, weil vom Fall noch zu viele Polizisten herumlaufen würden. Man hätte den Schuss gehört und sie womöglich geschnappt.

Deshalb… beschlossen sie, ein neuartiges Gift auszuprobieren.

Es wäre im Blut nicht nachweisbar und war am Menschen noch nicht erforscht.
 

Ich konnte mich nicht wehren, ich war von dem Schlag auf meinen Schädel noch halb weggetreten, als sie mir das Zeug in den Mund schoben und mich dazu brachten, es zu schlucken.
 

Dann gingen sie, wollten lieber jetzt als gleich verschwunden sein, und wurden nicht Zeuge dessen, was ihr Gift bewirkte.
 

Ich dachte wirklich, ich würde sterben.

Mit den Details will ich dich verschonen, du hast… mich oft genug gesehen, kurz bevor es wieder losging und ich denke, du kannst dir vorstellen, dass es kein Spaziergang ist, in Minuten um Jahre zu altern oder jünger zu werden und etwa einen Meter und 35 Kilo an Größe und Körpermasse zuzulegen oder zu verlieren.
 

Wie du jetzt weißt, starb ich nicht. Ich war geschrumpft und zu meiner Schande bekam ich es zunächst gar nicht mit.

Zu meiner Verteidigung möchte ich anführen, dass man nicht alle Tage zur Größe eines Zehnjährigen zusammenschrumpft.
 

Nun.

Ich saß im Gras, als die Polizei mich fand. Sie nannten mich Kleiner und redeten… nun… wie mit einem Kind mit mir. Sie kamen mir erstaunlich groß vor… und es erschien mir doch durchaus etwas faul.
 

Allerdings begriff ich erst, als ich auf der Wachstation des Vergnügungsparks mein Spiegelbild sah, was wirklich geschehen war.
 

Ich türmte, lief im strömenden Regen heim – wollte in mein Haus und kam nicht mal bis an die Türklinke hoch.

Wie erbärmlich.

Dann brach der Professor durch die Mauer seines Hauses und seines Gartens, wohl weil eins seiner neuen Experimente in die Luft geflogen war – und nach einiger Überzeugungsarbeit glaubte er mir, wer ich war. Wir gingen also in mein Haus, ich zog mir… passendere Klamotten an, ein erniedrigendes Erlebnis, ich sag‘s dir – aber wenn ich eins an diesem Abend bereits lernte, dann das, dass man sich so etwas wie Stolz nicht leisten kann.
 

Der Professor bläute mir ein, dir nichts zu sagen. Ich sage das jetzt nicht, um mich aus der Verantwortung zu ziehen… hier fing lediglich alles an.

Er meinte es dabei wirklich nur gut mit dir, du kennst den Professor… er ist wie ein Großvater für mich.

Er befürchtete, dass du in Gefahr gerätst, wüsstest du, wer ich bin… denn sobald die Organisation herausgefunden hätte, wer Conan war, wäre wohl keiner von euch mehr sicher gewesen. Hätten sie gewusst, dass ich noch lebte, hätten sie mich nachträglich noch töten wollen… und um mich aus meinem Versteck zu locken, wäre ihnen wohl alles Recht gewesen.
 

Eigentlich war das Humbug und eine reine Panikreaktion… und ganz ehrlich, bei den vielen Menschen, die es hinterher dann wussten, hätte ich fast schon eine Annonce in die Tokyo Times setzen könnten.

Wahrscheinlich wollte er den Personenkreis begrenzt halten, der davon wusste, damit die Gefahr, dass jemand etwas ausplauderte, möglichst überschaubar blieb.

Sicherlich wollte er dich auch schützen… allerdings…

Wenn wir beide ehrlich sind, reichte doch eigentlich deine Freundschaft zu mir, um dich zu gefährden. Ob du da nun vorher wusstest, dass ich Conan bin oder nicht, welche Rolle spielte das…?

Sie hatten dich ja gesehen, mit mir…
 

Ich fürchte, der Grund, warum du nichts wissen durftest, war viel banalerer Natur.

Wir… ich benutzte den Status deines Vaters, um an Verbrecher ranzukommen, in der Hoffnung, möglichst bald an eine Spur zu kommen, die mich zu ihnen führte. Ich brauchte eine Probe des Gifts, um ein Gegengift herstellen zu können…

Deshalb zog ich zu euch.

Und deshalb sagte ich dir nichts. Wollte es zumindest vorerst nicht.

Jeder Plan, es in naher Zukunft zu tun, wurde jedoch am gleichen Abend noch von dir zunichte gemacht, als du auf meine… zugegebenermaßen etwas unsportlich gestellte Frage, ob es in deinem Leben jemanden gäbe, den du liebst… antwortetest,…
 

Ran merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte.
 

…dass ich dieser jemand sei.
 

Ich.
 

Du… hast keine Ahnung, wie sehr ich mir das gewünscht habe. Auch wenn ich weiß, dass… wir damals noch Teenies waren und das alles noch nicht vergleichbar war mit der Intensität, zu der sich dieses Gefühl noch auswachsen sollte – an diesem Abend veränderte ich mich.
 

Mir war klar, dass ich dich beschützen wollte.

Vor jedem körperlichen Leid und auch vor jedem unangenehmen Gefühl.

Ich… ich wollte dich nicht in irgendwelche Unannehmlichkeiten bringen– und eine davon wäre es gewesen, wäre dir klar geworden, wem du dieses Geständnis gerade gemacht hattest.

Und jede Minute, die diesem Zeitpunkt folgte, zählte dazu.

Wie hätte ich bei euch leben können, hättest du gewusst, wer ich wirklich war?

Es wäre anfangs schon schwierig gewesen, spätestens ab London… absolut undenkbar.
 

Ich wollte, dass du glücklich bist und sorgenfrei, möglichst sorgenfrei, heißt das. Ich wusste, du machtest dir Gedanken, wo ich abgeblieben war, aber wir beide wissen… das war nichts im Vergleich zu dem, was du empfunden hättest, hättest du gewusst, mit wem ich mich angelegt hatte und in welchen Schwierigkeiten ich wirklich steckte.
 

Ich wollte meine Probleme um jeden Preis von dir fernhalten…

Und ich schämte mich jeden Tag mehr, dass ich dich und mich erst in diese Situation gebracht hatte.

Zwischenzeitlich wünschte ich mir fast, du würdest mich endlich loslassen oder mich vergessen… du warst so oft so unglücklich wegen mir, dass ich mir manchmal denke, ich kann das alles nie wieder gut machen – ungeschehen machen kann ich es ohnehin nicht.
 

Ich hab dich in vollem Bewusstsein angelogen… und das ohne wirklich guten Grund – die einzige Begründung, dir auf diese Weise weh zu tun ist die, dass ich dich auf andere Weise nicht verletzen wollte… wie paradox ist das.
 

Und nun sitze ich hier und… weiß, in ein paar Stunden geht es los und egal was passiert, es wird nicht mehr in meiner Hand sein. Ich hab den Stein ins Rollen gebracht und seh‘ nun der Lawine zu, die er auslöst…
 

„Und du wusstest, dass sie dich überrollt, nicht wahr, Shinichi…?“, flüsterte sie leise.
 

Und damit du jetzt auch noch den Grund für dieses Schreiben erfährst…

Erzähle ich dir auch noch den letzten Teil der Geschichte.
 

Vielleicht weißt du mittlerweile auch ein wenig über Shiho Bescheid…
 

Ran schluckte.

Jetzt kams. Shiho.
 

Shiho ist ein ehemaliges Mitglied der Organisation. Ihr Name dort lautete Sherry – wie auch Gin und Vodka (der andere Mann) trug sie einen Decknahmen, der an ein alkoholisches Getränk angelehnt ist. Shiho war in der Organisation eine Forscherin – wie auch ihre Eltern, die von der Organisation ermordet worden sind.

Shiho hatte eine Schwester, Akemi… sie arbeitete ebenfalls in der Organisation, war ein eher kleines Licht – und, nebenbei bemerkt, die Freundin von Agent Shuichi Akai.

Sie tauchte eines Tages bei uns auf, du erinnerst dich sicher… sie nannte sich Masami Hirota. Sie war… im eine Milliarde Yen Raub verwickelt. Sie brauchte das Geld, um ihre Schwester aus der Organisation freizukaufen.
 

Ran schluckte hart, blickte auf.
 

Sie starb während der Ermittlungen… ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst. Ich… erkannte, wer sie war, und was ihr Plan war und wollte ihr hinterher, sie davon abzuhalten. Sie… überwältigte mich, sperrte mich ein, und ich kam zu spät… wurde nur noch Zeuge, wie er sie erschoss.

Wie Gin sie ermordete.
 

Shiho… sagten sie davon zunächst nichts. Sie hatten nie vorgehabt, sie laufen zu lassen, zu wertvoll war ihr Können in der Organisation. Als sie erkannte, dass man Akemi umgebracht hatte, beschloss sie sich das Leben zu nehmen.
 

Mit ihrem Gift.
 

Es hatte dieselbe Wirkung wie bei mir – wie du weißt.

Und da sie schon vermutet hatte, dass ich noch lebe (sie statteten unserem Haus Besuche ab, und beim zweiten Mal stellte sie fest, dass die Kinderklamotten weg waren), suchte sie mich.

Und ich… freundete mich mit ihr an. Ich hoffte, sie würde mir helfen können, irgendwann wieder ich selbst zu werden und sie versuchte wirklich alles, was in ihrer Macht stand, um diesen Zustand zu beenden. Ich zwar zuerst noch misstrauisch ihr gegenüber, aber Shiho… ist im Grunde ihres Herzens kein schlechter Mensch.

Eine… geschundene Seele, das ist sie. Jemand, der nie etwas wie Halt und Freundschaft in seinem Leben gekannt hatte.
 

Und ich wollte nicht, dass ihr etwas passierte. Sie hatte genug gelitten in meinen Augen… ich wünschte ihr den Neustart.
 

Aber als man… sie entdeckte, als sie einmal selbst das Gegengift nahm um die Kinder im Wald aus der brennenden Hütte zu retten, fing es an, eng zu werden, und ich wusste, ich musste mir etwas einfallen lassen.

Der erste Coup war der Fall auf dem Bell Tree Express.
 

Der zweite ist dieser hier.

Ich hoffe, du verstehst das nicht falsch. Sie ist für mich wie eine Schwester, wir teilen einiges… aufgrund unseres Schicksals.

Ich häng mit ihr da drin…
 

Ach, wie sag ich das.
 

Es muss ein Ende haben, einfach. Ich ertrage dieses Leben nicht mehr länger, indem ich nicht ich sein kann… und ich ständig fürchten muss, dass Leute, die mir nahe stehen, verletzt werden. Und selbst wenn du mich nach dem hier allen in die Wüste schickst, will ich dir dabei in die Augen sehen können – und zwar ohne, dass du vor mir auf die Knie sinken musst.

Ich will, dass du endlich in Sicherheit bist. Dafür werde ich sorgen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
 

Es muss hart sein für dich, nun zu erkennen, dass ich nicht der bin, den du so lange in mir sahst. Den Ritter in strahlender Rüstung, den Verfechter von Wahrheit und Gerechtigkeit.
 

Ich bin ein Lügner.
 

Ich weiß, ich hab dich bestimmt enttäuscht. Das… wollte ich nie. Ich wollte so gern all das sein, was du ihn mir sahst.

Wahrscheinlich bin ich nichts von dem.

Wahrscheinlich weiß ich selbst nicht mehr, wer ich bin.

Wahrscheinlich spielt es auch keine Rolle mehr, ob ich das weiß.

Ich weiß nur…

Dass ich nun hier und heute sitze und an nichts mehr denken kann außer an dich… weil es in meinem Leben sonst nichts mehr von Bedeutung gibt.
 

Ich hoffe wirklich, du… verstehst, warum ich das alles getan habe… und jetzt tun muss.

Und ich hoffe, irgendwann… kannst du mir vergeben. Es tut mir Leid, wie nichts zuvor in meinem Leben mir je leidgetan hat.

Und mein wahrscheinlich größter Fehler in diesem Leben war der, dich nicht nach Hause zu bringen, an jenem Abend, im Tropical Land, als du weintest.
 

Es tut mir so unsagbar Leid, Ran.
 

Ich… liebe dich.
 

Shinichi.
 

Sie spürte nicht die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, stumm. Sie schluchzte nicht, schnappte nicht nach Luft.

Sie hatte das Atmen fast eingestellt.
 

In ihrem Kopf hämmerten seine Worte nach, echoten scheinbar von den Wänden ihres Schädels, bis sie es kaum mehr aushielt.
 

Es tut mir Leid.
 

Ich liebe dich.
 

Kraftlos sank ihr Kopf in ihre Hände, mit denen sie ihre Ohren zu hielt, als würde sie dadurch seine Stimme abstellen können. Sie presste ihre Augen fest zu, als sie endlich doch unendlich mühsam die Luft zurück in ihre Lungen strömen ließ – sie wusste nicht, was es war, in ihrer Brust, dass sie fast zum Platzen brachte und ihr gleichermaßen den Atem raubte.

Nein, falsch.

Eigentlich wusste sie es ganz genau.
 

Es tut mir Leid.
 

Er hatte es damals getan.

Sein Leben riskiert.

Für sie.

Für eine Zukunft mit ihr.
 

Ich liebe dich.
 

Und er tat es wieder.
 

Es tut mir Leid.

Kapitel 41 - Was Bilder erzählen

Kapitel 41 – Was Bilder erzählen
 

Wieder in seiner Wohnung angekommen, nahm er sich die Akten vor, die ihm Jenna dagelassen hatte. Zuerst suchte er alle Fotos der Opfer und ihrer Bilder heraus, legte sie auf seinem Tisch aus, den er zuvor abgeräumt hatte – in seinem Spülbecken stapelten sich langsam die Kaffeetassen, zum Abspülen allerdings konnte er sich nicht überwinden.
 

Im Anschluss war er in sein Büro gegangen und hatte seinen Laptop geholt, sowie alle Notizen, die er sich privat gemacht hatte.
 

Zufrieden ließ er seinen Blick über sein Schlachtfeld schweifen; dann straffte er die Schultern, fuhr den Computer hoch und blätterte seine Notizen zu den ersten zwei Bildern auf.

Bisher hatte man den Bildern wenig Bedeutung beigemessen, das wusste er – sie waren am Tatort gefunden worden, und er traute sich wetten, dass Montgomery sie einfach als Aufschrei nach Aufmerksamkeit eines verkappten Künstlergenies wertete.

Und zwar genau des verkappten Kunstgenies, das momentan bei ihnen im Yard einsaß.
 

Shinichi jedoch war sich sicher, in ihnen steckte eine Botschaft.

Allein, sie unter den Schichten von Farbe zu finden, war die Herausforderung.
 

Das erste Bild war ein formvollendetes Meisterwerk; in handwerklicher Perfektion dargebrachte Schönheit. Shinichi seufzte, griff sich das Foto. Die Ähnlichkeit zu Ran ließ ihm immer noch einen Schauer den Rücken hinabrieseln – allerdings fielen ihm jetzt immer deutlicher auch die Unterschiede auf.

Rans typische Ponywelle, die Ayako fehlte. Ihre Augen waren nicht von diesem unendlich tiefen Blau wie Rans… ein Blau, das ihn immer an Kornblumen denken ließ und nie an Wasser oder Himmel, ein Blau, in dem er sich verlieren konnte, aber nie ertrinken.

Rans Augen… die ihn gestern so verletzt angeschaut hatten.
 

Er seufzte leise, rieb sich die Stirn.
 

Ja, du hast Mist gebaut, Kudô…
 

Er schob die Gedanken beiseite.
 

Dazu hast du jetzt keine Zeit. Sobald du das hier gelöst hast, kannst du versuchen, zu retten, was zu retten ist.

Vorher nicht.
 

Fakt war, dieses eine Bild war trocken gewesen. Fertiggestellt.

Ein überaus hübsches Mädchen in einem schwarzen Wildseidenkleid mit einem Stiefmütterchen in der Hand.
 

Shinichi seufzte. Wirklich viel brachte ihm das noch nicht; zu wenig wusste er über den Kontext, in dem er die Bilder zu lesen hatte. Also suchte er sich die Blätter noch einmal heraus, die er zu seiner Suche zu den Blumen gefunden hatte.
 

Hamlet.

Also gut, schaun wir mal.
 

Ayako hatte das Stiefmütterchen. Das Stiefmütterchen ist einerseits die Wappenblume Osakas, aber gehen wir mal davon aus, dass eher die zweite Bedeutung, nämlich die Relation zu Shakespeare hier eine Rolle spielt, lassen wir ersteres mal außen vor.

Das Stiefmütterchen steht für die Erinnerung.

Ayako… sieht Ran unglaublich ähnlich.

Und wenn wir jetzt einfach mal annehmen, dass sowohl die Auswahl der Mädchen als auch diese einzelnen Hinweise wie das Haar oder der Geruch nach Gin auf die Organisation hinweisen sollen, dann könnte es doch sein, dass mich Ayako an das Versprechen erinnern soll, das Gin mir in jener Nacht gegeben hat.
 

Shinichi runzelte die Stirn, seufzte.
 

Immer vorausgesetzt, diese Vermutung stimmt, und sie stecken dahinter. Aber irgendwo muss ich einfach anfangen… und ich denke, der Bezug zu Shakespeare lässt sich nicht leugnen, also machen wir mal einfach da weiter. Ob meine Vermutung bezüglich der Schwarzen Organisation stimmt oder nicht, ist an der Stelle jetzt wohl auch noch nicht… schlachtentscheidend.
 

Er massierte sich die Nasenwurzel.
 

Weiter im Text. Die zweite war Erin; und Erin fanden wir mit Rosmarin. Rosmarin steht für Liebe und Treue, und passt gut zu Erin, schließlich war sie verlobt. Und sollte jemand eine Spur legen wollen, so weißt er spätestens ab hier ganz deutlich auf Hamlet hin. Nur wieso…? Und wenn ich es im privaten Kontext lesen soll, wie soll ich das deuten?
 

„Ran…?“, murmelte er leise.
 

Nicht doch. Und nicht zu vergessen, der Fenchel. Fenchel gilt hier als Zeichen für Schmeichelei und Erfolg. Juniper war ein Model. Das passt zu jemanden, der mit seiner Schönheit sein Geld verdient. Das hat mit mir und Ran und der Organisation doch nichts zu tun. Oder?
 

Gedankenverloren ging er nach draußen in den Flur, ging in seine Diele, fischte die Eintrittskarte zu „Hamlet“ aus seinem Sakko, legte sie neben seine Aufzeichnungen.

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.
 

„Nun, das ist jedenfalls ein sehr konkreter Hinweis. Ich denke, es macht Sinn, sich diese Aufführung anzusehen.“

Er schluckte.

„Aber gut, es fehlt noch etwas. Wir haben noch die Akelei, das Gänseblümchen, das Weinkraut und das Vergissmeinnicht.“
 

Der junge Detective zog die Unterlippe kurz zwischen die Zähne.

„Meredith. Was könnte zu ihr passen?“
 

Er ging die Liste durch.

„Gänseblümchen als Zeichen für Betrug und Lüge, Weinkraut als Zeichen für Enttäuschung und Verbitterung.“

Er lehnte sich zurück.

Wenn es hier wirklich darum ging, dass Brady als Komplize für dieses Verbrechen fungiert hatte, dann, so war er sich sicher, hatte Meredith davon nichts gewusst, war also angelogen und betrogen worden, von der Liebe ihres Lebens, was sie bestimmt enttäuscht hatte - also würde das passen.
 

Er schloss die Augen, kurz, atmete durch.
 

Finden wir dich also mit Gänseblümchen und Weinkraut, Meredith?
 

Er zog die Fotografien mit den Stoffproben für die Kleider hervor, die man in ihrem Arbeitszimmer gemacht hatte. Dort waren immer noch die fünf seidenen Rechtecke zu sehen, von tiefschwarz bis weiß.

Fünf.
 

Wir haben erst vier Mädchen. Und es sind auch noch Blumen übrig.
 

Akelei und Vergissmeinnicht.
 

Verrat.

Hoffnung und Glaube.
 

Er schluckte hart, dachte nicht darüber nach, wollte nicht darüber nachdenken, zu welchem Mädchen diese Eigenschaften passen könnten.
 

Sie ist sicher. Auf sie wird aufgepasst, das weißt du. Und dú schnappst sie, bevor ihr was passiert.
 

Wenn das alles so stimmte, dann blieb jetzt nur noch eine Frage – warum gab man ihm solche Hinweise? Zu guter Letzt auch noch die Karte? Legte ihm jemand eine Spur? Wollte jemand, dass er das alles löste?

Oder war es eine Falle?

Wollte jemand ihn ganz bewusst dorthin locken?

Warum?
 

Shinichi seufzte.
 

Gehen wir davon aus, Gin steckt dahinter. Was hätte er davon, mich so lange zappeln zu lassen, und mit Hinweisen zu füttern, von denen er nicht sicher sein kann, dass ich sie lesen kann? Es gibt zu viele Unbekannte. Also… wer könnte sich das ausgedacht haben…?
 

Er schüttelte den Kopf.
 

Etwa Brady? Konnte er denn wissen, wie dieser Plan aussah, bevor er ausgeführt wurde? Wobei…
 

„Er war wohl derjenige, der die Mädchen deponiert hat, alle. Bei Juniper haben wir ihn schließlich geschnappt – es liegt also nahe, dass er von vorneherein oder spätestens ab Ayako wusste, wie der ganze Plan aussah. Und wenn… wenn er wirklich der Typ Mensch ist, für den ich ihn halte, also für eine zerrissene Seele, auf der Suche nach Glück, ein Mensch, der auf die schiefe Bahn geraten ist, nur weil er das Beste für jemand anderen wollte… jemand, der im Grunde seines Herzens kein Mörder ist und bitter bereut, was er tut…“
 

Er trommelte mit seinen Fingern auf die Tischplatte.
 

„Dann könnte er es gewesen sein, der mir diese Hinweise versteckt hat. Damit ich sie aufhalte… weil er es bereut; weil er sein Mädchen retten will – warum auch immer. Aber das… das war ganz schön riskant.“
 

Shinichi seufzte.
 

Auf jeden Fall ist es wert, ihn das mal zu fragen, denke ich. Ich muss Jenna darum bitten, wohl.
 

Shinichi schluckte.
 

Ich muss herausfinden, was das zu bedeuten hat.
 

Etwas anderes war indessen auch noch von Interesse – und zwar war das die Sache mit den Bildern an sich. Denn während das erste Bild fertiggestellt und bereit zum Aufhängen gewesen war, verhielt es sich mit den anderen beiden anders.
 

Warum hatte man es so eilig mit dem zweiten und dritten Mord, dass er nicht einmal der Farbe die Chance gab, anzutrocknen?

Das Labor sagt, es ist ganz normale Ölfarbe… die braucht eigentlich nur zwei, drei Tage, um anzuziehen. Sie ist da noch nicht trocken, aber läuft wenigstens nicht mehr von der Leinwand.

Warum musste gerade dieses letzte Bild so viel schneller gemalt werden? War es so wichtig, gleich Druck auszuüben, mit der Aussicht auf eine Mordserie, dass man keinen Tag länger warten wollten?
 

Shinichi seufzte, kratzte sich am Hinterkopf, stützte sich mit der anderen Hand auf dem Tisch ab. Gerade das letzte Bild hatte sehr gelitten; das Gesicht der jungen Frau schien merklich nach unten gerutscht zu sein, auch wenn er glaubte, erkennen zu können, dass das Mädchen auch ohne die Tatsache, dass die Farbe verlaufen war, die traurigsten Augen von allen hatte.

Es sah aus, als würde sie weinen.
 

Vielleicht hat sie das wirklich.

Vielleicht ahnte sie, im Gegensatz zu den anderen, was ihr bevorstand. Sie muss kurz nach Fertigstellung des Bildes gestorben sein.
 

Shinichi schluckte. Dennoch konnte selbst er als Laie erkennen, dass es mit genauso viel Sorgfalt gemalt worden war wie das erste und das zweite Bild. Er drehte sich um, holte das Lexikon, schlug den Absatz über die Gattung des Porträtbildes heraus und las nach. Das Bild war im Stil der Malerei der Altniederländer gemalt; eine feine Ölmalerei, die jedes noch so kleine Detail wiedergab.

Jedes Haar in ihrer Hochsteckfrisur, jeder Faden der Spitze, jede Perle auf dem Bustier ihrer Kleider. Jede Wimper, jede Falte, scheinbar jede Pore auf ihrer Haut.
 

Eine umso größere Schande war es, dass nur das erste Bild die Chance bekommen hatte, wirklich fertiggestellt worden zu sein.
 

„Ist es vielleicht ein Countdown?“, murmelte Shinichi.

„Einer, dessen Abstände sich verringern, je näher die Deadline rückt?“
 

Die Abstufung der Farben deutete immerhin auf eine derartige Reihe hin.

Shinichi seufzte.
 

„Gut, dann rechnen wir mal nach…

Das erste Opfer wurde vor sieben Tagen gefunden. Das zweite vor vier. Das dritte gestern, zwei Tage später…“
 

Er schrieb die Daten untereinander auf.
 

23.4. Todeszeitpunkt Ayako Kanagawa

24.4.-

25.4.-

26.4.-

27.4. Todeszeitpunkt Erin Schaugnessy

28.4. -

29.4. -

30.4. Todeszeitpunkt Juniper Torrez

1.5. – heute -
 

Shinichi schauderte, als ihm die Schlussfolgerung aus dieser Zeitleiste ins Gesicht lachte.
 

Die Abstände verkürzen sich wirklich!

Und sie haben das vierte Opfer bereits… sie haben ihr Bild… und sie haben ein Kleid.

Hätte man heute eine Leiche gefunden, sollte das langsam publik geworden sein.

Die Reihenfolge deutet auch… auf morgen hin. Morgen…!
 

Er griff in die Tasten, fing eine Nachrichtensuche an, seufzte erleichtert, als er nichts fand, das auf eine vierte Leiche hinwies.

Dennoch – beruhigen konnte ihn das nicht.

Eher bekräftigte die Nachricht, dass es keine Nachrichten gab, seine Befürchtung.
 

Morgen.

Und sollten sie ein fünftes Opfer planen, was nicht auszuschließen ist… dann wäre sie am darauffolgenden Tag tot.
 

Er glaubte, ihm müsse der Kopf platzen.
 

Fakt war, er wusste nicht viel – aber er kannte den Namen des nächsten Opfers.

Und er hatte eine Ahnung, welche Blumen auf dem letzten Bild sein würden.
 

Und ich bin außer Dienst! Kein Mensch bei Scotland Yard wird mir glauben… ich muss es James sagen, das in jedem Fall, aber…
 

Dann fuhr er hoch, als sein Handy zu klingeln anfing, getrieben vom Vibrationsalarm, über den Tisch rutschte. Er griff danach, las kurz den Namen, der auf dem Display erschienen war.
 

„Hey, Hattori.“

Heiji seufzte erleichtert.

„Schön, dass du abhebst. Hatte schon befürchtet, du…“

„Warum sollte ich nicht abheben?“

Shinichi zog die Augenbrauen hoch, konnte sich die Antwort eigentlich denken – dass sie ihn dennoch für so labil hielten, beunruhigte ihn ein wenig. Dennoch beschloss er, darauf einfach nicht einzugehen.

„Fertig mit Berichtschreiben?“

„Woher-…“, fing Heiji an, bevor er grinsend abbrach, als ihm die Erkenntnis dämmerte.

„Ich sehe, du hast hier immer noch Augen und Ohren.“

„Und Hände und Beine.“, ergänzte Shinichi.

„Sieht so aus… sie war mich vorhin besuchen und hat mir erzählt, was ihr Spannendes macht.“

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

„Anscheinend hat Montgomery die Ermittlungen wirklich eingestellt.“

„Hat er, ja. Ich hab vorhin mit Kogorô das Abschlussgespräch mit den Kanagawas geführt. Ehrlich, so mies hab ich mich selten gefühlt, ich glaub einfach nich‘, dass wir ihnen den richtigen… oder einzigen Täter präsentiert haben…“

Er seufzte erneut.

„Wie geht’s dir?“

Shinichi ließ sich zurücksinken.

„Wie wohl… ich versuche, herauszufinden, was wirklich läuft. Ich muss allerdings anmerken, sehr viel weiter bin ich noch nicht… außer dass ich befürchte, wenn noch ein Mord geschieht… geschieht er morgen.“

Heiji zuckte zusammen.

„Morgen?“, krächzte er.

„Ja.“

Shinichi schluckte.

„Ich bin gerade die Todeszeitpunkte in den Pathologieberichten durchgegangen. Die Abstände verringern sich regelmäßig. Der nächste Mord wäre, geht meine Rechnung auf, morgen. Und ich sag dir noch was.“

Er seufzte.

„Es wird Meredith Rowling sein. In einem hellgrauen Kleid. Vermutlich dekoriert mit Gänseblümchen und Weinkraut. Ich hab sogar das Bild schon gesehen, es hing in Bradys Wohnung…“
 

Er hörte, wie Heiji ächzte.

„Lass mich raten. Du weißt nur nicht…“

„Ich weiß nur nicht, wo der Mord geschieht, richtig.“
 

Langsam atmete er aus.

„Es macht mich fertig, ehrlich.“

Er schloss die Augen kurz.
 

„Halt die Augen offen, Heiji. Und sollte Brady… doch noch reden wollen…“

„Halt ich dich auf dem Laufenden.“

Shinichi seufzte leise, rieb an einem Fleck auf der Tischplatte.

„Pass auf die Mädchen auf. Hörst du…?“

Heiji merkte, wie sich sein Magen zusammenzog.

„Natürlich mach ich das, das weißte.“
 

Gedankenverloren legte er auf, betrachtete die Mädels, die an einem Tisch saßen, und sich unterhielten. Akai stand am anderen Ende des Raums, in der Nähe des Eingangs – sie wollten den Mädchen mal ein bisschen Privatsphäre lassen, es war ihnen anzumerken, dass diese Rundumbewachung sie ein wenig nervte – und eher beunruhigte, als das Gegenteil zu bewirken.
 

Vor allem wohl Sonoko zeigte sich sichtlich missvergnügt über die Wendung, die ihr Kurzurlaub genommen hatte – vor allem, für die, die sich in diesem Urlaub endlich mal erholen sollte. Und so hatte sie auch nicht damit gespart, in den letzten Stunden gegen ihre Aufpasser ein wenig zu ätzen – und über einen gewissen Detektiv herzuziehen.

Ran hatte sie nur milde angelächelt, wusste, warum sie das tat – allerdings musste sie zugeben, langsam erschöpfte sie dieser Zustand – und zwar nicht nur körperlich.

Ran war ausgebrannt.

Verunsichert.

Erschöpft.
 

Und deswegen hatte sie sich kurz abgeseilt, um sich ein wenig frisch zu machen, ein wenig Ruhe zu genießen, bevor sie wieder zu den anderen stoßen wollte.
 

Ran war für Heijis Dafürhalten nun schon erstaunlich lange oben – allerdings machte er sich keine Gedanken.

Er hatte ihn vorhin in der Lobby gesehen, und im Aufzug verschwinden.

Und er schaute nicht auf, als er neben ihm Platz nahm.
 

„Sie waren wohl bei ihr.“

Heiji blickte aus dem Augenwinkel zu Yusaku Kudô, der neben ihm Platz genommen hatte, einen Blick zu der Gruppe warf, der sich gerade über eine Menge Kuchen hermachte.

„Er wird von sich aus wohl nich‘ kommen.“
 

Yusaku lächelte bitter.
 

„Ich habe mit meinem Sohn noch nicht gesprochen, seit gestern… aber ich fürchte auch, er wird von sich aus nicht kommen. Immerhin habe ich sie aber soweit gebracht, ihm noch eine Chance zu geben.“

Heiji fuhr aus seiner gelassenen Haltung hoch, starrte ihn an.

„Was ham’se?“

Yusaku lächelte schmal.

„Mit ihr geredet. Und… einen längst überfälligen Botengang gemacht.“

Heiji schaute ihn verständnislos an. Yusaku lachte leise in sich hinein, bestellte bei der herangekommenen Kellnerin einen Kaffee.
 

„Ihr glaubtet alle, er habe ihr damals keine Erklärung hinterlassen. Das war ein Irrtum.“
 

Heiji schloss die Augen kurz, atmete scharf ein.

„Er schrieb einen Brief und gab ihn mir. Ich sollte ihn Ran geben, falls ihm etwas passierte. Da ich dachte, wie er auch, dass sie nicht mehr lebte, gab ich ihn ihr nie… hatte ihn aber immer dabei, ich weiß nicht warum. Nenn es Sentimentalität, Heiji…“
 

Er kniff die Lippen zusammen, seine Augen blickten nachdenklich in die Lobby.
 

„Der Brief erschien mir immer als… Rückfahrkarte. Er… entstand an einem Punkt in seinem Leben, an dem noch alles möglich war. An einem Punkt, wo er es noch nicht so gegen die Wand gefahren hatte, wie er es momentan tut, dieser Sturkopf von meinem Sohn. Ehrlich, manchmal frage ich mich, was in seinem Kopf vorgeht… ich kann verstehen, warum er es tut, das heißt aber nicht, dass ich es gutheiße. Und ich traue mich wetten, dass er dagegen gewesen wäre, wüsste er, dass ich ihr den Brief gebe. Nur, um nicht über die Konsequenzen nachdenken zu müssen. Nur um nicht zuzugeben, dass er sich in Bezug auf sie einfach gründlich irrt. Sie ist kein kleines Mädchen. Und er braucht sie.“

Langsam schüttelte er den Kopf.

„Ich hab ihn ihr gegeben. Und sie gebeten, sich mit ihm zu treffen. Ihm eine letzte Chance zu geben.“
 

Er nahm dankend den Kaffee entgegen, den die junge Serviererin ihm brachte.
 

„Sie hat gesagt, sie macht es. Ich hoffe für ihn, er nutzt sie. Noch eine, fürchte ich, wird er nicht kriegen.“

Er trank einen Schluck Kaffee.

"Und offen gestanden, noch eine verdient er dann auch bei aller Liebe nicht."

Er lächelte matt.

Heiji sah ihn bewundernd an.

„Sie scheinen ein Händchen für Frauen zu haben. Wollnse nicht mal nen Kurs geben…?“

„Mein Sohn bräuchte wohl sicherlich einen. Du etwa auch?“

Der Autor lachte leise. Heiji schüttelte grinsend den Kopf, bedachte Kazuha mit einem liebevollen Blick; als er sich dem Schriftsteller wieder zuwandte, war seine Miene ernst geworden.
 

„Aber wie wollense ihn dazu bringen, sich mit ihr nochmal zu treffen? Auch wenn ihn das gestern… in Stücke gerissen hat, das von ihr so zu hören, es war doch, was er wollt‘. Sie sollt‘ sich von ihm fernhalten.“

Yusaku setzte seinen Kaffee an die Lippen, trank ihn aus, strich sich mit seinen Fingern über den Oberlippenbart.
 

„Ich gar nicht, Heiji. Sie wird das machen.“
 

Und erst jetzt bemerkte er, dass Shiho sie anschaute.

Anscheinend hatte sie Yusaku Kudôs Blicke in ihrem Rücken bemerkt – sie hatte sich umgewandt, blickte die beiden Männer unverwandt an.

Heiji starrte verwirrt von ihr zu dem Mann an seiner Seite und fragte sich, ob die beiden jetzt tatsächlich Gedanken austauschten – die Frage beantwortete sich von selber, als sie aufstand und an sie herantrat, sich auf einem Stuhl niederließ.
 

„Wollen Sie mir nicht sagen, wie ich Ihnen helfen kann, bevor sie mir ein Loch in den Hinterkopf stieren?“

Yusaku lächelte sie freundlich an.
 

„Ich hab sie für neunzehn Uhr vor den Big Ben bestellt. Sieh zu, dass er auch da ist, bitte. Pünktlich.“

Shiho schaute ihn nur an, kurz – dann stand sie auf, verließ die Lobby. Akai warf ihm einen Blick zu, ging ihr hinterher, ließ Jodie, die sich zu ihm gesellt hatte, kurz allein.

Yusaku Kudô wiegte seinen Kopf nachdenklich hin und her – schließlich räusperte er sich, warf Heiji einen Blick zu.
 

„Drücken wir ihnen die Daumen.“
 

Er lächelte den jungen Osakaner kurz an, ein Lächeln, das kaum in seine Augen reichte, als er aufstand und eine Banknote auf den Unterteller seiner Kaffeetasse legte.
 

Heiji starrte ihm hinterher, seufzte.
 

So ganz sicher sind se sich wohl selber nich, was, Herr Kudô?
 


 

Auf der Treppe vor dem Hotel war sie stehen geblieben. Akai hielt neben ihr, sah sie nachdenklich an. Shiho zog sich ihren Mantel enger um die Schultern – auch wenn es nicht kalt war, so wehte doch ein ziemlich kühler Wind. Sie schaute in den Himmel, nachdenklich. Er folgte ihrem Blick, regte sich ansonsten nicht.
 

Und er musste nicht erst den Mund aufmachen, um die Antwort auf seine Frage zu bekommen.
 

„Er will, dass ich ihn dazu bringe, sich mit Ran zu treffen.“
 

Sie seufzte leise, wandte dann ihren Kopf, schaute ihn an. Er beobachtete, wie der Wind in ihren rotblonden, schulterlangen Haaren spielte.
 

„Und wirst du’s tun?“

Sie lächelte traurig – in ihren blaugrünen Augen funkelte Resignation.
 

„Natürlich. Weil ich will, dass er glücklich ist. Und weil ich weiß, dass sie die einzige ist, die ihn glücklich machen kann… weil erst sie ihn komplett macht. Sie…“

Shiho seufzte leise, schaute wieder in den Himmel.
 

„Sie weiß das. Sie will ihn bei sich, um endlich vollständig zu sein. Ihn zu überzeugen wird deutlich schwerer…“
 

Ein leichtes Lächeln umschmeichelte ihre Lippen.

„Aber das wird nicht meine Aufgabe sein. Ich soll ihn nur an Ort und Stelle bringen, und das… krieg ich hin.“

Sie zog ihr Smartphone aus ihrer Manteltasche, öffnete den email-Editor.
 

Ehe sie die Nachricht tippte, schaute sie in den Himmel, als es auf einmal etwas dunkler zu werden schien, beobachtete, wie sich die Wolken über ihren Köpfen sammelten.

Grau, schwer und voller Regen.
 

„Er sollte einen Regenschirm mitnehmen.“
 

Akai grinste schmal.
 


 

Sie sah die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheibe klatschen, aus einem Himmel, der genauso grau war, wie sie sich fühlte.

Leer, ausgehöhlt, trist.
 

Meredith starrte auf die beiden Kleider, die ihr gegenüber hingen, eins schöner als das andere, von ihr mit so viel Ehrgeiz und Eifer entworfen, mit Hingabe genäht, liebevoll bestickt.

Sie ahnte, in einem der beiden würde sie sterben.

Und sie wusste, das zweite würde das letzte Kleid sein, das sie in ihrem Leben tragen würde.

Das Bild, das Eduard noch begonnen hatte, hing daneben, neben dem Portrait, das in ihrer Wohnung gehangen hatte, das Portrait, das sie selbst zeigte.
 

Mit einem Seidenshirt, auf dem sich Gänseblümchen tummelten, von ihr selbst entworfen und genäht. Er hatte sie so genannt, manchmal.
 

Daisy.
 

Weil sie so klein und zierlich wie dieses kleine Pflänzchen war; also hatte sie das Shirt entworfen, zusammen mit einer Menge anderer Blumen-T-shirts. Eduard hatte die Idee so gut gefallen, dass er sie in diesem Shirt unbedingt hatte porträtieren wollen.

Und nun hing es da, dieses Bild, als Ergänzung ihrer Bildreihe – es war purer Zynismus, dass es so gut passte.
 

Und daneben hing das Bild von ihr.
 

Sie war hübsch, das musste sie zugestehen. Selbst in der grünen-grauen Untermalung, die zwar etwas dreckig wirkte, fast ein wenig verrottet, waren deutlich ihre zarten, wohlgeformten Gesichtszüge zu erkennen.

Vor allem diese klaren Augen mit den langen Wimpern, bannten ihren Blick - sie waren für eine Japanerin so ungewöhnlich, und sie starrten einen an, mit so viel Sehnsucht und Drängen in ihrem Blick.
 

Sie war eine Frau, die liebte, und Meredith musste weder Hellseher noch Detektiv sein, um zu ahnen, dass dieser Blick einem für sie nicht erreichbaren Mann gegolten hatte.
 

Sie war keines der Mädchen, die sich auf ihre Annonce hin gemeldet hatten. Sie war Sherlock Holmes‘ große Liebe, das ahnte sie. Sie hörte die beiden Japaner über ihn reden, über Shinichi Kudô. Den Sohn ihres großen Idols, ihres Lieblingsschriftstellers.
 

Wie hatte es soweit kommen können?

Mit wem hatten sie sich angelegt, wer waren diese Menschen, die Eduard zu diesen Taten hatten treiben können? Er hatte es sicher nur gut gemeint… wie immer. Er war immer schon so gewesen; zu leicht zu blenden, zu leicht zu täuschen, zu leicht den Verlockungen des Lebens erlegen, vor allem, wenn diese ihm versprachen, das Leben für sie schöner zu machen.
 

Oh, Eduard…
 

Bis vorgestern hatte sie gemeint, für zwei extravagante, introvertierte, reiche Ausländer zu arbeiten.

Seit gestern wusste sie, dass es Killer waren.

Und Eduard… wusste das wohl seit Ayakos Tod.

Er hatte es ihr verschwiegen, wohl um sie zu schützen – erfolgreich konnte man das nicht nennen, was er da angezettelt hatte.

Nun lief er wohl herum, versuchte zu tun, was zu tun war, um sie zu schützen – und ahnte, wusste wohl wie sie, dass auch sie sterben würde.
 

Der Gedanke rüttelte sie auf, ließ sie auffahren aus der Lethargie, in die sie gesunken war, seit sie miterlebt hatte, wie die Liebe ihres Lebens einen Menschen umgebracht hatte.
 

Ihr wurde jetzt noch schlecht vom Gedanken daran. Sie hatte die Augen zugekniffen, als sie ihn hatte ausholen sehen. Hatte nicht hingeschaut, als das Schwert das Mädchen traf – sie hatte nur den scharfen Klang gehört, als das Metall auf Haut und Fleisch und Knochen traf, und allein das hatte gereicht, um in ihr den Würgereiz auszulösen.

Und sie hatte ihn heulen und schreien gehört, noch als sie gegangen waren.

Den Schmerz, die Qual, die Reue in seiner Stimme hallten jetzt noch in ihren Ohren nach.
 

Er hatte das nur für sie getan.
 

Und das entsetzte sie.
 

Dann ging die Tür auf, und sie kam herein. Meredith schaute auf zu ihr, machte sich nicht die Mühe, aufzustehen.
 

„Hallo, sweetheart.“

Chianti trat näher, ihre Pfennigabsätze hallten in lautem Klack-Klack von den Wänden des leeren Raums wider, in dem Meredith saß. Es war nicht besonders warm hier drin – man hatte sie festgebunden, mit ihren Händen vor ihrem Körper, so, dass sie die Toilette benutzen konnte, die im Raum stand.

Sie blieb stehen, gerade so weit von ihr entfernt, dass sie außerhalb von Merediths Aktionsradius stand.
 

„Where is Eduard?“, flüsterte sie leise, wusste nicht, ob sie es eigentlich wirklich wissen wollte.

„In jail, actually. They caught him after placing our dearest Juniper at Madame Toussauds.“

Chianti lachte leise, bedachte das Mädchen zu ihren Füßen mit einem abschätzenden Blick.

„I wonder that you still care about him…“

Meredith starrte sie an.

„That’s just not him. That’s what you made him do, it’s all your fault, you have…!“

Sie sog scharf die Luft ein, ihr Brustkorb hob und senkte sich erregt.

Dann schluckte sie, zwang sich zur Raison.
 

„What the hell are you up to, anyway?“
 

„Torture him… and then see him die, finally.“

„Who?“

„Sherlock Holmes.“

Chianti lachte finster, amüsierte sich über Merediths verwirrten Blick.
 

„And why did you need Eddie and me?“
 

„To let him discover step by step what there’s to come for him. What's lying ahead...“
 

Seine kalte Stimme ließ ihr fast das Blut in den Adern gefrieren.
 

„He has destroyed us once. This is our revenge – the revenge he’s been waiting for, for five years, now. And as we don’t want it to get boring for neither him nor us, we’re playing this little game. Having her as a second participant in this game of ours is a bonus we didn’t count on.“

Gin, der ebenfalls eingetreten war, lachte heiser, schaute auf das Porträt von Ran, ließ seine Lippen sich vor Vorfreude zu einem widerlichen Lächeln kräuseln.
 

„This is going to be his biggest case – as well as his last. The final blow to his beating heart…“
 

Er wandte sich ihr zu.

„So, all you’ve been was the means to this end.“

Gin schaute sie aus eisigen Augen an, ohne zu blinzeln.

„You were appropriate. And you did, what you were able to do, but as it happens, your service is no longer needed. It’s time for you to go. Just like useless peasants in a game of chess, you are going to be sacrificed for the big move to set the king checkmate…”

Meredith schaute ihn alarmiert an.

„What did you do to Eduard…!?“
 

Er lächelte nur.

Allerdings, dieses Lächeln reichte ihr, um kraftlos an die Wand zu sinken, ihn atemlos anzustarren, als sich in ihren Augen Tränen sammelten.

„Did you kill him? I thought he…“
 

„Not yet.“

Gin grinste breit.

„Not yet...“

Dann wandte er sich zur Tür um.
 

„Enjoy the night, little girl. Have pleasant dreams… they’ll be your last.“

Kapitel 42: Null

Kapitel 42 – Null
 

Eigentlich hätte er es wissen müssen, dachte er, als er sie warten sah – dafür aber eine gewisse andere Person durch Abwesenheit glänzte.
 

Er hätte es wissen müssen.

Er war stehen geblieben, als er sie erkannt hatte, wartend am Brückengeländer, ihre Jacke fest um ihre schmalen Schultern gezogen, weil sie im Nieselregen fröstelte.
 

Und gerade, als er sich umdrehen wollte, und gehen, weil es einfach besser war, so, weil es keinen Sinn machte, mit ihnen beiden, hier, jetzt – drehte sie sich um, schaute ihn an.
 

Shinichi schluckte.
 

Game over.
 

Zumindest das Gespräch würde er nun führen müssen. Und so ging er ihr entgegen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und fühlte, wie der Wind ihm durch die Haare strich, der wie immer über der Themse deutlicher zu spüren war als in der Stadt.
 

„Hallo, Ran.“

Sie schaute ihn unsicher an.

„Also bist du gekommen.“

Er sah, wie sie schluckte.

„Weil ich dachte, ich würde hier jemand anderen treffen. Ran…“

Seine Stimme klang müde.

„Auf wessen Mist ist das hier gewachsen? Doch nicht auf deinem?“

Sie schaute ihn verletzt an – und er seufzte schuldbewusst.

„Entschuldige. Aber ich dachte eigentlich, wir wären durch. Nicht auf… die Art, die ich mir gewünscht hätte, dennoch dachte ich… wir wären uns einig.“

Ran bewegte sich unsicher.

„Ich wollte nicht so… ich… Ich war enttäuscht. Und…“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Wir sollten nicht darüber reden.“
 

Ein trauriges Lächeln zeichnete sich auf ihre Lippen.

Du musst auch nicht reden. Es reicht, wenn du zuhörst. Für mein… Dafürhalten hast du schon genug gesagt.“
 

Damit zog sie einen Umschlag aus ihrer Handtasche, mit zitternden Fingern. Sie sah, wie er zusammenzuckte, als er das Schreiben erkannte.
 

„Shinichi, warum hast du mir das nicht einfach gesagt? Warum…“
 

Sie schluckte. Dann hielt sie ihm eine Seite unter die Nase – und obwohl er sich hatte weigern wollen, den Text zu lesen, konnte er sich dem Bann seiner eigenen Schrift nicht entziehen. In seinen Ohren hallte seine Stimme wieder, als sie die Worte formulierte, die auf dem leicht angegilbten Papier zu lesen waren.
 

Es muss hart sein für dich, nun zu erkennen, dass ich nicht der bin, den du so lange in mir sahst. Den Ritter in strahlender Rüstung, den Verfechter von Wahrheit und Gerechtigkeit.
 

Ich bin ein Lügner.
 

Ich weiß, ich hab dich bestimmt enttäuscht. Das… wollte ich nie. Ich wollte so gern das alles sein, was du ihn mir sahst.

Wahrscheinlich bin ich nichts von dem.

Wahrscheinlich weiß ich selbst nicht mehr, wer ich bin.

Wahrscheinlich spielt es auch keine Rolle mehr, ob ich das weiß.

Ich weiß nur…

Dass ich nun hier und heute sitze und an nichts mehr denken kann außer an dich… weil es in meinem Leben sonst nichts mehr von Bedeutung gibt.
 

Ich hoffe wirklich, du… verstehst, warum ich das alles getan habe… und jetzt tun muss.

Und ich hoffe, irgendwann… kannst du mir vergeben. Es tut mir leid wie nichts zuvor mir in meinem Leben je leidgetan hat.

Und mein wahrscheinlich größter Fehler in diesem Leben war der, dich nicht nach Hause zu bringen, an jenem Abend, im Tropical Land, als du weintest.
 

Er merkte, wie seine Kehle schlagartig austrocknete, nahm ihr den Brief ab.

Fest presste er seine Lippen aufeinander.

„Ich wusste nicht, dass es den noch gibt… also hat ihn dir mein Vater gegeben, ja? Warum schleppte er den denn mit sich herum…“

Sie unterbrach ihn, in ihrer Stimme klang deutlich ihre Erregung mit.

„Warum hast du mir das nie so gesagt?! Warum stößt du mich ständig weg, warum tust du mir weh – du… vor fünf Jahren…“

Er lächelte bitter.

„Ganz Recht. Vor fünf Jahren. Du hättest ihn zerreißen sollen, Ran… was da drin steht… ist doch längst verjährt…“

Sie starrte ihn an, als hätte man ihr gerade eine Ohrfeige gegeben.

„Damals hast du über deine Fehler reden können, und heute bist du zu stolz dazu, oder wie?“, zischte sie, warf ihm einen kurzen, scharfen Blick aus dem Augenwinkel zu.

Shinichi ignorierte sie.

„Vergiss es, Ran. Und überhaupt, was denkst du dir dabei, läufst hier allein herum, wo du doch weißt…“

Er schüttelte verärgert den Kopf.

„Ich bring dich zurück. Aber zuerst…“

Shinichi hatte sich angeschickt, den Brief zu zerreißen, ihn bereits mit zwei Händen gepackt, als sie in ihm entriss.

„Das ist meiner!“

Er seufzte resigniert, beobachtete sie.

Sie ging zum Geländer, ließ sich dagegen sinken, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Enttäuschung wühlte in ihr mit beiden Händen.

„Und ich will nicht zurück.“

„Dann behalt ihn. Es spielt wohl auch keine Rolle. Es ändert nichts.“

Shinichi seufzte.

„Über die Tatsache, dass du zurück musst, diskutiere ich aber nicht mit dir…“

Er kaufte einem Straßenhändler, der die Gunst der Stunde nutzte, einen Regenschirm ab und stellte sich wortlos neben sie, spannte den Schirm auf und hielt ihn über sie. Er hörte sie schluchzen, leise, trotz der Lautstärke des Verkehrs, der sich vor seinen Augen die Straße hinunter wälzte. Dennoch sagte er nichts, berührte sie nicht, stand einfach nur da.

Er wusste nicht, wie viel Zeit sie so verbracht hatten, als sie sich endlich umdrehte.
 

„Dein Vater hat ihn mir heute Nachmittag gebracht. Ich… ich dachte immer, du wärst wortlos gegangen. Ohne eine Erklärung. Ich dachte, du wärst ein entsetzlicher Feigling. Und ich dir nichts wert.“

Shinichi schluckte.

„Ich weiß. Das sagtest du.“

Sie schaute ihn eindringlich an.

„Dabei stimmte einfach nichts von alledem. Außer, dass du ein Lügner bist, ein schlechter noch dazu. Warum… fängst du jetzt wieder an? Warum bist du nicht einmal ehrlich, warum bist du nicht… du? Warum machst du dir und mir das Leben so verdammt schwer?! Warum willst du mir schon wieder wehtun…? Verdammt, das bist doch nicht du! Das warst du nie und das bist du auch jetzt nicht, so…“

Sie starrte ihn an, ungläubig. Ihre Finger verkrampften. Er seufzte, drehte sich um, blickte auf die Themse. Dann schüttelte er den Kopf, kapitulierend.

„Du hast ja Recht… du hast… Recht. Und es tut mir Leid, ich will dich… nicht verletzen. Wollte ich nie. Ehrlich.“

Er wandte sich zu ihr um, schaute sie ernst an.

„Aber du musst mich auch verstehen. Sie waren noch da draußen, und hinter mir her. Sie… sind immer noch hier… das weißt du. Du weißt, dass es diese Angst ist, die mich… fernsteuert, momentan.“

Er blinzelte, schluckte, als er diese Erkenntnis aussprach. Ran wandte sich nicht um.

„Verdammt, du weißt das! All das, was ich dir vorgestern um die Ohren gehauen habe resultiert aus dieser Furcht, dich nochmal zu verlieren. Diese Angst hatte ich damals auch, klar. Aber nicht in dem Maße, wie ich sie nach diesen zehn Tagen hatte. Wie ich sie jetzt habe. Weil ich…“

Sie schaute ihn an, sah kurz ein Zittern durch seinen Körper laufen.

„… weil ich früher einfach nicht wusste, wie wenig ich tatsächlich ausrichten kann. Wie unfähig ich bin. Dass all meine Anstrengungen, auf dich aufzupassen, dich zu beschützen, nicht ausreichen, einfach nicht genug sind…!“

Dann sah er sie an, lächelte matt.

„Du weißt, ich will dir… nicht wehtun. Ich… nichts weniger als das, aber ich bin… nicht ich selbst, momentan, so scheint es, du hast völlig Recht. Ich kann nichts mehr richtig machen, hab ich das Gefühl – nicht in der Arbeit und im Privatleben schon seit Jahren nicht mehr.“

Er lachte bitter.

„Aber um meine Ehre zu retten, ich hätte nie… ich hätte niemals einfach so die Fliege gemacht, damals. Ich hätte gewartet, bis du aufgewacht wärst, und mich verabschiedet. Ich hätte nicht gewollt, dass du glaubst, du wärst mir nicht wichtig gewesen… oder dass ich dich einfach verlassen hätte…“

Sein Gesicht verzog sich.

„Als ich hörte, von Heiji, dass du noch lebst, Ran…“
 

Er starrte sie an. Sie erschrak, als sie sah, wie dunkel seine Augen geworden waren.

Und sie erinnerte sich an diesen Moment vor drei Tagen. An diesen Blick.
 

Sehnsucht, Shinichi.

Du sehntest dich… nach mir.
 

„Dass du noch lebst…“

Seine Stimme brach.

„All die Jahre hab ich mir nichts mehr gewünscht… dass du nicht wegen mir gestorben wärst… dass du noch lebst…

Ich wusste, und ich weiß, dass ich es nicht verdiene, aber nichts hab ich mir… mehr gewünscht, als dass ich noch einmal, einmal nur noch, in deine Augen schauen kann, einmal noch deine Stimme hören, und einmal… nur einmal noch spüren, wie es sich angefühlt hat, dich im Arm zu halten und…“

Seine Stimme war rau geworden, heiser, und sie konnte sehen, wie er um Atem rang, als er langsam seine Fassung verlor. Er schluckte, wandte sich kurz ab, versuchte sich zu sammeln. Ran starrte ihn an, trat einen Schritt näher, merkte, wie sie zu zittern anfing.
 

„Ich liebe dich. Ich… immer. Immer habe ich…“

Shinichi unterbrach sich, als ihm die Stimme versagte, schon wieder; räusperte sich, schluckte.

„…mit allem, was ich hatte, dich geliebt. Auch in dem Wissen, dass du nicht mehr bist. Und ich hab es kaum ertragen, zu wissen, dass ich noch lebe…“
 

Er spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug, schnell, hart. So hart, dass es fast schon wehtat; und er fühlte, dass langsam all die Mauern bröckelten und brachen, die er so sorgsam errichtet hatte. Sie schaute ihn an, ihr Brustkorb bewegte sich ebenfalls schnell auf und ab. Der Regen hatte sie durchnässt, perlte von ihrer Haut, klebte ihr ihre Haare auf den Kopf und ihre Kleidung an ihren Körper.

Sie sah dennoch wunderschön aus.
 

„… und du tot bist, wegen mir, wegen meiner grenzenlosen Arroganz, meiner Dummheit, meiner… Lügen.“
 

Seine Stimme verlor sich im Regen. Sie stand so nah vor ihm, dass sie seinen Atem auf seinem Gesicht spürte.

„Also, wenn du… mir einen Gefallen tun willst, dann lass mich dich jetzt einfach ins Hotel zurückbringen… bitte. Denn solange sie…“

Seine Stimme klang wie von weiter Ferne an ihr Ohr – sie sah ihn an, presste kurz ihre Lippen aufeinander.

„Weißt du noch, damals… hier…“, begann sie leise, räusperte sich, und fuhr fort.

„Hier hast du mir gesagt, dass du mich liebst. Zum ersten Mal.“

Sie biss sich auf die Lippen.

„Und ich stand nur da… und bin dann gegangen, weil ich… weil die Erkenntnis, dass meine Hoffnungen erfüllt sein sollten, viel zu groß war für mich.“

Langsam hob Ran den Kopf, sah in seine Augen und konnte es spüren, dieses gewaltige Gefühl, das sie nur mit ihm verband. Das sie verloren geglaubt hatte, als er sie verließ, und das sie dennoch nie verlassen hatte. Sie ertastete mit seinen Fingern seine Wangen, zog seinen Kopf langsam näher, bis sie seine Stirn mit ihrer berührte. Ließ ihre Hände wieder sinken, bis sie auf seiner Brust zum Liegen kamen, schmiegte sich an ihn. Shinichi schluckte schwer, seufzte leise. Spürte ihren Atem auf seiner Haut, fühlte ihre Wärme, ihren Körper an seinem, schloss die Augen.

„Ich weiß.“

Sie spürte, wie er schluckte.

„Ich habe diesen Ort gemieden, so gut es ging, in den letzten fünf Jahren. Wie hätte ich das vergessen können…“

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
 

„Wer kann schon das Herz des Mädchens entschlüsseln, das er liebt…“
 

Shinichi atmete aus, langsam, schaute sie an – Ran spürte den warmen Lufthauch auf ihrer Haut, blickte ihm ebenfalls in die Augen.

„Und du ahnst nicht, wie oft ich es bereut hab.“

Sie zuckte zurück, blinzelte ihn verständnislos an. Sah, wie ein schemenhaftes Lächeln über seine Lippen huschte, sah die Traurigkeit in seinen Augen.

„Ab da an gings bergab, fürchte ich.“

Seine Stimme war rau geworden.

„Ich weiß noch genau, was ich gesagt habe - große Worte über die Null als Anfang von allem. Mit Worten kann ich gut umgehen, als Sohn eines Schriftstellers…“

Er lächelte matt.

„Nur… habe ich in den letzten Jahren gefühlt, was Null eigentlich heißt. Nichts, Ran. Nichts… und ich habe mir das Gefühl selbst eingebrockt… durch meinen ersten Schritt hab ich mir alles genommen, und dir auch. Und seither fragte ich mich, ob es das wert war… ich meine, ich hab dich das schon mal gefragt, und diese Frage hat sich nicht geändert - hat es uns beiden etwas gebracht? Diese Worte hier auf der Brücke, diese anderthalb Minuten in dieser Gasse… wir beide fühlen es, wir beide wollen es… das, was man Liebe nennt, und Glück, und Nähe, wir wollen die eins, die zwei, die drei… einfach alles, was da folgt, nach der Null - aber alles, was wir bekommen ist Schmerz, Verlust, Angst.“

Er schloss die Augen.

„Alles, was uns bleibt, ist nichts. Ein großes, schwarzes Loch, das einen auffrisst, langsam, aber beharrlich, von innen heraus, mit kleinen, sehr schmerzhaften Bissen. Kaut, ausspuckt, liegenlässt.“

Ran starrte ihn an, schüttelte den Kopf.

„Nein, das stimmt nicht!“

Sie packte ihn am Kragen.

„Das ist nicht wahr!“

Er schüttelte langsam den Kopf, schaute sie traurig an.

„Es tut mir ehrlich Leid, was ich dir vorgestern alles an den Kopf geworfen habe… das war nicht fair von mir und unüberlegt. Ich war frustriert wegen noch ganz anderen Dingen und habs an dir ausgelassen, das… war nicht richtig, aber es ändert nichts an meiner Meinung, Ran. An meiner Entscheidung…

Ich meine, sag mir, was hat es dir gegeben, Ran?! Welche guten Dinge hat dir das Wissen, dass ich dich liebe, gebracht?“
 

Sie hörte die Bitterkeit in seiner Stimme, sah sein Hadern mit dem Schicksal in seinen Augen.

„Verdammt, es sollte doch so einfach sein! Es sollte schön sein! Aber was – was nützt es uns? Ich… ich habs dir vor ein paar Tagen gesagt. Wir hätten es lassen sollen.“

Er schloss die Augen, atmete tief durch, spürte, wie ihn langsam alles überrannte – der Frust, die Angst, die Verzweiflung und dieses unermessliche Verlangen, der schier übermenschliche Wunsch nach ihr.
 

Sie zerbiss sich die Lippe, sah, wie sein Kehlkopf kurz auf- und abhüpfte, als er schluckte. Sah das bittere Lächeln auf seinen Lippen erblühen, als sie ihm die Antwort schuldig blieb.

Er schüttelte den Kopf, sachte.

„Du…du erinnerst dich, was fast passiert wäre, als wir dort standen, allein? Wir…“

Ran schluckte – dann lächelte sie sanft.

„Wir hätten…“

Shinichi merkte, wie im heiß wurde.

„Ja… wir… hätten.“

Er lächelte kurz, wurde dann wieder ernst.

„Aber was passierte stattdessen?

Du… bekamst deinen ersten Kuss. Aber nicht von mir, sondern von ihm. Verdammt, ist das denn fair? Dieser Moment von Nähe und Vertrautheit… diese Geste zwischen zwei Menschen, die sich lieben, sie hätte uns gehören sollen – stattdessen wurde sie dir gestohlen, ad absurdum geführt, und auch das ist meine Schuld. Statt trauter Zweisamkeit lagst du Monate im Koma und ich vergrab mich hier in Arbeit, weil ich mit dem Gedanken kaum leben kann…“

Sie hörte, wie er Luft holte.

„…dir mit den Worten „Ich liebe dich“ fast den Tod gebracht zu haben. Würdest du mich nicht lieben, hättest du das alles nicht ertragen müssen, dann wärst du mir nicht nachgelaufen, dann würdest du es heute nicht tun, also, bitte, bitte, Ran – lass mich allein. Gib auf. Es… es soll einfach nicht sein. Für uns hält das nichts Gutes bereit.“

Ran sah ihn an, schüttelte den Kopf. Zuerst langsam, dann immer bestimmter.

„Nein, das stimmt nicht! Du weißt… du weißt, was du bist für mich. Du weißt, wie sehr du… mein Leben bereichert hast, du warst… die Konstante in meiner Kindheit, du hast mir geholfen, mir zugehört, mich nie im Stich gelassen, selbst als du Conan warst… und auch wenn ich dir nicht gesagt habe, was ich für dich empfinde, wenn ich dir damals die Antwort in London schuldig geblieben bin, du machst dir keine Vorstellung, was dieses Gefühl, geliebt zu werden, in mir ausgelöst hat, Shinichi…“
 

Rans Stimme war laut geworden, klang verzweifelt.
 

Von dir geliebt zu werden, Shinichi…“
 

Shinichi starrte sie an, verzweifelt fast, schüttelte den Kopf.
 

„Es geht nicht. Ich… bring dich jetzt zurück.“

Er wollte sich umwenden, als ein kurzer, scharfer Zug ihn zurückhielt.

Rans Hand war nach vorne geschnellt, hatte seinen Arm kurz zu fassen gekriegt; sie krallte ihre Finger um das Armband seiner Uhr, als sie abglitten. Er spürte nur den Ruck, als sein Arm nach hinten gezogen wurde, ein scharfes Ziehen am Handgelenk - dann gab das ohnehin durch häufiges Tragen malträtierte Lederarmband nach und riss. Ran stand da, schaute ihn erschrocken an, als er sich umwandte, die Uhr in ihren zitternden Fingern bemerkte - und plötzlich wurde ihm siedendheiß. Unwillkürlich zerrte er seinen Ärmel über sein Handgelenk, eine Aktion, die Ran, die ihn immer noch atemlos anstarrte, eher aufmerksam machte, als dass er ihr etwas verbergen konnte.
 

Die feine Narbe am Handgelenk, knapp über den Handwurzelknochen.

Die Stelle, die er seit Jahren mit der immer gleichen Uhr Tag und Nacht verdeckte.
 

Ran trat näher, ihre Augen fixierten ihn, hielten ihn an Ort und Stelle, völlig regungslos. Er hörte nichts weiter als das Rauschen seines eigenen Bluts in seinen Ohren und wusste, dass ein weiteres, sorgsam gehütetes Geheimnis nun gleich keines mehr sein würde. Er fühlte, wie er schwitzte, heiß, und dann gleich kalt, weil der Wind und der Regen ihr Übriges taten.
 

Er rührte sich nicht, als sie seine Hand griff, den Ärmel zurückschob. Fühlte ihre eiskalten Finger, die langsam über diese Stelle strichen, als hätte sie Angst, sich daran zu verbrennen.
 

Shinichi schluckte. Er war sich fast sicher, dass sie wusste, woher eine solche Narbe stammte - sie war oft genug mit ihm oder ihrem Vater mit Menschen in Kontakt gekommen, die ein ähnliches Problem gehabt hatten - und daran zugrunde gegangen waren.
 

Rans zuvor noch beschleunigter Atem indessen war völlig zum Erliegen gekommen. Ihre Augen starrten auf den hellen Punkt, der von zahlreichen Stichen an immer der gleichen Stelle entstanden war.
 

Dann hob sich ihr Blick, suchte sein Gesicht, seine Augen, suchte nach einer Erklärung für das, was sie sah - und fand nur unbändige Müdigkeit und Kapitulation in seinem Blick. Dann schloss er seine Lider kurz, entzog ihr seine Hand und nahm ihr seine Uhr aus den klammen Fingern, schob sie in seine Jackentasche, ehe er sprach.

„Es… ist seltsam.“

Seine Stimme war leise, klang rau und sehr wackelig.

„Zum ersten Mal seit langem… gibt es nun kein Geheimnis mehr, aber ein… wirklich gutes Gefühl ist das nicht.“
 

„Shinichi, was…“
 

Ran schluckte.
 

„Du weißt es doch. Sag mir nicht, dass du… nicht weißt, wovon…“

Sie hörte seine raue Stimme wie von weiter Ferne an ihr Ohr dringen.
 

Sie starrte ihn immer noch an, ertrug die Wahrheit kaum, die ihr ins Gesicht lachte.
 

„Das glaub ich nicht…“, wisperte sie.

„Du… du würdest doch nie…“
 

Drogen…
 

Das Wort echote in ihrem Kopf, hämmerte sich in ihr Denken.
 

„Scheinbar doch.“, klang seine Stimme leise, emotionslos. Sie schaute ihn an, meinte einerseits, ihre Gedanken müssten sich überschlagen, und gleichzeitig schien in ihr alles einfach nur stillzustehen.

Das war einfach nicht wahr.
 

„Und was denkst du nun?"
 

Er sprach es erstaunlich ruhig aus. Dann trat er einen Schritt nach hinten, bis er die Brüstung des Brückengeländers unter seinen Fingern spürte, lehnte sich haltsuchend dagegen. Ran verkürzte den Abstand zwischen Ihnen wieder, biss sich auf die Lippen. Ihr war die plötzliche Kapitulation nicht entgangen, und sie beunruhigte sie zutiefst.

Ran kaute auf ihren Lippen.

„Du… warst süchtig?“

„Es bringt wohl nichts, versuchen zu wollen, dir was vorzumachen..."

Ein müdes Lächeln glitt über seine Lippen, als er ihr in die Augen sah.

„Abgesehen davon will ich dich nicht anlügen. Nicht schon wieder. Ich bins... einfach leid."

Shinichi seufzte tief.

„Also muss ich es wohl zugeben, ich war... süchtig. Allerdings nicht so, wie du wohl gerade vermutest. Oder nicht vermuten willst, vielmehr…"

Ran starrte ihn vom Donner gerührt an, glaubte, der Boden unter ihren Füßen bräche weg.

„Wonach?“

Sie fragte sich, woher sie immer noch die Stimme nahm, um diese Frage zu stellen. Er sah sie an, sah den Schock und ihr Zittern, zog sie neben sich ans Geländer, seufzte leise.

„Damals, in der Gasse. Als ich schwitzte und zusammenbrach, Ran… es war nicht nur, dass Gin dich in seiner Gewalt hatte, was mich am Handeln hinderte. Ich… konnte nicht.“

Sie merkte, wie er zusehends ins Wanken geriet – dennoch räusperte er sich, um ihr eine Antwort zu geben.

„Ich stand unter Entzugserscheinungen eines Halluzinogens. Man hatte mich, während der Tage in der Gewalt der Organisation, abhängig von einer Droge gemacht. Um… Antworten zu bekommen, auf ihre Fragen.“

Ran sog scharf die Luft ein, bohrte ihre Finger in die Brüstung, um nicht umzufallen, stierte unverwandt auf den Boden. Er wagte nicht, sie anzufassen oder zu stützen, sie irgendwie zu beruhigen – er wollte sie lieber für sich lassen.
 

„Die Wirkung… waren Wahnvorstellungen. Ich denke nicht, dass ich das ausführen muss. Fakt war… ja. Ich war ziemlich schnell ziemlich abhängig von dem Zeug. Zu dem Zeitpunkt, und noch lange hinterher.“

Mit zitternden Fingern strich er sich über die Augen.

„Und dann… wie bist du… losgekommen?“

Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum zu verstehen war. Er hingegen blieb völlig ruhig.

„Mit einer Diamorphin-Substitutionstherapie.“

Rans Augen weiteten sich.

„D-das ist…“

"Eine Droge, eigentlich, ja. Fakt ist leider, dass das HLZG mir nicht einfach nur Wahnvorstellungen beschert hat, es hatte auch beachtliche physische Entzugserscheinungen. Nach den ersten Tagen des kalten Entzugs haben meine Eltern beschlossen, sich das nicht mehr länger anzusehen und kontaktierten einen befreundeten Arzt meines Vaters in den USA."
 

Er rieb sich übers Handgelenk, als würde es brennen, kratzte unwillkürlich daran, merkte dann, was er tat und vergrub seine Hände in seinen Jackentaschen, deren deutliche Ausbeulung zeigte, dass er sie zu Fäusten ballte. Als er weitersprach, starrte er stur in den Boden, wo ihm eine immer größer werdende Pfütze sein eigenes Spiegelbild zeigte.
 

„Ich war dagegen, mir waren die Konsequenzen völlig egal. Ich wollte mich nicht von einer neuen Droge abhängig machen, auch wenn es der blanke Horror war, was mit mir passierte, aber ich ertrug es, wartete darauf, dass mein Körper kapitulierte. Ich wollte die Stille, die Ruhe, die Dunkelheit, ich wollte das Vergessen, wollte diese Bilder raus aus meinem Kopf, die mir mein Unterbewusstsein immer wieder vorspielte, als mein ganzer Organismus nach dem nächsten Schuss schrie. Nun, an das eigentliche Mittel war nicht mehr heranzukommen, und deshalb... nunja."
 

Er biss sich auf die Lippen, spürte, wie ein Regentropfen ihm den Hals hinunter in den Nacken rann.

"Ich versuchte mich zu weigern und scheiterte kläglich. Entweder wollte ich es alleine schaffen oder draufgehen dabei, nichts anderes hatte ich in meinen Augen verdient. Und erst später gingen mir dann auch noch die Folgen dieser Therapie auf... wer so etwas durchmacht, dem haftet es sein Leben lang an. Ich habs in meiner Akte stehen, wäre wohl ohne eine Empfehlung des FBI nirgendwohin gekommen. Und genau deshalb bin ich suspendiert, momentan, mein Chef hat in meiner Schublade eine Fläschchen davon gefunden, ungeöffnet und ohne Fingerabdrücke, weswegen er mir nichts nachweisen kann, aber für ihn ist der Fall klar, er glaubt, ich wär überbelastet und würde von meinen alten Dämonen eingeholt, ich kann ihm sagen was ich will, genau deswegen glaubt er mir nicht -"

Ran schaute ihn an, ihr Teint war bleich geworden, in ihren Augen standen Sorge und Entsetzen gleichermaßen.

„Es ist, wie es immer war, zuerst glaubt man mir nicht, weil ich ein Kind war, nun glaubt man mir nicht, weil ich ein Junkie war,... das Drama meines Lebens."

Er lächelte schief, schüttelte etwas hilflos den Kopf, seufzte tief, bemerkte Rans Blick.

„Ach, lassen wir das."

Müde rieb er sich über die Augen.
 

„Aber ich hoffe, du verstehst jetzt wenigstens, warum... warum das einfach nichts wird. Mein Leben ist ein Trümmerhaufen, und ich will nicht, dass deins mit einstürzt."

Traurig blickte er sich an.

„Und genau das ist es, was ich sehe, wenn ich dich anschaue, Ran. Dein Kummer, dein Leid, deinen Schmerz, jetzt, wo du weißt, was ich durchgemacht habe. Du leidest, weil du liebst – und immer bin ich die Ursache. Es hat einfach keinen Sinn. Ich will das nicht. Ich wollte dich glücklich sehen, um jeden Preis, stattdessen hab ich nicht nur mein Leben ruiniert, sondern deins gleich mit. Das… kann ich nie wieder gut machen.“
 

Kühl fühlte sich der Griff des Regenschirms an, als er ihn fester packte, sie am Handgelenk griff, um sie mit sich zu ziehen, zurück ins Hotel, wo ihr Vater wartete.
 

Ran hingegen hielt sich am Geländer fest.
 

„NEIN!“
 

Sie schrie ihn an, Tränen der Wut perlten aus ihren Augen. Shinichi ließ sie los, erstaunt.

Ihre Brust hob und senkte sich rasch, in ihre Wangen, ihre Stirn war das Blut geschossen. Wie die Passanten sich nach ihr umwandten, bekam sie gar nicht mit. Es war ihr einfach egal – sie hatte nur Augen für ihn, der sie mit wachsender Verwirrung anschaute.
 

„Du irrst dich! Verdammt, du irrst dich!“
 

Sie schluckte, griff dann ihrerseits nach seiner Hand, zog ihn zurück, zu sich.

„Und ich beweise es dir.“

Entschlossenheit klang aus ihrer Stimme, Kampfeswille lag in ihren Zügen.

„Ich will es wieder gut machen… und ich… ich zeig dir, wie du es wieder gut machen kannst.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Nein, Ran, hör zu. Das ist doch…“
 

Er schwieg, als er das bittere Lächeln auf ihren Lippen wahrnahm.

„Du… hast Recht, leider. Meinen ersten Kuss hat Gin mir gegeben. Und ich finde, bevor du sagst, dass es wirklich keinen Sinn macht, dass es nichts Gutes tut, Shinichi, solltest du versuchen, das wieder gerade zu biegen. Du willst… wiedergutmachen? Dann fang damit an. Diese eine, kleine Sache. Wenn das nichts bringt, dann… lass ich dich gehen.“

Sie ließ seine Hände los, stellte sich so dicht vor ihn, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren musste.
 

„Und wage nicht, mich stehen zu lassen. Du bist mir was schuldig, wenn du schon so gerne… von Schuld sprichst.“
 

Shinichi starrte sie verblüfft an, schüttelte den Kopf, langsam.

„Du spinnst doch, Ran. Das geht doch nicht einfach so, das…“

Er brach ab, als er ihre Hand spürte, die langsam seine Brust entlang nach oben wanderte, seinen Hals entlang, um auf seiner Wange liegen zu bleiben, wo sie ihm fast magisch die Röte ins Gesicht zauberte. Er sah in ihre Augen, die ihn fesselten, erwartungsvoll ansahen, so ungeheuer voller Leben – und ihm blieb schier die Luft weg.
 

Es fühlte sich an, als würde irgendetwas in ihm zerbrechen, als er langsam aufgab, sich zu wehren. Sein Verstand sagte ihm immer noch, dass es keine gute Idee war; sein Gefühl jedoch wollte sich langsam nichts mehr sagen lassen.
 

Der Regenschirm glitt aus seinen Händen, als er die Hände hob, ihr übers Haar, über die Wangen streichelte. Ran hob den Kopf, die Augen geschlossen, genoss es. Sanft berührte er mit seinen Lippen ihre Stirn, fühlte, wie wohliges Prickeln seinen Rücken hinabrann. Er nahm ihren Kopf in beide Hände, spürte, wie ihre Haare durch seine Fingern glitten, küsste ihr einen Regentropfen von der Wange. Ran schmiegte sich an ihn, sah ihn an; ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte ihn an, vergrub ihre Finger in seinem Nacken, schloss die Augen und strich sanft mit ihrer Nase gegen seine, atmete langsam aus.

Das Gefühl, als er sie küsste, war unbeschreiblich. Ein leises Seufzen entwich ihr, als er sie an sich presste, einen Arm um ihre Taille legte. Sie griff nach den Fingern seiner anderen Hand, hielt sie fest und drückte sich gegen ihn, haltsuchend. Sehnsucht wuchs in ihr, und mit ihr der Wunsch, ihn nie wieder gehen zu lassen. Dieses Gefühl des Geliebtwerdens tat einfach viel zu gut.
 

In Shinichis Kopf existierte nichts mehr, nichts außer diesem irren Glücksgefühl, sie so dicht an sich zu spüren. Niemals hätte er gedacht, dass er dieses Gefühls noch einmal fähig sein oder habhaft werden könnte, und er schlug alle Warnungen seines Unterbewusstseins in den Wind, um es zu spüren, mit jeder Faser seines Körpers. Er spürte Ran, dicht bei sich, lebendig, und das war alles, was zählte, in diesem Moment.
 

Schließlich löste er sich doch von ihr, atemlos. Ungläubig starrte er sie an; sie lachte leise, als sie die Überraschung in seinen Augen sah. Schwer atmend ließ er seinen Kopf in den Nacken sinken, hielt sie immer noch fest, starrte in die Regenwolken, schnappte nach Luft.
 

„Und?“, meinte er dann fragend, hörte überrascht, dass seine Stimme leicht heiser klang, räusperte sich.

Ran hingegen lächelte ihn kokett an.

„Mhm. Ich weiß nicht, was ist mit dir? Schon genug Beweis, um eine gültige Schlussfolgerung darüber zu fällen, Sherlock…?“

Er schaute sie an, schüttelte den Kopf, bemerkte fast erstaunt, wie sich seine Mundwinkel zu einem leichten Grinsen verzogen. Und er fragte sich, wie es hatte passieren können, dass sie seine Bedenken, all seine Warnungen, so leicht hatte über Bord werfen können, durch ihre pure Anwesenheit. Sie schmiegte sich an ihn, sie verstand ihn, passte zu ihm wie der richtige Schlüssel ins passende Schloss.

Sie vertrieb die Dunkelheit, jeden trüben Gedanken, die Kälte – füllte sein Leben, sein Denken, sein ganzes Sein aus mit diesem kaum zu benennenden, wunderbaren Gefühl.

Sie lächelte, strich über sein Handgelenk, zart.

„Ich für meinen Teil denke, dass ein zweiter Versuch nicht schaden kann, was meinst du…?“, hauchte sie.

Und als er sich zu ihr beugte, um ihrer Bitte nachzukommen, fragte er sich, wie er tatsächlich auf all das hatte verzichten wollen.
 

Als es immer heftiger zu regnen begonnen hatte und sie beide bis auf die Knochen durchnässt waren, hatten sie sich doch entschlossen, den Ort zu wechseln. Ohne noch einmal in ihr Hotel zurückzugehen hatten sie Shinichis Wagen geholt und waren zu ihm nach Hause gefahren.
 

Und dort standen sie nun – mitten im Wohnzimmer und alles, was man hörte, war das leise Tropfen des Wassers, dass aus ihren Klamotten auf das Parkett tröpfelte.

Shinichi hatte unentschlossen die Tür hinter sich zugemacht, überlegte, ob er Handtücher holen sollte – Ran allerdings nahm ihm die Entscheidung ab. Sie umfasste seinen Kopf mit beiden Händen, atmete langsam aus, drückte sich an ihn, schien den Kontakt nicht abreißen lassen zu wollen, ganz so, als hätte sie Angst, ihn wieder zu verlieren. Sie schloss die Augen, spürte, wie er ihre Handgelenke mit seinen Händen umfasste, fest, zuerst – dann ließ er sie sanft ihre Unterarme entlang gleiten, bis zum Ellenbogen, und von da an synchron ihre Oberarme wieder hinauf, fühlte den zarten Stoff ihres Kleids unter seinen Fingern, das an ihrem Körper klebte, ihre Haare auf seiner Haut, als er bei ihren Schultern angekommen war – ließ sie weiterwandern zu ihren Wangen, strich mit seinen Daumen über ihr Gesicht, und merkte, wie ihm buchstäblich die Luft wegblieb, als ihm jetzt erst, nach so langer Zeit, klar wurde, was all das bedeutete.

Und konnte nicht genug davon bekommen, wollte jeden ihrer Atemzüge unter seinen Fingern spüren, die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte, all diese beruhigenden Beweise für diese eine wunderbare Wahrheit.
 

Ran lebte.

Tag 9 - Kapitel 43: Der Tag danach

Kapitel 43 – Der Tag danach
 

Einige Stunden später riss ihn der Wecker aus seinem Traum.

Er fuhr hoch, sah sich hektisch um, sah in der Finsternis, die im Schlafzimmer herrschte, zunächst nichts und war schon drauf und dran, Bitterkeit wie Galle in sich aufsteigen zu fühlen, als in ihm die Ahnung emporkroch, dass er wieder mal nur geträumt hatte – ein Traum voll irrem Glück zwar, aber doch nur ein Traum – als er es roch.
 

Parfum – und zwar eins, das garantiert nicht seins war.
 

Dann bemerkte er das Kleid, das neben ihm auf dem Boden lag und beredt davon erzählte, wie es ausgezogen worden war – nicht von seiner Trägerin nämlich, die es zumindest über den Stuhl gehängt und nicht einfach achtlos an Ort und Stelle fallen gelassen hätte.

Hitze stieg ihm in den Kopf, ließ ihn sich ungläubig an die Stirn fassen, als er die letzten Stunden rekapitulierte, und dabei der Wahrheit ins Auge sehen musste – das alles war kein Traum gewesen.
 

Ein verlegenes Lächeln glitt ihm über die Lippen.
 

Dann schloss er die Augen, atmete deutlich entspannter tief ein und aus, genoss den Duft, der ihm in der Nase hing und die Erinnerung, die damit einherging.

Dann wandte er sich um, blickte zur anderen Seite seines Bettes, in der Ran lag, eingemümmelt in seine Bettdecke, zusammengekuschelt wie ein Embryo, und ihn gerade müde anblinzelte. Er gab dem Wecker einen Klaps, um den nervtötenden Ton abzustellen.
 

Ran war hier.
 

Ein warmes Glücksgefühl durchströmte ihn, als er sich zu ihr beugte und ihr einen sanften Kuss auf die Lippen drückte. Sie schaffte es, eine Hand aus ihrem Kokon zu befreien, strich ihm über die Wange, ließ ihre Hand auf seiner Schulter liegen.
 

„Musst du schon aufstehen?“, murmelte sie schläfrig.

Shinichi seufzte unschlüssig.

„Normalerweise würde ich sagen - ja. Es ist halb sieben Uhr, und um die Zeit beginnt mein Tag… da ich allerdings ja momentan arbeitslos bin, könnte ich auch liegen bleiben…“

„Und warum tust du’s nicht?“

„Seit wann liest du Gedanken?“

Er runzelte die Stirn, beobachtete, wie ihr ein feines Lächeln auf die Lippen kroch.

„Ich kenne dich. Und du guckst schon wieder so.“

„Ach.“

Shinichi schürzte die Lippen, stützte sich mit dem Ellenbogen in seinem Kissen ab, legte seinen Kopf in seine Handfläche, fixierte ihre Augen mit seinem Blick.

„Wie guck ich denn?“

Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.

„So wie du immer guckst, wenn du große Gedanken zu einem Fall wälzt. Und da ich dich noch nie deine Fälle im Bett lösen gesehen habe, sondern du…“

„An sich ist das aber keine schlechte Idee. Ich wird‘ mir das mal durch den Kopf gehen lassen…“, murmelte er grinsend.

„…bisher immer deinen Verbrechern hinterhergejagt bist wie die Katze der Maus, von einem Ort zum anderen, etwas, dass dich mehr beansprucht, als du zulassen solltest, im übrigen…“

Shinichi schnappte nach Luft, zuckte merklich zusammen, als unerwartet ein paar Finger über seine Magengrube glitten.

Ran sah ihn bekümmert an.

„Ehrlich… du solltest unbedingt…“

Shinichi schluckte ertappt, wandte den Blick ab, fischte dann ihre Hand mit seiner unter der Bettdecke hervor.

„Du klingst wie meine Mutter.“

„Und sie hat doch Recht.“

Ran strich ihm über die Wange.

„Sie hat doch Recht.“

Mühsam fing sie seinen Blick wieder ein.

„Also… was willst du machen?“, fing sie erneut an, bemühte sich, den Faden wieder da aufzunehmen, wo sie ihn eben hatte kurz ruhen lassen.

„Ich weiß nicht.“

Sie sah ihn verblüfft an, sah die Zweifel in seinen Augen, als er sich niedergeschlagen zur Seite, auf den Rücken wälzte und die Decke anstarrte.

„Ich dachte eigentlich, alles wäre klar… ich dachte, die Indizien sprechen für sich. Der Gin, die Tatsache, dass man mir ein Bild von dir geschickt hat, die Art, wie die Opfer sterben mussten, die Tatwaffe…“

„Aber?“, sprach Ran das Wort aus, das er ungesagt an den Ende seines unvollendet gebliebenen Satzes gehängt hatte.

„Aber… das alles beweist nichts. Es… ich hab nirgendwo einen echten, stichhaltigen, unverrückbaren Beweis gefunden. Nicht im Loft. Nicht an den Tatorten. Ich habe das Gefühl, ich jage einem Phantom hinterher. Was, wenn ich nur den Geistern nachjage, die mich seit der Auslöschung dieser Organisation verfolgen? Was, wenn ich mir das alles einbilde, wenn es wirklich zu viel wird für mich, wie meine Mutter… und du ja auch… und einige andere mir unterstellen…“

Ran sah ihn an, beugte sich über ihn, versuchte, den Ausdruck in seinem Gesicht zu deuten.

„Deine Mutter und ich haben dir aber nie ausgeredet, dass du mit deiner Vermutung richtig lagst. Warum zweifelst du auf einmal…?“

Shinichi wandte den Kopf ein wenig, schaute sie an.

„Ich habe… nunja. Das Gespräch mit Montgomery war mehr als ernüchternd. Die Beweislage ist es, wie du ja weißt, auch. Und… unser Pathologe, ein Mann, der mich jetzt immerhin fünf Jahre kennt, und mit mir immer sehr ehrlich war, hat ebenfalls seine Bedenken bezüglich meiner… Vermutung geäußert, und ich weiß, er meint‘s gut mit mir. Sie alle tun das wohl, es gut mit mir meinen, meine ich… und seien wir ehrlich, mehr als Vermutungen sind es auch nicht. Ich hab nur eine Theorie, mehr nicht.“

„War es das letzte Mal auch nicht. Und du hast sie trotzdem ans Licht gezerrt, der Welt bewiesen, dass sie existierten, und sie zerstört, Shinichi.“
 

Rans ernste Stimme riss ihn aus seiner Lethargie.

Sie jedoch war noch nicht fertig.
 

„Warum zweifelst du jetzt an dir? Du hast in deinem ganzen Leben noch nie an dir gezweifelt. Wer bist du noch, wenn du damit anfängst, Shinichi? Du glaubst nicht daran, dass Brady das alleine war. Du hast Menschenkenntnis, das weißt du, und du erkennst einen Mörder, wenn er vor dir steht, und du erkennst auch sein Motiv. Du bist, verdammt noch mal, Großbritanniens neuer Sherlock Holmes!“

Shinichi zog die Augenbrauen überrascht hoch. Ran hatte sich in Rage geredet, sich im Bett gerade aufgesetzt, gestikulierte nun wild.

„Nur weil ein paar Knalltüten diesem… diesem Absatz in deinem Lebenslauf mehr Beachtung und Glauben schenken als dir, Shinichi, muss das nicht heißen, dass du falsch liegst! Du fantasierst dir doch nichts zusammen! Du hättest das FBI nicht informiert, wäre dein Verdacht nicht begründet! Also…“
 

Sie sah ihn ruhig, aber entschlossen an.

„… wirst du sie dir auch holen.“
 

Langsam beugte sie sich runter, gab ihm einen zarten Kuss auf die Lippen.
 

„Du liegst nicht falsch. Und das ist der Grund, warum du jetzt aufstehst. Du weißt das doch eigentlich.“

Er wandte den Blick kurz ab, seufzte tief.

Dann drehte er sich wieder um zu ihr, drückte ihr einen Kuss auf die Wange, lächelte sie an.

„Danke.“

Sie sagte nichts, lächelte nur zurück.

„Du kannst aber eigentlich noch weiterschlafen, ich lass dir den Schlüssel…“

„Nein.“

Sie schüttelte den Kopf, grinste ihn an, zog ihm dann das Bett weg.

„Ich steh auch auf. Die Mädels werden mich schon vermissen.“

Das Blut schoss ihr in die Wangen, zauberte einen deutlichen Rotschimmer auf ihre Wangen, als sie an die vergangene Nacht dachte, beobachtete, wie er aus dem Schlafzimmer tappte, sich dabei den Schlaf aus den Augen wischte.
 

Dann schluckte sie hart, als sie sich ihres Dilemmas bewusst wurde, merkte, wie sich ihre gerade eben noch lächelnden Lippen verzerrten.
 

Sie würde nicht bleiben können. Denn auch wenn sie es nicht gerne einsah, in einer Sache hatte er vielleiecht doch Recht. Sollte die Organisation dahinterstecken, war sie hier nicht sicher.

Und das hieß im Klartext, dass sie ihn so schnell, wie sie ihn bekommen hatte, wieder verlieren würde.
 

Er drehte sich um, als könne er den Blick, der sich in seinen Rücken bohrte, körperlich spüren.

Ganz sicher aber konnte er ihn lesen, als er in Rans Gesicht sah.

Auch sein Hochgefühl ebbte allmählich ab. Langsam trat er zurück, setzte sich neben Ran aufs Bett.
 

„Wir… hätten besser nicht…“

Ran schüttelte den Kopf, griff seine Hand, drückte sie.

„Nein. Nein, um ehrlich zu sein, hatte ich die letzten Stunden, angefangen vom Moment, als ich den Brief gelesen habe bis jetzt, endlich das Gefühl, mal was richtig zu machen. So sollte es doch sein, Shinichi. Du… und ich. Wir. Das… es hat sich doch gut angefühlt. Selbstverständlich… oder kommt es dir anders vor…?“

„Nein.“

Seine Stimme war kaum zu hören.

„Nein. Und das weißt du auch.“

Sie merkte, wie in ihr ein Gefühl von Ohnmacht aufstieg, presste die Augen kurz zusammen, wollte die aufsteigenden Tränen wegblinzeln und schaffte es.

„Ich meine, das war es doch, worauf wir beide so lange gewartet haben! Wir haben doch so gekämpft dafür, zusammen zu sein, dieses Gefühl zu teilen -unser Leben zu teilen! - und ich versteh‘s nicht, wie kann etwas, das für andere so selbstverständlich ist, für uns so unerreichbar sein, ich…“

Sie brach ab, als er ihren Redeschwall mit einem Kuss stoppte.

„Weil andere keinen dummen Idioten lieben, wie du, Ran.“

Schuldbewusst blickte er sie an.

„Der Grund, warum wir nicht zusammen sein können, ist meine Dummheit. Ich hab‘s verbockt.“

Shinichi nickte langsam, sah sie dann an.

„Wir haben gespielt, und… der Ausgang dieses Spiels steht noch nicht fest. Sehr wohl aber wissen wir, was unser nächster Zug sein wird. Sie sind hier, also musst du unbedingt zurück. Aus ihrer Reichweite verschwinden. Weg von hier, bis alles vorbei ist. Und…“

„Du kannst mir nicht versprechen, dass es dann endlich vorbei ist. Shinichi, wie soll das weitergehen… ich… ich kann das nicht mein Leben lang so machen, ich kann und will nicht warten, Shinichi, jetzt erst Recht nicht mehr, ich…“
 

Er lächelte matt, und sie ahnte, was seine Antwort war.

„Dann musst du Schluss machen mit mir und dir einen anderen suchen, Ran.“

Ran sagte nichts, sah ihn nur bedrückt an, beobachtete, wie er um Worte rang.

Schweigend sah er sie an, ehe er Luft holte und sich ihr erneut zuwandte.

„Du weißt, dass das Schwachsinn ist. Und… eigentlich wollte ich mir auch nicht mein Leben lang Feinde machen. Und wenn… wenn endlich…“

Sie schaute ihn an.

„Glaubst du noch daran?“

Er versuchte ein Lächeln, das sich verzweifelt verzerrte.

„Ich… möchte gerne, und ich tu es wohl, warum sonst würde ich morgens aufstehen, um‘s mit deinen Worten zu sagen? Ich hoffe noch… allerdings befürchte ich, nach allem, was passiert ist, wird das kein leichtes Unterfangen. Aber ich… will unbedingt noch hoffen. Auf Glück. Ein Leben zu zweit, vielleicht…“

„Heiraten?“

Ran schaute ihn nicht an, ihr Blick verlor sich kurz.

„Wenn du ja gesagt hättest…“

Seine Stimme klang rau.

„Glaubst du ernsthaft, ich will das hier? Klar…“

Er unterbrach sich selber.

„Klar, im Yard zu arbeiten ist super. Und ich streit gar nicht ab, dass ich mir das nicht heimlich erträumt hab – arbeiten in der Stadt Sherlock Holmes‘, ihm sogar Konkurrenz machen! Ich würde lügen, würde ich sagen, dass mir das keinen Kick gibt, erst Recht jetzt, wo langsam dieses drückende Verlustgefühl nachlässt.“

Shinichi seufzte, sah sie an, lächelte kurz.

„Aber abhauen aus der Heimat, ohne ein Wort? Zu keinem mehr Kontakt halten? Sich selber bestrafen für den Mist, den man verbockt hat, nur noch wegen der Arbeit zu leben, denkst du, ich will das? Glaubst du, das war je mein Lebensziel? Klar, wir Japaner arbeiten gern und viel…“, er lächelte sarkastisch, „und ja, ich mag meinen Job. Aber das war nicht alles, was ich von meinem Leben wollte. Bei. Weitem. Nicht.“

Ein bitteres Lachen entfloh seiner Kehle, so leise, dass nur Ran es hörte.

„Nein. Ich hatte eigentlich mal gedacht… es irgendwann auf die Reihe zu kriegen, dir nochmal vernünftig zu sagen, was ich von dir halte, etwas Glück zu haben, nämlich das, dass du das Gleiche über mich denkst… und wir dann zusammen irgendwo ein Leben aufbauen, zu zweit, und glücklich werden bis wir alt und grau sind. Ganz klassisch, und furchtbar spießig klingt das, und will so gar nicht passen zu Shinichi – der Meisterdetektiv, der das Verbrechen magisch anzieht – Kudô.“
 

Er schluckte trocken, gab ihr einen Kuss auf die Schläfe.

Dann stand er auf und verließ das Schlafzimmer ohne ein weiteres Wort.

Kraftlos ließ sie sich zurücksinken, griff sich sein Kissen, vergrub ihre Nase darin und starrte die Decke an.
 


 

Shinichi seufzte, starrte unwillig in sein Spiegelbild, als er sich routinemäßig die Haare wusch, die Zähne putzte, rasierte – und zuckte bei eben jener Tätigkeit zusammen, als er plötzlich zwei Hände spürte, die sich um seinen Bauch legten. Im nächsten Moment presste er einen Finger auf einen kleinen Schnitt an seinem Wangenknochen, drehte sich um, blickte in Rans Gesicht, die ihn schuldbewusst anschaute, auf ihrer Unterlippe kaute.

„Ran.“

Er seufzte, lächelte dann spöttisch.

„Hat dir Kogorô nicht beigebracht, dass man sich von Männern mit scharfen Gegenständen in der Hand fernhält? Gilt auch für Nassrasierer.“

Ran seufzte.

„Entschuldige. Ich…“

Er schüttelte lächelnd den Kopf drehte sich um, besah sich den Schnitt genauer.

Sie trat näher, drehte seinen Kopf in ihre Richtung.

„Hast du Jod daheim? Lass mich wenigstens…“

Shinichi seufzte, verdrehte die Augen.

„Ran, was meinst du, wie oft mir das passiert ist, als ich damit angefangen hab.“

Er tupfte mit einem Papiertuch daran.

„Blutet eh kaum noch. Aber wenns dir besser geht – bitte.“

Damit öffnete er einen Badezimmerschrank, griff nach einer kleinen Flasche und reichte sie ihr, hielt brav still, als sie den Schnitt desinfizierte, schlüpfte im Anschluss in sein Hemd.

„Ich geh kurz zum Bäcker.“

Ein entschuldigendes Lächeln flackerte über sein Gesicht.

„Wie du ja vorhin bemerkt hast, bin ich kein großer Frühstücker…“

„… und Mittagesser und Abendesser…“

„Und da ich dir aber ein guter Gastgeber und Freund sein will, bevor ich dich in den Flieger nach Hause setze…“

Er überging ihren missmutigen Gesichtsausdruck und redete unbeeindruckt weiter.

„… muss ich was zum Frühstücken besorgen. Außer Kaffee ist nichts da, den du gern kochen darfst, wenn du möchtest.“

Er küsste ihr grinsend auf die Nase.

„Irgendeinen Wunsch?“

Sie seufzte.

„Ja, aber den willst du nicht hören.“
 

Shinichi schluckte, schaute sie an, antwortete nicht.
 

„Eine Viertelstunde. Länger wird’s nicht dauern.“
 

Damit verließ er das Badezimmer, ließ sie allein zurück mit dem jodgetränkten Tuch und dem Geruch seines Aftershaves. Sie seufzte tief, schaute sich im Spiegel an, schüttelte den Kopf, traurig.
 

Nachdenklich war er die Treppe nach unten gestiegen. Er wusste, was Ran dachte. Und was sie wollte.

Und dass es nahezu unmöglich werden würde, sie zu überzeugen, zu gehen, jetzt.

Jetzt, nachdem…

Er seufzte, verdrehte die Augen.

Und er würde lügen, würde er behaupten, dass es ihm leicht fiel.

Dass er sie gern gehen ließ.
 

Ach, verdammt. Warum muss es immer, immer kompliziert sein.
 

Dann öffnete er die Tür – und sah sich einer etwas größeren Menschenmenge gegenüber, die auf den beiden Stufen zur Haustür stand, und sein Leben ebenfalls verkomplizierte.

Hinter ihm hallte die Klingel durch das Treppenhaus, ein Ton, der sofort erstarb, als er den Verursacher des Lärms anblickte, der da mit aller Macht den Klingelknopf drückte, so fest, dass das Blut aus ihrer Fingerspitze gewichen war.
 

Sonoko schaute ihn an, ihre Stirn in tiefe Falten gelegt.
 

„Stiehlst du dich etwa davon, Kudô?“

Shinichi schaute sie an, stopfte seine Hände in seine Jackentasche, schaute sie zynisch lächelnd an.

„Ja, dir auch einen guten Morgen, Suzuki.“

Er seufzte leise, ließ seinen Blick über die Köpfe schweifen.

„Seid ihr im Konvoi gefahren?“

Ein Hauch von Spott und Ironie klang in seiner Stimme.

„Aber um deine Frage zu beantworten – nein. Ich hol – und jetzt lach ruhig – das Frühstück. Da ihr um diese Uhrzeit hier schon aufkreuzt, weil ihr offenbar nichts Besseres zu tun habt – schlafen, zum Beispiel – nehme ich an, ihr hattet auch noch keins.“
 

Sonoko ließ ihren Arm sinken. Hinter ihr standen Kazuha, Heiji, Shiho, Kogorô und seine Eltern sowie die Agents Starling und Akai.

„Ran ist oben und… zieht sich an. Geht schon mal rauf – ich fürchte aber, es wird eng werden. Ein Stuhl steht noch im Büro.“
 

Damit stieß er die Tür hinter sich noch ein Stück weiter auf, drängte sich an der Gruppe vorbei und ging den Gartenweg entlang – und merkte erst nach ein paar Metern, dass Heiji ihm folgte.

„Glaubst du, ich komm nicht zurück? Komm schon, ich weiß, ich bring gern mal ein paar unberechenbare Dinger, aber so mies…“

„Nein.“

Heiji seufzte, lächelte dann matt.

„Wie geht’s jetzt weiter?“

„Was soll wie weiter gehen?“, erwiderte Shinichi, als er um die Ecke bog, zielstrebig auf die kleine Bäckerei zusteuerte.

Heiji neben ihm ächzte – und er musste sich mächtig zusammenreißen, um nicht zu grinsen.

„Na, also – ich dacht‘ eigntlich – jetzt sag nich‘…“

Er starrte ihn an, war stehen geblieben. Und stöhnte laut auf, als er seinen Freund lachen sah.

„Kudô!“ Er holte nach ihm aus, traf ihn jedoch nicht, weil Shinichi sich wegduckte.

„Argh…“

Kopfschüttelnd wischte er sich übers Gesicht.

„Heiji ehrlich, du bist Kommissar? Sie wär wohl kaum über Nacht geblieben oder ich hätte sie gelassen, hätten wir gestern nicht…“

„Jaaaa?“

„Mal ein paar essentielle Dinge klargestellt.“

Heiji stöhnte auf.

„Der große Romantiker biste ja nich‘ Kudô.“

„Nicht für dich, nein.“

Er schüttelte den Kopf, lächelte, merkte, wie ihm erneut die Hitze in den Kopf stieg, Blut ihm in Stirn und Wangen schoss, als er an das Gestern dachte – Heiji sah ihn von der Seite an, bemerkte es, fühlte, wie er sich zu freuen anfing, langsam. Für seinen Freund.

„Was soll ich sagen. Ich… es war berauschend.“

Er hielt inne, schluckte hart.

„Und eigentlich… will ich sie nie mehr gehen lassen… aber das wussten wir ja im Grunde genommen auch schon vorher.“

Er schüttelte den Kopf – Bitterkeit stieg in ihm hoch, klang in seiner Stimme mit, als er sprach.
 

„Du… hast keine Ahnung, wie sehr ich… wie sehr ich sie liebe. Ich denke, sie selbst hat vielleicht den Hauch einer Ahnung davon, und ich fürchte, selbst mir ist es nicht ganz klar – aber…“

Heiji starrte ihn an – sah ihn lächeln, allerdings nicht mehr dieses glückliche Lächeln, das bis gerade eben auf seinem Gesicht gelegen hatten, sondern das traurige Verziehen seiner Lippen, das er schon gesehen hatte, als er ihm auf der Brücke ins Gewissen geredet hatte, vor ein paar Tagen. Es reichte nicht bis in seine Augen; in ihnen lag pure Verzweiflung.
 

So sehr, dass es weh tut, Shinichi. So sehr liebst du sie.
 

Er schloss die Augen.

„Und du ahnst nicht, was ich aufzugeben bereit wäre, wenn ich… wenn ich dafür ein Leben mit ihr bekäme.“

Tief holte er Luft, starrte in den Himmel, versuchte an Atem zu kommen und merkte doch, wie ihm die Angst die Luft abschnürte.

„Das alles hier, Heiji. Alles. Ich würd sogar das Detektivsein hinwerfen. Ich… all die Dinge, die sie mir gibt, allein ihre pure Anwesenheit, das schier unbegreifliche Gefühl zu wissen, dass es wahr ist, wenn sie sagt, dass sie mich liebt, ist…“

Er schluckte hart, räusperte sich, ehe er Heiji wieder ansah, sich langsam wieder in Bewegung setzte.

„Aber es führt momentan einfach kein Weg dahin! Es geht nicht.“
 

Unwillig starrte Shinichi auf den Asphalt, als er weiterging, mit leiser Stimme weiter redete.

„Sie sind hier. Ich kanns nicht beweisen, noch nicht, aber ich…“

Seine Stimme klang heiser.

„Gin ist hier. Er steckt… hinter diesen Morden, und ich weiß…“

Er ballte die Fäuste.

„Ich kann nicht mit ihr zusammen sein. Sie benutzten sie einmal, um mir zuzusetzen, sie werdens wieder tun. Sie ist hier nicht sicher. Sie ist mit mir nicht sicher.“
 

Er schwieg, blieb erst vor der Ladentür der Bäckerei wieder stehen, schaute nicht auf, als er sprach.
 

„Sosehr ich ein Leben mit ihr will, noch wichtiger ist mir, dass sie ein Leben hat, Heiji. Ich ertrag nicht noch einmal, wenn ihr etwas wegen mir passiert. Ich ertrug es das letzte Mal kaum.“
 

Langsam hob er den Kopf, schaute ihn an – dann öffnete er die Tür, setzte sein höflichstes Lächeln auf und grüßte scheinbar gut gelaunt die Bäckerin – und Heiji folgte ihm, wortlos, sich im Stillen darüber wundernd, was für ein exzellenter Schauspieler er war.
 


 

Ran hatte gerade den Reißverschluss ihres Kleids zugezogen, als es klingelte.

Sie stutzte.
 

Eine Viertelstunde kann doch noch nicht vorbei sein? Ist er etwa schon wieder zurück?
 

Sie ging zur Tür, zog sie auf – und erschrak ganz kurz, als sie die Meute vor ihrer Tür bemerkte. Dann seufzte sie, als sie Sonokos musternden Blick aus halboffenen Augen bemerkte, fühlte, wie ihr erneut ein wenig warm im Gesicht wurde und verfluchte sich selbst dafür.
 

„Sag mal, melden, wo du abgeblieben bist, Ran, musst du dich nicht, oder wie? Oder mal ans Handy gehen? Wir haben uns Sorgen gemacht, du…“
 

Ran seufzte laut.

„Ist ja gut, Sonoko. Du siehst, es geht mir gut. Außerdem wusstet ihr, mit wem ich mich treffe.“

Sonoko warf ihr einen Blick aus Halbmondaugen zu.

„Ja, mit dem arbeitslosen Meisterdetektiven. Besonders luxuriös scheint er ja nicht zu hausen.“, bemerkte sie, als sie in die Wohnung trat, sich neugierig umsah.

„Aber jetzt sag schon! Was ist denn da gestern noch…“

„Sonoko.“

Zur Überraschung aller war es Kogorô, der sich einmischte.

„Ich denke nicht, dass es dich etwas angeht, was die beiden zwischen sich…“

Ran seufzte leise, drehte sich um, als sie einen Blick an ihrer Schulter kitzeln spürte. Yusaku Kudô schaute sie an – neben ihm stand seine Frau. Sie überließ Sonoko ihrem Vater und Shiho, trat auf sie zu.

Ein schmales Lächeln war auf die Lippen des Schriftstellers getreten, ein zarter rosa Schimmer auf die Wangen seiner Frau.

„Also dürfen wir dich jetzt Schwiegertochter in Spe nennen?“, flüsterte Yukiko, zwinkerte ihr zu.

Ran lächelte verlegen.

„Schätze wohl ja… wobei er das Spe wohl noch sehr klein schreibt.“

Der warme Rotschimmer auf ihren Wangen ließ Yukiko lächeln, als sie die junge Frau in ihre Arme zog, sie an sich drückte. Als sich Ran von ihr löste, war deren Lächeln allerdings ein wenig ins Wanken geraten.

„Es ist… wundervoll, endlich, und ich glaube auch er ist… glücklich – ich denke, zumindest gestern war er es.“

Sie seufzte, schaute seinen Eltern sorgenvoll ins Gesicht.

„Trotz allem lässt er sich leider nicht davon abbringen, mich heimschicken zu wollen.“

Yusaku seufzte leise.

„Immerhin aber ist er aus seiner Höhle gekrochen und hat dich wieder in sein Leben gelassen, wie es aussieht. Das ist fast mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte, um ehrlich zu sein.“

Er lächelte kurz, ehe er sich die Brille zurechtschob und seine Miene wieder ernst wurde.

„Und du musst ihn verstehen… er hat sich mit gefährlichen Leuten angelegt, das weißt du, er will doch nur…“

„Ja.“

Ran seufzte, das Lächeln war ihr von den Lippen gebröckelt.

„Das weiß ich leider jetzt besser denn je.“

Ihre Augen glitten zum Tisch, auf dem seine Uhr lag. Yusaku folgte ihrem Blick, zuckte kaum merklich zusammen.

„Also hat er’s dir gesagt?“

„Ihm blieb nichts anderes übrig. Auch wenn er sich nicht in Details ergossen hat.“, murmelte Ran.

„Und das ist etwas… was es für mich einfach ganz und gar unmöglich macht, ihn allein hier zu lassen. Ich will nicht tausende Kilometer weit weg sein, wenn er in Gefahr ist. Und machen wir uns nichts vor – das wird er sein. Er ist es bereits.“

Sie zitterte, schlang ihre Hände um ihren Oberkörper.
 


 

Heiji und Shinichi hatten den Heimweg relativ schweigend hinter sich gebracht, beide mit zwei großen Tüten aus der Bäckerei beladen, denen der köstliche Duft frisch gebackener Brötchen entströmte.
 

Vor der Tür angekommen blieben sie stehen, während Shinichi nach seinen Schlüsseln suchte. Heiji schaute ihn nachdenklich an.

„Und? Ich wiederhol‘ mich ungern, aber du hast meine Frage immer noch nich‘ beantwortet. Wie geht’s jetzt weiter? Ich denk‘, sie wird sich nich so leicht mehr abwimmeln lassen, nun, da se…“

„Das wird sie aber müssen, Heiji.“

Shinichi hatte seine Schlüssel gefunden, rammte ihn unwirsch ins Schloss.

„Die Frage steht nicht zur Debatte. So sehr ich mir ein Leben mit ihr wünsche… es geht nicht.“

Er kniff die Lippen zusammen, als er die Tür aufsperrte und sich dagegenstemmte, um sie aufzudrücken.

„Noch nicht.“

Kurz biss er sich auf die Lippen.

„Ich hab ihr das Rückflugticket vorhin gekauft. Für die anderen auch, im Übrigen.“

Er seufzte laut, als er die Treppen hinaufzusteigen begann. Heiji hob die Augenbrauen.

„Und weiß sie das schon?“

Shinichi lächelte bitter.

„Noch nicht…“
 

Er hatte seine Wohnung noch nie so voll gesehen, kam er nicht umhin zu bemerken, als er die Tür zu seiner Wohnung aufstieß.

Und ganz definitiv war es hier noch nie so laut gewesen. Stimmengewirr schallte ihm entgegen, als er und Heiji eintraten. Er zog sich mit den Füßen die Schuhe aus, schob sie ein wenig zur Seite, damit Heiji nicht drüberfiel und deponierte seine Papiertüte auf der Mitte des Tischs – und erst jetzt schienen alle anderen wahrzunehmen, dass sie wieder da waren.

Er spürte Rans Blick auf sich, die neben ihn getreten war, als er die Brötchen aus dem Papier befreite, seufzte leise.

„Spuck’s endlich aus, Ran.“

Er sah auf, begegnete ihren blauen Augen, die ihn starr ansahen.

„Bevor du platzt.“

Und auf einmal war es still.
 

„Ich werde mich nicht von dir wegschicken lassen.“

Sie sagte es leise, und er hörte ihr an, wie schwer ihr die Worte fielen, wie viel Mut es sie kostete – und wie ernst sie es meinte. Und er traute sich wetten, dass sie seit dem Zeitpunkt, an dem er sie im Bett zurückgelassen hatte bis zu diesem Augenblick über den Wortlaut und die Tonlage nachgedacht, ach was, gebrütet hatte, mit denen sie ihm diese Worte sagen wollte.
 

Er seufzte leise.

„Doch, wirst du. Ich hab dir dein Ticket heute morgen gekauft. Bitte sehr. Business Class.“

Er zog den Computerausdruck aus seinem Jackett.

„Ihr fliegt heut nachmittag.“

Ein Sturm der Entrüstung wollte sich gerade Bahn brechen, als er Sonoko und Kazuha, die sich da lautstark beschweren wollten, mit einem scharfen Blick das Wort abschnitt.

„Und ihr solltet mal ganz leise sein, wenn euch was an ihrem Leben liegt. Ihr wisst genau, was passiert ist, als sie das letzte Mal zu lange in meiner Gesellschaft war.“

Er schüttelte den Kopf.

„Man möchte meinen, euch liegt etwas an ihrem Leben.“

Sonoko starrte ihn an, schwieg geschockt.

Shinichi wandte sich ab, drehte sich ihr zu.

„Ran, hör zu. Das… das musst du tun für mich. Ich bitte dich. Du weißt, was… passieren kann, und du weißt, wie…“

Sie schluckte, schaute ihn an.

„Shinichi ich…“

„Ich hab nicht nur dein Ticket gekauft.“
 

Langsam griff er in die andere Tasche seines Jacketts, zog ein weiteres Dokument hervor, reichte es ihr. Sie schluckte hart, merkte, wie ihre Finger zu zittern anfingen, als sie den Namen des Passagiers und das Flugdatum las.

Dann sah sie auf, griff das Revers seiner Jacke, zog ihn an sich.
 

„Versprichst du`s?“, flüsterte sie, schaute ihn drängend an.

„Versprichst du, dass du übermorgen nachkommst, kannst du mir dein Wort darauf geben… Shinichi?“

Er gab ihr einen zarten Kuss auf die Stirn.
 

„Hätt ich sonst ein Ticket gekauft…“, raunte er leise.

„Also, versprichst du mir, heute abend zu fliegen, Ran…?“
 

Sie presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass von ihnen nur ein schmaler Strich übrig blieb.

„Das ist kein Trick, um mich loszuwerden…?“

Er schaute sie an, lächelte bitter, strich ihr über die Wange.

„Hattest du… irgendwann seit gestern Nachmittag den Eindruck, dass ich dich loswerden will?“

Ran schluckte, hatte längst all die anderen Personen, die im Raum waren, vergessen, wie auch er.

„Nein.“

„Also… haben wir einen Deal?“

Sie schürzte die Lippen, dachte an die Worte, die sie mit ihrem Vater gewechselt hatte – gestern und gerade eben. Erinnerte sich mit Schaudern an sein Gesicht in jener Nacht, als er aufgehört hatte, sich zu wehren, weil er Angst um ihr Leben hatte.

Es war leider etwas Wahres dran, wenn sie ihr sagten, dass ihn ihre Anwesenheit verletztbar machte.

Das war Fakt.

Und so wenig es ihr schmeckte, so weit weg zu sein, wenn es ernst wurde, sah sie doch ein, dass die Argumente nicht auf ihrer Seite waren. Zumindest waren es die logischen nicht.

Und immerhin… plante er ein danach.

Sie ließ ihren Kopf gegen seine Stirn sinken, seufzte lange, ehe sie antwortete – und er konnte den Widerwillen in ihrer Stimme deutlich hören.

„Gut. Wir haben einen Deal. Aber wehe, du hältst dich nicht dran…“

„Sonst was…?“, hob er an, grinste breit. Sie lachte, gab ihm einen Kuss auf die Lippen, als sie hinter sich ein genervtes Räuspern hörte – drehte sich um und schaute geradewegs in das noch genervter dreinblickende Gesicht ihres Vaters.

„Seid ihr dann fertig? Krieg ich endlich nen Kaffee?“, murrte er.

„Selbst- selbstverständlich.“

Shinichi ließ Ran los, wandte sich um und ging in die Küche, von wo aus ihm ein keuchendes Gurgeln verriet, dass jemand seine dringend mal zu entkalkende Kaffeemaschine angeworfen hatte.

Kogorô schaute ihm kalkulierend hinterher – ihm war die deutlich gerötete Gesichtsfarbe des jungen Mannes gerade noch aufgefallen. Mit hochgezogener Augenbraue schaute er zu seiner Tochter – und fing an zu lächeln, als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, mit dem sie ihm hinterherblickte.
 

Er hatte sie seit Jahren nicht so lächeln sehen.
 

Erst als eine Tasse geräuschvoll vor seiner Nase abgestellt wurde, wandte er seinen Blick von seiner Tochter Shinichi zu, der ihm gerade seinen Kaffee gebracht hatte und sich anschickte, auch den anderen Menschen, die sich um seinen Tisch gedrückt hatten, auch eine Tasse einzuschenken.

„Und? Was machst du jetzt solange?“

Shinichi goss ruhig die letzte Tasse ein, stellte die Kanne ab, ehe er zu einer Antwort ansetzte.

„Das, was ich immer mache. Nur nicht innerhalb der vier Wände oder mit Unterstützung meines Arbeitgebers.“

Er seufzte matt.

„Es ist damit zu rechnen, dass es noch ein viertes Opfer geben wird. Und spätestens dann müssen die auch einsehen, dass ich Recht hatte – allerdings hoffe ich, dass ich den vierten Mord noch irgendwie verhindern kann…“

Shinichi ließ sich neben Ran sinken, drückte ihre Finger, die nach seiner Hand gegriffen hatten.

„Also, was mache ich heute? Akten studieren, mit Jenna telefonieren, mich schlau machen, was sich Neues getan hat… irgendetwas muss ich übersehen haben. Wir haben…“, er wechselte einen schnellen Blick mit Heiji, „leider ganz und gar nicht viel Zeit. Wenn ich recht habe, dann… sollte es das nächste Ofer schon heute… geben.“
 

Und morgen das nächste. Aber das lass ich nicht zu.
 

Er seufzte leise, starrte kurz verwirrt auf die Brötchenhälfte mit Marmelade, die vor seiner Nase aufgetaucht war, biss dann hinein und nahm sie Ran ab, die sich die zweite Hälfte in den Mund schob.
 

„Wer auch immer dahintersteckt, ich lass ihn nicht davonkommen… und ich werde beweisen, dass Brady nur der Komplize war.“

Er nahm einen Schluck Kaffee.
 

„Viel interessanter ist doch, was ihr macht, bis euer Flug geht?“, hakte er dann ein, schaute zu Shiho, Kazuha und Sonoko, die sich erstaunlich still verhalten hatten.

„Wir dachten, du zeigst uns die Stadt, nachdem du schon… Urlaub hast.“

Shinichi lächelte breit.

„Ich hab keinen Urlaub. Wenn ich den Fall nicht löse, löst ihn niemand… ich würd euch gern London zeigen, allerdings bin ich wohl kein geeigneter Guide, mal abgesehen davon, dass ich die Zeit nicht habe.“

Er seufzte, kratzte sich dann verlegen den Hals.

„Ich hab, um ehrlich zu sein, die Stadt nur erkundet, wenn mich ein Verbrechen dorthin geführt hat. Ich bin nie mit dem London Eye gefahren. Ich war auch nie bei Madame Toussaud’s, bis vorgestern. Hab keine Tour in einem offenen Doppeldecker gemacht, keine Themseschifffahrt, ich hab nicht bei Harrod’s eingekauft, ich…“

Er seufzte, merkte, wie in ihm plötzlich Bitterkeit aufstieg, als ihm zum ersten Mal bewusst wurde, was er mit seinem Leben angestellt hatte, in den letzten fünf Jahren.

„Ich hab hier nur gearbeitet. Ich wollte es nicht anders.“
 

Er schaute auf, zog die Augenbrauen hoch.
 

„Wenn ihr allerdings Lust auf eine Shoppingtour habt, würde ich die Oxford Street empfehlen. Das ist bekanntermaßen die Einkaufsmeile Londons. TopShop, Primark, Selfridges…“

Sonoko schaute ihn sarkastisch grinsend an.

„Und da warste schon?“

„Ja. Wegen einem Mord in der Delikatessen-Abteilung von Selfridges. Aber für dein Budget genau die richtige Adresse, Suzuki. Die haben da ne große Kosmetik- und Damenmodeabteilung.“

Er erwiderte ihr Grinsen ungerührt.
 

"Also gut. Dann machen wir halt das… spendierst du ihr wenigstens ein neues Outfit?“

Sonoko blickte kurz zu Ran, die sichtlich rot wurde. Shinichi hingegen zuckte mit den Schultern.

„Klar. Ich bring euch auch zum Flughafen.“

Er lächelte breit.

Shinichi warf einen kurzen Blick zu seinen Eltern.

„Vielleicht wollt ihr sie begleiten?“

Sein Vater lächelte entschuldigend, während Yukiko lebhaft nickte, einfach nur die Hand aufhielt, in die sein Vater brav eine Kreditkarte legte, die er aus seinem Portemonnaie fischte, das er seinerseits aus seiner Jackentasche gezogen hatte.

„Ich würde lieber hier bleiben. Du weißt, Shopping…“

Shinichi nickte kurz, wandte sich dann zu Kogorô und Heiji.

„Was ist mit euch? Habt ihr von…“

„Ja. Wir sollen uns zur Abschlussbesprechung im Yard einfinden.“

Heiji verzog das Gesicht.

„Sei so gut und beeil dich mit deinen Ermittlungen. Ich hab keine Lust, zweimal das Blabla anhören zu müssen, wie fruchtbar unsere Kooperation war…“

Shinichi lächelte schmal.

„Ich tu, was ich kann. Ich nehme an, ihr werdet aber mitfahren?“

Er warf Akai einen fragenden Blick zu, der bisher schweigend seine zweite Tasse Kaffee getrunken hatte.
 

„Ja.“

Er nickte.

„Jodie allerdings soll zu Black kommen. Das FBI will separat an dem Fall arbeiten, nach deinen Erkenntnissen gestern.“
 

Shinichi seufzte leise. Er konnte sich denken, dass Akai die Rolle des Babysitters nicht so wirklich passte – allerdings wusste er, auf wen er aufpasste. Und der Blick, den er Shiho zuwarf, sagte Shinichi alles.
 

Akai glaubte an die Gefahr, die Shinichi witterte.

Und er wusste, dass sein Platz genauso wichtig war wie Shinichis – denn würden sie versuchen, ihr oder Ran etwas anzutun, würden sie zuerst an ihm vorbei müssen.

Kapitel 44: Bourbon

Kapitel 44 – Bourbon
 

Eine knappe Stunde später saßen Shinichi und sein Vater wieder in seiner Wohnung – das schmutzige Geschirr stapelte sich im Spülbecken und vor ihnen stand eine neue Kanne frisch aufgebrühten Kaffees.
 

Shinichi seufzte, überflog die kopierten Akten, die Jenna ihm verbotenerweise gebracht hatte.

Irgendetwas übersah er, er wusste es. Irgendetwas war da, er sah es bloß nicht.

Aber erst, als er den Bericht über die im Loft festgestellten Fingerabdrücke noch einmal las, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
 

Gallaghers Abdrücke auf der Bourbonflasche.
 

Er erinnerte sich zurück an den Abend vor drei Tagen, als sie das Quartier gefunden hatten. Er erinnerte sich an jedes Gesicht, das dort gewesen war. Heiji, Kogorô, Jenna, er selber. Die Leute von der Spurensicherung, und zwei weitere DI’s der Mordkommission, Harrison und Ngata.

Gallagher war nicht dabei gewesen. Samuel Gallagher war nur ein Streifenpolizist und hatte an Tatorten wie diesen nichts verloren.
 

Shinichi ächzte, als ihm klarwurde, was das bedeutete.

Gallagher steckte mit seinem Mörder unter einer Decke.

Gallagher… war nicht Gallagher.
 

Ein kleines Lächeln kräuselte seine Lippen, ein Lächeln von minimalem Triumpf.
 

Fingerabdrücke auf der Bourbonflasche… soso.
 

Yusaku schaute von den Notizen, die ihm sein Sohn zugeschoben hatte, auf. Seine Augenbraue wanderte fragend in die Höhe, als er das Schmunzeln auf Shinichis Gesicht sah.
 

„Was gefunden?“
 

Shinichi blickte auf, wirkte kurz desorientiert – nickte dann langsam.
 

„Ja, das kann man wohl so sagen.“

Er schob ihm den Bericht zu. Yusaku überflog ihn kurz – zog dann die Augenbrauen hoch.

„Ein Polizist, der vergisst, seine Handschuhe anzuziehen. Was…“
 

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Das ist es nicht. Gallagher ist nur Streifenpolizist. Er hatte nichts mit Tatortbesichtigung zu tun. Und ich hab ihn an dem Abend dort auch nicht gesehen.“

Yusakus Augen weiteten sich, als er verstand.

„Also war er vorher schon einmal in diesem Loft?“
 

Sein Sohn nickte ernst.

„Eine andere Erklärung gibt es nicht.“

Er legte seine Handflächen aneinander, berührte mit den Zeigefingern Kinn und Lippen, als er mit nachdenklicher Stimme sprach.
 

„Und da sie so eine Vorliebe haben, sich nach ihren Lieblingsspirituosen zu benennen, ist stark davon auszugehen, dass es Bourbon ist. Samuel Gallagher ist Toru Amuro… aber wie weise ich ihm das nach? Und wie komme ich an ihn ran, wo ich doch nicht im Yard arbeite, momentan, kann ich ihn nicht zur Befragung herbestellten und… was zum Henker wollte er da? Ich dachte, er hätte anderes zu tun…“
 

Ich dachte, damit wäre er fertig…
 

Der Schriftsteller nippte an seinem Kaffee.

„War der junge Mann nicht mal Detektivlehrling bei Kogorô?“

Shinichi nickte kurz.

„Genau das war er, ja. Und mehr noch. Er war bei der Japanischen Geheimpolizei.“

„Noch ein Doppelagent?“

„Dachte ich, ja. Allerdings… scheint das hier komisch, ich frage mich, warum… Noch dazu ist es ja auch nicht sicher, ob er es wirklich ist, wir haben hier ja keine Fingerabdrücke zum Vergleich…“

„Meinst du nicht, auf irgendeinem Dokument, das bei Kogorô liegt könnten noch Fingerabdrücke von ihm drauf sein? Ich meine, du hast ein paar hier… wenn du die abgleichen könntest mit…“
 

Shinichi starrte ihn an.

„Natürlich! Aber ich komm jetzt nicht in die Detektei… ich müsste…“
 

Er blinzelte, als ihm die Lösung seines Problems vor Augen erschien. Shinichi sprang auf, rannte in den Flur und griff sich sein Telefon, wählte die Nummer von Professor Agasa, sich des amüsierten Gesichtsausdrucks seines Vaters nicht bewusst – in ihm arbeitete alles auf Hochtouren. Es läutete lange, ehe sich ein sehr muffig klingender Agasa am anderen Ende der Welt meldete.
 

„Hiroshi Agasa am Apparat. Wissen Sie, wie spät es ist?!“
 

Shinichi schluckte, grinste in sich hinein.

„Bei mir halb zehn Uhr früh, Professor, bei Ihnen halb sieben Uhr Abends – ich weiß, ich hab‘ Sie wohl gerade beim Abendessen gestört, entschuldigen Sie bitte. Aber deswegen ruf ich nicht an.“

Stille füllte den Äther, bis das aufgeregte Atmen des alten Mannes an sein Ohr rauschte.

„Shinichi!“

Er schluckte hörbar.

„Shinichi, bist du es wirklich?!“

Shinichi seufzte leise, lächelte immer noch, wenn auch ein wenig bitter, jetzt. Er hörte die Erleichterung und die Freude in der Stimme des alten Mannes, und sein schlechtes Gewissen piekte ihn gewaltig… er hätte sich melden sollen, zumindest einmal… oder an seinen Geburtstagen, an Weihnachten…

Er hätte sich melden sollen, irgendwann mal in diesen fünf Jahren.

Er schluckte.
 

„Ja, ich bin’s, Professor. Hören Sie, es tut mir Leid, dass ich Sie… dass ich mich nicht gemeldet habe, all die Jahre, das… hatte seine Gründe, aber Ihnen die zu nennen dauert jetzt zu lange, die Zeit habe ich gerade nicht, so egoistisch das auch klingt von mir. Und noch egoistischer ist es wohl, dass ich Sie bitten muss… mir einen Gefallen zu tun.“
 

Agasa merkte, wie Aufregung ihn ergriff, ihm wie eine warme Wolke zu Kopf stieg.

„Natürlich, immer, Shinichi. Das weißt du.“
 

Shinichi schluckte hart.

„Hören Sie. Ich… habe Grund zur Annahme, dass sie hier sind. Die Schwarze Organisation. In London…“
 

In den nächsten fünf Minuten rekapitulierte er für den alten Forscher seine letzten Erlebnisse, inklusive einer kurzen Erklärung für den Grund seiner Suspendierung.
 

„Es wurden also Fingerabdrücke dieses Gallaghers am Tatort gefunden, obwohl sie da nicht sein dürften.“

„Richtig. Auf einer Bourbonflasche. Sie können sich denken, an wen ich dachte.“

„An Toru.“

Agasa, der sich mittlerweile mit einer Tasse Tee in die Küche verzogen hatte und dazu eine Packung Kekse knusperte, die, wie Shinichi vermutete, garantiert nicht von Shiho genehmigt waren, als er das Krümeln durch den Hörer vernahm, nickte.

„Das heißt, du bräuchtest jetzt ein paar Fingerabdrücke von Toru, um sie abzugleichen mit denen von Samuel Gallagher, eurem Polizisten.“

Shinichi klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Wange, als er sich seinerseits eine Tasse Kaffee einschenkte. Fieber hatte ihn gepackt, Jagdfieber.

Er würde beweisen, dass er kein Lügner war.

Yusaku schaute ihn schmunzelnd an.
 

Ja, das war sein Sohn, wie er ihn kannte.
 

„Richtig. Ich dachte… an seine Bewerbungsunterlagen bei Mori. Alle anderen Oberflächen sind bestimmt schon einmal gereinigt worden seither… aber in der Detektei hielt er sich oft auf, sie ist seit Jahren geschlossen, und die Unterlagen waren seit seiner Einstellung wohl unter Verschluss. Da jetzt aber Kogorô momentan hier ist, müssten Sie Eri bitten, mit Ihnen in die Detektei zu gehen, und mir die Fingerabdrücke besorgen…“
 

„Klar, wird gemacht, Shinichi. Aber wie kommst du an einen Abgleich, wenn du nicht mehr ins Yard darfst…?“

Shinichi lächelte warm.

„Das lassen Sie meine Sorge sein… ich hab da jemanden, der das für mich macht.“

„Na dann.“

Agasa schielte auf die Uhr.

„Ich klingel mal bei Eri durch. Und sag jetzt nur nichts… wie ich das sehe, ist sie dir mehr schuldig als ein paar Stunden Freizeit zu opfern. Aber ich denke mal, bei dir sollte nicht mehr Zeit ungenutzt verstreichen als nötig.“
 

Shinichi schluckte hart.

„Vielen Dank, Professor…“

„Keine Ursache, Shinichi…“

Seine Stimme klang auf einmal ein wenig belegt.

„Kommst du… kommst du zurück, wenn du es geschafft hast…?“
 

Der suspendierte Superintendent seufzte leise.

„Ich hab‘s… zumindest Ran versprochen.“
 

Dann hängte er auf, ohne ein weiteres Wort.

Agasa biss sich auf die Lippen.
 

Du machst wohl keine Voraussagen mehr, Shinichi, was?

Du weißt, worauf du dich einlässt… wenn du dich noch einmal mit ihnen anlegst. Sie warten doch eigentlich nur darauf, sich zu holen, worauf sie seit fünf Jahren warten, dein Leben nämlich.

Und du versuchst mit allen Mitteln, in diesem Rennen schneller zu sein als sie.
 

Geräuschvoll atmete er aus – dann suchte er im Telefonbuch nach Eri Môris Telefonnummer.
 

Eine halbe Stunde später stand er mit seinem Equipment vor der Detektei, ließ seinen Blick über die Fassade nach oben streifen, als der penetrante Summton des Türöffners ihn aus seinen Gedanken riss. Er drückte die Tür auf und stieg die Treppen nach oben, während er Schritte hörte, die von oben herunterkamen. Eine etwas müde aussehende Eri Kisaki stand kurz darauf mit ihm vor der Detekteitür, blinzelte ihn an.

„Also stürzt er sich wieder in den Kampf, ja?“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Agasa. Sie wollte gerade aufsperren, als der alte Mann seine Hand hob und auf ihre legte, sie zum Innehalten zwang.
 

„Eri… was ich heute von Shinichi gehört habe… hat mich nachdenklich gemacht. Und ich muss dich das fragen, weil ich es nicht verstehen kann.“
 

Er holte Luft, fast kaum merklich, starrte auf den Boden zu seinen Füßen, sah ihr nicht in die Augen.
 

„Warum… warum habt ihr ihm das angetan?“
 

Die Anwältin ließ ihre Hand sinken.
 

„Ich könnte jetzt sagen, Kogorô ist schuld. Er hat ihn angelogen, im Krankenhaus, nicht ich. Aber ich…“

Sie schaute auf, Reue stand in ihren Augen zu lesen.

„Ich hab nichts dagegen gemacht. Ich hab gesehen, wie zerschlagen er war. Ich… hab mir Sorgen gemacht um ihn. Aber nachgelaufen bin ich ihm nicht. Ich habe nicht bei ihm zuhause angerufen. Ich habe Ran nichts erzählt… und damit habe ich mich mitschuldig gemacht.“
 

Eri seufzte, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn geräuschvoll um.

„Ich kann dir nicht sagen, was mich bewogen hat. Ich wollte wohl Kogorô nicht bloßstellen vor Ran. Und ich war auch ein wenig wütend auf ihn. Nein, sehr wütend, so ehrlich muss ich sein. Er hat… sie war so schwer verletzt, du weißt das. Dass er sie in solche Schwierigkeiten bringt… und sie nicht besser beschützt…“

Agasa sah auf.

„Weil er nicht konnte, Eri.“

Er schluckte hart.

„Du weißt doch, was sie da mit ihm gemacht haben. Du musstest diese Forscherin doch verteidigen…“

Bis gerade eben hatte er stumm die Mauer angeschaut – erst jetzt wandte er sich um. Eri schaute ihn fassungslos an, ihr Teint war fahl geworden.

„Er hatte schlicht und ergreifend nicht die Kraft, Eri. Er konnte nicht. Und es gibt bestimmt keinen auf dieser Welt, der sich deswegen größere Vorwürfe macht als er.“
 

Damit drückte er die Klinke runter und betrat die verlassenen Räume der Detektei, die seit knapp fünf Jahren keinen Menschen mehr gesehen hatten.
 

Shinichi saß unterdessen wie auf Kohlen, starrte unablässig auf sein Smartphone, auf dass endlich der ersehnte Fingerabdruck auftauchen möge.

Yusaku Kudô hatte die Unterlagen, die er gerade eben noch studiert hatte, zusammengeschoben, schaute seinen Sohn interessiert an.

„Und was machst du, wenn du’s weißt? Wie willst du an ihn rankommen?“

Shinichi seufzte leise, kratzte sich am Hinterkopf, zerzauste sich seine Haare dadurch.

„Darüber habe ich mir auch gerade den Kopf zerbrochen. Und ich schätze, genauso, wie das letzte Mal auch.“

Der Schriftsteller warf ihm einen langen Blick über seine Brillengläser hinweg zu.

„Und das war wie genau, Sohnemann?“

Shinichi lächelte.

„Über seine Schwester.“
 

Er presste seine Lippen zusammen.

„Er hat eine kleine Schwester, die an Leukämie erkrankt war. Das letzte Mal war es so, dass der Boss von ihr nichts wusste – und damit das so bleibt, habe ich mit ihm den Deal ausgehandelt, euch und die anderen so lange wie möglich rauszuhalten. Euch einfach nicht zu finden, wenn er euch suchen sollte. All das. Im Gegenzug würde ich dem Boss die Existenz seiner Schwester verschweigen. Und ich hab Wort gehalten.“
 

Shinichi nippte an seinem Kaffee.

„Was aber, wenn sich das Blatt mittlerweile gewendet hat? Wenn jemand, vielleicht Gin, über seine Schwester nun Bescheid weiß und ihn mit ihr erpresst? Es liegt nahe, dass er nicht mit ihr frei reisen kann – sonst würde er sich nicht erpressen lassen. Das heißt, eventuell hatte sie einen Rückfall und liegt irgendwo in London unter einem falschen Namen im Krankenhaus. Wenn meine Theorie stimmt, und er hier als Samuel Gallagher arbeitet, muss er sich zumindest jeden Morgen die Mühe machen, sich eine Maske aufs Gesicht zu kleistern, eine Prozedur, die nicht ohne ist. Nehmen wir an, er hat das von unserer Maskenbildnerkönigin gelernt – ja, ich weiß mittlerweile, wer unter mir wohnt…“, schob er mit halbmondförmigen Augen und genervter Stimme ein, als sein Vater im einen fragenden Blick zuwarf, „… seine Schwester wird nicht maskiert sein. Das heißt, wenn er sie als ihr Bruder besucht, wird er‘s auch nicht sein. Das heißt wiederum, er hat zwei Identitäten hier.“

Shinichi verdrehte die Augen.

„Mit etwas Glück können wir eine gleich bestätigen. Und dann muss ich Jenna suchen lassen, nach Krankenhäusern die auf Leukämie spezialisiert sind und die gerade eine… etwa zwölfjährige Japanerin behandeln. Eine Kinderkrebsklinik.“
 

Yusaku nickte langsam.

„Sollte zu finden sein.“

Shinichi schaute ihn an.

„Allerdings. Und jetzt überleg mal, wie viel schneller ich das hätte wissen können, wär ich in den letzten Tagen nicht ein so schrecklicher Hornochse gewesen…“

Yusaku grinste breit.

„Du kannst nicht sagen, wir hätten nicht alles bei dir versucht.“

Shinichi verdrehte die Augen theatralisch, warf die Hände in die Höhe.

„Ich weiß. Und…“

Er lächelte, merkte, wie er rot wurde.

„Vielen Dank… dass du so lange so gut darauf aufgepasst hast…“, er holte Luft, „und ihn auch noch zugestellt hast.“

Shinichi grinste matt.

Yusaku lächelte ihn väterlich an.
 

„Dafür musst du mir nicht danken… weil es das ist, was wir uns gewünscht haben, für dich. Dich lächeln zu sehen, dich… leben zu sehen. Dich lieben zu sehen, Shinichi.“

Shinichi seufzte laut, ließ seinen Kopf in den Nacken sinken.
 

„Aber erst, wenn dieses letzte Problem gelöst ist…“
 

Dann fuhr er zusammen, als sein Handy eine eingehende Email meldete. Als er die Mail öffnete, lächelte er kurz.
 

„Aaach Professorchen. Auf Sie ist Verlass.“
 

Shinichi warf seinem Vater einen kurzen Blick zu – dann wählte er Jennas Handynummer.
 

„Good morning, Sherlock.“
 

Er hörte sie gähnen, hinter ihr ein Hupkonzert.
 

„Good morning, Jenna. I guessed you might be in your office already, but it sounds as if you are you still on the road?“

Seine Stimme klang erstaunt – Jenna konnte es ihm nicht verübeln.

„Yeah. I was supposed to sort some things out with the Reporter. About your… holiday and the ongoing of our case. She’s a real bitch, that reporter…”

“Language, Jenna…”, grinste Shinichi in den Hörer.

„You know I’m right, bo…, ah. Shinichi.”

Sie korrigierte sich holprig.

“Montgomery phoned me early this morning, this is why I am still on my way to Scotland Yard now. I should arrive there in about ten minutes, though.”

Sie schluckte, hatte Angst vor der Frage, die sie erwartete – allerdings schien er aus einem ganz anderen Grund anzurufen.
 

„Jenna, may I ask you a favour…?“

“Are you ever doing anything else, these days?”, lachte sie ins Telefon.

“What is it?”

“I have a copy of a fingerprint – I’ll send it to your smartphone. Would you compare it to the fingerprints of Samuel Gallagher in the documents of the crime scene investigation?”

Jenna stutzte, stieg unwillkürlich auf die Bremse.

„Gallagher was there? I do not remember…“

“That’s the very reason why I want you to check on them, Jenna. He was not there… though his fingerprints were on a bottle of Bourbon… could you do the check?”

“Sure. I try to get into the laboratory as soon as possible.”
 

Sie schluckte, als sie ihren Mini vorsichtig wieder beschleunigte.
 

„Sir… this other favour…“

Shinichi merkte, wie sein Herz kurz aussetzte, als er sie hörte. Den Test seiner Probe hatte er nach diesem Abend fast vergessen – Ran hatte ihn nahezu alles vergessen lassen, was den Fall betraf, zumindest bis heute morgen. Sein Mund wurde mit einem Mal trocken, und er wusste gar nicht, ob er die Antwort nun tatsächlich hören wollte.
 

„So - you did it?“
 

Er schluckte hart. Dachte an die Anzahl an eingegangenen Anrufen, die er vorhin bemerkt hatte, als er sein Handy zum ersten Mal seit gestern Nachmittag wieder zu Gesicht bekommen hatte – er hatte es einfach vergessen.
 

„Yeah. I… did it.“
 

Shinichi merkte, wie ihm schlagartig kalt wurde.
 

„What… what result did you get…?”
 

Er kniff die Lippen zusammen, spürte den ihn scharf musternden Blick seines Vaters, dem der Wechsel im Tonfall seines Sohns nicht entgangen war.

Shinichi schaute ihn nur kurz an, kniff die Lippen zusammen. Ihr langes Schweigen am anderen Ende sagte ihm eigentlich schon alles. Langsam ließ er den Kopf nach hingen sinken, spürte Panik in sich aufsteigen.
 

„Positive.“
 

Langsam sank er nach vorne, stützte seine Ellenbogen auf den Tisch auf, hielt sich den Kopf mit beiden Händen.
 

„Are you sure?“, murmelte er schließlich. Jenna schauderte, als sie seine Stimme hörte.

Kraftlos, irgendwie. Geschlagen.

„Yeah. I… repeated the test three times. I cannot say what substance it is, as your… drug is not known to our database, or to any other database in the world, I might guess, but the test is clear - it is a hallucinogenic drug. I am… sorry.”
 

Sie merkte, wie ihre Stimme zu zittern anfing – und er hörte es.

„What are you going to do now?“
 

“Wait what’ll come next, I guess. I just wonder… where I got into contact with it…”

Er schluckte hart, merkte, wie sein Mund mit einem Schlag trocken geworden war.
 

„Please destroy every evidence, Jenna. I guess, you’ll do that outside, that’s safer than to get rid of it inside the building. And…”
 

Shinichi machte eine kurze Pause.
 

„Thank you. You’ll call me because of the fingerprints?“
 

“Of course.”

“Fine.“
 

Damit hängte er auf – stöhnte einmal lang auf, was ihm einen weiteren fragenden Blick seines Vaters einbrachte.

„Dabei gings jetzt aber nicht nur um die Fingerabdrücke, Shinichi.“

„Nein.“
 

Shinichi legte sein Smartphone beiseite.

Yusaku stellte langsam seine Kaffeetasse ab, schaute ihn ernst an.

„Du hast sie dein Blut testen lassen.“

Shinichi nickte müde.

„Ja. Es verging einfach nicht so richtig. Ich hab die Kopfschmerzen jetzt noch, ich… schieb sie nur weg, gewöhn mich ein wenig dran, ich weiß auch nicht… gestern hatte ich auch andere Dinge im Kopf, aber fort sind sie nicht. Und nun…weiß ich auch, warum.“
 

Yusaku merkte, wie sein Mund trocken wurde. Shinichi redete leise weiter.
 

„Anscheinend ist es eine sehr kleine Dosis. Und ich muss sie… wohl oral verabreicht bekommen haben, ich meine, alles andere hätte ich gemerkt. Und vorgestern muss sie eine Spitzenkonzentration erreicht haben – daher der Traum. Langsam baut sie sich wohl wieder ab, und weil es so eine kleine Dosis war, ist auch der Entzug nicht so entsetzlich, überhaupt, die Symptome sind gemessen mit dem… was ich schon erlebt habe damit, geradezu lachhaft.“

Er lächelte bitter.

„Und da ich seit gestern nur daheim herumhänge, kam auch kein neuer Stoff dazu.“

Dann schüttelte er den Kopf.

„Dennoch mache ich mir Gedanken, wer im Yard mir das Zeug untergejubelt hat… und wie?“

Er nippte an seinem Kaffee, bis er den Blick seines Vaters bemerkte.

„Was?“

„Das wie kann ich dir verraten, wenn es bei euch nur annähernd so zugeht, wie es bei Meguré zuging, als ich dort noch arbeitete.“

Yusaku warf einen bezeichneten Blick auf seine Kaffeetasse.

Shinichi schaute ihn an – und verschluckte sich an seinem Kaffee, als ihm klarwurde, was sein Vater meinte.

„Hast du dir deinen Kaffee immer selber geholt?“
 

Shinichi schaute ihn an.

„Nein.“
 

Dann riss ihn erneut der Klingelton seines Smartphones aus seinen Gedanken. Er hob ab, hörte Jennas Stimme leise an seinem Ohr.

„Match.“

Im Hintergrund hörte er leise Geräusche.

„Where are you?“

„In a secret hidden corner in laboratory A. Why?”

“Could you make another research? Has London a clinic for children suffering blood cancer?”

“I don’t have to make a research for that. We have. The Gray Cancer Clinic for Children and Youths.”

“Fine.”

Shinichi seufzte.

“Thank you.”
 

Damit legte er auf.

“Also gut… schaun wir mal, ob wir auch hier einen Treffer landen.”
 

Dann holte er tief Luft, stand auf.

„Willst du mitkommen?“

„Ich würde mich von nichts und niemandem abhalten lassen.“

Yusaku stand ebenfalls auf, verließ mit seinem Sohn dessen Wohnung.
 

Nur wenig später trafen sie in der Kinderklinik ein – und ab jetzt versprach es, knifflig zu werden.

Shinichi stellte das Auto ab, stieg aus, blieb grübelnd stehen – überlegte sich die geschickteste Strategie, aus der Empfangsdame des Krankenhauses die nötigen Infos herauszulocken. Dann lächelte er.

Yusaku schaute ihn fragend an.

„Und? Wie willst du sie da drin finden? Du kannst schlecht alle Zimmer…“

„Das hab ich auch nicht vor. Überlass das mal ruhig mir, alter Mann.“

Er warf ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu, grinste breit, als er sich auf den Weg zum Geschenkeshop machte.
 

Ein paar Minuten später standen sie wieder in der Lobby, beladen mit plüschigen Geschenken für ein krankes Mädchen.

Shinichi straffte die Schultern, näherte sich mit freundlichem Lächeln der Dame an der Anmeldung. Jetzt würde der deutlich schwierigere Teil ihrer Mission kommen.
 

Er blieb vor der Frau stehen, die über ihre Brille hinweg aufsah, sich kaum von ihrem Computerbildschirm trennen wollte. Sie war etwas fülliger gebaut, trug ein weißes Outfit, wie es sich für ein Krankenhaus gehörte – der einzige Farbtupfer, den sie sich erlaubte, war ein pastellig geblümter Schal, der ihre Körperfülle eher noch unterstrich als kaschierte. Ihre Haare hatte sie streng zurückgebunden in einen Dutt am Hinterkopf und von den Bügeln ihrer Brille hing eine feine Kette.

Offenbar brauchte sie die Brille nur zum Lesen.

Shinichi nahm all das in sich auf – inklusive des skeptischen Blicks, mit dem sie ihn bedachte, als er es wagte, den Teddy auf der Theke zu platzieren und sich mit seinen Fingern an der Kante der Glasplatte festzuhalten.

Als er sprach, glaubte Yusaku seinen Ohren kaum zu trauen.

In ausgesucht holprigem und akzentbeladenem Englisch begann sein Sohn, der gerade eben noch in sauberstem Oxford-Englisch mit seiner Partnerin telefoniert hatte, sich der Anmeldedame verständlich zu machen.
 

„Please do… excuse this interference. I am looking for – ah no – we are looking for my – it’s the daughter of my brother – my – I don’t know the word, I’m sorry…”

Er schaute auf seinen Vater, deutete zu ihm.

„This is her – grand dad.“

Er gestikulierte wild, wobei er den kleinen Plüschteddy, den er gerade im Souvenirshop gekauft hatte, um sich schwenkte. Sein Vater stand hinter ihm, den wesentlich größeren Teddy im Arm, lächelte diplomatisch und sagte nichts, nickte nur bekräftigend.

Dann begann er auf japanisch weiterzureden, was die Frau mittleren Alters in völlige Verwirrung stürzte.

„Wissen Sie, wir wollten sie besuchen und sie aufheitern, wir sehen sie nicht so oft und nun, da sie so schwer krank ist – das arme Mädchen – wir alle lieben sie so sehr, wir…“

„What’s her name, Sir? I can find her, but I need to know her name…“

Shinichi, der den Namen, unter dem Bourbon sie hier angemeldet hatte, natürlich nicht kannte, lächelte verlegen, tat so, als hätte ihre Frage nicht verstanden – hoffte stattdessen, dass das Mädchen, das er suchte, immer noch so aussah wie früher. Allerdings standen die Chancen recht gut, dass er ihr die Haare nicht gefärbt hatte – der Ansatz würde bei so langen Aufenthalten auffallen, und so würde ihre Naturhaarfarbe ohnehin ans Licht kommen. Wenn sie überhaupt Haare hatte, momentan, und sie ihr nicht wegen der Chemo ausgefallen waren. So oder so – sie würden ihre natürliche Farbe haben.

„We all do love her so much. She is like a little angel with her blonde hair and her big blue eyes and we do so hope that…”

“Ah!”

Die Dame strahlte ihn an.

„You must be talking about Mariko Sota. She has room Number 252. She’ll be delighted to have visitors, especially her uncle and granddad. She feels so lonely…”
 

Shinichi schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln – die Reaktion der Mittvierzigerin, die vor ihm dahinschmolz, ließ seinen Vater sich neidisch räuspern.
 

„Thank you so much!“
 

Damit drehte er sich um, seinen Vater im Schlepp, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, als sie in den Fahrstuhl stiegen.
 

„Das hast du ganz klar von deiner Mutter.“

Shinichi grinste breit.

„Na, ich muss doch auch von ihr was haben, Vater.“
 

Sie mussten nicht lange durch die Korridore wandern – Gänge, die denen in jedem anderen Krankenhaus wohl bis auf unwesentliche Details glichen.

Glänzender, polierter PVC-Belag auf dem Boden, helle Neonröhren an der Decke, weiße Wände links und rechts, eine weiße Tür neben der anderen… einzig und allein die Bilder an den Wänden unterschieden sich.

Wo in jedem normalen Krankenhaus wohl Kunstdrucke hingen oder die künstlerischen Ergüsse des örtlichen Künstlerzirkels, hingen hier Kinderbilder.
 

Bestimmt von all den kleinen Patienten hier.
 

Er konnte nicht leugnen, dass das alles etwas Bedrückendes hatte.

Das hier war kein Ort, an dem Kinder sein sollten – erst Recht nicht auf Dauer.

Er mochte normale Krankenhäuser schon nicht – aber hier drin fiel es ihm noch schwerer, nicht einfach umzudrehen und zu gehen, wenn er die kleinen, schmalen Figuren sah, die an der Hand einer Schwester durch die Gänge trippelten oder im Rollstuhl geschoben wurden.
 

Er schluckte.

Die eine oder andere Schwester, der eine oder andere Arzt hatte ihn bereits etwas schräg angekuckt – er hatte ohnehin von Glück reden können, dass die Empfangsschwester ihn nicht gleich als „Sherlock Holmes“ erkannt hatte.

Es wurde Zeit, dass sie das Zimmer erreichten, bevor man ihm noch unangenehme Fragen stellte.
 

Lange mussten sie auch nicht mehr suchen.

Unschlüssig stand er vor der Tür, seufzte leise, ehe er kurz klopfte – dann die Klinke auf ein zartes „Come in“ hin herunterdrückte und aufmachte. Er trat ein, leise, wohl wissend, welche Wirkung er auf das Mädchen im Bett hatte.

Gerade noch hatte er einen Ausdruck freudiger Erwartung auf ihren Zügen erhaschen können – nun sah sie ihn an wie ein erschrockenes Reh auf der Fahrbahn, das in die Scheinwerfer des heranpreschenden Autos blickt.
 

„Ich erinnere mich an Sie.“, murmelte sie dann leise.

Shinichi zog sich einen Stuhl heran, seufzte bedrückt.

„Hallo Kari.“

Er lächelte sie traurig an.

„Wie geht’s dir?“

Das Mädchen studierte die Bettdecke, sah ihn nicht an. Shinichi schüttelte kurz den Kopf, setzte ihr den Bären, den er immer noch in der Hand gehalten hatte, auf die Bettdecke.

„Ich hatte gehofft, ich müsste dich nicht mehr im Krankenhaus besuchen… aus zweierlei Gründen.“

Sie knetete ihre Bettdecke.

„Sie kommen wegen Rei. Was hat er diesmal…? Er hat mir versprochen, es würde…“

Shinichi schaute sie ernst an.

„Hast du deinen Bruder in letzter Zeit gesehen?“

Sie wurde blass, blasser noch, als sie es ohnehin war.

„Er ist wohl wieder in Schwierigkeiten… er hat mir versprochen, er würde dieses Doppelleben aufhören und mit mir…“

Ihre Stimme wurde weinerlich. Shinichi schüttelte den Kopf, schaute sie beruhigend an.

„Nicht mit mir hat er diesmal Ärger, und genau genommen hatten wir den ja auch nie. Ich weiß nicht, ob er wegen jemand anderem in Schwierigkeiten ist, deswegen bin ich hier. Ich brauche… seine Hilfe, Kari. Kannst du mir sagen, wie er hier heißt? Wie ich ihn erreichen kann?“
 

„Das wird nicht nötig sein.“

Shinichi fuhr hoch, und auch Yusaku, der sich im Hintergrund gehalten hatte, löste sich von der Wand, an der er eben noch gelehnt hatte.

„Um ehrlich zu sein, hatte ich dich schon viel früher erwartet, Kudô…“
 

Shinichi schaute ihn an – nichts war mehr zu erkennen von Samuel Gallagher – nichts, bis auf das leicht schiefe Grinsen, dass Toru Amuro mit dem Beamten der Londoner Polizei gemeinsam hatte.
 

„Kann ich mich mit dir allein unterhalten?“

Shinichi merkte, wie in ihm die Anspannung wuchs.

„Sicher.“

Bourbon warf seinem Vater ein gewinnendes Lächeln zu, streckte seine Hand aus.

„Herr Kudô. Nichts für ungut, was da vor fünf Jahren mit Ihrem Sohn gelaufen ist, ich hoffe Sie wissen, dass ich in keiner Situation war, in der ich wählen konnte und er… nun. Wie dem auch sei. Nett, Sie mal zu treffen… ich bin ein großer Fan Ihrer Arbeit… sowohl die literarischer Natur als auch…“

Er warf einen bezeichnenden Blick zu Shinichi, der ihn säuerlich anlächelte. Yusaku griff seine Hand, lächelte das minimalste Lächeln, das er zustande brachte.

„Danke.“

Seine Stimme klang staubtrocken.

„Wenn’s Recht ist, ich warte hier. Ich denke, Kari und ich werden uns nett unterhalten.“
 

Shinichi nickte knapp, folgte dann Bourbon aus der Tür, ein paar Ecken weiter in das leere Besucherwartezimmer, wo sie sich in eine Ecke setzten.
 

„Also. Was willst du diesmal..., Kudô? Du lauerst mir doch nicht umsonst…“

„Hättest du für fünf Penny weiter nachgedacht, als du in Gins Falle tapptest, um deine Fingerabdrücke zu hinterlassen, wäre ich nicht hier. Und du kannst von Glück sagen, dass ich dich nicht bereits verpfiffen habe, Amuro. Oder Furuya. Gallagher. Wie du willst.“

Shinichi schaute ihn an, seine Stimme klang kalt und hart.

„Du weißt, dass du kein unbeschriebenes Blatt bist. Das FBI ist hier, und ich kann mir kaum vorstellen, dass du wieder als Doppelagent für die japanische Polizei unterwegs bist – in London. Wenn ich denen sage…“

Er merkte, seine Worte zeigten Wirkung. Shinichi redete weiter.

„Ich hatte damals kein Interesse an dir und habs heute nicht. Ich will wissen, wer dahintersteckt.“

Er hob die Hand, zeigte dem Mann gegenüber, wie sie zitterte.

„Verdammt, du weißt, woher das kommt.“

Shinichi schluckte trocken. Bourbon lächelte ihn mitleidig an.

„Tja. Scheint so, als lässt es bereits grüßen.“

Der junge SI schnappte nach Luft.

„Also wusstest du es! Hast du etwa…“

„Nein.“

Er schüttelte den Kopf.

„Und du weißt, dass das die Wahrheit ist. Ich hatte erstens kaum Gelegenheit, weil ich im Yard ein zu kleiner Fisch bin – als dass ich mit dem großen Sherlock Holmes in Kontakt geraten könnte…“

Der Mann wandte sich ab, schaute aus dem Fenster, ehe er weitersprach.

„Abgesehen davon fand ich es das letzte Mal schon falsch. Du weißt, ich hab nur mitgemacht, weil ich musste.“

Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Nobel von dir. Hilft mir nur leider so gar nicht weiter.“

Er lächelte trocken.

„Also. Für wen arbeitest du? Für Gin? Wie das denn? Weiß er von deiner Schwester?“

„Du stellst zu viele Fragen auf einmal.“

Bourbon sah ihn starr an, schüttelte den Kopf.

„Aber nein. Nicht für Gin. Um damit deine Ahnung zu bestätigen, weil du mir bestimmt gleich damit kommst, mich und meine Schwester ans FBI zu verpfeifen – ja – es ist Gin, der hinter den Morden steckt.“

Shinichi atmete gepresst aus – und obwohl er damit seine Vermutung endlich bestätigt bekam, wollte sich ein Hochgefühl bei ihm nicht so recht einstellen.

„Und weil du das Argument sicher gleich noch einmal anführst – nein. Ich kann dir weder sagen, wer dir das Halluzinogen untergeschoben hat, noch wer das Heroin in deiner Schreibtischschublade deponiert hat, noch wer mein Auftraggeber ist. Wegen Kari. Und an der Stelle – liefere mich ruhig aus. Du tust mir damit fast einen Gefallen – Kari allerdings nicht. Und du weißt, dass ich genauso wenig singen werde, wie du je gesungen hast – und das Yard hat bei weitem nicht die Methoden, um jemanden gesprächig zu machen, wie sie die Organisation anwandte. Solltest du am Besten wissen.“

Shinichi seufzte leise, verdrehte die Augen.

„Kannst du mir wenigstens sagen, wo Meredith ist?“

Bourbon lächelte.

„Was… das weißt du noch nicht?“

Sein Lächeln verbreiterte sich.

„Und dich nennt man hier Sherlock Holmes?“

Shinichi verzog das Gesicht, murrte.

„Lass mich in Ruhe mit diesem Namen. Wo ist sie? Dir ist klar, dass es eigentlich um Stunden geht… heute…“

„Ganz Recht.“
 

Bourbon stand auf.
 

„Du bist ohnehin schon sehr knapp dran… und das weißt du auch. Du hast diesmal ziemlich spät erst das Denken angefangen… warst zu lange abgelenkt durch deine eigenen Probleme, Kudô.“

Er sah ihn an.

„Dafür müssen jetzt andere büßen.“
 

Shinichi sprang auf.

„Wo ist sie?!“

Er griff ihn am Arm, hielt ihn fest.

„Wo ist sie?!“
 

Bourbon schaute ihn durchdringend an.
 

„Wo würde Gin ein totes Mädchen ablegen, wenn er wollte, dass Sherlock Holmes es findet…“
 

Shinichi starrte ihn an.

Dann stürzte er aus dem Wartebereich, hinunter in die Lobby, hinaus auf den Vorplatz, zog sein Handy so eilig aus seiner Tasche, dass es ihm aus den Händen glitt und zu Boden fiel. Er hob es auf, erleichtert, dass es nicht kaputt gegangen war, wählte mit zitternden Fingern die Nummer – ließ es bleiben, als sein Vater hinter ihm erschienen war.

„Shinichi, was…“

Der schüttelte nur den Kopf, eilte zu seinem Auto, wartete kaum, bis sein Vater die Beifahrertür geschlossen hatte und raste los, sämtliche Verkehrsregeln missachtend.
 

Sein Ziel war das Sherlock Holmes Museum.

Kapitel 45 – The Sherlock Holmes Mystery Tour

Kapitel 45 – The Sherlock Holmes Mystery Tour
 


 

Yusaku wagte nicht, seinen Sohn anzusprechen, als der mit seinem Wagen durch die Stadt heizte, so schnell es der Verkehr eben zuließ. Shinichi hatte nicht geredet, seit er das Krankenhaus verlassen hatte.

Er hatte ihm bedeutet ins Auto zu steigen, wortlos – und nun saß er mit starrem Tunnelblick und ums Lenkrad verkrampften Händen am Steuer und machte seiner Mutter nicht nur hinsichtlich ihres Bleifußes am Gas sondern auch ihrer rasanten Kurvenlage ernsthafte Konkurrenz. Er war blass, hatte seine Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, schien kaum zu atmen.
 

Und der Kriminalschriftsteller fragte sich ernsthaft, was zwischen den beiden jungen Männern gelaufen war, als er einen netten kleinen Plausch mit Torus Schwester abgehalten hatte.
 

Wohin fahren wir so schnell, als ob der Teufel persönlich hinter uns her wäre, mein Sohn?

Oder soll ich eher sagen… dass wir es sind, die dem Teufel hinterherjagen, versuchen, etwas schneller zu sein als er?
 

Das trifft es wohl eher… nicht wahr, Shinichi?
 

Erst als sie fast da waren, ahnte Yusaku, was das Ziel seiner Fahrt war.
 

Das Sherlock-Holmes-Museum.
 

Shinichi stellte den Wagen am Straßenrand ab, legte die Marke, die sie für diese Zwecke im Auto hatten, in die Windschutzscheibe und sprang aus dem Wagen, ohne zu achten, ob sein Vater ihm folgte.

Der Auflauf vor dem Museum war um diese Uhrzeit schon beachtlich – galt das Museum lange Zeit nur als Insidertipp, zählte es mittlerweile zu den Top ten von Londons beliebtesten Attraktionen.

So viele Leute hatte Shinichi hier allerdings selten gesehen – er bezweifelte, dass man alle diese Menschen auf einmal in dieses schmale Gebäude gehen lassen würde können.

Dann sah er den etwas ältlichen, untersetzten, dicklichen Mann, den man wieder für Dr. Watson ausgab – etwas, das Shinichi wie jedes Mal etwas ärgerte, weil Dr. Watson in seinen Augenin den Büchern nie als alter, dicker Arzt porträtiert worden war - viel eher zeichnete Doyle ihn als jungen, wachen Arzt, Kriegsveteran, ein Mann der viel gesehen und viel erlebt hatte und der, wenn er auch nicht nicht mit Holmes‘ Kombinationsgabe mithalten konnte, ihm an Mut und Tatendrang jedoch in nichts nachstand.
 

Viel Zeit für diese Gedanken hatte er heute jedoch nicht.

Er eilte, ohne zu rennen, an den Menschen vorbei. Er wusste, sobald er rannte, erregte er Aufmerksamkeit – und ein rennender Beamter von Scotland Yard, denn auch wenn er in Zivil war, war er doch bekannt genug – würde zweifellos Skepsis und vielleicht sogar Angst schüren.

Noch schien nichts Ungewöhnliches passiert zu sein – keiner schien beunruhigt oder gar panisch zu sein.
 

Gut… das ist… gut. Denke ich.
 

Etwas anderes war weniger gut - denn hier und jetzt merkte er, was ihm sein Ruf tatsächlich einbrockte.
 

Er hatte kaum den Wagen verlassen, als die ersten schon zu tuscheln anfingen und versuchten, unauffällig zu ihm zu blicken.

Yusaku schaute ihn nur kurz an, als er, all diese Blicke ignorierend, zielstrebig zum Eingang strebte, vorbei an der Schlange, die ihm verdutzt hinterherblickte.

Natürlich waren die meisten Leute hier Touristen – allerdings allesamt eingefleischte Sherlock-Holmes-Fans.

Dass sie sein Gesicht kannten, er ihnen als „moderner“ Sherlock Holmes bekannt war, weil man ihm hier seit fast fünf Jahren diesen großen Namen aufdrückte und der auch noch nebenan wohnte, wunderte ihn nicht.
 

Wahrscheinlich wird mein Name schon bei Stadtführungen erwähnt… und mein Gesicht im Reiseführer abgedruckt.
 

Ein säuerliches Lächeln kräuselte seine Lippen – allerdings nicht lange. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
 

Dann war er endlich an der Kasse angekommen, wo eine altmodisch gekleidete Mrs. Hudson den Eintritt kassierte.
 

„Good morning.“, keuchte er etwas atemlos, schluckte, sammelte sich.

„Miss, I am very sorry to interrupt your business. Could you tell me what this is all about? I’ve rarely ever seen so many people here…”
 

Er bemerkte aus dem Augenwinkel, dass sein Vater hinter ihm erschienen war.

Die Lady an der Rezeption hingegen strahlte die beiden Japaner vor ihr an.

„What an incredible honour! Sherlock Holmes himself is showing up…!”, sie überging den Versuch Shinichis, zu protestieren, und fuhr ungerührt fort, “ …– we’d never expect that even Scotland Yard got the news about our latest event. But Sir – if you’re askin what’s going on, I must suppose, that you unfortunately don’t know what we’ve set up here and your visit is rather coincidental…”

Shinichi schaute sie perplex an.

„No. Ah. I would’nt ask if I knew. What’s this „latest event“?“

Die Frau lächelte ihn immer noch fröhlich an.

„The Sherlock Holmes Mystery Special Tour, of course!”

Shinichi blickte sie bass erstaunt an, merkte, wie er nervös schluckte.

„The Sherlock Holmes Mystery Special Tour?“, echote er, kam sich etwas dumm dabei vor.

“Sure. That’s the name. We had the idea to set up current cases in our museum, and let the visitors solve it with Holmes’ methods. The very interesting fact is, that it’s your case. My congratulation to its solution, by the way… though we hoped, of course, that it would last a bit longer to make it more of an adventure for our visitors…”

Der junge Superintendent tauschte einen kurzen Blick mit seinem Vater aus, merkte, wie es hinter seiner Stirn erneut zu pochen anfing.

„When, exactly, came the idea for this event into your mind? And when, if I might ask, did you decide to use… what you call “my current case”?”
 

“Mrs Hudson” lächelte.

“We were very lucky, indeed. A couple of tourists suggested this idea. Great Sherlock Holmes fans, who read about your case in the Guardian, some days ago. And we were even luckier, as we found a young actress, willing to play a victim today – she and her partners showed up just a few hours ago, preparing everything…”
 

Shinichi blinzelte, überlegte hastig.

“Could you describe the tourists?”

“Asian and English. One man and two women.”

Sie lächelte entschuldigend.

“But if you excuse me. I really have to let those guys in now, they are curious and impatient…”

Shinichi sah sie an, lächelte sie gewinnend an. Er wusste, er musste da rein. Und zwar, bevor eine Horde wildgewordener Sherlockianer da drinnen alles auf den Kopf stellte, um seinen Fall zu „lösen“.

Und so legte er so viel Verständnis und Schmeichelei in seine Stimme, wie er konnte. Sein Vater warf ihm von der Seite einen milde erstaunten, nichtsdestotrotz amüsierten Blick zu. Anscheinend würde er gleich eine weitere Kostprobe des schauspielerischen Könnens seines Sohnemanns sehen.

“I understand completely. That’s really exciting, I suppose, and the fans are dying to get a glimpse…”

“Oh yes, they are – in fact, you were quite right. We’ve never have had such a queue…”

“And it would be just shameful, if anything wasn’t as it should be. If I take it right, they have for sure informed themselves about the investigation, have sucked in every piece of information they could’ve possibly get their hands on…

That must have taken days to plan it, the whole morning to prepare it… my respect for this labour…”
 

Und er merkte sofort, dass seine kleine Bemerkung zog.

„Sure. It took almost a week. In fact, the idea occurred after the first victim… since then we planned, set up the paper ad to look for an actress, prepared the room… if there is any tiny mistake it would be extremely disappointing… for us, for our visitors…”

Sie klang unsicher, schien ins Grübeln zu kommen.
 

Und dann schien ihr aufzufallen, wer vor ihr stand.
 

„But you know everything about it! You led the investigation and solved the case! Would you do us the favour and have a short look at it, before we let the masses in? That would be – that would be – the top of the crops! A Sherlock Holmes - approved crime scene… Sir…”
 

Sie schaute ihn bittend an.

„Would you have a second to do us this great, great pleasure?“
 

Yusaku musste sich ernsthaft zusammennehmen, als er seinem Sohn zusah, der sich nun ganz offensichtlich zierte und mit Hingabe den bescheidenen und schwer beschäftigten Ermittler zum Besten gab.
 

„I’d love to, really. But honestly, my timetable is… I just dropped in as I was curious, as you perhaps know I live next door, and I was just on my way…”
 

“Oh, please! Oh, pretty, pretty please!”

Ein Chor weiblicher Stimmen schallte ihm entgegen – hinter der Verkäuferin waren noch zwei weitere, ziemlich junge Mitarbeiterinnen auftaucht, ebenfalls gekleidet in der Haushälterinnenkluft des ausgehenden 19ten Jahrhunderts und bettelten ihn nach allen Regeln der Kunst an – ihre Augen groß und flehend, die Stimmen hoch und quengelnd. Shinichi wandte den Kopf ab, scheinbar beschämt, hob die Hand.
 

„Well, if you so urgently want me to have a look at it… how could I say no, when such lovely girls ask me…“
 

Einen Augenblich später standen sie im Gang und von Shinichis Rolle als bescheidener, geschmeichelter Polizist war nicht ein Hauch mehr übrig.

Yusaku sah ihn von der Seite her milde lächelnd an, als er ihm und einem der Mädchen durch das Haus folgte.

„Ernsthaft. Deine Mutter könnte das nicht besser.“

Shinichi warf ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu, lächelte kurz – ein Lächeln, das genauso schnell verschwand, wie es gekommen war. Er sah angespannt aus, schien fast ein wenig zu fürchten, was auf sie warten könnte.
 

„Du denkst, das Mädchen…“

Shinichi schluckte hart.
 

„Wo sonst… wer sonst…“

Er stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, zog die Schultern kurz hoch, ließ sie dann wieder sinken, versuchte, etwas gelassener auszusehen, um kein Aufsehen zu erregen und das Mädchen, das sich immer wieder umblickte – ganz offenbar war sie nicht nur Fan der literarischen Figur von Sherlock Holmes, sondern auch seiner Reinkarnation aus Fleisch und Blut nicht abgeneigt – zu beunruhigen. Er lächelte ihr verlegen zu, ehe er sich seinem Vater zuwandte, der leise weitersprach.
 

„Aber Shinichi, hast du sie gehört – diese Leute hätten dieses Szenario heute schon seit einer Woche geplant… wie konnten sie…“

Shinichi wandte sich um, blickte seinem Vater ernst in Gesicht.
 

„Ich glaube, die haben das alles hier schon viel länger geplant. Ich meine, überleg mal… das ist ein Plan, der sich immer und zu jeder Zeit ausführen lässt. Die Hauptdarsteller sind jederzeit austauschbar und immer rekrutierbar – ich meine, warst du schon einmal an einer Kunstuni? Ich jetzt schon. Du wirst jederzeit innerhalb einer Minute eine Handvoll junger Leute finden, die buchstäblich morden würden, um mit ihrer Kunst endlich erfolgreich zu sein, einen Gönner zu finden, Geld zu verdienen, Publikum zu bekommen. Erfolg, Ansehen… Applaus… das ist das Brot, von dem diese Menschen leben. Und sie sind in einer Masse ihresgleichen, wo sich kaum jemand abhebt. Vielmehr schubst sich gegenseitig jeder mit den Ellenbogen nach hinten, in einer Zeit, die für Kunst eigentlich kein Geld und keine Zeit übrig hat. Es ist ein Kinderspiel. Es ist lachhaft, wie einfach es ist. Und das war schon immer ihr großes Talent – einfache, idiotensichere Pläne.“
 

Seine Stimme klang bitter, merkte, wie sein Herz zu rasen anfing, als sie endlich im obersten Stock angekommen waren – in dem Zimmer, in dem man eigentlich Holmes‘ Gegner fand. In dem der große Kopf des Hundes von Baskerville ausgestopft an der Wand hing, und in der Moriarty als Wachsfigur grimmig aus einer Ecke jedem Besucher das Blut in den Adern gefrieren ließ – oder es zumindest versuchte.
 

Heute waren weder der Hund noch Moriarty zu sehen.
 

Heute zog etwas anderes Shinichis Blick auf sich – ließ ihm das Blut in den Adern schier gefrieren.
 

Es war das Bild, das an der Wand gegenüber der Tür hing, dort, wo sonst der Hundekopf gehangen hatte.
 

Es war das Bild von Meredith.
 

Und überall im Raum lagen Gänseblümchen.
 


 

Ran seufzte, blickte um sich und war schier überfordert.

Neben ihr stand Kazuha, schaute sie abwartend an, schien ihr Gefühl von latenter Orientierungslosigkeit zu teilen. Shiho stand mit verschränkten Armen neben ihnen, hinter ihr Akai, in exakt der gleichen Körperhaltung und ähnlich sachlichem Gesichtsausdruck.
 

Sonoko und Yukiko hingegen grinsten übers ganze Gesicht.
 

„Und wo wollen wir zuerst hin?“

Aufregung lag in Sonokos Stimme.

„Ich hätte ja nie gedacht, dass der Kerl wirklich Ahnung davon hat, wo man in London einkaufen kann, aber das ist – der – Wahnsinn!!“
 

Sie standen in der Oxford Street vor den Eingangstoren von Selfridges. Leute, bepackt mit gelben Plastiktüten strömten an ihnen vorbei. Ein wenig weiter die Straße unter blinkte ihnen das Primark-Logo entgegen.

Yukiko und Sonoko schienen in ihrem Element.
 

„Komm, meine Liebe! Es wird Zeit, dir was Hübsches zu kaufen!“

Yukiko hakte sich bei Ran unter, zog die verdutzte junge Frau mit sich in den Laden – die sich vom Kaufeifer, den Shinichis Mutter an den Tag legte fast ein wenig anstecken ließ. Ein leises Lächeln schlüpfte ihr auf die Lippen – und verschwand wieder, als sie an ihn dachte.
 

Shinichi.
 

Eine seltsame Unruhe hatte sie seit ein paar Minuten ergriffen, und sie fragte sich, was er wohl gerade tat. Yukiko merkte, sie sie kurz aus dem Tritt kam, sah, wie nachdenklich ihr Blick war.

„Ran.“, murmelte sie leise, blieb kurz stehen, strich ihr über die Wange, bis ihre Hand auf ihrer Schulter zum Liegen kam.

„Ran, ich weiß, du denkst an ihn. Ich auch.“

Sie seufzte tief.

„Seit fünf Jahren fast jede Minute. Und mache mir Sorgen. Aber heute Morgen, Ran – heute Morgen, als ich ihn mit dir sah – da hatte ich zum ersten Mal seit fünf Jahren das Gefühl, dass ich aufhören kann, mir Sorgen zu machen.“

Ein ermutigendes Lächeln war auf ihre Lippen getreten.
 

„Er wird sich sein Leben nicht entgehen lassen, Ran…“
 

Ran holte tief Luft, nickte dann fest.

„Sie haben ja Recht…“

„Nicht „Sie“, meine Liebe.“

Yukiko lachte.

„Da ich wirklich denke, dass er demnächst nichts mehr anbrennen lassen wird, denke ich doch, wir sollten schon mal zum Du übergehen. So lange wie wir uns schon kennen, ist das doch längst überfällig.“
 

Damit zog sie ihre Schwiegertochter in Spe mit sich in die marmornen Einkaufshallen.
 

Nein… ganz sicher wird er sich sein Leben mit dir nicht mehr entgehen lassen… wenn er bis dahin wohl auch noch ein schönes Stück Arbeit vor sich zu haben scheint.
 


 

Vor ihm auf dem Boden lag, schön wie der Abendstern, Meredith.
 

Man hatte ihr ihre Haare geflochten und hochgesteckt, sie mit einem Schwarm kleiner glitzernder Haarnadeln und einer locker geflochtenen Kette aus schneeweißen, echten Gänseblümchen verziert. Man hatte ihre Augen dunkel getuscht, ihr einen Lidstrich gezogen – ihre Lippen waren passend zu ihrem hellen Typ zartrosa angemalt und ließen sie duftig und frisch aussehen, süß wie ein Wolke Zuckerwatte. Sie steckte in einem ihrer Kleider, einem silbergrauen Traum aus Wildseide mit Flügelärmelchen, die ihr luftig über die Schultern hingen; der Oberteil ihres Kleids war als strassbesetzte Corsage ausgearbeitet, mit zarten Volants am Ausschnitt – der Rock umspielte in vielen transparenten Lagen, die hie und da etwas gerafft und mit einem kleinen glitzernden Stein befestigt waren, ihre Beine.

Ihre Fingernägel waren rosa lackiert – und in einer ihrer Hände lag ein Gänseblümchen. Der herbe Duft der kleinen weißen Blumen, die um sie herum gehäuft waren, brachte ihn fast zum Würgen.
 

Und über allem, an der Wand, prangte ihr Bild und schaute sie alle an.
 

Yusaku war hinter ihn getreten – und sah jetzt, was Shinichi hatte auf der Stelle erstarren lassen. Sein Atem war kaum wahrnehmbar, so flach hob und senkte sich seine Brust, seine Augen vor Entsetzen geweitet. Das wirklich Absurde an der Szene allerdings war die junge Frau, die voller Begeisterung in den Raum trat und munter zu plaudern anfing.
 

„Isn’t it great? It’s so… authentic. Her pale face, that… blood…“

Sie warf einen leicht angewiderten Blick auf den Boden, wo ein roter Fleck in den Teppich sickerte.

„That magnificent picture – that marvellous dress of real wild silk – now, say, isn’t it just like another victim in your case?“
 

Und erst jetzt schien wieder Leben in Shinichi zu kommen. Er sah sie an, verkniff sich den Kommentar, der ihm wie eine bittere Pille auf der Zunge lag, trat in den Raum.
 

Er schluckte, ging vor Meredith in die Knie, streckte eine Hand aus, berührte ihren Hals.

Yusaku schluckte hart – er sah, wie Shinichis Finger zitterten, ahnte, was er dachte.

Dass er wieder versagt hatte.

Wieder zu langsam gewesen war.
 

Dann sah er, wie Shinichi den Atem anhielt, sich über sie beugte – sein Ohr an ihre Nase und ihre leicht geöffneten Lippen hielt – und nach ein paar Sekunden langsam und gepresst ausatmete. Yusaku schaute ihn an.

„Sie atmet?“, fragte er langsam. Shinichi setzte sich auf, zog seine Jacke aus und presste sie fest auf die Wunde an Merediths Seite, nicht jedoch, ohne sein Mobiltelefon zuvor herausgeholt zu haben.

„Rufst du den Krankenwagen, Vater? Ich… übernehme Scotland Yard.“
 

Erst jetzt meldete sich die junge Frau wieder zu Wort, die gerade völlig perplex das Verhalten von Sherlock Holmes beobachtet hatte.

Und erst jetzt ging ihr auf, was hier wirklich geschah.
 

„Oh my god. She is… she’s no… actress…“

Sie merkte, wie ihr die Beine den Dienst versagten, wollte an der Mauer hinunterrutschen, als sie seinem Blick begegnete.

Shinichi schaute sie an, hatte gerade aus der Kontaktliste seines Smartphones die Nummer seiner Dienststelle herausgesucht und hielt nun inne.

„No. She is not an actress. She is, in fact, another victim in my case…”
 

Er schluckte.
 

“Please go down and tell… Mrs Hudson not to let anybody in here. Show the police, as soon as they arrive, where we are. The same goes for the ambulance. Thank you.”
 

Die junge Frau nickte, tastete sich mit schlotternden Knien die Wand entlang zur Tür, stürzte dann polternd die Treppen hinab.

Er hörte, wie sein Vater dem Krankenwagen ihre Position und die Verletzungen ihres Opfers schilderte, und wollte gerade selber endlich auf den Wählknopf drücken, als ihm ein leises Seufzten ins Ohr kroch.

Er wandte sich zu Meredith, sah, wie sie ihn mit blassen Augen ansah.

„Mr. Holmes…“, hauchte sie.

„Mr. Kudô would be more fitting.“, meinte Shinichi lächelnd.

“But don’t speak, Meredith. It’s way to tiring for you. Save your breath…”

Er strich ihr übers Haar, beruhigend.

„The ambulance is coming. Everything will be alright, just… hold on…“

Sie stöhnte leise auf.

“Have you seen Eduard? I… I am so worried… he…“

“He’s at Scotland Yard. He’s safe there. Don’t worry.“

Er lächelte sie weiterhin beruhigend an – biss sich auf die Lippen. Er wusste, er sollte sie das nicht fragen, nicht jetzt, wo jedes Wort sie anstrengte – andererseits würde er diese Gelegenheit vielleicht nicht wieder bekommen, wenn er sie nicht jetzt gleich nutzte.
 

„Meredith.“, fing er an, sah ihr eindringlich ins Gesicht.

„Meredith, where are they?“
 

Sie schaute ihn an – schien jedoch mit ihren Gedanken ganz weit weg zu sein. Auf ihren Lippen lag ein seliges Lächeln, als sie einen Namen murmelte.
 

„Eduard…“
 

Shinichi ließ sein Handy sinken, als er spürte, wie ihr Atem gepresster wurde. Langsam sank ihr Kopf zur Seite, als sie die Augen langsam schloss.

„Meredith?“

Er beugte sich zu ihr.
 

„Meredith? Halten Sie durch…“

Namenlose Kälte erfasste ihn, als er spürte, wie sie immer schwächer wurde – die erste Aufregung, sie überhaupt noch am Leben zu finden wich dem immer größer werdendem Schock, dass sie hier starb.

Starb, bevor Hilfe eintraf.

Starb…
 

Er atmete scharf ein, merkte, wie sich ein paar unangenehme Erinnerungen aus ihrem dunklen Loch in seinem Kopf emporwinden wollten

Erinnerungen an eine Nacht, Erinnerungen an den Geruch von gerinnendem Blut, Erinnerungen an die letzten Atemzüge eines jungen Mädchens…
 

Erinnerungen an den Tod.

Erinnerungen, die ihn überrennen, ihn zerreißen und wehrlos, hilflos und handlungsunfähig liegen lassen wollten.
 

Nein… nicht…
 

Ran…
 

Und es fast schafften.
 

Eine Hand auf seiner Schulter war es schließlich, die ihn aus dem Sog dieser dunklen Gedanken riss. Er sah auf, in die Augen seines Vaters – und er wusste genau, dass der Mann genau wusste, woran er gerade dachte.
 

„Lass mich das machen. Ruf die Polizei an, Shinichi.“

Kapitel 46 - Überdosis

Kapitel 46 - Überdosis
 

Auch Jenna hätte viel für eine Tasse Kaffee gegeben, als sie an diesem Tag ins Yard gekommen war. Sie hatte die Nacht fast schlaflos verbracht, einerseits, weil sie sich einen Teil davon allein im Labor die Beine in den Bauch gestanden hatte – andererseits hatten sie die Ergebnisse der Tests von SI Kudôs Blutprobe nicht schlafen lassen.

Sie hatte versucht, ihn gestern noch zu erreichen – allerdings hatte er anscheinend sein Handy nicht gehört. Sie war drauf und dran gewesen, zu ihm zu fahren, hatte sich dann aber mit den Gedanken abgehalten, dass es a) ein wenig sehr gluckenhaft wirkte, wenn sie mitten in der Nacht vor seiner Tür aufkreuzte, er b) wahrscheinlich einfach schlief und c) sich schon gemeldet hätte, wäre er in Schwierigkeiten.

Letzteres hoffte sie zumindest.
 

Nach dieser fast durchwachten Nacht hatte sie also verschlafen, dann versucht, im Badezimmer zu retten, was zu retten war, und ein gerüttelt Maß an Concealer auf ihre deutlich sichtbaren Augenringe gestrichen, etwas, das sie sonst nie tat – sie hatte ihre Haare so gut es ging zurückgezopft, sich die am wenigsten zerknitterte Bluse, einen Cordrock und eine blickdichte Strumpfhose aus dem Schrank geangelt, sich einen Schal um den Hals gewickelt, von dem sie hoffte, dass er zu ihren Schuhen passte, dann andere Schuhe angezogen, weil die, die sie eigentlich hatte anziehen wollen, aus unerfindlichen Gründen voller Matsch waren – um sich im Anschluss hinter das Lenkrad ihres Minis zu klemmen, wo sie sich nun durch die allmorgendliche Rushhour zu wühlte, ohne ihren Morgenkaffee.

Sie wusste, heute würde der Fall geschlossen werden.

Brady hatte nicht gesungen – offenbar hatte er zu viel Angst vor den Leuten, die ihn angeheuert hatten.

Dann war der Anruf von Sherlock gekommen – und hatte sie statt des Vordereingangs den Hintereingang benutzen lassen, um sich möglichst ungesehen in die Labore schleichen zu können. Und sie damit auch der letzten Chance auf eine schnelle Tasse Kaffee beraubt, denn die Cafeteria lag in der entgegengesetzten Richtung.
 

Nun war sie fertig mit der Überprüfung der Fingerabdrücke und hatte das Ergebnis auch bereits zurückgemailt, und damit bereit, „offiziell“ zur Arbeit zu erscheinen.

Jenna atmete durch, stieß die Tür auf, betrat die Lobby – und sah Jillian McDermitt ihr bereits entgegenhetzen.

„Sergeant Watson!“

Jenna blieb stehen, merkte, wie sich in ihrem Bauch ein sehr flaues Gefühl breitmachte.

Ihr schwante Übles.

„Sergeant Watson! Where have you been? AC Montgomery wishes to see you urgently, what…”

Sie blieb nach Atem ringend vor ihr stehen.

„Do tell, what the hell has happened yesterday with that student of fine arts after his interrogation?!”

Jenna starrte sie an, sagte nichts. Erstens war sie sich ziemlich sicher, dass sie Jillian nichts über die „Befragung“ – sie setzte das Wort sogar in ihren Gedanken in Anführungszeichen – sagen durfte; zum Zweiten erschütterte sie der Ton, in dem die Chefsekretärin sprach (sie war sich ziemlich sicher, noch nie den Ausdruck „was zur Hölle“ aus ihrem Mund gehört zu haben) und zum dritten alarmierten sie der Tonfall und der dringende Wunsch des AC, sie zu sprechen.
 

Good lord.

Only one day has passed since Sherlock is gone and this fucking house seems to burn down to its base wall.
 

Sie ließ sich stumm zu ihrem Vorgesetzten führen – in ihrem Magen rumorte es gehörig, und gerade eben war sie ganz froh, keine Zeit für ein Frühstück gehabt zu haben – nicht einmal für eine Tasse Kaffee.
 

Montgomery sah sie nur an, als sie sein Büro betrat, bot ihr keinen Platz an.

„Watson. Would you kindly tell me about the interrogation of Eduard Brady, yesterday? Especially about the events that followed his questioning?“

Er hielt sich, sie sah es ihm an, nur mit Mühe unter Kontrolle.

Jenna sah ihn dennoch leicht verwirrt an.

„I wrote the exact details down into my report, Sir. I assume you’ve read it.“

Sie sah ihm an, dass er eben genau das nicht getan hatte – und fing innerlich ein wenig an zu kochen (für was schrieb sie dieses Zeug, wenns dann eh keiner las?!) fasste sich aber, bevor sie fortfuhr.

„DI Henderson and I talked to Brady and his attorney – we’ve not been talking much, though. The attorney declared that Brady would retract his confession, deny to answer further questions and that he wished to file a complaint against SI Kudô, as he insisted that the confession of his client was made under pressure. Afterwards, he asked for some time with his client, alone. DI Henderson went back to his work, and I left both of them into the custody of the officers who guarded Brady’s door. I went writing my report. That was it.“

Montgomery starrte sie an.

„Ah. Sure?“

„Yes. Sure.“

Jenna hob die Augenbrauen.

„May I ask what’s this all about? Why are you doubting my words? Why am I to repeat everything, in the first place?“
 

Jackson Montgomery schaute sie ernst an.
 

„Oh, of course you may, Watson. Please follow me.“
 

Durch die Gänge wanderten sie wieder nach unten – und wechselten kein Wort. Der Trakt mit den U-Haft-Zellen lag im ersten Untergeschoss. Sie mochte diesen Ort nicht – er schien trotz der allgegenwärtigen Neonbeleuchtung düster uns unheilverkündend.
 

Und als die Wache auf Montgomerys Zeichen hin die Tür öffnete, und sie nur hörte – noch gar nicht sah – was drin los war, merkte sie, wie sich ihr jedes Härchen auf jedem Quadratzentimeter Hautoberfläche aufreizend langsam aufstellte.
 

Was da an ihre Ohren drang und ihr diesen höchst unangenehmen Schauer bescherte, war eine rauchige, heisere, kraftlose Stimme, die ihren Weg eher kriechend nach draußen fand, als dass sie sich als Schall über die Luft verbreitete.
 

„Meredith? Is that you? Is that her? Please, don’t hurt her, don’t, please…“
 

Ein Wimmern drang an ihre Ohren, ließ sie schaudern, vor Entsetzen erstarren.

„Please, don’t harm her, leave her alone, let her go, please, please…“
 

Jenna war kalkweiß geworden. Und sie war sich ziemlich sicher, dass sie eigentlich keinen Blick mehr in die Zelle werfen wollte.

Nein.

Nicht ziemlich sicher.

Sie war sich bombensicher.

Als Montgomery sie jedoch näher winkte, tat sie dennoch, wie ihr geheißen.
 

Und sah ihn in der Ecke, die am weitesten von der Tür entfernt war, sitzen – kauern, vielmehr. Er starrte sie an wie ein verletztes, wehrloses Tier im Straßengraben, das seinen Gnadenschuss fürchtete.
 

Er zitterte und bebte, hielt sich mit einer Hand an seinem Hemd fest, keuchte und schnappte nach Atem. Große, dunkle Pupillen, so groß und so schwarz, dass sie fast keine Iris mehr sehen ließen, in rotgeäderten Augen starrten durch sie hindurch, bleiche, fast wächserne Gesichtshaut spannte sich um seine Wangenknochen, ließ ihn eher tot als lebendig erscheinen.
 

Und er heulte Rotz und Wasser.
 

„Where’s she? Don’t hurt her! Please- please…!“
 

Sie hatte nie jemanden gesehen, der sie mit so viel Angst in den Augen angesehen hatte - oder besser gesagt, durch sie hindurch. Er schien keinen von ihnen wirklich wahrzunehmen, sein Blick flatterte von einem zum anderen, schien sie kaum zu streifen.
 

Er sah ganz klar seine Auftraggeber.
 

Jenna zerbiss sich die Lippen, warf einen Blick zu Montgomery.
 

„He’s drugged.“, bemerkte sie leise.

„Jeah, that much I’ve been guessing, too!“, erwiderte er gereizt.

„I’d just really love to know what stuff he swallowed and where the hell he got it?!“

Der AC wandte sich zu seiner Mitarbeiterin um.

Jenna schluckte nur. In ihr hatte sich eine dunkle Ahnung manifestiert, als sie den Mann vor sich auf dem Boden liegen sah, beobachten konnte, wie er um Atem rang, die Augen zusammenkniff und wimmerte.
 

„Where is my Merry…“, hörte sie ihn erneut wispern. Er keuchte lauter, bekam anscheinend wirklich kaum mehr Luft.

„We need to call a doctor.“, murmelte Jenna.

„He’s on his way. But that’s not the answer to my question.“

Jenna drehte sich um.

„You know the answer already. I’m pretty sure his attorney applied it to him. He was the last person to see Brady and no one has met the man afterwards.“

Montgomery lachte.

„What nonsense! Tell me, Sergeant Watson, do you actually hear yourself talking? Why on earth should his own lawyer…?“

„Probably because of the lawyer being no real lawyer at all.“
 

Sie wandte sich zu ihm um.
 

„The man could have been one of his employers, probably. And he came to switch him off, giving him no chance to tell us something. And you know who has told you the very same theory, Sir.”
 

Montgomery kniff die Augen zusammen.
 

„You have no proof of SI Kudô’s theory being right in this matter. And you know that I just can’t allow my employees consuming drugs in their offices..."

„To say it with your words – you have no proof of SI Kudô consuming drugs at all. And therefore you’ll quit alleging this immediately!“, fauchte Jenna.

„What do we have to do to make you believe us! Man, open your eyes! Someone who achieves poisoning your suspect under your own roof will easily be able to smuggle a flask of diamorphine into the desk drawer in an unlocked office! The only thing he didn’t master was to put SI Kudô’s fingerprints onto it!“
 

Sie schluckte hart, merkte, dass sie zu weit gegangen war. Montgomery war puterrot geworden, funkelte sie mit unverholenem Zorn in den Augen an.
 

„Who do you think you are, Sergeant…“
 

„Sir.“

Ein etwas außer Atem befindlicher Beamter war den Gang entlang gelaufen und blieb nun keuchend vor ihnen stehen.
 

„Another victim was found. In a bright gray dress. Accompanied by a picture. She matches the description of Meredith Rowling…“
 

„Meredith…“, wisperte der Mann hinter ihnen mit ersterbender Stimme. Jenna schluckte hart, bedachte ihn mit traurigem Blick.
 

„When will the victim arrive here?“, murrte Montgomery.

„She won’t arrive here at all. She was brought into the London Central Hospital.“

„And what the hell is she doing there?“, herrschte der Mann ungehalten den armen Inspektor an, der der unglückselige Überbringer der Botschaft gewesen war. Spucke flog durch die Luft, sein Schnurrbart zitterte, als Jackson Montgomery nachsetzte.

„What the hell do they want to do with that girl there!?“
 

„Saving her live, I assume strongly, Sir.“

Er schluckte hart.

„She was found alive. They were in a big hurry to get her into medical care.“

Jenna atmete tief ein, schluckte.
 

He’s got to know this!
 

Dann drang die Stimme ihres Chefs, der offenbar genauso wie sie ein paar Sekunden brauchte, um die Information zu verarbeiten, an ihr Ohr.
 

„And who has discovered here? Have the witnesses arrived already?“

Der Mann lächelte auf einmal, grinste viel mehr von einem Ohr zum anderen – offenbar hatte er sich auf diesen Moment der Nachricht schon die ganze Zeit ganz besonders hingefreut.
 

„SI Kudô has found her, Sir. At the Sherlock Holmes Museum. Obviously only minutes after her disposal there. I don’t know if he’s on his way here, though. As far as I know he’s been advised to take his… holiday.“
 

Jenna schaute an die Decke, grinste in sich hinein, musste an sich halten, um nicht lauthals loszulachen.
 

Well done, Mr. Holmes – very well done, indeed!
 

“Anyway, perhaps he’s able to tell himself. Lady McDermitt has him on the phone, still.“

Jackson Montgomery schnappte nach Luft – in seiner Schläfe pochte eine Ader. Er sagte nichts mehr, dampfte den Gang entlang, und Jenna konnte deutlich sehen, wie es in ihm arbeitete. Sie hatte ihren Chef nie so aufgebracht gesehen.

Ihn nie so erlebt wie in den letzten Tagen.
 

Jetzt zu sehen, dass er es gewesen war, der den Fehler gemacht hatte, und nicht der, den er beurlaubt hatte, brachte ihn fast zum Platzen – allerdings, und das wusste sie, war er Profi genug, sich einen Fehler einzugestehen, wenn er einen gemacht hatte. Und so atmete er tief durch, bis er bei Jillians Büro angekommen war, wo die Sekretärin ihm geduldig den Hörer reichte und Jenna mit einem hocherfreutem Lächeln bedachte, ihr eine Tasse Kaffee über die Theke schob.
 

„Good afternoon, Superintendent Kudô.“
 

Shinichi horchte auf, als er die Stimme Montgomerys am anderen Ende der Leitung vernahm. Der Mann schnaufte wie ein Walross – also war er entweder gerannt, oder aber aufgebracht.

Vielleicht auch beides.

Immerhin ließ ihn aber der Gebrauch seiner Dienstgradbezeichnung und seines Nachnamens aufmerksam werden. Er schluckte, warf einen Blick zu seinem Vater, der immer noch sein Sakko auf Merediths Wunde presste. Er hatte gerade noch die Sirene des herannahenden Krankenwagens gehört – gerade eben bahnten sich polternd Stimmen ihren Weg über die Stufen hinauf.
 

„Good afternoon, AC Montgomery.“, bemerkte er dann, räusperte sich kurz.

„I take it, you have been informed?“

“I’ve got the outlines.”

Montgomery schnaubte ins Telefon, während Shinichi Platz machte, um den Sanitätern, die sich nun durch die Tür drängten, Zutritt zu verschaffen, und auch sein Vater räumte nun seine Position.

„You can confirm it’s the missing Meredith Rowling?“

“It definitely is her. I talked to her. She asked me about her boyfriend, Brady.“

Er hörte, wie sein Gesprächspartner am anderen Ende scharf Luft holte – und fragte sich, was das nun wieder zu bedeuten hatte. Nichts Gutes, höchstwahrscheinlich.
 

„How’s she doing?“

„She’s in medical care right now. If you would wait a second, I can ask the ambulance men about her state.”

“Please do so.”

Er hörte, wie angespannt der Mann war, ließ seine Hand, mit der er das Smartphone hielt, kurz sinken, als er sich den Sanitätern näherte.

„Good afternoon. I found her – my name is SI Shinichi Kudô, I am working for Scotland Yard…”

Einer der Männer schaute auf, hob nun erstaunt die Augenbrauen.

„AH! Sherlock Holmes!“, er grinste.

„My little son is a big fan. What a coincidence to find you here…”

“Not as big a coincidence as one might assume.”, meinte Shinichi bitter lächelnd, fuhr dann fort.

“She seems to be part of our case. Luckily enough, we found her alive. Could you give us some information about her health state?”

“Sure.”

Der Mann, der bis gerade eben seinem Kollegen geholfen hatte, einen Druckverband anzubringen und einen Venenzugang zu legen, um ihr eine Infusion anzuhängen, nickte und stellte sich kurz mit Shinichi zur Seite, damit die anderen beiden Sanitäter die junge Frau die Treppen auf ihrer Trage hinunterbringen konnten.
 

„She seems to have lost a critical amount of blood, but seems stable enough, though. She’ll get a blood transfusion immediately. We cannot give a detailed guess on her wound; seems deep and made by a sharp blade, but has obviously missed the arteria abdominalis – she would have been dead before you could finish your call on us if it had hit it. Thus considered I guess she’ll make it. Five minutes later though, and we’d have no chance at all.”
 

Shinichi merkte, wie ein schier übermächtiges Gewicht einfach von ihm abfiel, als ein erleichterter Seufzer sich den Weg aus seiner Brust suchte. Der Sanitäter klopfte ihm auf die Schulter, als er sich zur Tür wandte – und hielt noch einmal inne, ehe er die Treppe hinunterging, um seinen Kollegen zu folgen.
 

„Well done, Mr. Holmes.“
 

Shinichi hob die Hand zum Gruß, bis der Mann aus seinem Blickfeld verschwunden war, ehe er sich damit übers Gesicht wischte – Yusaku schaute ihn an, sah die unendliche Erleichterung auf seinen Zügen.
 

„Sie wird’s also schaffen…?“

„Höchstwahrscheinlich.“
 

Dann hob er sich das Handy wieder ans Ohr.

„The ambulance man says, as she was found in time and the blade has obviously missed the abdominal artery, so she’s likely to recover. They take her to hospital right now.”

Er hörte seinen Vorgesetzten am anderen Ende der Leitung genauso laut aufatmen, wie er es gerade eben getan hatte.
 

„That’s the best news for days.“

“Very true.”, bestätigte Shinichi.

“Well, Sh – Superintendent Kudô. I’ll send the crime scene investigators right away. May I kindly ask you to make some first photographs, if you haven’t done so already, and find yourself on your way to Scotland Yard to provide us with a detailed report?”

Shinichi holte tief Luft.
 

Jetzt oder nie.
 

Er spürte die Blicke seines Vaters auf sich ruhen, als er die Frage stellte.
 

“Do you want me as a witness or as an investigator of this case?”
 

Montgomery lächelte säuerlich.
 

“As an investigator, SI Kudô. As I hoped you’d realize when hearing me constantly call you…”

“SI Kudô. I took it, but I wanted to make sure. It’s not easy to accept to get dismissed because of being suspected of being drug addicted.“

Er wusste, das hatte gesessen.

„I am sorry. That was a big fault of mine and I beg your pardon.“

Shinichi lächelte zufrieden.

„So you do believe me, that there is more to this than just a little painter wanting to become famous? Maybe my old enemies? I must be sure of your confidence, if I am not…”
 

“I do believe everything you say.”

Montgomery seufzte laut.

“I really am sorry, Shinichi. I should never have doubted your word, as you never gave me the slightest reason to – you’ve done great work for five years. It was as you said… I wanted this case closed. I believed every simple explanation rather than your accuse of having a mole among us…”

Er warf einen Blick zu Detective Sergeant Watson, die ihren Kaffee sichtlich genoss.

„I should have believed when I saw absolute loyalty.“
 

Shinichi zog die Augenbrauen hoch, blinzelte.
 

Jenna…
 

Dann schluckte er hart, als er die raue Stimme seines Vorgesetzten erneut an seinem Ohr hörte.
 

„Well, Detective Superintendent Kudô, would you please come back to work, get back your gun and your sign and help to put an end this case of murder?“
 

Shinichi hatte seinem Vater seinen Wohnungsschlüssel gegeben und war ohne Zwischenstop zurück ins Yard gefahren.

Und nie würde er Jenna vergessen, die mit breitestem Grinsen und einer Tasse Kaffee vor der Eingangstür auf ihn gewartet hatte.

„Welcome back, Mr. Holmes!“

Und er hatte nicht verhindern können, dass auch ihm ein kleines Lächeln auf die Lippen gekrochen war, als er ihr den Kaffeebecher abnahm, mit ihr anstieß und einen Schluck nahm.

„Thank you, Jenna. And… thank you.“

Sie grinste nur, stieß mit ihm an.

„Worst two days in my life, to be honest. By the way – I tried to call you last night, but I couldn’t…”

Sie stoppte, als sie merkte, wie er rot wurde und sich langsam abwandte – das Grinsen, dass dann auf ihren Lippen erblühte, hätte er bei jeder anderen Person als unverschämt bezeichnet.

„NO!“, rief sie lachend aus.

„No way – you did it?!”

Er drehte sich um, schlenderte zur Eingangstür.

„I don’t have the slightest idea what you are talking about…“

Sie grinste immer noch, sah ihn mit einer Freude an, die ihn innehalten ließ.

„Oh, no problem. I’ll lend you a hand. You met her, you talked to her, you confessed your love to her…“

Sie schaute ihn mit glänzenden Augen an. Er warf ihr mit schiefgelegtem Kopf einen leicht überraschten Blick zu.

„You really are happy for me…?“

„Of course! You deserved to feel like this. And by the way – you never looked better.“

Sie lächelte ihn an.

„And I believe, that must be a woman’s deed – only we are capable of working wonders in such short time.“

Jenna lächelte selbstzufrieden. Shinichi grinste schief.

„Very true… you are able to let us men experience both, heaven and hell. Within twenty-four hours, if necessary.“

Nachdenklich trank er einen weiteren Schluck Kaffee.

„But yeah, you’re right. I was with Ran.“

Ein sanftes Lächeln glitt über seine Lippen. Dann seufzte er laut.

„Nevertheless she’s boarding a plane home today… until this game is finally over. She’s safe everywhere else, except with me.“

Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, als ihm eine neue Erkenntnis vor Augen erschien.

„I’ve got to call her. I wanted… I wanted to bring her to the airport, but it seems… this won’t work, as I am… back at work.“

Shinichi schluckte hart. Jenna sah ihn an – er sah wirklich betroffen aus. Er hingegen betrat das Gebäude, ohne sich noch einmal umzublicken, schlug den Weg zu Montgomerys Büro ein, um wieder ein vollwertiges Mitglied von Scotland Yard zu werden und den bisherigen Ermittlungsstand um seine Informationen zu erweitern – nur die Sache mit Bourbon ließ er vorerst noch aus – aus einem einzigen Grund.
 

Kari braucht ihren Bruder.
 

Wenige Minuten später standen sie vor der offenen Tür zu Eduard Bradys Zelle, sahen ihn an, der vor ihnen auf dem Boden lag, wimmerte und weinte und nach Meredith schrie.
 

Shinichi hatte die Luft angehalten. Jenna sah ihn von der Seite her an, konnte kaum sagen, welches Gefühl ihn gerade bewegte.

Klar war nur eins.

Er schien es kaum zu ertragen.

Jackson Montgomery stand neben ihm, schaute ihn unverwandt an, versuchte das zu lesen, was Shinichis Mimik noch hergab.
 

Er war völlig erstarrt, blickte den jungen Mann vor sich an, ehe er sich ihm näherte, sich vor ihn hinkniete um ihm in die Augen zu sehen und versuchte, seinen Blick zu fangen.

Dann stand er wieder auf.
 

„Do you know what this is?“

Shinichi nickte knapp.

„Yeah.“
 

Montgomery horchte auf. Jenna zerbiss sich die Unterlippe. Sie ahnte, was jetzt kam.

Shinichi blickte um sich, um sicherzugehen, dass niemand außer ihnen dreien das hörte.
 

„You… know about my therapy.“

Jackson Montgomery nickte knapp.

„You know that.“

„You didn’t know, why I had to make it, though.“

Er blickte zu Brady, der auf dem Boden lag, rücklings, und die Decke anschrie, während ihm heiße Tränen übers Gesicht liefen.
 

Und Shinichi wusste genau, was er sah.
 

„Because of this.“
 

Sein Vorgesetzter starrte ihn an wie ein Bus. Dann wandte er sich abrupt um, ging den Gang hinab, blieb stehen, offenbar unschlüssig, wie er reagieren sollte. Shinichi hingegen seufzte, massierte sich die Nasenwurzel, ehe er in den Raum trat, erneut, Bradys Hand nahm, ihn so dazu brachte, ihn anzusehen.
 

„Keep calm. She is well.“

Seine Stimme klang eindringlich, als er sich näher zu ihm beugte.

„I know what you’re walking through. But she is fine. She’s hurt, yes, she’s in hospital, yes. But she is fine. I saw her. She talked to me.“

Shinichi schluckte, als er merkte, wie starr Bradys Augen auf seinen Lippen lagen.

„She wanted to know where you were. She loves you, still. She loves you… Eduard.”
 

Er merkte nicht, wie Montgomery hinter ihn trat.

„Listen to me! No matter what you see – it’s not real. It simply isn’t. Just…“

Ein heiseres Wimmern rang sich aus Eduards Kehle.
 

„Merry…“
 

Dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter, schaute auf.

„I’d like to hear the whole story, Shinichi. The doctor is here, anyway, he’ll take care about him.”
 

Sie saßen zu dritt im Büro von Jackson Montgomery – die Tür hatte der ACC hinter ihnen vorsorglich zugesperrt.

Er hatte die Geschichte knapp erzählt – hatte weggelassen, was er gesehen und geträumt hatte, hatte über die Wochen danach geschwiegen – er hatte ihm lediglich die Wirkweise und den Zweck des Gifts erläutert.
 

Das allerdings schien schon zu reichen.

Montgomery starrte ihn an. Sein Teint war gräulich, eine Farbe, die Shinichi in seinem Gesicht noch nie gesehen hatte. Und er ahnte, welche Gedanken dem Mann jetzt im Kopf rumschwirrten.

Und über allem die Frage, wie man sich mit fünfundzwanzig Jahren schon so in die Scheiße hatte reiten können.
 

„So this is some kind of torture.“, fasste Jackson Montgomery schlussendlich zusammen, als er seine Stimme wieder gefunden hatte.

Shinichi nickte kaum merklich.

„Yeah.“

„And you have undergone the substitution therapy to get away from that stuff.“

„Right.“

Shinichi nickte erneut.

„Do you think we should do the same with him…?“, fragte Montgomery, knetete seine Hände.

„I don’t know.“, murmelte Shinichi.

„To be frank, I’m surprised he’s still alive. I can’t imagine only one reason for Gin not to kill him immediately.”
 

Er brach ab, als er merkte, wie es ihn siedendheiß durchlief, gerade so, als hätte jemand einen Topf gerade aufgekochten heißen Wassers über ihn gekippt. Er stand auf, so heftig, dass der Stuhl ins Kippen geriet. Montgomery und Jenna schauten ihn fragend an.

„What…?“

„He has given him an overdose.“

Shinichi war blass geworden.

„He for sure has dealt with the withdrawal for the whole night already. He has to be treated, immediatly!“

Montgomery stand ebenfalls auf, gleichwohl auch Jenna.

„If what you say is right, he has to be helped, of course! But how?“
 

Shinichi schluckte.
 

„I’d like to… consult a specialist on that matter.“

Kurz biss er sich auf die Lippen.

„Are Mr Mori and Mr Hattori still here?“
 

Heiji kam ihm breit grinsend in der Lobby entgegen – das ihm allerdings von den Lippen fiel, als er Shinichis ersten Gesichtsausdruck bemerkte.

„Was is‘ los, Kudô? Jenna hat uns grad gesagt, du bist wieder dabei – aber du…“

„Ihr müsst Shiho herholen.“

Er schluckte hart.

„Ruf Kazuha an, frag sie, wo sie sind und fahr mit ihr im Taxi her. Es wird nicht lange dauern. Sie soll sich Brady ansehen… es scheint, als habe man ihm das HLZG verabreicht, vielleicht eine Überdosis, wir müssen wissen, wie wir ihm noch helfen können…“, murmelte er gepresst. Heiji starrte ihn an – dann nickte er knapp, zog Kogorô mit sich.
 

Etwa eine halbe Stunde später stand Shiho mit Shinichi vor Eduard Brady, der in seiner Zelle lag und keuchte. Er bekam kaum noch Luft. Neben ihnen stand der Arzt.

Shiho schluckte hart, starrte den jungen Mann an, dem seine Klamotten am Kleid klebten und der doch vor Kälte schlotterte. Sie hatten ihm Decken geholt, ihn auf seine Liege gelegt, doch das alles schien er kaum mitzubekommen. Er hatte die Augen halb geöffnet, und in ihnen schimmerte fiebriger Glanz. Der junge Maler schien sie nicht wahrzunehmen, murmelte unablässig den Namen seiner Freundin vor sich hin wie ein Mantra, nur durchbrochen von leisem Stöhnen oder leisem Wimmern, je nachdem, ob ihn grad ein Krampf quälte oder ob er halluzinierte, wie man seiner Freundin etwas antat.
 

Für Shinichi war das hart an der Grenze dessen, was er ertragen konnte – und Shiho sah ihm das auch an. Er hatte Bradys eiskalte Hand in seine genommen, redete ihm mit Engelszungen ein, dass es seiner Freundin gut gehe – es schien nichts zu helfen.
 

„Das wird nichts bringen, Shinichi.“
 

Ihre sachliche Stimme klang nüchtern an sein Ohr.

„Gegen dieses Gift gab es kein Gegengift, noch nie. Und wenn es zu stark überdosiert ist, führt es wie jede andere Droge zum Tod. Ihr könnt für ihn nichts mehr tun.“
 

Shinichi schaute sie an, merkte, wie er erstarrte.

„Das ist nicht dein Ernst…“

Shiho schluckte, schüttelte den Kopf.

„Sieh ihn dir an, Shinichi. Seit Stunden macht sein Körper das mit. Allein seine blutunterlaufenen Augen reden schon Bände. Die ersten kleinen Äderchen platzen schon, weil sein Blutdruck und sein Puls zu hoch sind, bald wird das auch in der Lunge passieren, in den Nieren, überall - und dann wird’s schnell bergab gehen. Er atmet flach, bekommt kaum Sauerstoff dadurch, deswegen ist er auch so blass. Das Gift spielt seinem Geist immer neue Horrorszenarien vor, hält seinen Adrenalinspiegel konstant hoch, zu hoch… gleichzeitig provoziert es Krämpfe, Hitze- und Kälteschübe. Das hält kein Körper auf Dauer aus. Ihr könnt ihm nichts geben, es wird ihm nichts helfen. Keine Sedierung, kein Schmerzmittel, weil dieses Gift so konzipiert wurde, dass es auf radikalste Weise mit diesen Substanzen reagiert, Schmerzen von ungeahnter Intensität provoziert. Alles was du tun kannst, ist die Situation noch zu nutzen. Zu Helfen ist ihm nicht mehr.“
 

Er starrte sie erschüttert an – und sie lächelte mitfühlend.

„Ich weiß, das schmeckt dir nicht… mit gebundenen Händen dazustehen und nicht helfen zu können. Seine Freundin konntest du retten, aber hier hast du verloren, Kudô. Ich kann dir nur eines… raten, und auch dieser Rat wird dir nicht gefallen.“
 

Sie machte eine kurze Pause.
 

„Willst du, dass sein Tod nicht umsonst war, Kudô, dann nutz die Situation. Verhör ihn, wie sie dich verhört haben. Finde sie. Bring sie zur Strecke.“

„Nein!“

Entsetzen sprach aus ihm – aus seinem Blick, seiner Haltung, seiner Stimme. Jedes Haar schien ihm der Gedanke allein aufzustellen, mit ihm so zu verfahren wie diese Gangster damals mit ihm.

Shiho lächelte ihn mitleidig an.
 

„Du weißt, dass du es tun wirst. Weil du musst. Weil du dir diese Chance nicht entgehen lassen kannst.“
 

Sie schaute ihn an – ein bitteres Lächeln lag auf ihren Lippen.
 

„Soll ich ihr sagen, dass du sie nicht zum Flughafen bringen wirst?“

Shinichi schüttelte den Kopf, schluckte hart.

„Nein. Das… mach ich selber. Ich bring dich zurück zu den anderen und …“
 

Weiter kam er nicht. Hinter Shiho, mit der er immer noch vor der Tür zu Bradys Zelle stand, war sein Chef erschienen.

„And? How can he be helped?“

Shinichis Gesichtsausdruck, als er sich abwandte und zu Brady schaute, der röchelnd hustete, sagte ihm wohl alles.

Er schluckte, schüttelte den Kopf.

„Can we ease his pain, at least?“

Shiho schüttelte den Kopf.

„No. Unfortunately not.“

Montgomery schluckte.

„How much time has he left, then?“

„A few hours. Maybe more, maybe less.“

Shiho warf einen Blick zu dem Gefangenen, der keuchend nach Luft schnappte, hustete – als er sie ansah, war sein Blick seltsam klar, seine Lippen rot vom Blut.
 

Die Zeit schien still zu stehen für einen Moment, als sie ihn alle anschauten – alle, bis auf Shinichi, der mit geschlossenen Augen in der Tür lehnte, seine Stirn gegen den Türstock hatte sinken lassen und das Schicksal stumm für sich verfluchte.
 

Dann hörten sie seine Stimme.

Heiser, erstickt, so leise, dass ihr Schall es kaum bis an ihre Ohren schaffte.
 

„Sherlock Holmes…“
 

Shinichi sah ihn aus dem Augenwinkel an, regte sich ansonsten nicht.
 

„I’ve got to tell you something, Mr. Holmes…”

Kapitel 47: Au revoir

Kapitel 47 - Au revoir
 

Er hatte versucht, zu verhandeln.

Er hatte zumindest eine Stunde Zeit erbeten, um sich verabschieden zu können – was ihm gewährt worden war, war eine Viertelstunde am Telefon.
 

Shinichi stand am Gang, die Tür zu Bradys Zelle war geschlossen – und in ihm brodelte es.

Jenna saß bei Brady, unterhielt sich mit ihm, redete ihm gut zu. Er hatte Angst.
 

Und er wollte reden.
 

Das war gut, an und für sich – aber genau das war der Grund, warum Montgomery ihn nun nicht wegließ. Sie wussten nicht, wie lange er klar sein würde, sie wussten nicht, wie lange er überhaupt noch zu leben hatte, und so wollte er seinen Beamten, oder besser gesagt, den Beamten, mit dem ihr Zeuge – denn das war er nun in Montgomerys Augen – reden wollte, nicht einfach verschwinden lassen.
 

„I just want to tell her that I can’t take her to the airport. I want to say goodbye to her. That can’t be too much asked for…“

Er war aufgeregt, sein Gesicht blass. Er spürte den Schmerz in seinem Schädel pochen, schluckte hart, massierte sich kurz die Nasenwurzel.

Ließ es bleiben, als Montgomery ihn anschaute.

„You know, as well as I know, that we can’t predict how long he’ll be in that condition; now, we can question him, he’s perfectly clear and willing to cooperate. And if you don’t want to squeeze every bit of information out of his feverish brain like the juice out of a lemon, then you have to use this chance. In short – if you don’t want to treat him like they’ve been treating you, then there’s just no other choice. You can’t leave right now. I don’t let you leave. You are the only one accustomed with that situation, you will be the only one who’ll be up to deal with it, when…”
 

Shinichi hatte ihn angesehen, sprachlos. Hatte Shihos, Heijis und Kogorôs Blicke in seinem Rücken gespürt und hatte in diesem Moment ernsthaft bereut, so schnell wieder eingestiegen zu sein.
 

„We need you here. Right. Now. I won’t discuss this matter any longer.“

„One hour – that can’t be–…“, Shinichi brach ab, als er die steinerne Miene seines Vorgesetzten sah.

Er räusperte sich, straffte die Schultern.

„Here’s your place, Superintendent Kudô, and I hate repeating myself. You must not leave this building. You will attend yourself to the interrogation of our witness and the subsequent investigations. Have I made myself clear to you?“

Shinichi starrte ihn an, seine Lippen zu einem feinen Strich zusammengepresst, kaum verhohlene Wut in seinen Augen.

„Have I made myself clear?“, wiederholte Montgomery lauter.

„Yes“, murrte Shinichi gepresst.

„I think I did not understand you…?“

„Yes!“, wiederholte er etwas lauter, schluckte hart.

„Well then“, meinte Jackson Montgomery, wandte sich um.
 

Und nun stand er da, Shiho, Heiji und Kogorô immer noch in seinem Rücken, und immer noch vor Wut kochend.

Er wusste, ganz Unrecht hatte Montgomery nicht. Dennoch – er war sauer.
 

„Und jetzt?“, murmelte Kogorô leise.

Shinichi seufzte.

„Ihr fahrt mit Shiho jetzt zu den anderen, und dann mit ihnen zum Flughafen. Ich… rufe Ran an und versuche ihr zu erklären, dass die Arbeit vorgeht. Schon wieder.

Kogorô schluckte. Er sah ihm an, zum ersten Mal, wie sehr er diese Tatsache hasste.

„Sie wird es verstehen, Shinichi. Ich werde…“

Er brach ab, als er Shinichis Kopfschütteln bemerkte.

„Das sollte sie aber nicht müssen. Nicht ständig. Abgesehen davon ist es das nicht… nicht nur. Ich… ich hab einfach kein gutes Gefühl bei der Sache.“

Heiji schaute ihn an.

„Das kann ich dir nachfühl’n. Allerdings sind wir ja auch noch da – und das FBI…“

Und das war wohl das Stichwort gewesen.
 

„Detektive Superintendent Kudô!!“
 

Montgomery war zurückgekommen – und er schien verärgert. Als Shinichi sich umdrehte, sah er auch, warum.

Neben ihm ging James Black. Shinichi schloss die Augen, atmete tief durch.
 

„Could you tell me, please, just how many balls you are juggling at once?! Running with the hare and hunting with the hounds, aren’t you?“
 

Shinichi ballte die Fäuste, lockerte sie wieder, ballte sie erneut.

„Ihr geht jetzt besser. Ich… ruf sie dann an. Sagt ihr, dass ich sie anrufe, ja?“

Heiji nickte ihm zu, schaute ihn nachdenklich an, ehe er sich umdrehte, um Shiho zurück zu den anderen zu bringen. Shinichi sah den dreien hinterher, als sie sich entfernten, wartete, bis Black und Montgomery an ihn herangetreten waren – und sie sahen beide wütend aus.
 

„How dare you, you are an officer of Scot-…“, fing sein Vorgesetzter an, kam aber nicht weit.

„I work for you to resolve that murder case.“, setzte Shinichi mit ruhiger Stimme an.

„The case concerning the Black Organization was always in the hands of the FBI. For years. You know my file, don’t you?“

Montgomery schaute ihn immer noch wütend an.

„You were meant to talk with me first – it is your duty, now, you…“

Shinichi seufzte, schaute ihn an, lächelte leicht spöttisch.

„Honestly, Sir? Are we going to discuss about what you’d have spat into my face, until this very morning, if I’d told you about my suspicion?“
 

Montgomery schwieg, schaute ertappt zur Seite.
 

„What I needed most was somebody who actually believed me. And someone… who’d be able to protect my loved ones. I… just couldn’t count on you in this matter. So… if you must, just go ahead and suspend me again.“
 

Er schaute ihm entschlossen ins Gesicht.
 

„You know, I’ve always been true to you, and loyal. But you weren’t, in this very case.”
 

Shinichi schluckte, holte tief Luft.

„Well, that’s how I put it – either, you insist in your right and expel Mr Black from your premises and me from my office – or you let us do our work. And do yours in return.“
 

Sie konnten förmlich sehen, wie Montgomery auf seiner Zunge kaute – und sie konnten erkennen, dass sie offenbar recht bitter schmeckte. Schließlich lenkte er ein, winkte unwirsch.

„Go ahead then. As if anybody in here would still listen to what I’m saying…”

Damit drehte er sich um, eilte den Gang entlang und entfernte sich. Zurück blieben James Black und Shinichi, die sich ein paar Sekunden einfach nur stumm ansahen.
 

„You could’ve called and announce your visit.“

„And you could’ve called and tell us that you’ve found victim number four and inform us that you’re back at work.“

Shinichi hob resignierend die Hände.

„Let’s call it a tie, then. Brady’s in there. I’ll be there in a few minutes. Before I can… do this, I have to call her, at least. That much I owe her.“
 

Damit drehte er sich um, verließ den Gang in die andere Richtung, um sich ein ruhiges Plätzchen zum Telefonieren zu suchen.
 


 

Ran stand gerade mitten in der Schlange vor der Kasse von Selfridges, ein ganz und gar entzückendes Sommerkleid in den Händen, als ihr Handy zu klingeln anfing. Sie schluckte, ahnte fast, dass das nichts Gutes bedeuten konnte – und als sie seinen Namen auf dem Display aufblinken sah, seufzte sie lauter als sie es wollte. Yukiko wandte sich um, mit ihr Sonoko, und beide sahen ebenfalls den Namen des Anrufers auf Rans Handydisplay. Yukiko nahm ihr wortlos das Kleid ab, bedeutete ihr, sich ein ruhiges Plätzchen zu suchen – Ran lächelte ihr dankbar zu, entfernte sich etwas außer Hörweite, aber nicht außer Sichtweite, zu den anderen. Dann tippte sie auf den grünen Hörer, um abzuheben.
 

„Ich dachte schon, du hebst nicht ab.“

Sie hörte seine Stimme an ihrem Ohr, seufzte fast lautlos. Er hörte es trotzdem.

„Du ahnst, warum ich anrufe…“

Sie hörte die Reue in seiner Stimme und merkte, wie es in ihrer Magengegend zu ziehen begann.
 

„Du wirst es nicht schaffen, uns zum Flughafen zu bringen.“, murmelte sie leise, wusste die Antwort, bevor sie in leise gewisperter Form an sein Ohr drang.

„Nein.“

Er schluckte.

„Nein. Wir haben… vorhin Meredith gefunden. Eduard Bradys Freundin, er…“

„Euer Hauptverdächtiger.“

„Nicht meiner.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Vater und ich fanden sie. Im Sherlock Holmes Museum. In einem silbergrauen Kleid. Mit einem Bild…“

Er hörte, wie sie scharf ausatmete.

„Sie lebte noch. Sie… lebt auch immer noch.“

Sie hörte seine Stimme an ihrem Ohr, zitterte wie Espenlaub.
 

„Allerdings… wurde Brady offensichtlich vergiftet. Mit der… Droge.“

Shinichi schluckte. Sie ahnte, wie ihn das mitnahm.

„Deshalb hast du Shiho holen lassen… nicht wahr?“

„Ja.“

Shinichi lehnte sich gegen die kühle Wand des Treppenhauses, an dessen Fuß er stand, starrte nach oben durch das Gewirr von Treppenstufen und Handläufen und Geländersprossen.

Es schien schier unendlich zu sein.
 

„Man hat ihm irgendwie eine Überdosis gespritzt. Wir vermuten, dass sein Anwalt… einer von ihnen war. Möglicherweise Gin. Er… stirbt.“
 

Ran fühlte sich, als ob man ihr den Boden unter den Füßen wegzöge, geriet ins Schwanken.

„Sie wird überleben? Und er stirbt?“

Ihre Stimme zitterte.
 

„Ja.“
 

Seine Stimme war leise, klang fast ein wenig heiser. Und sie hörte, dass es ihm nahe ging, was hier passierte. Dann schien er sich am Riemen zu reißen, denn als er erneut das Wort ergriff, klang sein Tonfall deutlich gefestigter.
 

„Aber momentan ist er klar und er will reden und das… will er mit mir, deswegen lässt man mich hier nicht weg, nicht einmal kurz. Ich…“

„Shinichi…“

Ran unterbrach ihn. Ihre sanfte Stimme ließ ihn verstummen, gepresst ausatmen.

„Ich hab wirklich versucht, ihn zu überreden, mich gehen zu lassen. Ich wollte dich zum Flughafen bringen, wollte da sein, warten, bis du im Flieger bist. Ich wollte… sicher gehen, diesmal. Aber nicht mal für eine Stunde lässt er mich weg, ich hab nur fünfzehn Minuten gekriegt. Ran…“

Sie seufzte leise ins Handy, ließ ihn abermals innehalten.

„Das weiß ich, Shinichi. Aber ich… so traurig es ist, es zeichnet sich nun ein Ende ab, oder? Er will mit dir reden… das ist doch ein gutes Zeichen! Vielleicht weißt du in fünf Minuten, wo Gin ist und kannst…“

„Ja, vielleicht.“

Er klang unüberzeugt.

„Ich wäre… allerdings viel lieber zum Flughafen gekommen.“

Shinichi schluckte.

„Ich wollte dich…“

„Ich hätte dich auch gern noch einmal gesehen, heute.“

Ran biss sich auf die Lippen.

„Aber es ist wichtig, dass du mit ihm sprichst… gerade, wo er es nicht mehr lange kann. Es ist richtig, dass du das tust, Shinichi. Und du hast doch bereits einen Flug,… wir sehen uns bald wieder! So bald schon. Das ist doch im Vergleich zu den fünf Jahren… ein Wimpernschlag…“

Sie wollte zuversichtlich klingen, und ermutigend, er hörte es deutlich. Und er dankte ihr dafür, dass sie das für ihn sein wollte, wo er doch genau wusste, dass sie ihn am liebsten gleich mit in den Flieger mitnehmen wollte. Im Handgepäck, wenn nötig.

„Ich verstehe, dass es nicht geht. Und ich erwarte, dass du… dass du… dafür sorgst, dass er nicht umsonst stirbt, Shinichi…“

Er schüttelte den Kopf.

„Warum sagst du das…“

„Weil…“

Ran schluckte.

„Weil ich weiß, dass du eigentlich nur einen Grund hören willst, der dich dazu bringt, sofort herzukommen, Shinichi. Aber ich will das nicht sein… ich will wichtig sein für dich, aber ich will nicht, dass du dich entscheiden musst zwischen mir und dem, was auch wichtig ist – für dich. Für… alle. Deine Arbeit. Diese Menschen, dieser Fall. Also beende ihn. Ein für alle Mal. Und dann komm…“

Er kniff die Augen zusammen.

„Dann komm zu mir nach Hause und geh nie wieder fort…“

Ihre Lippen zitterten, als sie die Worte ins Telefon wisperte.

Seine Finger krampften sich um das Telefon, als er nach Atem rang, nach Worten suchte und sie nicht so wirklich fand.
 

„Ich hab ein saudummes Gefühl bei der Sache, Ran…“
 

Ran schloss die Augen kurz, atmete durch, fühlte, wie ein Gefühl zurückkehrte, dass sie seit gestern für besiegt gehalten hatte.

Angst.

Furcht, die sie ausfüllte wie kaltes Wasser, in ihr hochstieg bis zum Hals, ihr die Luft zum Atmen raubte, sie nach Luft schnappen ließ wie eine Ertrinkende.

Der Wunsch nach seiner Nähe wurde fast übermächtig, ließ sie fast ihre guten Vorsätze über Bord werfen, ihm keinen Vorwand zu geben, sich wieder Ärger einzuhandeln, in dem er sich seinem Vorgesetzten widersetzte.

Sie wollte ihn an ihrer Seite, jetzt gleich. Damit er ihre Angst vertrieb.

Und damit sie seine vertreiben konnte.

Zu gern hätte sie ihm gestanden, dass es ihr genauso ging. Dass sie sich fürchtete, auch kein gutes Gefühl bei der Sache hatte. Dass sie wollte, dass er herkam. Bei ihr war.

Auf sie aufpasste.
 

Und sie wusste, er würde kommen, egal, was ihn kostete, wenn sie ihn vor die Wahl stellte – aber sie wusste auch, dass er diese Wahl nicht haben durfte. Er musste diese Sache jetzt durchziehen.

Vielleicht war es ihre einzige Chance, endlich zusammen zu sein.
 

Es war dieser eine Gedanke, der sie ihre eigenen Wünsche über Bord werfen ließ.

Dieses Ziel, dieser ultimative Wunsch, dessen Erfüllung langsam in greifbare Nähe zu rücken schien.
 

„Agent Akai ist doch bei uns… er wird schon auf mich aufpassen, Shinichi.“
 

Shinichi seufzte leise – Ran hörte es trotzdem, laut und rauschend durch die Übertragung an ihrem Ohr. Er hatte sich auf die Stufen sinken lassen, starrte auf den Kunststein unter seinen Füßen, sah sein bleiches Gesicht blass in der Spiegelung. Er dachte nach.

Dachte über Akai nach, und über Shiho.
 

Wo wirst du die Prioritäten setzen, wenn es hart auf hart kommt, Shuichi?

Wenn sie euch angreifen… und sie es auch auf Shiho abgesehen haben.

Und sie werden sich das bestimmt nicht entgehen lassen wollen, wenn wir ihnen das Päckchen schon so schön schnüren…

Du wirst doch auf sie alle aufpassen können… oder?
 

„Shinichi?“

Rans Stimme klang an sein Ohr, ungeduldig, nervös. Offenbar hatte sie schon ein paar Mal versucht, ihn anzusprechen.
 

„Hm?“

„Shinichi, du solltest jetzt gehen. Ich… rufe an, wenn ich daheim angekommen bin.“

Sie klang bestimmter, als sie es war. Und sie hörte deutlich die Resignation in seiner Stimme, als er sprach.

„Wahrscheinlich hast du Recht. Danke… für dein Verständnis, Ran.“

Sie lächelte in sich hinein.

„Dafür musst du mir nicht danken. Versprich mir nur eins…“

„Und das wäre?“

„Pass auf dich auf.“

Sie holte tief Luft.

„Ich liebe dich.“
 

Damit hängte sie auf, ließ ihn sprachlos und allein mit dem Freizeichen im Ohr zurück.

Ein bitteres Lächeln kroch auf seine Lippen, als er sich am Geländer hochzog, das Handy anstarrte. Er schüttelte den Kopf – dann steckte er es ein.
 

Ran…
 

Ein letztes Mal legte er den Kopf in den Nacken, starrte hoch in die unendlichen Wendungen des Treppenhauses, ehe er zurückging, um mit Eduard zu sprechen.
 

Man hatte ihn im geholfen, sich aufzusetzen, und der Stuhl, der in seiner Zelle gestanden hatte, stand nun neben seinem Bett. Als Shinichi den kleinen Raum betrat, wandte Jenna sich um, die neben Brady saß, schaute ihn abwartend an. Er bedeutete ihr mit einer kleinen Handbewegung, noch sitzen zu bleiben. Sie nickte knapp, wandte sich wieder um und tupfte mit einem feuchten Tuch den Schweiß von der Stirn des jungen Studenten.
 

Ein leises Aufstöhnen drang an seine Ohren, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen, der eiskalt und aufreizend langsam jedes der vielen kleinen Härchen auf seiner Haut, die sich in seinem Weg befanden, aufstellte.

In diesen Sekunden die Erinnerung an seine Zeit in der Organisation in der finsteren Ecke seines Kopfes zu halten, kostete ihn fast alles an Willen, den er aufbringen konnte – fast übermächtig stark schienen sich die Bilder gegen die Tür zu stemmen, hinter der er sie unter Verschluss hielt.
 

Ein leises Räuspern schließlich beendete diesen stummen Zweikampf, den Shinichi mit sich selbst führte. Neben der Tür stand James Black, fast unsichtbar wie ein Schatten, schaute ihn ernst an.
 

„He’s not doing well.“
 

Shinichi schaute ihn kurz aus dem Augenwinkel heraus an, schluckte nur hart. Black sah ihn an, bemerkte trotz des dämmrigen Lichts im Zimmer die Blässe im Gesicht seines Freundes.

Er konnte nur ahnen, wie nahe ihm das wirklich ging.

„I know.“

Der junge Superintendent sprach leise, um zu verbergen, wie nahe ihm das wirklich ging.

„I’ve made the experience myself, as you might remember.“

Ein leicht bitterer Ton war in seine Stimme getreten.

„Shiho said, there’s nothing that could be done for him. No remedy, no painkillers, there’s already too much damage done. He’ll die today, a very ardous, a very painful death… so why on earth should he do well…”
 

Er drehte sich nicht zu Black um, als er nun zu Jenna an das Bett trat, leise und kontrolliert durchatmete. Jenna schaute auf, als sie ihn hinter sich hörte, stand auf und machte ihm Platz.
 

Shinichi jedoch machte noch keine Anstalten, sich zu setzen. Brady hatte seine Augen einen Spalt geöffnet, schaute ihn an und schluckte trocken.
 

„I want to talk to him alone.“
 

Während Jenna der Bitte ihres Partners ohne Widerworte Folge leistete und in Richtung Tür ging, schaute James Black ihn ernst an.

„I think…“

„No.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Just no. No discussion.“

Mehr sagte er nicht, zwang den alten FBI Agent durch puren Starrsinn und mit unbeugsamem Blick durch die Tür nach draußen.

Er würde hier niemand anderen dulden.
 

Dann drehte er sich um, ließ sich neben Brady auf den Stuhl sinken. Der Student hatte seine Augen geöffnet, schaute ihn an, machte dann Anstalten, nach dem Glas Wasser zu greifen, das neben ihm auf einem kleinen Tischchen stand. Shinichi reichte ihm sein Wasserglas, half ihm, es an die Lippen zu setzen, weil Bradys Hände so stark zitterten, dass er den Inhalt des Glases fast verschüttete. Als er fertig war, nahm er es ihm wieder ab, stellte es sachte ab.
 

„You know about your state, Eduard? Your… illness, and your… prognosis?“
 

Er fiel mit der Tür ins Haus.

Shinichi hatte lange überlegt, auf dem Weg vom Treppenhaus hierher und geschlagene fünf Minuten vor der Tür, wie er ihr Gespräch eröffnen sollte – der direkte Weg schien ihm am sinnvollsten. Er wollte mit vollkommen offenen Karten spielen.

„I was poisoned.“

„You were.“

Shinichi nickte langsam.

„The poision has mainly two different symptoms. The halloziongenic component, which you have already encountered, as well als the component which is directly affecting your organic system. The shivering, the feeling of unbearable heat, the spasms and …“

„You don’t have to explain to me how a drug works, Superintendent.“

Brady lächelte angestrengt.

„I was addicted for years.“
 

Shinichi seufzte, schaute ihn an.

„This is not like any other drug you might have been exposed to, Eduard. It was designed to fulfil only two functions – to torture, in order to press people into confessing everything by exposing them to their worst fears and unbearable pain - and to kill.”

Er schluckte hart.

„This was it. It was not made to gain profit. And as there’s no one here to use it in order to make you talk… the only other reason why they applied it to you is therefore…“

Shinichi brach ab, als Eduards leere Augen auf sich ruhen sah – der Mann schien auf einmal wie erstarrt, als ihm aufging, was Shinichi ihm klarzumachen versuchte.
 

„It’s going to kill me.“
 

Shinichi atmete kaum, als er nickte.

„You were given an overdose. Within the next hours, the drug’s effects and those of its withdrawal will…“
 

Er konnte zusehen, wie der junge Mann vor ihm in sein Kissen sank, seine Augen starr und glasig wurden, als Tränen sich in ihnen sammelten.
 

„I feared it. I mean, I guessed as much. He told me that they’d no longer need me…“
 

Er zuckte zusammen, als sich ihm eine ganz andere Frage aufdrängte.
 

„Meredith!“

Er schaute Shinichi nervös an, wollte sich aufrappeln, irgendwie aufstehen.

„They took Meredith! She…“

Eduard brach ab, als er Shinichis Blick auf sich spürte, hielt inne bei seinen ohnehin fruchtlosen Bemühungen, das Bett zu verlassen.

„Meredith is in hospital. We found her this morning. She was hurt, but under these circumstances, she’s doing fine.“

„Circumstances… what d’you mean with that?“

„She… was hurt. As I just told you.“, erklärte Shinichi zögernd.

„But there’s really no need to worry. She’ll make a full recovery.“

„Good… that is… good news… at last.“
 

Shinichi schaute ihn an – konnte förmlich sehen wie er abdriftete in Erinnerungen an seine Freundin. Er biss sich auf die Lippen, kurz. Er hätte ihm die Erinnerungen an seine Liebste gern gegönnt – wohl aber wusste er, dass ihnen die Zeit davon lief. Er kannte die Zeichen, wenn er sie sah, und der Tropfen kalten Schweißes, der Brady über die Schläfe in seinen Dreitagebart rann, war ein beredter Bote des Ereignisses, das bald folgen würde.
 

„You wanted to talk to me about those who did this to you…?“, fing er vorsichtig an und schreckte damit Brady wieder aus seinen Gedanken hoch..

„I’d love to talk to her. Please…“

„With whom? Meredith?“

Shinichi schaute ihn stirnrunzelnd an.

„Yeah.“

Der junge Mann schaute ihn bittend an.

„Yes. Please. It’ll be so… relieving to hear her voice and I want to explain…“

Shinichi schluckte hart.

„Eduard – I hate having to say that, but we don’t have much time to talk. In fact, it’s rather limited…“

„I know. Because I gonna die.“

„No. That means, that’s not the only reason.“, seufzte Shinichi, blickte kurz an die Decke.

„You remember what you experienced, just before? The pictures you saw? Meredith, being hurt, dying…“

Der junge Maler schaute ihn bestürzt an, in seinen Augen die unausgesprochene Frage, woher er das wusste. Shinichi seufzte leise.
 

„You told us. You were hallucinating, Eduard – and these hallucinations appear frequently, they repeat themselves, interchanging with these clear moments. The next one can’t be far away and I don’t know whether you’ll be in any condition to talk to me about those people afterwards…”

Brady schaute ihn fragend an, stutzte, als er das bittere Lächeln auf Shinichis Lippen erblühen sah.
 

„How would you know that?“
 

Shinichi schüttelte den Kopf. Es widerstrebte ihm, mit dem Mann über seine Vergangenheit zu reden.
 

Andererseits… er stirbt in den nächsten Stunden. Wem soll er noch was erzählen…
 

Er räusperte sich.

„Because I was treated the same way as you, five years ago – with one difference. They wanted to get me into talking. I know the man who poisoned you.“

Shinichi beugte sich nach vorn, hielt dem entsetzen Blick des Mannes stand, legte eine Schärfe und Ernsthaftigkeit in seine Stimme, die zustandezubringen er unter den gegebenen Umständen nicht vermutet hätte.
 

„Oh, yeah. I know him so well. This man. A voice like ice, shattering on the floor. The disgusting smell of those cigarettes which he likes to chain-smoke. The almost silvery, blonde hair, the black clothes. And above all, this laughter.“

Er hielt inne, kurz.

„The very special kind of laughter that tells you that you’ve lost before the game has even begun. That tells you that he knows no mercy. He wants to see you suffer, he wants to see you lying shattered on the floor, smashed like a worm. And then – he would let you live. Just to watch how you torture yourself. He plays with you a cat-and-mouse-game; and someday he’d come back and finish what he has begun. Without hurry, but following a detailed plan with determined precision. And she’d be there, too; everyone who has seen the butterfly batting its wings, knows what’ll gonna happen next. Just a word of warning – in our culture, the butterfly is a herald that comes from the afterworld.“
 

Shinichi seufzte – erst jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Gegenüber.

„Now you see, Eduard, I know your demons very well – or rather you were as unlucky as to encounter mine. And I know this man’s not done with me, and I bet, you know that, too. You remember the issue with the mouse, I just talked about.”
 

Eddie starrte ihn an, keuchte. Seine Augen waren weit aufgerissen und voller Entsetzen.

Shinichi beugte sich nach vorn.
 

„They’re just the same. They wanted to kill Meredith and the’ve done the first step to kill you, you know that. And they will go on killing, if we don’t stop them. So, please, Eduard, talk to me, as long as you’re still able to! I beg you.”

Der junge Maler sah ihn an, und Shinichi konnte sehen, wie ihn die Erinnerung an die letzten Tage einholte.

Und die Angst.
 

„Probably this ist he last time I can think clearly, you say?”, murmelte Brady tonlos, schien schon wieder abzudriften.

„If that’s indeed true, I have to talk to Meredith. I must tell her…”

Shinichi stöhnte auf.

„Don’t you listen…“

„I can’t! You don’t understand...!“

„Oh, I bet I do…“, murrte Shinichi tonlos, schaute seinen Gegenüber nur matt an, wusste, dass er ihm den Wunsch wohl nicht würde abschlagen können, auch wenn alles in ihm aufschrie bei dem Gedanken, diese Gelegenheit aufs Spiel zu setzen.

Eben, weil er verstand.

„I- I just can’t! Not before I haven’t talked to her. I love her. I have to…! If this is my last chance, I…“

Shinichi ließ den Kopf in den Nacken sinken, merkte, wie es hinter seiner Stirn zu pochen anfing. Und er merkte, wie er weich wurde, weil Brady die Stelle berührte, die momentan seine Achillesferse war.

Sein flehender Apell klang in seinen Ohren nach. Dann ließ er seinen Kopf nach vorne sinken, seufzte tief.
 

„If I called the hospital and get her on the phone for a couple of minutes, could you then, please, tell me everything you know! Eduard, this is important, there are lives threatened, and your knowledge…“

“I know.”

Eduards Stimme klang heiser.

„I know whom he’s after, and you know as well. I already drew her…“

Der junge Maler schaute Shinichi mit einem Blick an, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
 

„But you must understand… I’ve got to say goodbye…“
 

Shinichi schaute ihn an.

„Five minutes.“
 

Dann zückte er sein Handy, wählte die Nummer des Krankenhauses und machte das Unmögliche möglich. Sie hatten Glück – Meredith war gerade von ihrer Operation aufgewacht. Er mochte sich nicht vorstellen, wie das Mädchen nun im Bett saß, und ihren Freund am Telefon hörte, wie er sich von ihr verabschiedete.
 

Und um davon möglichst wenig mitzubekommen und auch um dem jungen Mann seine Ruhe zu lassen, in dieser hochemotionalen Situation, ging er.
 

Wartend stand er jetzt vor der Tür, massierte sich die Schläfen, behielt die Uhr im Auge und ignorierte die fragenden Blicke Blacks und Jennas – und schätzte sich glücklich, dass Montgomery momentan nirgendwo in der Nähe war. Der Mann hätte ihm die Hölle heiß gemacht, auch nur eine Minute ihrer kostbaren Zeit zu verplempern. Und es waren mehr als fünf Minuten. Shinichi unterdrückte ein Stöhnen, spürte nur, wie ein Schweißtropfen langsam seinen Nacken hinunterprickelte.
 

Als die Stimme Bradys erstarb und er die Tür wieder öffnete, lag sein Handy auf dem Nachttisch. Brady war blass, sah ihn nicht an, als er eintrat, starrte auf seine Finger, die er in die Bettdecke gekrallt hatte, atmete immer noch heftig. Rote Ränder säumten seine glänzenden Augen, verliefen sich auf seinen Wangen. Shinichi schluckte, nahm sein Handy, setzte sich langsam.
 

„Well, know. I don’t want to push, but we really should…?“
 

Und ein Blick in seine Augen sagte ihm alles.
 

Immer neue Tränen rannen über Eduards Wangen – und Shinichi wusste nicht, was er sagen sollte.

„It was dreadful…“, wisperte er erstickt.

Shinichi schaute ihn nachdenklich an, überlegte lange, ehe er sprach.

„So you said goodbye?“

„No.“

Eduard starrte auf seine Bettdecke, schüttelte den Kopf.

„She cried that much. She was so relieved to hear my voice. How could I have told her…“
 

Shinichi schluckte langsam, lehnte sich zurück.

„… the truth? Simple enough. Just by saying it.“

Seine Stimme klang schärfer, als er es beabsichtigt hatte. Eduard war zusammengezuckt, starrte ihn aus glasigen Augen an.

Der junge Detektiv biss sich kurz auf die Lippen.
 

Kudô, reiß dich zusammen. Das ist nicht dein Leben.

Nicht deine Entscheidung.

Du musst ihm das Leben nicht noch mehr zur Hölle machen, als es das ohnehin schon ist… und wenn er es für besser hält, dann hast du das nicht anzuzweifeln.
 

„What?“

Die heisere Stimme des Malers riss ihn aus seinen Gedanken. Zweifel und Schmerz lagen in seinen Augen, bohrten sich tief in Shinichis Blick.

Der junge Superintendent schüttelte den Kopf.

„Forget about it. It was your decision and if you think things are better handled that way...“
 

Er versuchte ein beschwichtigendes Lächeln, dann holte er das Diktiergerät, stellte es auf das Beistelltischchen und schaltete es ein.
 

„I know how you feel.”

Er holte tief Luft.

„But in your and Meredith’s best interests, please get a grip now. We have no time to waste.“

Er merkte, wie eine gewisse Schärfe zurückkehrte.

„I might sound harsh, but you can’t change things that have already happened. What you can do, though, is take revenge and change the future, by helping me.”
 

Während seiner Rede schauten seine Augen an seinem Gegenüber vorbei – fokussierten ihn nun, ließen ihm keine Chance mehr, ihm zu entkommen. Seine Geduld war nun aufgebraucht.
 

Ich hab heute deiner Meredith das Leben gerettet. Nun hilf mir verdammt nochmal, Ran zu retten…!
 

Eduard starrte ihn an – offenbar hatte der laute, bestimmte Tonfall ihn aufgeschreckt.
 

„They told us, we were about to make a synthesis of the arts. That much they promised us. Mr. Kurosawa and his partner, that woman. I called her Madame Butterfly, because of her tattoo. You already mentioned it.”

Eduards Stimme zitterte leicht.

Shinichi hingegen merkte, wie ein unangenehmer Schauer ihm über den Rücken lief.

Er hätte nicht gedacht, dass er so dreist wäre, seinen wirklichen Namen zu verwenden, nachdem er ihre Identitäten hatte auffliegen lassen.
 

Gin…

Was planst du…
 

„She picked us up at university, and acquainted us to her partner. We really thought we’d make art. Meredith thought this until the day before yesterday. I know… for about over a week what was actually going on. Since I went to him with Ayako and saw how he murdered her, right in front of my eyes. He’s after you, you know that much. And the last victim is going to be your girlfriend. Her picture is not finished, but I guess, they don’t care about that any longer. The dress is ready, I guess, that’s all that matters.”
 

Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Shinichi starrte ihn an, merkte, wie sich sein Kopfschmerz intensivierte.

„A white dress?“

„A white dress, yeah.“

Brady nickte.

„Meredith’s masterpiece. A wedding dress. Originally, she made it for…“

Er brach ab, schüttelte den Kopf.

„A white dress. For your girlfriend. And their second hideout is…“
 

Dann schnappte er nach Luft, schrie auf, kurz, starrte an die Decke, seine Augen vor Angst weit aufgerissen. Er presste seine Fäuste auf seinen Brustkorb, keuchte. Shinichi schluckte, war aufgesprungen, fühlte nun seinen Puls an seiner Halsschlagader, merkte, wie ihm ebenfalls der Schweiß ausbrach.
 

Ein Krampfanfall.
 

Brady hustete erstickt, bekam kaum Luft; Shinichi packte ihn an Schulter und Hüfte, drehte ihn auf die Seite, was die relativ harte Liege etwas erleichterte. Aus Eduards Mundwinkel rann ein feines, rotes Rinnsal; seine Hände waren immer noch an seinen Brustkorb gepresst, seine Augen vor Schmerz zusammengekniffen.
 

„Where’s their hideout, Eduard…?“

Shinichi schluckte, hasste sich dafür, dass er auf seiner Frage beharren musste.

„Please! Tell me where it is…!“

Shinichis Kopf befand sich so dicht an dem von Eduard, dass er dessen heißen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.
 

„Please…“
 

Doch er wusste, es war zu spät.

Eduard lag bewegungslos in seinem Bett, atmete stockend ein und aus, sein Blick starr und unfokussiert.
 

„Meredith.“
 

In dem Moment ging die Tür hinter ihm auf. Herein trat Montgomery, dicht gefolgt von Jenna.

„What’s up? Do we know…?“

Shinichi schüttelte den Kopf, ohne den Blick von Brady abzuwenden.
 

„He’s gone.“

Montgomery trat neben ihn, ließ das Bild kurz auf sich wirken.

„Than you’ve got to…“

„Forget it.“

Shinichi stand auf.

„I’ll never…“
 

Er beendete seinen Satz nicht – er ging einfach.
 

Allein.

Kapitel 48: Zug zwei

Kapitel 48 – Zug zwei
 

Shiho stieß wieder zu ihnen, als sie gerade aus den völlig überfüllten Räumen des Einkaufstempels traten. Hinter ihr standen Heiji und Kogorô – und sie alle drei schauten zu Ran, die ihren Blicken kurz auswich, bevor sie ihre unausgesprochene Frage beantwortete.

„Er hat schon angerufen.“

Sie seufzte, zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, das Kogorô fast das Herz brach.

„Er wird bald nachkommen, Mausebein.“, murmelte er.

„Du wirst sehen – er wird den Fall bald abgeschlossen haben und dann hält ihn garantiert nichts mehr…“

Ran sah ihn an – hätte nie gedacht, diesen Ausdruck einmal in seinem Gesicht zu finden.

Sorge.

„Ich weiß.“, sie lächelte immer noch tapfer, schaute dann auf die Uhr.

„Ich schätze… wir müssen dann langsam…?“

Sie drehte sich um zu Yukiko.

„Sie… wahrscheinlich kommen Sie nicht mit…?“

Shinichis Mutter lächelte sie warm an.

„Du, Ran. Wir waren doch beim Du.“

Dann nahm sie sie in die Arme, drückte sie fest an sich.

„Und nein… ich bleibe hier. Ich fahre jetzt zurück zu Yusaku… dann müssen eure Aufpasser auf einen Kopf weniger aufpassen. Agent Starling wird bei uns bleiben, also mach dir keine Gedanken.“
 

Sie ließ Ran wieder los, schaute sie ernst an, ihre Hände hielten ihren Kopf fest, sanft, als sie ihr eindringlich in die Augen blickte.
 

„Es wird alles gut werden, du wirst sehen, Ran. Wir sehen uns alle ganz bald wieder.“

Yukiko versuchte, zuversichtlich zu klingen – und sie hoffte, dass man es ihr abkaufte. Tatsache war, sie war unruhig, und sie sah Ran an, dass sie es auch war. Sie wusste, wie sehr sich die junge Frau wünschte, er wäre jetzt da.

Wie sehr sie sich wünschte, ihn einfach an der Hand nehmen und mit ihm nach Hause fliegen zu können.

Diese wenigen Minuten heute Morgen hatten ihr alles gezeigt, alles gesagt.
 

Aber das ging nicht. Noch nicht.
 

Und so sah sie ihnen zu, wie sie in ihre Taxis stiegen, winkte ihnen lächelnd hinterher, und konnte doch das penetrant zwickende Gefühl im Bauch nicht abstellen, das sich immer dann meldete, wenn Unglück in der Luft lag. Jodie neben ihr sah sie nur an, sagte nichts.
 

Dann rief sie sich zur Raison.
 

Nein. Diesmal nicht.

Irgendwann muss er auch einmal auf der Siegerseite stehen… es kann nicht sein, dass er bei diesem Spiel immer nur verliert.
 

Sie reisten nur mit Handgepäck heim – ihre Koffer würden Heiji und Kogorô später mit ihren zusammen aufgeben – und so kam es, dass die vier jungen Frauen und ihre drei Begleiter mit sehr leichtem Handgepäck im Terminal standen, sich ein gemütliches Plätzchen suchten und gerade beratschlagten, von welcher Coffeeshopkette man sich ein Stückchen Kuchen und einen Becher Kaffee holen wollte, bevor man sich durch die Sicherheitskontrolle begab – dort würden die drei jungen Frauen alleine sein, deshalb schob man diesen Moment soweit hinaus, wie möglich, um die Zeit, in der sie ohne ihre drei Aufpasser sein würden, so kurz wie möglich zu halten. Sobald sie erst im Flugzeug saßen, waren sie in Sicherheit.
 

Die Entscheidung, welches Café sie wählen sollten, war nicht eben abhängig vom Angebot der Cafés, sondern viel mehr von der Länge der Schlange, die sich vor ihren Kassen bildete, sowie dem Grad der Besetzung der Tische, die sie ihren Gästen zum Genießen der erstandenen Heißgetränke und Gebäcke anboten.

Tatsache war, sie wussten immer noch nicht, ob sie das kleinere Übel gewählt hatten, als sie sich schließlich in eine Schlange stellten – aber nach einigen Minuten geduldigen Wartens hatten sie es geschafft, ihre Bestellungen aufzugeben.
 

Ran war die erste, die ihre Bestellung abholen konnte – und ihr fiel damit die verantwortungsvolle Aufgabe zu, nun einen Platz für sie zu suchen und zu besetzen. Die junge Frau seufzte, schaute sich nach einem Tisch um, der Platz für sie alle bot, was ein durchaus nicht als einfach zu nennendes Unterfangen war. Sie hing mit ihren Gedanken immer noch in ihrem Telefonat mit Shinichi fest, konnte nicht vergessen, wie besorgt er geklungen hatte. Und momentan wünschte sie sich, sie hätte ihn doch gebeten, zu kommen – sie war nervös und ängstlich, und ihr fehlte die Ruhe, die Sicherheit, die er ihr immer vermittelt hatte.

Sie wollte mit ihm verschwinden von hier, und nie wiederkehren, alles hinter sich lassen. Jetzt sofort.

Glücklich sein, mit ihm.

Allein.
 

Dann erspähte sie eine Bank und einen Tisch an der Rückwand des Abschnitts, in dem sich ihr Café ausbreiten durfte, wollte sich gerade setzen, als ihr ein ekelhafter Schauer über den Rücken kroch, der ihre Alarmsirene schrillen ließ. Sie fuhr herum, ließ ihre Augen über die Menge gleiten, schluckte. Wahrscheinlich wurde sie schon paranoid. Sie alle warteten doch darauf, dass die Organisation zuschlug, da sah sie bestimmt in jedem Schatten einen von ihnen. Sie seufzte, nippte an ihrem Latte macchiato, krallte ihre Finger noch ein bisschen fester um die Tüte mit ihrem Scone und beobachtete Shiho, die noch auf ihr Getränk wartete.
 

Und dann sah sie ihn.
 

Groß.

Schlank.
 

Die Haare im Nacken zusammengebunden, eine schwarze Sonnenbrille auf der Nase – und sie verlor schlagartig jedes Gefühl in ihren Fingern.
 

Gin…!
 

Er stand auf der Galerie der Terminallobby – eigentlich war sie noch geschlossen, die Bauarbeiten waren noch nicht fertiggestellt.
 

In seinen Händen hielt er ein Gewehr mit Zielfernrohr.

Wie versteinert sah sie ihm zu, wie er ansetzte, zielte…
 

Ran merkte nicht, wie ihr der Kaffee aus den Fingern glitt, zu Boden fiel und ihr ihre helle Hose ruinierte, als beim Aufprall auf dem Boden die braune, heiße Flüssigkeit hochspritze. Immer noch die Greifbewegung machend, obwohl ihre Finger ins Leere griffen, drehte sie sich um, suchte nach Akai, Heiji oder sonst irgendjemanden – und fand den Agenten, der neben Sonoko wartete, die gerade noch bezahlte.
 

„Shuichi!“
 

Sie schnappte angsterfüllt nach Luft, ihre Stimme brach mitten in ihrem Ruf – der Agent hörte sie trotzdem. Sah ihr angsterfülltes Gesicht, und ihre gestikulierende Hand – und sah ihn. Ran nahm wahr, wie er hektisch und kurz Heiji und Kogorô eine Anweisung gab, und sich dann selber so schnell wie möglich durch die Menge wühlte, unauffällig nach seiner Waffe greifend. Und anfing, zu rennen.
 

Sie hörte den Schuss kaum, und auch die anderen Reisenden, die sich in der Lobby tummelten, schreckten nicht auf – ihre eigene Geräuschkulisse und das Gedudel aus den Lautsprechern, eine Mischung von Musik und Flugaufrufen, gemischt mit den gängigen Sicherheitshinweisen, verschluckten das scharfe, vom Schalldämpfer zusätzlich minimierte Geräusch des Schusses, reduzierte es auf ein schnalzendes Zischen.
 

Was sehr wohl Aufmerksamkeit erregte, war ihr kurzer, heller, scharfer Schrei – so hell und scharf, dass er ihnen allen wie mit einer Stecknadel in die Ohren stach – und der Mann, der sie umriss.

Ran merkte, wie sie der Schüttelfrost packte, als sie sah, wie sich Shihos Augen vor Schmerz dunkel färbten. Akai hatte sie mit sich zu Boden geworfen, als er sie aus der Flugbahn der Kugel hatte bringen wollen – ganz hatte er es nicht geschafft. Shiho hielt sich den Arm, ihr Teint mit einem Mal aschfahl, zwischen ihren zitternden, verkrampften Fingern quoll ihr Blut.

Ran schluckte, löste sich nur langsam aus ihrer Starre, wollte anfangen zu laufen, merkte erst jetzt, wie schwerfällig ihre Glieder geworden waren, wie wenig ihr ihre Beine gehorchen wollten.

Sie beobachtete, wie sie alle zu Shiho eilten, sah die Leute panisch werden, weil sie nach der Ursache für die Verletzung der jungen Frau suchten, die zu Boden gegangen war. Angstschreie drangen an ihre Ohren, als der zweite Schuss durch die Luft zischte, Shihos Bein traf – und spätestens jetzt war alles vorbei.

Sie sah Shiho, die schrie, sich an Akai klammerte, er sie hochhob, um mit ihr in Deckung zu gehen.

Sie spürte Leute, die liefen und drängten, die zu den Ausgängen stürzten, ohne Rücksicht auf Verluste. Hörte die Schmerzensschreie derer, die zu Boden stürzten, auf die die Menge, blind geworden für die Nöte des Menschen neben ihnen, trat, und die nicht die geringsten Anstalten machte, auf die Anweisungen zu hören, die das Flughafenpersonal zu geben versuchte.

Ran zitterte, wollte zu ihrem Vater, zu Heiji, laufen, merkte, wie ihr die Luft wegblieb, als sich die Menschen an ihr vorbeidrückten, konnte sich kaum bewegen, kaum einen eigenen Schritt vorwärts machen, und musste stehen bleiben, als vor ihr ein Kinderwagen kreuzte, ihr den Weg zwischen den Tischen blockierte. Sie schaute um sich, zitternd, ihre Augen über die Köpfe fliegend, versuchte die anderen zu finden und sah doch keinen von ihnen.

Die Menschenmasse hatte sie verschluckt.

Hektisch wandte sie sich um, fühlte, wie in ihr die Panik hochkochte, als sie eine Hand an ihrem Arm spürte.
 

Sie sah auf, blickte in das Gesicht einer Frau mit Sonnenbrille, die die Uniform einer Flughafenangestellten trug. Kurz senkte die Frau ihr Kinn, soweit, dass Ran einen Blick auf ihre Augen erhaschen konnte – und sie erstarrte.
 

Und gerade, als sie losschreien wollte, nach der Frau treten wollte, hob sie nur ihren Finger und brachte sie zum Verstummen.
 

„Du willst ihn doch nicht unglücklich machen.“
 

Ihre Finger griffen fester um Rans Handgelenk.
 

„Er…“, begann Ran, drehte ihre Hand und erstarrte, als sie etwas Hartes, Kaltes zwischen ihren Rippen spürte.

„… er ist momentan in Scotland Yard und verhört unseren armen Komplizen, Ran. Rate, woher wir das wissen.“

Die junge Frau hielt plötzlich still.

„Fein, ich sehe, ihm ist nicht nur gutes Aussehen sondern auch ein bisschen Grips wichtig bei einer Frau. Ein Mucks, und unser Mann im Yard wird dafür sorgen, dass…“

Sie lachte leise, als sie Rans Kapitulation bemerkte, steckte ihre Waffe weg, hakte sich bei Ran unter, führte sie wie ihre beste Freundin rund um den Coffeeshop in einen anderen Gang, bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge, die gegen sie drückten, sie im Strom mit sich zogen.
 

Kaum ein paar Meter weiter und sie waren außer Sichtweite der anderen, aber immer noch eingequetscht zwischen Menschenleibern um sie herum. Selbst wenn sie hätte flüchten wollen, Ran wäre nirgendwohin gekommen.
 

„Du weißt natürlich, warum wir dich mitnehmen…“
 

Chianti stöckelte munter neben ihr her.

„Weil wir genau wissen, dass wir ihn immer noch am leichtesten über dich kriegen… er wird weich wie Butter in der Sonne, wenn man ihm nur damit droht, dir etwas anzutun. Ich frage mich ja immer noch, warum er sich diesen Luxus leistet, der ihn doch sein Leben kostet… Liebe.

Dich zu lieben…“
 

Sie ging mit ihr langsam raus aus dem Terminal, immer noch fröhlich plaudernd. Ran wurde langsam schlecht, merkte, wie ihr die Knie weich wurden. Sie spürte, wie sich Chiantis Griff verhärtete, als sie sie in die Bereiche führte, die eigentlich nicht für die Besucher gedacht waren, sondern für das Personal vorbehalten waren. Fakt war, sie waren menschenleer – jeder einzelne Angestellte stand wohl in der Lobby und versuchte, die Massenpanik unter Kontrolle zu bringen.
 

Ran atmete gepresst ein und aus, starrte auf den Boden, zitterte immer noch. Aus den hellen Fliesen starrte ihr dunkel ihr Antlitz entgegen, zeigte ihr ihr völlig verängstigtes Gesicht, ihre vor Furcht weiten Augen.
 

Du hattest Recht, Shinichi… dein Gefühl hat dich nicht getrogen.
 

Dann hörte sie eine fremde Männerstimme.

„Is she alright? The mass panic… I’ve heard, a young woman was shot…!“

Sie blickte auf, schaute in das junge, besorgte Gesicht eines Flughafenmitarbeiters, der sie kurz musterte. Sie hatte nicht bemerkt, wie er aufgetaucht war. Auch in seinen Augen las sie Angst – gepaart mit dem entschlossenen Willen, sich nicht einschüchtern zu lassen, nicht den Verstand zu verlieren, sondern zu handeln.

„Ah, no.“

Ran hörte Chiantis schmeichelnde Stimme an ihrem Ohr.

„No. She’s just a bit shocked and sick, she saw the shot woman sink down on the floor. I’ll get her out of here, fetch her something to drink…”

Sie schaute zu Ran, die pflichtbewusst eine Hand auf Chiantis Schulter legte, sich festhielt und einen leichten Schwächeanfall simulierte.

„Yes. It… it was terrible. Hearing the shot and seeing her body falter and…”

Sie rutschte ein wenig in die Knie, ließ sich von Chianti um die Hüfte greifen, um sie zu stützen.

„That woman said, she’d bring me somewhere safe to lie down a bit…“

Rans Stimme klang wacklig – was ihre angeblich angeschlagene, physische Konstitution nur noch mehr unterstrich.

„Ah! That’s alright then. I wish you a good recovery. I hope nobody else was hurt!“

Damit eilte er an ihnen vorbei, mit langen Schritten in Richtung Lobby.

Chianti griff Ran ein wenig fester am Arm.

„Sehr artig.“

Ran verkniff die Lippen kurz, streifte Chiantis Hand von ihrer Taille.

„Ich mach das nicht für Sie.“

„Das weiß ich, meine Liebe.“

Die Frau lachte kurz auf – gehässig und spöttelnd. Ran merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, wandte den Kopf ab, fing fast an sich zu schämen für ihre Gefühle – und ahnte erst jetzt so richtig, was er gemeint hatte, er würde verletzbar durch sie.

Allein der Spott dieser Frau über sie, weil sie ihn so sehr liebte, dass sie ohne Gegenwehr mitging wenn man ihn nur in Ruhe ließ – obwohl sie wohl ahnte, dass das kein Dauerzustand sein würde, waren sie doch hinter ihm her, und darüber hatte Chianti auch keinen Zweifel gelassen – ließ ihn ihr ein böses Gefühl der Scham hochkriechen, langsam, schleichend und stichelnd.

Im gleichen Moment vertrieb sie es, verscheuchte es, konzentrierte sich darauf, was der Gedanke an ihn, an seine Liebe für sie ihr gab - Stärke. Mut. Entschlossenheit.

Das war es, wovon sie ihn so dringend überzeugen hatte wollen… dass ihre Gefühle für einander ihnen nicht schadeten, wenn sie es nicht zuließen.

Denn das war es, was sie wollten – sie versuchten, sie ins Wanken zu bringen.

Versuchten, ihnen die Hoffnung zu nehmen, den Glauben.
 

Sie durfte jetzt nicht einknicken.

Sie musste durchhalten und stark sein.

Sich durchbeißen, nicht aufgeben, für ihn.

Weil sie wusste, dass sie es war.

Die Motivation, die ihn antrieb.

Und sie glaubte an ihn.
 

Du wirst das schaffen, Shinichi… du wirst mich retten, diesmal, ich weiß es.
 

Damit ging sie weiter, nun deutlich aufmerksamer – allerdings begegnete ihnen niemand mehr, bis sie zu den Aufzügen gelangten, die in die Tiefgarage führten.

Dort stand er – und wartete.

Allein.

Sie bemerkte dieses Grinsen auf seinen Lippen und schloss die Augen. Spürte, wie er über ihre Wange streichelte, wich seiner Berührung unwillig aus. Sein kaltes Lachen tat weh in ihren Ohren, sein nach kaltem Rauch stinkender Atem biss in ihrer Nase.
 

„Wie ich sehe bist du brav, dieses Mal. Ich hoffe das bleibt so, damit ersparst du uns viel Ärger.“

Er tätschelte ihr den Kopf, und sie wehrte sich nicht, als sie mit ihr das Flughafengebäude verließen.
 

„Konntest du Akai abhängen?“, fragte Chianti schließlich.

„Kinderspiel.“
 

Er grinste.

„Der war so besorgt um seine kleine Shiho… gut, sah auch nicht nett aus. Hab sie am Oberschenkel und an der Schulter erwischt. Gab ein hübsches kleines Chaos, wie du vielleicht mitbekommen hast – allerdings war ich schon längst über alle Berge, bis die Flughafenpolizei aufkreuzte.“

Ran geriet aus dem Tritt, starrte mit aufgerissenen Augen in die Luft vor ihrer Nase.

Gin lachte hässlich.

„Schau nicht so erschrocken, Mädchen. Du weißt, dass wir nicht zu den Guten gehören.“
 

Damit betraten sie die Tiefgarage, fuhren in einem engen Fahrstuhl hinunter ins unterste Parkdeck. Gin wandte sich ihr zu, schaute ihr ins Gesicht, umgriff ihr Kinn mit einer Hand.

„Immer noch so ein hübsches Ding…“

Ein kühles Lächeln kräuselte seine Lippen.

„Ich kann fast verstehen, was er an dir findet, weißt du. Allerdings kann es mir egal sein… solange es ihn das tun lässt, was wir von ihm wollen.“
 

Er trat näher, zwang sie an die Wand der Kabine, so weit, bis sie mit ihrem Rücken gegen das Metall stieß. Sie spürte seinen Körper, der sich gegen ihren drückte, hart. Ekel schüttelte sie, raubte ihr die Luft zum Atmen, blanke Panik stieg in ihr hoch, nahm jedem vernünftigen Gedanken in ihrem Kopf den Platz weg. Sie spürte seine Hand, die langsam an ihrer Körperseite entlang nach unten strich – um dann in ihre Handtasche zu greifen. Ran ließ ihren Kopf gegen das Metall sinken, konnte kaum mehr Luft holen, spürte Gins Atem an ihrem Hals und fragte sich nur am Rande, was er in ihrer Tasche suchte – als er es gefunden hatte jedoch, drückte er ihr einen Kuss auf den Hals, trat einen Schritt zurück und bemerkte mit Genugtuung, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
 

Er liebte die Angst und die Abscheu in ihren Augen.
 

Dann hielt er ihr ihr Handy vor die Nase.
 

„Es wird Zeit, dass wir ihn wissen lassen, was wir vorhaben, nicht wahr?“
 


 

Sie merkten erst im Krankenzimmer, als man Shiho erstversorgte, dass sie fehlte.
 

Sonoko hatte ihr gerade etwas sagen wollen – wie viel Glück sie gehabt hatten, dass nicht mehr passiert war – als ihr auffiel, dass sie nicht da war.
 

Ran?
 

Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. Sie sah Kogorô, Kazuha, die sich an Heijis Arm klammerte. Akai, der an Shihos Bett stand und sie beobachtete, während man ihr eine Infusion verabreichte und die Druckverbände anlegte, um sie im Anschluss ins Krankenhaus zu fahren.
 

Keine Ran.
 

Sonoko spürte, wie ihr Herz ihr bis zum Hals zu schlagen begann, fühlte, wie ihre Finger zu zittern anfingen, eiskalt und schwitzig wurden und hatte kaum ihre Stimme unter Kontrolle, als sie diese eine Frage stellte.
 

„Wo ist Ran?“
 

Heiji fuhr herum, und auch Kogorô, und beide schauten sie erschrocken an – nichts im Vergleich jedoch zu dem Gefühl, das in Shihos Augen auftauchte, als sie sich auf der Liege hochstemmte, auf die man sie gelegt hatte.
 

„Ist sie nicht bei dir? Ich dachte, sie wäre…“

Sie fühlte, wie ihr die Sinne schwinden wollten, als ihr diese schreckliche Befürchtung vor Augen trat. Sie schaute zu Shuichi, der sich ebenfalls zu Sonoko umgedreht hatte.
 

„Sie hatte ihn auf der Brüstung gesehen. Bemerkt, dass er auf Shiho zielte, nach mir gerufen, damit ich darauf aufmerksam werde. Sie stand bei den Tischen…“

Kazuha schaute ihn an.

„Dann stand sie ein wenig abseits… vielleicht konnte sie uns nich‘ gleich folgen, hat uns aus den Augen verloren und wartet jetzt…“

Heiji schaute sie zweifelnd an.

„Ich geh sie such’n. Und lass sie ausrufen, das machen die sicher. Vielleicht…“
 

Er ließ Kazuha los, trat nach draußen auf den Gang, schilderte dem dort wartenden Polizisten ihre Situation.
 

„Ran Môri, bitte begeben Sie sich zur Erste-Hilfe-Station in Terminal 2. Ran Môri, please …“
 

Ran seufzte lautlos, als sie die angenehme Frauenstimme ihren Namen nennen hörte. Sie ahnte, dass ihr Vater, Heiji und die anderen nun festgestellt hatten, dass sie nicht bei ihnen war.

Ein müdes Lächeln glitt ihr über die Lippen.
 


 

Die Durchsage drang an ihre Ohren, hallte über das Flughafengelände.

Gespannt warteten sie – die Tür stand offen, der Gang war leer. Kein Laut, außer Shihos gelegentliches Stöhnen, war zu hören.
 

Und sie warteten.
 

Ran kam nicht.
 

Nach ein paar Minuten kehrte Heiji zurück, schaute ernst von einem zum anderen.

„Sie hat sich auf die Durchsage nicht gemeldet. Es gibt ein paar Leute, die sie dort stehen haben sehen, wo auch du sie gesehen hast, Shuichi. Wohin sie verschwunden ist, weiß niemand. Die Überwachungskameras haben sie gefilmt… mit einer Frau, die auf sie zutrat und sich mit ihr in Richtung Ausgänge bewegte, allerdings geht sie in der Menge der Menschen verloren, und die Kameras überwachen nur den offiziellen Bereich… sollt‘ sie den verlassen haben, is sie…“
 

Kogorô war blass geworden, hatte sich abgewandt. Sonoko fing an zu weinen, leise, sank auf Shihos Bett, während Kazuha auf ihn zutrat, sich an ihn drückte, zitternd.

Shiho krallte ihre Finger in die dünne Decke, merkte, wie es in ihr wühlte. Schüttelfrost hatte sie gepackt, und eine einzelne Träne rann ihr aus dem Augenwinkel.
 

Und er sprach aus, was sie alle dachten.
 

„Das war ein Ablenkungsmanöver, das einzig und allein dazu dienen sollte, sie zu entführen…“
 

Akai starrte an die Decke, merkte, wie in ihm sein Schuldgefühl erwachte – ein lang vergessenes Gefühl.
 

Er hatte sein Versprechen nicht halten können.
 

„Wir sollten zu ihm fahren.“
 


 

Shinichi war den Gang entlang zurück in sein Büro gegangen. Nachdem er dort ein paar Runden im Kreis gelaufen war, hatte er sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt und sich die Schläfen massiert. Jenna saß wieder bei Brady, das wusste er; Black war wahrscheinlich bei Montgomery, wo er sich entweder informieren ließ darüber, was sie herausgefunden hatten, oder aber sich die Beschwerden seines Vorgesetzten über seine Wenigkeit anhören durfte. Jodie sollte mit seiner Mutter auf dem Weg zu seinem Vater sein, die anderen am Flughafen…
 

Und er saß da und zermarterte sich das Hirn.
 

Draußen ging die Sonne langsam unter – vor ihm lagen seine Notizen, ergänzt um die letzten Bilder und Informationen von heute Morgen und gerade eben.

Die Sache mit den Blumen machte ihm immer noch zu schaffen – er hatte keine Ahnung, was ihm das alles sagen sollte.

Er hatte alles, was ihm dazu einfallen wollte, auf einen separaten Stapel gelegt - angefangen von den kunstgeschichtlichen Erläuterungen, über die Notizen, die er sich über Hamlet und Shakespeare gemacht hatte bis hin zu den Werken in Kunst und Literatur, die irgendwie damit zu tun hatten.
 

Es passt alles so ein bisschen…
 

Er seufzte.
 

Also, zurück auf Anfang.

Wir haben eine Reihung von schwarz zu weiß.

Wir haben eine Folge von… Leben zu Tod. Und wenn man bedenkt, dass weiß in unserem Kulturkreis die Farbe des Jenseits und des Todes ist, dann passt das.

Aber...

Warum noch diese verdammten Blumen?!
 

Er zuckte zusammen, als das Telefon klingelte, getrieben vom Vibrationsalarm ein wenig über die Tischplatte rutschte, wo er es abgelegt hatte, als er sein Büro betreten hatte.

Überraschung zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als er den Namen des Anrufers auf seinem Display las.
 

Ran…?

Solltest du nicht schon im Flieger sitzen…?
 

Er hob ab.

Im selben Moment wusste er, dass etwas nicht stimmte.
 

Shinichi stand auf, unfähig, sitzen zu bleiben, drückte sich sein Mobiltelefon ans Ohr, hielt den Atem an.

Vom Gang drangen gedämpfte Schritte in sein Büro, die sich näherten und wieder entfernten, irgendwo klingelte ein Telefon – er jedoch hörte nichts von dem.
 

Er hörte nur das Geräusch von gepresstem Atem an seiner Ohrmuschel, von dem verzweifelten Versuch, Tränen zurückzuhalten, als ein einzelnes, leises, gepresstes Wimmern sich durch den Äther zitterte.
 

Ihm fiel das Telefon aus der Hand, als er in seinen Fingern jegliches Gefühl verlor. Sein Herz setzte volle drei Schläge aus, ehe es sich doch dazu entschloss, seinen Dienst noch ein wenig fortzusetzen, ließ ihn schwindelig und blutleer zurück.

Shinichi schnappte nach Luft, rang um Atem, als er versuchte, Angst und Panik niederzuringen, um nicht völlig den Verstand zu verlieren – es gelang ihm nur teilweise.

Seine Augen waren aufgerissen, schienen versuchen, alles zu sehen und sahen doch nichts.
 

Und in seinem Ohr hämmerte neben seinem Herzschlag, der sich nun in Frequenzen schraubte, die seinen Adrenalinschüben unter dem Einfluss des HLZGs Konkurrenz machten, nur ein Name.
 

Hallte wider in seinem Kopf, tausendfach.
 

Ran…!
 

Wie in Zeitlupe beugte er sich nach unten, griff nach seinem Telefon, dessen Display nach dem Sturz zersprungen war- es interessierte ihn nicht. Er sah, dass die Verbindung noch stand, und das reichte ihm.
 

„Ran?!“
 

Er wünschte sich, seine Stimme möge fester klingen – sie tat ihm den Gefallen nicht.

Und es schien auch keinen zu interessieren, denn er bekam keine Antwort.

Nicht im herkömmlichen Sinne, zumindest.
 

Er hörte ein ersticktes Keuchen, ein scharfes Ziehen, leises Ratschen wie das Geräusch von kleinen Plastikzähnchen, die sich in einem gerillten Kunststoffband verhakten – ein Kabelbinder.

Er hörte ein reißendes Geräusch, ein kurzer Aufschrei einer hellen Stimme, dann ein gedämpftes Stöhnen.

Das leise metallische Klicken einer Autofernbedienung. Das leise Knacken eines Autoschlosses, das leise Zischen einer Kofferraumhydraulik, das dumpfe Geräusch, das ein Körper machte, den man in den Kofferraum warf, ein lauteres, verängstigtes, ersticktes Wimmern und das laute, scharfe Schnappen, als die Heckklappe ins Schloss geworfen wurde – und das Aufheulen eines Motors; das charakteristische Dröhnen und Rumpeln eines ganz bestimmten Motors.
 

Und er wusste genau, was er hörte. In seinem Kopf lief der Film zu diesem Soundtrack, in Farbe und gestochen scharf.
 

Dann drang sein Lachen an sein Ohr.
 

Kalt, gefühllos, triumphierend.
 

Gefolgt vom leisen Knacken, als die Verbindung unterbrochen wurde und dem Freizeichen, dass in rascher Wiederholung seinem Herz den Takt vorgab.
 

Shinichi legte das Handy auf den Tisch, als er zurück in seinen Stuhl sank, kraftlos.
 

Ran…
 

Er wusste nicht, wie lange er so in seinem Sessel hing. Irgendwann war sein Oberkörper nach vorn gesunken, sein Kopf lag auf der Tischplatte, seine Wange an das kühle Plastik gepresst, während seine Hände nutzlos nach unten baumelten. Sein Kopf war leer, gestattete ihm nicht einen zusammenhängenden Gedanken.

Irgendwann hatte auch das leise Tuten aufgehört – sein Handy zeigte wieder brav die Uhrzeit an und tat, als wäre dieser Anruf nie passiert, gäbe es da nicht den Sprung, der das Display zeichnete – den Wendepunkt dieses Tages markierte.
 

Shinichis Augen blickten immer noch starr in die Luft. Er konnte sie förmlich vor sich sehen – wie sie sie in die Garage führten. Ihr die Hände mit dem Kabelbinder auf den Rücken fesselten, mit Klebeband knebelten, damit sie nicht schrie.

Was ihn beunruhigte war, dass er nicht einen Laut von Gegenwehr gehört hatte.

Er richtete sich auf, langsam, massierte sich die Schläfen.

Sie hatte nicht geschrien.

Nicht seinen Namen gewispert.

Sie hatte sie machen lassen, ohne sich zu wehren, und das Schlimme war – er wusste genau, warum.
 

Sie hatten ihr gedroht, ihm etwas anzutun, dessen war er sich sicher.
 

Dabei ist es umsonst, Ran, und du weißt das.

Du kannst mit ihnen keinen Pakt schließen, um mein Leben zu retten.

Sie wollen kein entweder oder.
 

Dann klopfte es an der Tür – Shinichi rappelte sich hoch, stand auf, ging selber zur Tür um sie zu öffnen.
 

Wortlos ließ er die Truppe eintreten, die sich vor seiner Tür versammelt hatte, schaute sie nicht an – ihm fiel nur auf, dass nicht nur sie fehlte.
 

„Sagt mir nicht, sie haben auch Shiho…“

„Nein.“

Heiji schüttelte den Kopf.

„Shiho ist im Krankenhaus, sie… wurde angeschossen. Nicht lebensgefährlich, aber…“

Shinichi schaute von einem zum anderen – und erst jetzt ging ihnen auf, dass sie es ihm gar nicht mehr sagen mussten.

Kogorô schluckte – er wusste nicht, ob ihn das erleichterte oder nicht. Shinichi war blass im Gesicht, seine Augen dunkel, der Zug um seine Mundwinkel verspannt. Seine Hände hatte er wohl zu Fäusten geballt – das zumindest verrieten die Ausbeulungen seiner Hosentaschen.

Dann ging die Tür noch einmal auf – herein trat James Black, der offenbar von Akai über die Geschehnisse informiert worden war.
 

Und genau ihn suchte er – und fand ihn.
 

„Du hast versprochen…“, fing er an. Leise und gefährlich klang seine Stimme, und Sonoko schauderte. Sie hatte Kudô noch nie so reden gehört – erst Recht nicht zu einem Mann, der ihr mindestens genauso viel Respekt einflößte – Shuichi Akai.

Der FBI-Agent trat vor, wich seinem Blick nicht aus.
 

„Ich weiß.“

„Schön!“

Shinichis Stimme klang immer noch leise, war kaum mehr als Zischen, in dem man die nur mühsam verhohlene Wut deutlich hörte.

„Schön, dass du es weißt, Shuichi – warum hast du es nicht getan? Warum hast du nicht auf. Sie. Aufgepasst?!“

Er schnaufte mühsam, holte schnappend Luft.
 

„WIE KONNTE DAS PASSIEREN, VERDAMMT NOCHMAL!?“
 

Er trat näher, sein Gesicht sogar noch eine Spur blasser.

„Du hast versprochen, auf Ran aufzupassen…! Du hast es mir versprochen, weil ich es selbst nicht konnte, du hast…!“

Akai schluckte hart.

„Sie haben auf Shiho…“

Shinichi wandte sich ab.

„Ja, hast du dir denn nicht denken können, dass sie das versuchen werden, Shuichi?! Wie lange arbeitest du schon an diesem Fall – Ablenkungsmanöver sind ihr Steckenpferd. Sie wussten genau, wo dein wunder Punkt ist, wie sie auch wissen, wo meiner ist – und kaum hatten sie dich da, wo sie dich wollten, holten sie sich Ran…“

Seine Stimme verlor sich.
 

„Ich versteh’s nicht, erklärt’s mir bitte, ihr wart zu dritt – und ich hätte auch von dir erwartet, dass du auf deine Tochter besser -…“, fing er zu Kogorô gewandt an, seiner Panik Luft zu machen.

Der jedoch ließ das nicht so einfach auf sich sitzen – die Angst um seine Tochter stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Du hast kein Recht, uns solche Vorwürfe zu machen, Kudô. Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass wir unsere Aufgabe nicht ernst genommen hätten! Und wenn ich dich daran erinnern darf – auch in deinem Beisein wäre Ran schon fast umgebracht worden, weil DU es warst, der nicht auf sie aufgepasst hat und es war Glück…“
 

Er wusste noch, bevor er den Satz beendete, dass er zu weit gegangen war. Shinichi hatte den Atem angehalten, blinzelte kurz.
 

„Weil ich unter Drogen stand, und das weißt du.“
 

Seine Worte waren kaum mehr als ein Wispern, seine Stimme klang unglaublich kalt. Kogorô schluckte hart. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Sonoko und Kazuha verwirrte Blicke tauschten.
 

„Kudô.“

Heiji trat vor, legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter – Shinichi wich zurück, schüttelte sie ab, kommentarlos.

„Ich bin mir sicher, das hat er nich‘ so gemeint. Wir sin‘ alle besorgt um Ran, Kudô, das weißte! Wir versteh’n, wenn dich das mitnimmt, aber bitte werd‘ nich‘ unfair… du darfst jetzt nicht durchdrehen, das kannste nicht brauchen, damit hilfste keinem – erst Recht ihr selbst nich‘…“
 

Shinichi schaute ihn nur an, schluckte hart. Dann schaute er Heiji mit müdem Blick an.

„Sie haben mit ihrem Handy angerufen, nichts gesagt, Heiji. Ich durfte… mir nur anhören, wie sie sie fesseln und knebeln und in einen Kofferraum werfen. Sie haben keinen Grund, nicht mit ihr zu machen, was sie wollen. Erzähl mir nichts von Fairness. Oder Vernunft. Ihr Plan ging auf, wieder einmal. Ihr wisst, dass es das ist, was sie wollten, und ihr wisst, dass es das war, was ich befürchtet hatte. Und du weißt auch, dass das nicht hätte passieren dürfen. Wir –…“
 

Abrupt brach er ab, als ihn die Erkenntnis traf, was nun zu tun war.

Ohne ein weiteres Wort trat er an ihnen allen vorbei, verließ sein Büro ohne sich noch einmal umzublicken.
 

Und fing an zu laufen.

Kapitel 49: Letzte Worte

Kapitel 49 – Letzte Worte
 


 

Sein Ziel waren die Verhörräume.

Er musste mit Brady noch einmal reden, egal wie sehr er sich dagegen sträubte, ihn auch nur anzusehen, weil das Bild ihn viel zu nahe an die Erinnerung an seine ganz persönliche Hölle brachte – und weil es ihm wie nichts auf dieser Welt widerstrebte, ihn in diesem Zustand zu verhören, weil er wusste, was er damit provozierte.
 

Einem Sterbenden muss man eigentlich nicht auch noch zu Tode erschrecken.
 

Er ahnte, welche Wahnvorstellungen er auslösen würde, er wusste, welche Qualen der Mann durchleiden würde, würde er ihn jetzt befragen.
 

Allerdings…
 

Er musste wissen, wohin sie sie gebracht hatten. Ran war ihr nächstes Opfer, und sie hatten sie in ihrer Gewalt - allein der Gedanke reichte eigentlich aus, ihn ausrasten, buchstäblich die Wände hochgehen zu lassen.

Stattdessen rief er sich zur Raison, versuchte, ruhig zu sein, und eilte die Treppen hinunter.

Er wusste, mit kopflosem Verhalten half er ihr nicht.
 

Der Gedanke an das eben Gehörte raubte ihm dennoch fast den Verstand, ließ seinen Atem stocken.
 

Ran…
 

Ran, die im Kofferraum von Gins Porsche irgendwohin unterwegs war.
 

Das Bild, das vor seinen Augen auftauchte, ließ seine Knie weich werden. Er geriet aus dem Tritt, verfehlte die nächste Treppenstufe, knickte um und fing sich gerade noch am Geländer ab, ehe er die nächsten Stufen hinunterrutschen konnte, atmete schwer. Er kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben, nahm die letzten Stufen.
 

Er bog um die Ecke, war keine drei Meter mehr von Bradys Zelle entfernt, als er fast mit McCoy zusammenstieß, der gerade aus dem Zimmer trat.

Shinichi starrte ihn desorientiert an, sank dann gegen die Wand, um durchzuatmen.
 

„Dr. McCoy? What are you doing up here?“

„Up?“

McCoy lächelte.

„Well, considering that my usual workspace is another two or three floors below us – yes, than we can call our current whereabouts „up“, although this is already basement here.

But getting back to your question – I was told to look after your suspect. He’s doing really bad. His blood pressure is way too high, first haemorrhages in his lungs, crams in his extremities, wandering towards his heart and midriff and I don’t have to…”

Er brach ab, als er den Blick seines Gegenübers bemerkte. Shinichi schaute ihn mit leerem Blick an, schüttelte den Kopf.

„No, you don’t have to go into further detail, Dr. McCoy. I know he’s not going to survive the night.“

McCoy nickte langsam.

„Indeed. I’d liked to tell you otherwise, but let’s face it – it will be a cruel death…“ Shinichi warf ihm einen müden Blick zu.

„I can imagine it.“

Damit griff er nach der Türklinke, wollte das Gespräch damit beenden, indem er einfach im Zimmer verschwand, als der alte Pathologe ihn fragend anschaute.

„Don’t tell me you’re going to stay with him?“

Der alte Pathologe schaute ihn fragend an, wartete die Antwort gar nicht ab.

„Have you had a look into a mirror, lately? You’re exhausted, you should go home, get some sleep…”

Ein bitteres Lächeln huschte über die Lippen des jungen Superintendents.

„Sleep is a luxury I can’t afford at the moment.“

Shinichi schüttelte den Kopf, packte die Türklinke erneut, wollte ohne ein weiteres Wort vorbei an McCoy, treten – der hielt ihn an der Schulter zurück.

„Allow me to go and get a cup of coffee for you, then.“

Shinichi wollte gerade etwas erwidern, die nette Geste zurückweisen – aber McCoy’s Blick hinderte ihn an einer Widerrede.
 

„Thanks.“

Damit drückte er sich endgültig vorbei an McCoy, tauchte ein in die dämmrige Dunkelheit des zum Krankenzimmer umfunktionierten Raums und zog die Tür hinter sich zu. Fieber schwängerte die Luft, raubte ihm fast die Luft zum Atmen, und so war sein erster Impuls, die Luft einfach anzuhalten. Er atmete aus, als Jenna sich umdrehte, ihn überrascht ansah.

Sie hatte ihn hier nicht mehr erwartet; nicht, bevor Brady tatsächlich im Sterben lag.
 

But it’s not yet time…
 

Der Ausdruck in seinen Augen, dunkel und ernst, machte ihr fast Angst. Er stand da, starr und verkrampft, sein Blick unverwandt auf den Mann im Bett gerichtet, der kraftlos immer wieder den Namen seiner Freundin flüsterte.

„What…?“, begann sie, hielt abrupt inne, als er sich ihr zuwandte.
 

Er musste nichts sagen, damit sie wusste, warum er doch noch einmal zurückgekommen war.

Er brauchte die Antworten, die Brady ihm vorhin nicht gegeben hatte.

Unbedingt.

Sofort.

Und er würde sie sich jetzt holen.
 

Er schien zum äußersten entschlossen zu sein – und das konnte nur eins bedeuten.
 

Sie stand auf, schüttelte den Kopf. Ihre Hände wurden kalt, sämtliches Blut schien aus ihren Fingern zu weichen.

„Nooo…“

Sie flüsterte das Wort, stand dann auf, trat zu ihm, blieb vor ihm stehen und schaute ihn an - in ihren Augen glitzerte bereits die Ahnung dessen, was er ihr gleich sagen würde.

„No! Don’t tell me – please just don’t… she…“
 

„They’ve got her.“
 

Seine Stimme war unerwartet heiser, und er griff sich an den Hals irritiert. Während er geredet hatte, hatte er seine Augen nicht von Brady genommen – nun wandte er sich Jenna zu, blickte sie an.

„They caused a mass panic at the airport by shooting at Shiho – she is hurt, but not too bad, recovering in hospital as far as I was told. And while no one was watching… they kidnapped her.”

Sie hatte ihn nie verzweifelt gesehen – bis jetzt.

Und sie wusste, sie hatte ihn so nie sehen wollen – diese Anspannung, die ihn vom Scheitel bis zur Sohle gepackt hatte und das, was dazwischen war, fast zerriss und die endlose Leere in seinen Augen, in deren Dunkelheit Angst und Panik lauerten waren Dinge, die ihr selber mehr Schrecken einjagten, als es ihr Recht war.

Wenn er verzweifelt war, dann war die Katastrophe eingetreten.

Jenna ahnte, dass allein der drängende Wunsch, ihr zu helfen, Ran zu retten, ihn noch funktionieren ließ.

Und womöglich über seine eigenen Grenzen trieb.
 

„We must get him into talking… I’d never wanted to do this, but if he doesn’t tell us where their hideout is, she’s dead by tomorrow…”
 

Er schluckte, starrte zu Boden, schüttelte den Kopf hilflos.
 

“I don’t know, what they are planning. They might let her live until they call me to meet them. But they haven’t yet sent me a message… besides letting me know that they’ve got her in their hands. They’ll show no mercy, and they know that advantage is on their side this time. We’ve no time to loose…”
 

Nicht eine Sekunde… Ran.
 

Dann ging die Tür auf, und Dr. McCoy steckte seinen Kopf herein; in seiner Hand die versprochene Tasse Kaffee.
 

„Here you go.“ Shinichi trat zu ihm, nahm sie ihm ab.

„Thank you.“, murmelte er leise. Shinichi betrachtete die Tasse Kaffee nachdenklich, ehe er sie entgegennahm, einen Schluck davon trank, leise seufzte. Es stimmte – die warme Flüssigkeit schien seine Lebensgesiter wirklich wieder etwas aufzuwecken, seinen Denkapparat, der kurzzeitig zum Erliegen gekommen war, wieder neu zu starten.

aus dem Augenwinkel heraus betrachtete er Brady, während Jenna langsam zu ihnen trat, leise seufzte.

„Do you know how you’re going to do this?“

McCoy schaute ihn abwartend an, stand immer noch zwischen Tür und Angel.

„As soft and painless as possible.“

Shinichi seufzte ein weiteres Mal, deutlich lauter diesmal, drehte sich dann zum Gerichtsmediziner um, ließ seinen Blick von McCoy zu Jenna schweifen.
 

„And alone, if you please.“
 

Mc Coy nickte, verschwand; Jenna hingegen schaute ihn an.

„I’ll stay at the door.“

“Jenna…“

„No.“

Sie schaute ihn fest an, versuchte, den Blick zu deuten, mit dem er den jungen Mann bedachte, der vor ihm auf dem Bett lag.
 

„Just to make sure. Nobody shall think that we are torturing our suspects. I’ll be witness, nothing more. I know you won’t do anything wrong, but…”

Er schaute sie an, sagte nichts mehr.

Reue lag in ihnen, jetzt schon, wo er doch noch gar nichts gesagt oder getan hatte.

Kurz biss er sich auf die Lippen, holte tief Luft.
 

„Well then. I can’t hide that I’d better have you out of here, but it seems that you’re as stubborn as me and I’ve not got the time for arguing.“
 

Forgive me, Eduard.
 


 

Langsam hob er die Hand, wischte sich über seine Augen, straffte dann die Schultern. Er wollte es nicht länger dauern lassen, als er musste. Er wollte nur an die Antwort kommen, wo ihr Versteck lag – und ihn dann in Ruhe lassen.

Shinichi zog sein Handy aus der Sakkotasche, näherte sich dem im Bett Liegenden langsam. Er phantasierte, murmelte leise Laute seiner Angst vor sich hin, tausendundeine Bitte, sie gehen zu lassen. Er hatte seine Augen halb geschlossen, dennoch rollten seine Augäpfel unter ihnen hin und her, zuckten lebhaft und illustrierten deutlich, was er sah.
 

Tod, Schrecken, Qual und Schmerz.
 

Shinichi hätte an dieser Stelle am Liebsten wieder kehrt gemacht.
 

Stattdessen trat er noch näher ans Bett. Er setzte sich, wie vorher, und wählte das Foto von Meredith in seinem Telefonspeicher, das er heute Mittag im Dachgeschoss des Museums gemacht hatte, als optische Sicherung des Tatorts.

Dann beugte er sich über ihn, griff ihn am Oberarm, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, näherte sich seinem Ohr, ganz dicht, das Smartphone griffbereit, und merkte nicht, wie hinter ihm die Tür aufging. Jenna schon.

Es war Heiji, der eintrat, und keinen Schritt weiterging, als er seinen Freund bemerkte.
 

Shinichi hatte sich etwas über den jungen Maler gebeugt, versuchte irgendwie seinen Blick zu fangen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Schließlich schluckte er, sammelte sich.
 

„You must tell me, Eduard…

Where is their second hiding place?“
 

Seine Stimme war leise, noch nicht unfreundlich oder gar bedrohlich – unnachgiebig, entschlossen sehr wohl. Shinichi schaute ihn unverwandt an, sah, wie der junge Mann sich drehte und wandte, völlig weggetreten in seiner eigenen Welt des Wahns. Er flüsterte zusammenhangslose Sätze vor sich hin, seine Pupillen rasten von links nach rechts, hin und her, zuckend und unstet und verrieten ihm nur allzudeutlich, dass Brady nicht ein Wort von dem wahrgenommen hatte, was er ihn gefragt hatte. Shinichi seufzte gequält.
 

Bitte nicht…
 

So einfach, wie er es sich gewünscht hätte, sollte es für sie beide wohl nicht werden.
 

„Eduard, please. This is about life and death! They have Ran… that last girl you painted, remember? They’ll kill her, I’ve got to save her, but I can’t, without your help, I can’t…”
 

Shinichi ließ seinen Blick über Eduards Züge wandern. Nichts wies darauf hin, dass er ihn diesmal verstanden hatte.
 

„Please, Eduard, don’t let us go there where they’ve brought me…”

Seine Stimme war kaum lauter als ein Wispern.

Heiji jagte sie einen Schauer über den Rücken; er sah, wie sich sein Freund verkrampfte, konnte den Kampf fast sehen, den er innerlich ausfocht und wusste doch, dass er diesmal verlieren würde.

Die Zeit lief ihm davon.
 

Shinichi rüttelte in sacht am Arm, ehe er sprach.
 

„Last chance, Eduard. Please. Tell. Me.

Where is their second hiding place? Where have they taken her?”

Seine Stimme war lauter geworden, drängend.

Und er wartete.
 

Umsonst.
 

Shinichi ließ den Kopf in den Nacken sinken atmete tief ein, kniff die Augen zusammen und presste seine Kiefer aufeinander, so fest, dass es fast weh tat.
 

Vergib mir.

Dann sah er ihn an, ließ seine Augen kurz auf ihm Ruhen, nahm die Hand von seinem Arm. Aus Eduards Mund sprudelten weiterhin nur Wortfetzen; er hatte sich die Decke bis ans Kinn gezogen, blickte angstvoll in eine Welt jenseits derer, in der er sich befand.
 

„Forgive me, Eduard.“
 

Die Worte kamen gepresst über seine Lippen – dann hob er die Hand, ließ sie flach und mit Wucht auf das Beistelltischen schlagen – laut knallte es an ihre Ohren, die Flaschen und Gläser, die darauf standen, klirrten. Brady schrie auf, kurz und scharf, schlug sich die Hände über den Kopf, bedeckte sein Gesicht, krümmte sich wimmernd zusammen.
 

„Where are they hiding?!“
 

Heiji erstarrte, als er diese Stimme hörte. Shinichi selbst kniff die Augen zusammen, verfluchte sich selber; diese Kälte und Skrupellosigkeit in seinem Tonfall hatte er selber nie hören wollen. Es entsetzte ihn.
 

Nichtsdestotrotz schien sie Wirkung zu zeigen.
 

„I don’t – I –I-I don’t – I can’t – they’ve got her, they’ll h-hurt her, they… k-k-kill her, they…

Do what you want with me, I’ve deserved it, but not her, not her, not her…“
 

Der junge Maler sah ihn nicht einmal an, raunte ihren Namen in die Hitze des kleinen Raums.
 

Shinichi schluckte, merkte, wie in ihm die Abscheu hochkochte vor sich selber, als er das Handy hob, seine Finger fest um dessen metallenen Körper gekrallt.

„I don’t care about her or about you, Eduard. I want my questions answered. Where are they hiding?“

Shinichi fühlte, wie sein Körper sich verspannte, als er spürte, wie die Erinnerung an damals an der Oberfläche seines Bewusstseins kratzte, schluckte hart, machte dicht, so gut er konnte, zog den schwarzen Vorhang des Verdrängens vor die Bühne, auf der dieser Film laufen wollte.

Stattdessen drang Eduards Gewimmer an seine Ohren, ließ ihn den Ekel vor sich selber einmal mehr spüren.

„I can’t tell, can’t tell, what have they done, is she hurt? Have they hurt her, where is she, my Merry, my lovely, my beautiful…”
 

Weiter kam er nicht. Shinichi hatte ihm ohne Vorwarnung sein Handy vor die Nase gehalten – und auf einmal war es still. Kein Geheule mehr, kein Gemurmel mehr. Eduard starrte mit erstaunlich klarem Blick auf das Handyfoto – dann schien er zu explodieren.
 

Sie hörten den Schrei, markerschütternd, laut, und aus vollster Kehle – aber keiner zuckte darunter zusammen wie unter einem Peitschenhieb, keiner, bis auf ihn. Dennoch hielt er das Handy weiterhin vor sein Gesicht, versuchte, das Zittern, das seinen Arm schüttelte, zu kontrollieren. Brady war hochgefahren, zitternd, keuchend, starrte auf das Bild, wollte nach dem Handy greifen, schaffte es nicht. Nicht, weil Shinichi ihm das Handy außer Reichweite gezogen hätte – er schaffte es einfach nicht mehr, seine Arme zu heben.

Shinichi wusste, er war angekommen. Hatte ihn nun da, wo er ihn haben wollte:

Bradys Augen waren aufgerissen, starrten ihn an, angsterfüllt und kapitulierend.

Er hatte ihn gebrochen.
 

„What did you do to her?! Mere… Mere… Meredith…“

Schluchzen erfüllte den Raum, nur unterbrochen, von seinen mühseligen, erstickten Versuchen, Luft zu holen. Bleich war sein Gesicht, seine Lippen blau, seine Augen rotgerändert und seine Pupillen geweitet, dunkel und schwarz, sahen ihn an.
 

„What did you do with her, with my Merry… oh… Merry… is she dead…? She can’t be… she musn’t… be dead…
 

Tränen rannen über seine Wangen, haltlos, als er ihn nun anschaute, er die Angst vor ihm in diesen blassgrauen Augen las.

Er war in Eduard Bradys Augen der Teufel in Persona.
 

Und für ihn war es zu viel. Er schloss die Augen, atmete tief durch. Sein Nacken schmerzte, ein aggressives Ziehen, das sich bis unter seine Kopfhaut erstreckte, an jedem einzelner seiner Haare zu zerren schien.
 

Und auf einmal sah er sich selber.

Er kauerte auf dem Boden, mit einer Hand an der Wand festgekettet. Vor ihm standen Gin, Vodka und Vermouth.
 

„Wo ist Sherry?“

„Ich weiß nicht, wer…“, brachte er mit schwerfälliger Zunge hervor, dämmerte vor sich hin; er war gerade aus einem seiner Träume aufgewacht oder kurz vor dem nächsten – er wusste es nicht zu sagen. Angst lauerte in seinem Hinterkopf, vierundzwanzig Stunden am Tag.

Angst um sie alle.

Angst vor seinem Tod.

Und darauf würde es in jedem Fall hinauslaufen, das ahnte er.

Er wusste es.
 

>Genialer Plan, den wir da hatten…<
 

Er stöhnte auf, ließ seinen Kopf nach hinten sinken, schrie nicht auf, als ihm jemand den Fuß in den Magen stieß. Es tat weh, aber er spürte den Schmerz kaum.

„Lüg mich nicht an, du kleiner Bastard… wir wissen genau, dass du mit ihr zusammenhingst. Du hast sie versteckt – wo ist diese kleine Kröte?“

Shinichi fühlte, wie ihn jemand hochzog, gegen die Wand drückte, so hart, dass ihm die Luft aus den Lungen wich. Er prallte mit dem Kopf gegen die Wand, stöhnte heiser auf, als der Schmerz in seinem Kopf explodierte.
 

„WO. IST. SHERRY!?“
 

Er brüllte vor Schmerzen auf – jedes Wort bohrte sich wie eine rotglühende Stricknadel in sein Ohr.

„Ich weiß nicht…“, fing er an – dann hielt er inne, als ihm erneut die Luft wegblieb, wenn auch diesmal aus anderem Grund.
 

Vor seiner Nase war ihr Bild aufgetaucht.
 

Und auf einmal war er still, hatte den Atem angehalten. Gin grinste, ließ ihn los – Shinichi presste seine Handflächen gegen die Wand, hielt sich mit Mühe fest, starrte auf das Bild von Ran wie hypnotisiert.
 

„Was…was habt ihr mit ihr gemacht? Wo ist sie?“
 

Heiser, angsterfüllt krochen diese Worte aus seiner Kehle, in seinem Kopf schrie er stumm ihren Namen.
 

Ran?

RAN?!
 

Ihr Gelächter hallte in seinem Ohr wieder, klingelte in seinem Schädel nach, vervielfachte den pochenden Schmerz, der in seinem Kopf hämmerte, die Realität vertrieb, ihre Mauern einriss für die Schatten seines nächsten Alptraums.
 

„Was habt ihr mit ihr gemacht? Wo ist sie…? Was… bitte… bitte tut ihr nichts… lasst sie… lasst…“
 

Er fühlte, wie ihm die Luft zum Atmen wegblieb, spürte, wie sein Herz sich fast zu Tode hetzte bei dem Gedanken, dass man ihr etwas getan hatte, fühlte wie es weh tat, beides - er schrie auf, schrie…
 

Der Schmerz schließlich war es auch, der ihn erlöste.

Schwarz wurde es um ihn, still und kalt.
 

Ein hartes Lachen entfloh seinen Lippen.

Kurz.

Kalt.
 

Er hatte damals abgeschaltet. Hatte ihnen nie etwas verraten, war stattdessen in eine Wahnvorstellung gerissen worden – er hatte nie etwas gesagt.

Brady jedoch war nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt.

Das sah er jetzt – sah es in seinen Augen, die sich nicht losreißen konnten von dem Bild von Meredith, die auf dem nackten Dielenboden lag, umgeben von Gänseblümchen, blass und wunderschön.
 

„She is still alive, but do you think, that was all? I promise you, there are much more frightening, much more terrible things going to happen, if you don’t talk …“

Er näherte sich Eduard, bis sein Kopf kaum mehr zehn Zentimeter von seinem entfernt war, griff nach seinem Kinn.
 

„Make an educated guess, Eduard… what kind of thing could that possibly be…?“
 

Seine Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern. Eduard wimmerte, kniff die Augen zusammen, brachte kein Wort über die Lippen. Shinichi kniff die Augen zusammen, starrte ihn weiterhin fest an.

„Let me lend you a hand, my friend. It’s simply not their kind of handling things, letting someone live whom they wanted dead....“
 

Er spürte, wie er zitterte, fühlte die Hitze seines Körpers unter seinen Fingerspitzen. Shinichi kniff die Lippen zusammen, holte Luft.
 

„Tell me the place they’re hiding!“
 

Laut hallte seine Stimme von den Wänden wieder, unbarmherzig, wütend. Sein Gesicht verzerrte sich, Wut und Kälte mischten sich, verliehen seinen sonst so nachdenklichen, bedachten Zügen ein schauderhaftes Aussehen. Eduard winselte, starrte ihn ängstlich an, hob die Hände zitternd vor sein Gesicht.
 

„Empty storehouse. Apple… Apple market.“
 

Eduard starrte ihn an, begann Rotz und Wasser zu heilen.

„What’s with Meredith… what…“

Shinichi ignorierte ihn, sah ihn weiterhin von oben herab unbarmherzig an.
 

„And what are they are planning to do with Ran?“

„I- I dunno?“

Shinichi griff ihn am Kragen, wiederholte seine Frage nicht nochmal, starrte ihn nur an, mit kaum verholener Wut in den Augen.

„I-I-I really d-don’t know…! They wanted to lure that detective somewhere with her as bait, kill her then, kill ‘em both, that’s all I know, that’s all, I swear…! Please…!“
 

Shinichi ließ ihn los, ließ seinen Kopf in den Nacken sinken, atmete tief aus. Unwillig wischte er sich über die Augen, schüttelte den Kopf. Er ließ sein Handy in sein Sakko gleiten, fiel fast kraftlos auf die Stuhlkante. Eduard starrte ihn an, zitterte immer noch am ganzen Körper. Shinichi griff nach seiner Hand, löste sie aus seinem Hemd, drückte sie sanft.
 

„Thankyou.“
 

Er schnappte nach Luft. Shinichi streckte die Hand aus, legte sie an seine Wange.

„Eduard. Believe me when I say, she’s alright. Meredith is well, she’ll recover, she’s save.”
 

Eduard schaute ihn nicht an. Sein Blick ging immer noch unfokussiert an die Decke, seine Atmung jedoch war deutlich ruhiger geworden, der Strom seiner Tränen fast versiegt.
 

Shinichi wandte sich um, stand auf, langsam, seine Bewegungen hölzern.
 

„Jenna… ruf den Dekan an. Vielleicht will er…“
 

Jenna nickte nur, drehte sich um, verließ den Raum.

Und erst jetzt bemerkte er Heiji, der immer noch an der Tür stand, kurz, streiflichthaft beleuchtet vom grellen Neonlicht der Beleuchtung des Gangs draußen.

„Mein Gott, Kudô…“, fing Heiji an, brach jedoch sofort wieder ab, als er seinen Freund erschöpft seinen Kopf schütteln sah.

„Können wir… ein andermal darüber reden, ja? Du weißt… dass ich das nie… dass ich so nie…!“

Der Osakaner winkte ab.

„Du brauchst dich mir nicht zu erklären, Kudô. Andere Leute verhören noch ganz anders, und ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, das war noch nett, im Vergleich zu dem, was die damals mit dir gemacht haben.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Das rechtfertigt auch noch nicht, einen Mann zu verhören, bei dem so wenig Impuls reicht, um ihn buchstäblich durch die Hölle zu schicken.“.

Er wischte sich über die Stirn, nippte an seinem Kaffee und wünschte sich, es wäre Wasser – sein Hals war wie ausgedörrt, aber Kaffee war einfach nicht dazu gemacht, Durst zu löschen.

„Und was nun?“, meinte Heiji, als Shinichi die nunmehr leere Tasse auf dem Nachttisch abgestellt hatte.

„Wir planen die Suche, was sonst?“

Shinichi seufzte.

„Ich muss Montgomery diese neue Wendung berichten… ich brauche Scotland Yard, wenn ich sie kriegen will, rechtzeitig. Allein kann ich diesmal nicht anfangen – der Apple Market ist zu groß.“
 

Und gerade, als er nach der Türklinke greifen wollte, um genau das zu tun – erreichte eine dünne Stimme ihr Ohr, ließ ihnen einen Schauer kalt wie Eiswasser den Rücken hinabrinnen.
 

„It hurts…“
 

Shinichi und Heiji drehten sich um. Eduard hatte sich zur Seite gedreht, seine Hände in die dünne Decke gekrallt, und als er nun sprach, konnten sie seine Stimme kaum verstehen, so sehr klapperten seine Zähne.
 

„It just hurts… it is beating that fast, it won’t slow down, I want it to slow down…”
 

Shinichi drehte sich um, langsam, schaute direkt in Eduards Augen.

Seine Pupillen waren immer noch weit und dunkel, sein Teint immer noch blass – aber er sah ihn an, mit einer Intensität, die ihm unter die Haut ging.

„Can’t you do just anything? Make it less painful… make my heart beat more slowly, it hurts…”
 

Shinichi schaute ihn an, hatte den Atem fast angehalten.

“Heiji, gehst du schon mal vor, bitte?“

Er sah ihn nicht an, als er sprach, wandte seine Augen nicht von dem jungen Maler ab, der ihn flehend anschaute. Seine Stimme war rau, kaum zu verstehen.

Heiji blickte ihn ernst an.

„Aber…“

Shinichi schluckte hart.

„Ich… kann jetzt noch nicht gehen. Es… wird aber nicht lange dauern, und bis Montgomery sie alle zusammengetrommelt hat, bin ich… soweit.“

Heiji betrachtete den Mann auf dem Bett. Bradys stockende, flache Atmung hatte sich zu einem unregelmäßigen Keuchen ausgewachsen, Kälte schien ihn mit eisigen Fingern fest durchzurütteln – er zitterte sichtbar, hatte sich zusammengekrümmt, um die wenige Wärme, die ihm geblieben war, zu speichern.

Und beide Fäuste drückte er auf seine Brust, schien versuchen zu wollen, seinen Herzschlag damit zu kontrollieren, sein Herz mit seinen Händen bremsen zu wollen.

Es gelang ihm nicht.
 

Als er aufschrie, heiser, schmerzerfüllt, drehte Heiji sich um und verließ wortlos das Zimmer.

Er ahnte, was jetzt geschah.

Und er glaubte zu wissen, warum Kudô ihn nun nicht dabei haben wollte.

Als Jenna zurückkehrte, hielt er sie auf, ließ sie nicht hineingehen – schickte sie stattdessen zu Montgomery, um ihn zu informieren.
 

Er wusste nicht, wie lange er wartete, bis Shinichi aus dem Raum trat. Es kam ihm vor wie eine Stunde – wahrscheinlich waren es nicht einmal fünf Minuten gewesen.

Irgendwann ging die Tür auf; Shinichi trat heraus, zog die Tür hinter sich sachte ins Schloss, lehnte sich dagegen.

Atmete langsam aus, sehr kontrolliert, seine Handflächen hart gegen das Türblatt gepresst, seine Augen starr und müde zugleich, unfokussiert auf einen Punkt auf den Boden gerichtet.

Er sprach nicht.

Er sagte immer noch kein Wort, als Jenna mit Jackson Montgomery und James Black zurückkehrte, und sein Vorgesetzter ihn ansprach. Shinichi trat lediglich einen Schritt zur Seite, gewährte ihm Zutritt, lehnte sich stattdessen gegen die Wand, ließ den Kopf gegen die Mauer sinken, blinzelte ins grelle Neonlicht des Kellergeschosses und atmete hörbar aus.
 

„Also ist er tot.“, murmelte Heiji schließlich.

„Ja.“

Shinichis Stimme ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.

„Er…“

Er holte Luft.

„… hatte starke Schmerzen, aber immerhin war er die letzten Augenblicke bei sich. Er… wusste, dass sie lebt. Dass sie gerettet werden konnte, ich denke, das…“
 

Er brach ab, als Montgomery das Zimmer verließ, stumm seinen Blick von einem zum anderen schickte.

„Sergeant Watson told me that your girlfriend has been abducted.“

Shinichi nickte knapp, ohne ihn anzusehen.

„Supposedly she's being kept in an old storehouse at the Apple Market, right?“

Shinichi seufzte, sah nun doch auf, langsam. Er musste sich zusammenreißen, das wusste er, auch wenn das, was er gerade gesehen und erlebt hatte, in ihm nachhallte mit Macht, in jedem einzelnen seiner Knochen vibrierte und sich auf ewig in sein Gedächtnis eingebrannt hatte.
 

Please, do tell her, that I loved her… that I loved her till my last breath, will you, Mr Holmes? Will you tell her, that all I wanted was a better life for her and me…

That I wanted to marry her… to have a family with her.

To make her happy for the rest of my life…
 

Tell her, I’m so sorry that I’ve failed.

Tell her, that she shall be happy. She must be happy.

She must…

Tell her…
 

Tell her!
 

Shinichi schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben für den Moment, schluckte hart. Bemerkte Montgomerys fragenden Blick, seufzte dann.

„Yeah. At least, that's what Brady told me before…“
 

Montgomery nickte.

„Well then. We're inducing a search, then. You'll stay here, of course.“
 

Und wenn alles andere bisher versagt hatte, ihn aufzurütteln, katapultierten diese drei Worte ihn mit einem Schlag zurück in die Gegenwart.
 

„What?!“
 

Montgomery sah ihn mitfühlend, aber bestimmt an.

„SI Kudô, you know how this is handled. Relatives are excluded from an Investigation. They are too much involved, emotionally. Can't think clear, anymore. And now, don't you dare to deny that fact. You have yourself..."

Shinichi starrte ihn an, schien seine Zunge zu kauen.

„You can't be thinking that I'm going to sit tight and wait here, twiddling my thumbs, while…“

ACC Jackson Montgomery schaute ihn weiterhin unnachgiebig an, schüttelte den Kopf. James Black war neben ihn getreten, schaute seinen jungen Freund ebenfalls ernst, sogar ein wenig bekümmert an.

„We know whom they're after, and why they do what they do. Rest assured, Sherlock. We believe you, the whole Yard's behind you, and the FBI as well. We'll hunt them down, with united Forces. But I can't allow you to join us. You are a risk for yourself and others. Trust in us, we're no Greenhorns. And the FBI, as you know for sure, isn't, either."
 

Ihnen allen war der Wechsel vom Sie ins du nicht entgangen. Der Chef des Yard hatte sich nach vorn gebeugt, Shinichi eine Hand auf die Schulter gelegt.

„I'll have someone driving you home. I guess, you should take those guys waiting down in the lobby with you - I take it, they're your friends and family?“
 

Shinichi nickte müde, ließ sich widerstrebend von Heiji in die Lobby führen, wenn auch unwillig. Er hatte in den Augen seines Vorgesetzten gesehen, dass Widerspruch zwecklos war – wenn er irgendwie noch mitmischen wollte, musste er das anders anstellen.

Im Gehen wandte er sich um, warf einen letzten Blick zu Jenna, die neben Montgomery stehen geblieben war. Sie nickte ihm kaum merklich zu, legte sich eine Hand auf die Brust. Ihr Chef warf ihr einen knappen, schwer zu deutenden Blick zu – bedeutete ihr dann, ihm zu folgen.
 

Als Shinichi in der Lobby ankam, warteten da nicht nur Kogorô, Kazuha und Sonoko.

Auch seine Eltern waren da; Kogorô hatte sie zwischenzeitlich informiert, und sie hatten es in seiner Wohnung nicht ausgehalten. Yukiko war in Tränen aufgelöst, rannte auf ihn zu, als er in ihr Blickfeld trat, umarmte ihn fest. Er erwiderte die Umarmung zögerlich, schaffte kaum, ihr in die Augen zu schauen.

Als er sprach, brach seine Stimme fast – die Verzweiflung, die ihn getrieben hatte, seit er sein Büro verlassen hatte, und gegen die er so vehement gekämpft hatte, weil er dieses Gefühl nicht brauchen konnte, weil es ihn am Handeln hinderte, brach nun endgültig durch, lag nicht nur als dunkler Schatten in seinen Augen sondern klang als unangenehmer Beiklang in seiner Stimme, als er sprach.
 

„Ich hätte mitkommen sollen. Ich hätte sie zum Flughafen…“

Seine Stimme klang heiser, brach fast.
 

„Shinichi…“

Yukiko schaute ihn bekümmert an, strich ihm über die Wange, schüttelte den Kopf.
 

„Wer weiß, ob du es hättest verhindern können. Wer weiß, ob sie nicht gleich auf dich…“

Sie brach ab. Neben sie war Yusaku getreten, schaute ihn ernst an.

„Und jetzt?“

„Jetzt fahndet Scotland Yard nach ihr.“

Er verkniff die Lippen kurz.

„Und ich werde nach Hause geschickt, weil…“

„Weil deine Verbindung zu ihr zu eng ist und du emotional zu belastet bist… noch dazu bist du es, den sie wollen, und das…“

Shinichi nickte matt. Heiji seufzte laut neben ihm.

„Wir sollten nach Hause fahren, Kudô. Dein Chef hat Recht, hier zu warten bringt nichts. Jenna wird dich sicher sofort anrufen, sobald sie etwas weiß. Und wer weiß… vielleicht melden sie sich von selber bei dir. Und ich schätze, das werden sie nicht hier versuchen.“

Shinichi wandte den Kopf, schaute ihn an.

Das letzte Argument schien tatsächlich zu ziehen, denn er ließ sich von den anderen ohne ein weiteres Wort des Widerspruchs nach draußen führen, wo sie sich auf zwei Autos aufteilten, um zurück in die Bakerstreet zu fahren.
 

Das Museum war immer noch geschlossen, stellte er fest, als er aus dem Beifahrerfenster nach draußen blickte. Kein einziger Mensch stand an, die Tür war geschlossen, ein Schild mit der Aufschrift „Temporarily closed“ unterstrich deren Aussage wortkarg.

Yusaku, der den Wagen lenkte, sah ihm an, wie wenig ihm schmeckte, nicht auf Verbrecherjagd gehen zu können.
 

Und während sie die Autos abstellten, den schmalen Gartenweg zur Haustür prozessierten, brach die Dämmerung über London herein.

Kapitel 50: Anokata

Kapitel 50 – Anokata
 

Er hatte ihn aus dem Gebäude gehen sehen, im Kreise seiner Familie und Freunde. Sie alle hatten sehr angeschlagen gewirkt – allerdings war wohl keiner vergleichbar mit dem Bild, das er abgab.
 

Detective Superintendent Shinichi Kudô war angekommen an der mysteriösen Linie, die man gemeinhin als „Grenze“ bezeichnete. Die Sorge um seine Freundin zeichnete ihn – die Substanz, die geheimnisvoll und fast unbemerkt durch seine Adern kroch, zerstörte ihn.
 

Interessiert schaute er der Gruppe hinterher, bis sie alle in die bereitstehenden Autos gestiegen und aus seiner Sichtweite verschwunden waren.

Erst dann begab er sich mit langsamen, gemächlichen Schritten zu seinem Wagen – in dem bereits schon jemand auf ihn wartete.

Samuel Gallagher schaute nicht auf, als der Mann neben ihm Platz nahm, den Schlüssel ins Zündschloss steckte, ohne die Zündung jedoch zu betätigen.
 

Und als dann nach einer gefühlten Ewigkeit einer der Männer endlich das Wort ergriff, war nicht er es – es war Gallagher.
 

„Ich verschwinde jetzt mit Kari. Mein Teil der Abmachung ist erfüllt.“

Seine Stimme klang emotionslos. Er stellte die beiden Sätze mit einem Selbstbewusstsein in den Raum, das er sich lange hatte zusammenkratzen müssen, und er schaute seinen Gesprächspartner dabei nicht an, weil er ahnte, dass es mit seiner Courage schneller vorbei war, als ihm lieb sein konnte, wenn er dem erbarmungslosen Blick des Mannes begegnete, den sie alle seit jeher Anokata nannten.
 

„Das scheint mir nur fair. Du hast deine Abmachung erfüllt.“

Leises, heiseres Lachen erfüllte den Passagierraum des in die Jahre gekommenen Mercedes. Gallagher schauderte.
 

„Du hast dich hervorragend über Monate als kleiner Beamter hier eingearbeitet, und dabei glaubhaft den charmanten Sam Gallagher aus Wessex gegeben – über die Maske bis hin zum akzentfreien Englisch. Du hast dich gut vorbereitet - lückenlos, akribisch bis ins kleinste Detail. Wie gewohnt…

Du hast mir eine detaillierte Beschreibung von Örtlichkeiten und Menschen gegeben – besser als du es gemacht hast, hätte ich es mir nicht wünschen können. Ohne dich hätte ich mich hier nie so nahtlos eingliedern können, wie es mir gelungen ist. Ich wage zu behaupten, dass es niemandem auch nur im Ansatz aufgefallen ist, dass ich ihn ersetzt habe… nicht mal dem großen Sherlock Holmes himself.“

Er lachte erneut, amüsiert, fast heiter.

„Des Weiteren hast du dich fehlerlos als Doppelagent ausgegeben; es ist dir gelungen, diesen Verräter Gin ausfindig zu machen und ihn auf seine Fährte zu setzen. Ohne deinen Input wäre er auf diesen Plan nie gekommen… ohne unseren Input. Du hast sowohl Gin als auch Kudô immer zum passenden Zeitpunkt mit genau dem richtigen Maß an Information gefüttert, um sie in der richtigen Geschwindigkeit voranzutreiben.

Du hast diesen genialen Plan makellos bis zu diesem Punkt ausgeführt – bis zu diesem alles entscheidenden Punkt…“
 

Er fischte eine Zigarre aus seiner Jacketttasche, zündete sie sich an, zog ein paar Mal genussvoll an ihr.

„Nun ist sie in seinen Händen, und Sherlock Holmes, wie sie hier so schön sagen, out of his wits. Ha.“

Anokata lachte, stieß dabei eine Wolke grauen Rauchs aus.
 

„Du warst ein wirklich braver Junge, Bourbon. Hast jede meiner Anweisungen perfekt ausgeführt. A good boy, indeed.“
 

Er sah ihn an, lächelte wohlwollend. Bourbon schaute ihn immer noch nicht an.
 

„Dennoch, dir muss klar sein, dass ich dich nicht gehen lassen kann. Dich nicht, und dein Schwesterherz nicht.“
 

Toru Amuro spürte, wie sein Herz bis zum Hals klopfte, seine Augen sich vor Entsetzen weiteten.

„Aber…“, kroch es fast lautlos über seine Lippen, der Rest seines Satz bröckelte ins Nichts.

„Ach, Toru. Toru, Toru, Toru…“
 

Anokata schüttelte sachte seinen Kopf, impfte in den Blick, mit dem er ihn nun bedachte, gespieltes mildes Unverständnis.
 

„Du weißt doch, wie das läuft. Du hast es bei den Miyanos doch gesehen…“
 

Und erst jetzt wandte Bourbon sich um, starrte seinem Boss ins Gesicht – gerade noch rechtzeitig, um die feine Nadel aufblitzen zu sehen. Er riss die Tür auf, fiel fast rücklings aus dem Wagen, rappelte sich auf – starrte den Mann an, fing an zu laufen, wie vom Teufel gejagt.

Hinter ihm hörte er ihn nur lachen.
 

Der Mann sah ihm hinterher, lächelte dünn.
 

Du entkommst mir nicht, das weißt du, Toru?

Ich weiß, wo ich dich finden kann… wo ich dich immer finden werde…
 

Er schaute ihm kurz hinterher.

Gern hätte er es gleich beendet, allerdings – er war zu langsam gewesen, oder zu offensichtlich. Wie auch immer.
 

Er würde ihn kriegen, nichtsdestotrotz.

So wie er sie alle kriegen würde.
 

Gelassen stieg er aus, umrundete den Wagen und gab der Beifahrertür einen Schubs, sodass sie zufiel. Dann schlenderte er zurück, setzte sich hinters Steuer und lenkte den Wagen ruhig durch den Feierabendverkehr Tokios zu dem Ort, den er momentan sein „Zuhause“ nannte.
 

Dunkelheit begrüßte ihn, als er die Tür des Einfamilienhauses in einem kleinen Londoner Vorort öffnete. Niemand war zuhause – der hier ehemals wohnende Köter, ein kläffender Dackel namens Count Dracula, lag seit etwa einer Woche in der Gefriertruhe, wo er ihn weder durch sein Gebell noch durch sein Gebeiße störte.

Er hängte die Jacke, die eigentlich nicht seine war, an den Garderobenhaken in der Diele des Hauses, das ebenfalls eigentlich nicht seines war. Er schlenderte in die Küche, warf die Kaffeemaschine an und ließ sich eine herrlich duftende, frisch aufgebrühte Tasse vom Vollautomaten zubereiten, ehe er damit die Stufen in den Keller hinabstieg.

Der Schlüssel zum Vorratsraum hing wie gewohnt neben der Tür – von wo er ihn abnahm, aufsperrte, und sich Zutritt verschaffte.

Dann schlug er mit der flachen Hand gegen den Lichtschalter, und fand, grell beleuchtet unter der Deckenlampe des unausgebauten Kellers den eigentlichen Hausherrn sitzen.
 

Genauso, wie ich dich zurückgelassen habe.
 

Der Mann saß auf einer umgedrehten Kartoffelkiste, die darin aufbewahrten Erdäpfel waren achtlos in eine Ecke geschüttet worden. Seine Hände waren ihm vor dem Körper gefesselt wurden und an ein Heizungsrohr gebunden, so dass er sich ein wenig bewegen konnte Seine Hose war staubig, wie auch sein Gesicht; sein Hemd schweißgetränkt und fleckig. Man sah ihm die wachsende Verwahrlosung an – seit etwa sieben Tagen hatte er sich nicht mehr gewaschen, hatte diesen Raum nicht verlassen.

Anokata stieß mit dem Fuß die Tür zu, verschloss sie erneut, schob den Schlüssel ein. Der Mann, geknebelt mit einem früher vielleicht einmal sauberen, mittlerweile schmutzigen Geschirrtuch, starrte ihn feindselig an. Anokata trat an ihn heran, nahm ihm den Knebel ab, griff nach der Wasserflasche, die neben der Kartoffelkiste stand.
 

„Good evening, Dr. McCoy. How are we feeling today?“
 

Der alte Mann hob schwerfällig den Kopf – Erschöpfung zeichnete seine Züge, nicht jedoch den Blick in seinen Augen.
 

Wut und Unbeugsamkeit stand in ihnen zu lesen.
 

Der falsche McCoy trat langsam näher, schüttelte den Kopf, tadelnd.
 

„Ts, ts, ts. So you decide to play the stubborn guy again, do you? I can tell you, doctor, it’s too late, already. Your lacking cooperation is doing nobody well. Least of all, him.“
 

Er lachte.

Der alte Mann sog scharf die Luft ein.
 

„What did you do to him? What interest do you have in a superintendent of Scotland Yard, anyway?!”
 

Der falsche McCoy zog sich einen Stuhl heran, nahm dem echten Forensiker gegenüber Platz.

„Oh, me? I didn’t do anything, not yet, I mean. Besides confusing his senses a bit, clouding his thoughts more and more, first. Then looking for his weak spot, reveal it, and probe it, prepare him for what is yet to come. It is superb to see him self-doubting, to see him not trusting his very own thoughts any longer… and trust no other soul surrounding him, ever since he knows that someone is poisoning him, slowly but steadily. But no – what I actually want to say is something completely different.”
 

Er beugte sich vor, schaute geradewegs in die grauen Augen des Autopsiearztes, lächelte breit.
 

„His girlfriend was abducted. It’s just a matter of time until they utter their demands, these guys are pros of their profession, I taught them myself. And he’ll eat from their hands, will be the easiest bait ever – he’ll do whatever they tell him to – because he’d do anything to just save her life. Nevertheless, no matter how convenient this is regarding my own plans for him – I won’t let them have all the fun. At long last he’s mine, neck and crop all the same. And that moment is approaching fast. Who knows? Maybe tomorrow is the very day...”
 

Er lachte laut, schallend.
 

„Thus – now, as my plan approaches fulfilment, I thought the time ripe to finally express my gratitude towards you – without the possibility to take your part, I’d never be able to gather all the information – all this precious knowledge about him. Even back than when we were in the lucky position to call him our guest, he hadn’t been that keen to give us information as here and now… it might be true, trust and friendship loosen one’s tongue so much better than torture and hostility…”

Ein gemeines Grinsen schlich auf seine Lippen.
 

„Well. Let’s see what’s left of him, once Gin is done with him. It’s only a question of hours as to when he’ll summon him…”
 

McCoy starrte ihn an, Irritation zeichnete sich auf seinen Zügen ab, ein Zustand, der ihm offenbar nicht behagte.

„Who’s this „Gin“? And who the hell are you?!”

Der falsche Autopsiearzt schaute ihn von oben herab an – grinste dann breit.
 

„I’m Anokata… and before I’m going to tell you in detail who I am, I should rather ask you, my dear doctor,… do you know who he is, after all?“
 

Der Arzt schaute ihn von unten herauf an; ein genervter Ausdruck lag in seinen Augen, das geschwollene Gerede seines Gegenübers gefiel ihm nicht – und die Tatsache, dass er sein Gesicht auf seinen Zügen trug, noch weniger.
 

„A superintendent at Scotland Yard. I need no further information.“

„Ah.“

Anokata zog sich eine weitere Kiste heran, setzte sich dem Arzt gegenüber.

„No? Well, I guess, you would, though. Because if you had that… further information… you would have known what guy you’ve saddled yourself with, when you allowed yourself to be blinded by that beautiful, stainless, well-written recommendation letter of the FBI, all of you…”
 

Er lächelte giftig, fischte dann sein Smartphone aus seiner Jackentasche – das einzige, was wirklich ihm gehörte. Flink huschten seine Finger über das Touchdisplay, lautlos murmelten seine Lippen seinen Namen.

Dann hielt er ihm die geöffnete Google-Suche unter die Nase.
 

Und McCoy merkte, wie sich sein Nacken noch mehr verspannte, als er es vom stundenlangen Sitzen ohnehin war.
 

Shinichi Kudô – Retter der japanischen Polizei!

Shinichi Kudô – ein Oberschüler räumt Japan auf!

Der neue Holmes ist ein Japaner!

Fall der Schwarzen Organisation – Neunzehnjähriger Oberschüler zerstört größtes Verbrechersyndikat Japans

Stieg ihm der Ruhm zu Kopf? Shinichi Kudô verschwindet spurlos…
 

Und er sah die Bilder. Bilder eines verdammt jungen japanischen Oberschülers, selbstbewusst in die Kamera lächelnd, stolz auf sich und seine Leistung. Zu fast jeder Meldung dasselbe Bild des Erfolgs, personifiziert im Gesicht dieses Jungen, den er nur als Sherlock kannte.
 

Bis auf das Bild unter der vorletzten und letzten Meldung.
 

Er sah so aus, wie er ihn kannte.

Ernst, seine Augen dunkel, der Zug um seine Lippen freudlos.
 

Selbst wenn er in diesen Tagen lächelte, schien er dabei nichts zu empfinden.
 

Und McCoy begriff.
 

„You’ve done this to him.“

Er schaute auf.

„You have…“

„That’s wrong.“

Anokatas Stimme klang eisig, als er wieder aufstand.

„Wrong! He merely payed for what he had asked for. Everything has its price, nothing is complimentary these days, right? And the destruction of my syndicate will cost him no less than his life.“

Seine Stimme war gefährlich leise geworden. McCoy ahnte, dass es unter der Maske brodelte. Bestimmt war der Mann aschfahl geworden – das Zittern seiner Fäuste verriet seine innere Anspannung, eine Wut, die ihn schier zerriss.
 

Wut auf ihn.
 

„Ah. You were the boss of this… „Black Organization?““

Seine Stimme klang schnippisch, und er legte großen Wert darauf.

„Not quite an exceptional name, is it?“

Der Boss fuhr herum, starrte ihn an.
 

„You have no idea of the great things my organization was capable of…“

„Well, but obviously you weren’t as powerful and as clever as you thought, or how could otherwise a mere teenager break your black neck…

Der Rest seines Satzes ging in ersticktem Gurgeln unter, als eine Faust seine Nase traf. Er heulte auf, kurz, hustete und spuckte Blut, merkte, wie es ihm aus seinen Nasenlöchern quoll, wollte die Hand heben, um sie zuzuhalten, und schaffte es nicht, weil sie ja hinter seinem Rücken gefesselt waren. Ungelenk versuchte er, sich das Blut an seinen Schultern abzuwischen, während Anokata seine Hand massierte, ihm immer noch einen wütenden Blick zuwarf.
 

„He was too clever, that might be correct.“

Ein gefährliches Flackern zuckte in seinen Augen, spielte um seine Mundwinkel, als er noch einmal sein Handy bemühte.
 

„We were a bit careless, that’s true. He didn’t interest us as much as the dirt sticking under our fingernails, until that very day. We thought, he was dead, anyway. I thought, he was dead. Killed by one of my most skilled hunters, but he wasn’t. He went into hiding, perfectly protected by his new identity, until I met him in person and discovered…“

Er lachte leise.

„Yeah, that might be of your interest, doctor. Did you know that rejuvenating a human being is possible?

I show you, what has happened… that’s just fair, you should know whom you owe losing your neck.“
 

Verachtung und Wut mischten sich in seiner Stimme, gewürzt von einer tüchtigen Prise Spott. Er setzte sich erneut, wischte und tippte wiederum kurz ein wenig über sein Smartphone, hob das Telefon wieder vor McCoys Gesicht. Er sah das Browserfenster einer Internetcloud, und sie zeigte eine Videodatei.

„So… be careful now and watch closely…“

Ein kleiner Junge schaute in die Kamera.
 

„Manche von Ihnen kennen mich – andere noch nicht.

Deshalb stelle ich mich der Vollständigkeit halber nochmal allen vor – und dann auch gleich die kleine illustre Runde, an die dieses Schreiben gehen wird.“
 

McCoy verstand die Worte nicht, die der kleine Junge sprach; wohl aber den Tonfall und die ausgefeilte Formulierung, so ungewöhnlich aus dem Mund eines kleinen Kindes. Und es verstörte McCoy zutiefst – irgendetwas sagte ihm, dass das gar nicht gut ausgehen würde.
 

„Mein Name ist Conan Edogawa. Ich wohne derzeit bei der Familie Môri, wie Sie alle mittlerweile wissen werden. Ich bin neun Jahre alt und besuche die dritte Klasse der Teitan-Grundschule.

Soviel zu mir für jetzt.

Dieses Schreiben zusammen mit diesem Video sende ich an drei Personen.

An Kommissar Juzô Méguré des Tokioter Morddezernats.

An FBI Agent James Black.

Und an Anokata… den Boss der Schwarzen Organisation.
 

Die Empfänger dieser Email sind bewusst verdeckt und verschlüsselt. Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit damit, sie zu entschlüsseln, ich bin kein Idiot und weiß, was ich tue.“
 

McCoy hob kurz den Kopf, sandte einen verwirrten Blick an Anokata – der hingegen stierte nur auf das Telefon in seiner Hand, die Augen zu Schlitzen verengt.
 

„Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, über den Verein des letztgenannten Empfängers. Über die Menschen, die dahinterstehen. Und über Conan Edogawa.“
 

McCoy sah auf, blickte seinem Peiniger ins Gesicht.

„Wann war das? Wer ist der kleine Junge? Anokata – damit meinte er doch Sie?“

Er bekam keine Antwort – nicht vom Mann, der ihm gegenübersaß, zumindest.
 

„Die schwarze Organisation ist ein Verbrechersyndikat das laut meinen Recherchen nun schon seit knapp vierzig Jahren in Japan ihr Unwesen treibt. Ihr Hauptsitz scheint Tokio zu sein – ihre Fühler reichen nachweislich bis in die USA. Das alles dürfte Ihnen bekannt sein.

Sie rauben, entführen und morden.

Sie betreiben eigene Labors, in denen sie Drogen und Gifte herstellen – neuartige Drogen und nie gekannte Gifte.

Einem dieser Gifte ist ein junger Teenager vor drei Jahren zum Opfer gefallen.

Sein Name lautete… Shinichi Kudô.“
 

Der kleine Junge machte eine Pause.
 

Dr. McCoy hustete erstickt, starrte mit aufgerissenen Augen auf das Display. Diesmal jedoch – stellte er keine Frage. Atemlos verfolgte er den scheinbaren Monolog des kleinen Jungen.
 

„Shinichi Kudô, damals siebzehn Jahre alt, hatte den Tag mit seiner Sandkastenfreundin Ran Môri im Tropical Island Rainbow Land verbracht. Der Abend dämmerte, der Tag neigte sich dem Ende zu, und eigentlich waren die beiden Teenager schon fast auf dem Nachhauseweg, als ihnen zwei schwarz gekleidete Gestalten ins Auge fielen. Ihre Namen, das erfuhr er später, lauteten Gin und Vodka. Und wie Sie sich denken werden – oder wissen – waren sie beide die ersten beiden Mitglieder der Schwarzen Organisation, mit denen er in Kontakt kam.

Shinichi Kudô beachtete sie nach diesem ersten „Kontakt“ nicht weiter. Sie hatten nichts verbrochen, noch nicht; zwar waren sie Zeugen in einem Mordfall, der sich an diesem Abend in der Achterbahn ereignete, in der er mit seiner Begleitung fuhr, aber eben nur das.

Als er einen von ihnen nach der Aufklärung dieses Falles jedoch verdächtig hinters Riesenrad laufen sah, beschloss er, ihm zu folgen.

Er ließ seine Freundin stehen, riet ihr, schon einmal vorauszugehen und lief ihm hinterher, in den abgelegenen, uneinsehbaren und menschenleeren Bereich hinter dem Riesenrad des Parks.
 

Nennen wir es Neugier, die ihn trieb. Abenteuerlust. Gerechtigkeitssinn.

Pure Dummheit.
 

Er beobachtete ihn bei der Abwicklung eines Deals, und war so aufgeregt und beschäftigt mit dem Verbrechen, dessen Zeuge er gerade wurde, dass er nicht bemerkte, wie der zweite von den beiden Männern in Schwarz hinter ihm auftauchte.

Und ihn mit einer Eisenstange von hinten niederschlug.“
 

McCoy zuckte merklich zusammen als der ihm bekannte Name erneut fiel und fing an sich zu wundern, was dieser Grundschüler und Shinichi miteinander zu tun hatten. Die Stimme des kleinen Jungen jedoch redete monoton und unbeirrbar weiter.
 

„Betäubt von dem Schlag ging er zu Boden, bemerkte nur am Rande, wie die beiden beratschlagten. Ihnen war klar, dass sie ihn nicht einfach erschießen konnten, denn vom vorangegangenen Fall liefen hier noch viel zu viele Polizisten herum, die den Schuss vielleicht gehört hätten.

Also beschlossen sie etwas anderes.

Sie hatten ein Gift dabei, etwas ganz und gar Neues. Im Blut nach der Einnahme nicht nachweisbar und binnen Minuten tödlich.
 

Er bekam mit, wie ihm jemand den Kopf an den Haaren hochzog, etwas, das seine vom Schlag herrührenden Kopfschmerzen schier zum Explodieren brachte – er bekam auch mit, wie man ihm etwas in den Mund steckte und zwang, es herunterzuschlucken.
 

Er bekam nicht mehr mit, wie und wohin sich die beiden entfernten.
 

Er dachte, er starb.

Ein Teil von ihm tat das wirklich.“
 

Seine Stimme war leise geworden zum Ende des Satzes. Ein unbestimmter Tonfall schwang in ihr mit – Bedauern, Reue vielleicht, mutmaßte McCoy – ein Tonfall in jedem Fall, der zu so einem kleinen Kind gar nicht passen wollte. Er hatte den Blick von der Kamera gerichtet, seine kleinen Finger betrachtet, die er auf der Holzplatte plattdrückte, so fest, dass das Blut aus den kleinen Fingerkuppen wich, seine Fingernägel weiß erschienen.
 

Als er weitersprach, hob er nicht den Kopf.
 

„Für die beiden Männer war der Fall damit abgeschlossen. Sie hatten den Oberschüler ermordet und liegen gelassen, sich vom Acker gemacht, nicht gewartet, bis der vor Schmerzen schreiende Jugendliche endlich für immer schwieg.

Sie glaubten an die Wirksamkeit ihres Gifts.
 

Und Sie alle fragen sich jetzt vielleicht, woher ich das weiß.

Ein paar von Ihnen wissen, dass Shinichi Kudô damals nicht starb – Sie, Kommissar Meguré, weil Sie ihn zwischenzeitlich gesehen haben. Sie, Mr. Black, weil man Ihnen von ihm berichtet hat.

Und für Sie, Anokata, erklärt sich der Sachverhalt nun sogleich, falls Sie es nicht ohnehin schon ahnen.
 

Shinichi Kudô starb also nicht an dem Gift.

Er überlebte und versteckte sich.

Wo, aber?“
 

Ein müdes Grinsen huschte über die Lippen des Grundschülers, als er sich seine Brille von der Nase zog.
 

„Das will ich Ihnen verraten. Er tanzte die ganze Zeit wortwörtlich unter Ihrer Nase herum.“
 

McCoy legte seine Stirn in Falten, als sich in ihm eine leise Ahnung breitmachte.
 

„Mein Name ist Conan Edogawa und ich bin neun Jahre alt.

Allerdings… gab es Conan Edogawa vor diesen letzten drei Jahren nicht – mich jedoch gab es dennoch.

Vor drei Jahren hieß ich nicht nur nicht Conan Edogawa. Vor drei Jahren wohnte ich auch nicht bei den Môris und ich ging auch nicht zur Grundschule.

Vor drei Jahren gab es diesen kleinen Hosenscheißer nicht.

Mein wahrer Name ist Shinichi Kudô, ich bin mittlerweile neunzehn Jahre alt und sollte eigentlich in meinem eigenen Haus wohnen und zur Oberschule gehen.
 

Das Gift, das mich töten sollte, hat mich geschrumpft.

Diesen Vorgang zu verstehen hat lange gedauert – und die Erklärung einer Expertin bedurft.

Bei der Einnahme der Substanz, die APTX 4869 genannt wird, wird in den Zellen die Apoptose eingeleitet.

Apoptose nennt man, für die Nicht-Mediziner unter uns…“
 

„… the suicide of one’s own cells...“
 

McCoy ächzte. Dieses eine medizinische Fremdwort hatte er verstanden.

„What’s that – what’s he talking about…?!“

Er hielt inne, als er ihn weiterreden hörte.
 

„… den programmierten Zellselbstmord. In meinem Fall hielt irgendetwas diesen Vorgang auf, kürzte mich zusammen auf Grundschülerformat. Bislang… gibt es noch kein wirksames, dauerhaftes Gegengift. Das, was mich zu meinen kurzen Gastauftritten befähigte, waren temporäre Antidote, die jedoch nur kurze Zeit vorhielten und gegen die mein Körper recht schnell immun wurde. So sitze ich also immer noch in diesem entwürdigenden Kleinformat herum. Ich hoffe, das wird sich ändern.“
 

Er blickte auf.
 

„Damit Sie mir jedoch auch glauben, fürchte ich, komme ich nicht umhin, Ihnen den Beweis zu liefern – die meisten von uns arbeiten schließlich in einem Metier, in dem Beweise das halbe Leben sind, nicht wahr?“

Er lächelte bitter.

„Und damit es am Ende nicht heißt in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – hier also der unumstößliche Beleg für den auf absurde Weise schief gelaufenen Mordversuch an einem Teenager. Sie hätten mich erschießen sollen, als Sie die Gelegenheit hatten.

Ein Rat noch am Rande - falls Sie eher zartbesaiteter Natur sind, schauen und hören Sie in den folgenden Minuten besser weg.“
 

Er beugte sich kurz aus dem Bild, zog ein Glas Wasser und eine kleine Kapsel zu sich. Und erst jetzt bemerkte McCoy, dass der kleine Junge viel zu große Klamotten trug. Der Doktor sah ihn schlucken, als er auf die Kapsel in seiner kleinen Hand blickte – und als er aufsah, blickte er nicht in die Kamera.

Er sah einen Punkt dahinter an.

Er schaute auf den, der die Kamera hielt, die nun zusehends ins Vibrieren zu geraten schien, da das Bild nun leicht wackelte. Sorge spiegelte sich in seinen Augen und die stumme Bitte um Vergebung.

Dann hob er die Hand, schob sich die Kapsel in den Mund, setzte das Wasser an und spülte sie runter.

McCoy hatte kaum bis fünf gezählt, als er ihn zusammenzucken sah. Der kleine Junge verkrampfte sich zusehends, griff sich an die Brust, versuchte mit allen Mitteln, nicht zu schreien – und verlor doch diesen Kampf um seine Selbstbeherrschung zusehends. Er sank in den Stuhl, starrte an die Decke, heftig atmend, japste nach Luft, konnte sich kaum halten.
 

McCoy sah weg, als es anfing – es anhören zu müssen, kostete ihm fast den Verstand.

Erst als einzig und allein ein angestrengtes Keuchen zu hören war, wagte er, den Kopf wieder zu drehen und die Augen zu öffnen.

Die Kamera hielt nun auf einen gänzlich anderen Menschen. Auf dem Boden, erschöpft nach Atem ringend, lag nun ein Teenager. Blass, schwitzend und zitternd gleichzeitig, aber ein Teenager. Und doch waren die Ähnlichkeiten zu dem kleinen Jungen von gerade eben unübersehbar.
 

Ganz zu schweigen von den Ähnlichkeiten zu dem jungen Mann, als den er ihn kannte.
 

„Shinichi.“, murmelte er leise, fassungslos. Beobachtete, wie der Jugendliche sich hochrappelte, aufsetzte, sich mit zitternden Fingern die schweißnassen Strähnen aus der Stirn strich und einen mehr als besorgten Blick an der Kamera vorbei zu der Person warf, die die Kamera mit wackeligen Händen hielt – denn dass dahinter ein Mensch und kein Stativ stand, merkte er spätestens jetzt, als das Bild ruckelte und zitterte, und ein sehr lautes Atemgeräusch ins Mikrophon der Kamera rauschte. Dann griff er nach dem Wasserglas, das immer noch halbvoll auf dem Tisch stand, leerte es mit einem Zug, ließ sich dann nach hinten sinken, schaute stur und entschlossen in die Kamera.
 

„Wie Sie nun…“

Er räusperte sich kurz, als seine Stimme in seinen Ohren zu heiser klang.

„Wie Sie nun sehen, habe ich nicht zu viel versprochen. Diese Organisation muss zerstört werden und ich werde nicht ruhen, bevor dies passiert ist.

Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern, Anokata, von Ihnen nicht und von keinem, der für Sie arbeitet. Ich werde mich nicht aufhalten lassen, Ihnen die schwarze Maske vom Gesicht zu reißen, Ihnen, und jedem, der für Sie in irgendeiner Weise auch nur einen Finger rührt, und wenn es das Letzte ist, was ich in diesem Leben tue.

Ich weiß, hinter wem Sie her sind und ich weiß, was Sie tun werden, um mich aufzuhalten. Machen Sie sich keine Mühe, sie zu finden, und verschwenden Sie keine Zeit, nach denen zu suchen, mit denen Sie mich erpressen wollen, sondern wenden Sie sich sogleich vertrauensvoll an mich.
 

Ich kenne ihre Email-Adresse.

Ich weiß, wer Ihrer treu ergebenen Agenten ein Maulwurf ist.

Ich weiß, wo Sherry sich versteckt.
 

Und ich werde nicht zögern, das alles hinauszuposaunen in die Welt – sollten Sie auf meine Forderung nicht eingehen.
 

Ich will Ihr Verderben, und Sie jetzt ganz sicher meins.

Wenn Sie also dieses Versteckspiel ein für alle Mal beenden und wir diese Sache nun endlich aus der Welt schaffen wollen, sollten Sie sich meinen Deal anhören.
 

Kommen und holen Sie mich. Versuchen Sie ruhig, aus mir herauszukriegen, was ich weiß. Damit haben wir beide, was wir wollen – ich mache keinen Hehl daraus, ich will dem ins Gesicht sehen, der mir das angetan hat – und ich will in Ihr Hauptquartier, um Sie zu vernichten.

Ich warte auf Sie - aber meine Geduld kennt Grenzen.
 

Damit wurde der Bildschirm schwarz.
 

McCoy saß da, seine Augen aufgerissen auf das kleine Smartphone gerichtet, sein Atem flach. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch wissen wollte, wie diese Geschichte weiterging.

Er befürchtete das Schlimmste.

Und es sollte kommen.
 

Good Lord… you went to meet your fate, Sherlock…

You must have guessed that they’d kill you…

Why did you… how could you…
 

Seine Gedanken rasten Zickzack in seinem Kopf, kaum einer, den er zu Ende dachte, immer neue Fragen, die sich einander jagden und in den Schwanz bissen – und auf keine von ihnen wusste er eine Antwort.

Erst Anokatas Stimme setzte dem Staffellauf seiner Gedanken ein Ende, riss ihn ins hier und jetzt zurück. Er blickte auf, schaute dem Mann mit der schwärzesten Seele, die er sich vorstellen konnte, ins Gesicht.
 

„Well. What He’s talking about is how he met some of my employees, witnessed a crime and got caught. They tried to kill him, but they failed – we didn’t know that our newly invented poison just didn’t kill everyone… but rejuvenated some victims. He went years unnoticed, lived a secret live as little kid. Until that very day. We came to fetch him, as you might have guessed. How could I ignore such a feverish desire to see me…“
 

Anokata schaltete das Handy aus, ließ es in seine Tasche gleiten. Ein schmales Grinsen huschte über seine Lippen.
 

„And hell, he was amazing. If he just hadn’t been already so caught up by this abstract construct called truth and justice. Such a sharp mind, such a fast apprehenshion. He would have excelled between my subordinates.”
 

Er lächelte, stand auf, ging langsam um McCoy herum.

„First we gave him, what he thought non-existant – a permanent antidote to kill his alter ego, little Conan. Then we went on, questioning him – I surely wanted to know if what he announced so whole-hearted was true. I knew, he would at least know, where Sherry was – and I deeply wished to lay my hands on her, tight around her neck... She was one of our most gifted chemists. And one of our biggest traitors.”
 

Das Lächeln bröckelte ihm langsam von den Lippen.
 

„First though… it wasn’t us who held the reigns, although we thought, we would. We invited our enemy, and he used his very next chance to fulfil his promise to harm us.“
 

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„He wasn’t even there for a whole day. A female member usually cared for the food for our hostages – yes, this might sound strange to you, doctor, and don’t think they had a luxurious life at our premises, surely not – but we wanted to keep our guests capable for questioning them.”
 

Er machte eine kurze Pause.

„Normally, this was a dummy-proof thing. Never an issue. Our lowest ranked members delivered the food by pushing it in a flap in the door. It was soup, that day, like almost every day. Fast dish, easy to prepare. No pampering for our guests, just enough to keep them alive…“

Anokata lächelte säuerlich.

„That flap was at eye-level. He threw the bowl back at her – she got burned, stumbled back and he managed to reach the doorknob from the outside through the flap, freed himself that way. He locked her in and used the time to upload a little trojan into our computer systems. He knew, the time would never be sufficient for escaping, but he knew the location of the server room; there had been moles among us, secret agents of the FBI and CIA, and they briefed him with the details.

That was an ugly little virus – it pretended our demasking, showed a data transfer, emails were sent automatically and so on. In fact, that virus just waited for us to type in our passwords as we tried to save and delete our data. Then it sent it all out, secretly, undetected. And while we thought we had stopped the catastrophe, hell broke loose, without us knowing. Such a clever, clever virus.“

Er hielt inne.

„Well, whatever. We considered us safe again, after stopping the faked data transfer. But my patience had come to an end. I took him to task. And I daresay, that I presented him with the blackest ten days in his life, literally…”
 

Ein maliziöses Lächeln kräuselte seine Lippen, ein diabolisches Funkeln trat in seine Augen, als er McCoy aus den Augenwinkeln heraus ansah, den Rücken gerade, die Arme vor der Brust verschränkt. Der Mediziner hielt den Atem an, verkrampfte sich unwillkürlich.
 

Good Lord… he’s the devil, incarnated…
 

“My organization has ways and means to get people into talking… and these means we used on him. A newly invented means of conviction, even. A drug. A hallucinogetic drug, to be precise.“

Langsam drehte er sich um.

„Intravenous. The first injection almost knocked his lights out. And it was so fascinating to see how he reacted on our HLZG. You know, this girlfriend,…“

Er grinste hämisch.

„… the love of his life.“

„The girl that looked so similar to the first victim…?“

„Looks similar. She’s still alive...“
 

Anokata lächelte versonnen, ehe er sich wieder seinem Gefangenen zuwandte.
 

„Our poison affects the human being in three different ways. First, it gives you the trip of your life. Feelings of happiness and joy, that are almost unbearable. Your wildest desires turn into realitiy… and he – he dreamt of her.“
 

Er lachte spöttisch.
 

„My god, he was barely nineteen. A teenager. What does such a young man understand of love, you might say. But then whe heard him talk, about her, with her, and it became obvious for us, that all of this, each and every word, must have been trapped inside his heart for years, that he never found the courage to tell her… just how much he loved her, what feelings he held for her, what he whished for himself, and for her. And we saw, we understood, that she was the key. She was his weakest spot, he loved her, more, much more than his own life. We were so aware of the fact that he’d do just everything, really everything, for her.”

Anokata hob den Kopf, sich des abfälligen Blicks seines Gefangenen wohl bewusst.

„I never met anybody else in my life, who loved another person more than himself, so much more than himself. Her smile, her happiness, a life shared with her, that was all he dreamt about. And the words he found when he talked about her, when he confessed to her that he had lied and betrayed her, when he told her how much he missed her, how much he regretted everything that hurt her, because of us – he put his head on our block, voluntarily, every day. He let us look into his innermost core, he was an open book for us, and we just sucked it in, everything. He spoke all that from the soul, sometimes until his throat got almost sore, with an intensity in his voice, that made even me shudder - and freeze in awe, seeing the capabilities of our new poison… that faked realitiy so well for him, that made him believe she was with him, stood before him, listened to him. All of these silently murmured words of affection, all of these confessions – he was telling it all to her, but only we heard them. This fear of rejection, the joy and relief when she forgave him, the smile on his lips after every single one of these performances, the pure happiness that he was finally with her, and both of them safe and sound – that was unbelievably real for him. Unbelievably real.

And every time he woke up - and only we were surrounding him, the bitter reality laughed at his face, cruel, loud, and it was such a huge pleasure to watch him finding back into his miserable life… frustration, first, being still half-asleep and dizzy from that poison, still not capable of understanding the state and situation he was in; only realizing, that she wasn’t there, that he’s been just dreaming – then the embarrassment when he realized what he’d told us, that we had heard and seen everything, all of these words not meant for anybody else than her. Then he got angry, hated himself for not being capable of taking more control of himself. He knew that we’d use all this against him. And against anybody else close and dear to him.

And we were feasting on that, each and every time.“
 

Er lachte.
 

„Of course we recorded him on tape. The expression on his face when he heard himself for the first time, and, most important, when he heard himself telling us her name – phenomenal. You should think that we’ve smacked him in the face hard enough to give him a lifelong trauma, that he’d be unable of ever feeling so deeply about someone again, ever allow himself to knit a bond that strong to another person – but she just makes him forget all of his pain. She is both, his doom and highest hope, his weakest spot and his rescuing angel at the same time. But this time – she won’t be there to help him. Gin has her in his hands, and probably she’s dead by noon tomorrow.”
 

McCoy fuhr auf, starrte ihn an.

„What bastards are…“

„Save your breath, until you’ve heard it all, doctor – though, I think, this won’t change your mind, either, rather intensify it. After each frenzy came the crash.“

Er kniff die Lippen zusammen.

„In his clear phases, when he was awake and aware of his state, we questioned him. He never told us anything, didn’t say as much as a word. He had an unbelievable ability of controlling himself, and he pushed back every fear of the pain that awaited him. He was anxious about Ran, about his family, but he hid everyone before he went to meet us – the only thing he couldn’t control was himself when in ecstasy or withdrawal phases. The withdrawal always came with hallucinations that were the complete opposite of the dreams he’d had before. He saw her death, and more – his own fault. Every time, and over and over again. And it pushed him to his limit, it seemed equally real for him – it made his heart race almost to collapse, his blood pressure rose so fast that sometimes the little veins began to burst, you could see the red dots in his eyes…”

Er grinste hämisch.

„The mere thought of her death was almost enough to kill him. That’s frightening, isn’t it? Frightening and impressive alike.“

Anokata wartete McCoys Antwort nicht ab.

„But of course, that wasn’t everything about it. For a real withdrawal, you’ll need the physical symptoms. And these usually kill our delinquents, one after the other… this drug isn’t made to be addicted for a long time. It’s addictive after the first contact, but with every new dose it’s destroying the body more and more. It’s a mystery that he survived. He had a substitution therapy, that’s what I’ve learned. Nice idea.”
 

Langsam wandte er sich seinem Hausherrn zu.

„Now – you for sure want to know the ending, right? Well, we got her and confronted him with his girlfriend. But before we could carry out our plan, we were attacked. And that was when we realized, that the virus had worked differently – the FBI was standing at the gates, and they ripped the premises apart. They arrested everyone who didn’t die in the battle, except – me. And Gin, Vodka, Chianti. Kudô and his friend fled, well hidden in the chaos. But he returned, after bringing her out of the building, that stupid kid…“
 

McCoy schaute ihn an.

„Why that?“

„He wanted to know my true name. My real identity. He doesn’t know it, still.”

Sein Mundwinkel zuckte.

„He gathered the last proof, and then he searched for me, wanted to know who I was. What made me do what I did. What’s fuelling me and my hatred... It was so obvious why he wanted to know that.

The abyss he saw within me abhorred him.

He wanted to understand it, understand me, to be better prepared whenever facing a man like me again… but he didn’t find satisfaction that day. I didn‘t tell him.“

Er lachte leise.

„I started the self-destruction programme of the headquarters, and he wasn’t fool enough to wait until that building flew past his ears. He went to safe himself – and still wasn’t able to rescue himself.”

Der falsche McCoy machte eine Kunstpause.

„Back outside, he ran into Gin’s arms, one of my most faithful members, one of my most cruel murderers. He caught his girlfriend, stabbed her with my most precious belonging, an antique samurai katana, and left her to die in his arms. Kudô believed she did exactly that – die in his arms – as he didn’t know that she survived that blow, until just a few days ago.“
 

Nachdenklich verschränkte er die Arme vor der Brust.

„And now she’s here, at Gin’s mercy – and he’ll put her into a gorgeaus dress, white like a bride’s gown, and he’ll have that drawing this little artist made of her. And then he’ll stage her, into the new set at Globe theatre, in the newly built water basin, together with a nice bouquet of forget-me-not flowers, leaving her there to drown slowly…

And she’ll look like lovely Ophelia, who died because of her madness for a guy, just like in Shakespeare’s play. She’s got to die like her, because Sherlock just like Hamlet wasn’t there, failed to act, failed to be fast enough, to be clever enough… when all started to fall apart in the state of Denmark, like a rotten apple…”
 

Er grinste schäbig.

„And to make sure that our dear Mr. Holmes doesn’t interfere his plans – what he’d do, doubtlessly, if he just could think straight – I made sure he’s going to slumber in his little bed right now, happily dreaming about what never will be real for him, and fearing once more his future – a very black one, I can promise you that one…“
 

Er war zur Tür getreten, langsam, machte das Licht aus – seine Gestalt hob sich nur noch schemenhaft von dem von draußen hereinfallenden Dämmerlicht ab.
 

„Black like the deepest, darkest spot in hell.“
 

Damit fiel die Tür zu.

Und McCoy wusste, er würde sie nie wieder öffnen.

Wenn man ihn nicht zufällig fand, würde er hier unten sterben.
 

Das jedoch war es nicht, was momentan seine Stirn in tiefe Sorgenfalten legte.
 

Sherlock… Moriarty is about to push you over the edge… don’t let him drown you in the falls of Reichenbach…

Don’t…
 

Don’t…!
 

Kapitel 51: Wolfsgeheul

Kapitel 51 – Wolfsgeheul
 

Ihm war schon nicht wohl gewesen, als sie hergefahren waren – er hatte es auf den Stress geschoben.

Die Angst.

Die Sorge.
 

Mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob das wirklich der einzige Grund dafür war, dass in seinem Schädel eine Großbaustelle tobte, in der Presslufthämmer, Bagger und Bohrer ihr Möglichstes taten, um das ganze Ding in Schutt und Asche zu legen.

Und deswegen war es fast absurd, immer noch leugnen zu wollen, dass etwas mit ihm nicht stimmte, als sie, einer stummen Prozession gleich, hintereinander die Stufen im Treppenhaus zu seiner Wohnung hochschritten.

Die Treppen, die er normalerweise im Laufschritt nehmen konnte, ohne, oben angekommen, auch nur ernstzunehmend außer Puste zu sein, schienen heute schier nicht enden zu wollen und ihm jedes Quäntchen Luft aus den Lungen zu pressen.

Shinichi schwankte, griff sich mit der flachen Hand an die Stirn. Feucht und kalt klebte der Schweiß an seinen Fingern, ließ ihn schaudern.

Mühsam konzentrierte er sich, setzte einen Fuß vor den anderen auf die Treppenstufen, hielt sich am Geländer fest und zog sich mehr die Treppen hinauf, als dass er sie ging – bis er danebentrat. Er rutschte mit der Fußsohle über die Stufenkante, glitt ab, hielt sich gerade noch fest. Mit einem Mal war ihm schwindlig geworden, seine Knie waren seltsam weich, fühlten sich an wie mit Gelee gefüllt, das beständig wabbelte anstatt ihn fest auftreten zu lassen. Er griff fester nach dem Geländer, konzentrierte sich darauf, einen Schritt vor den anderen zu setzen und ignorierte den Blick, den ihm Heiji zuwarf.

Der Beinahe-Sturz rüttelte ihn auf, ließ ihn sich zusammenreißen und die Treppe mit mehr Aufmerksamkeit hochgehen – allerdings konnte er nicht verhindern, dass sich ihm eine üble Ahnung aufdrängte, was für seine Kopfschmerzen ursächlich war.
 

Nein.

Nein, das kann ich jetzt nicht brauchen.

Es ist der Stress, ganz sicher.

Die Angst. Die Panik. Der Schock…
 

Oben angekommen sperrte er auf, oder wollte es zumindest, als er erkannte, dass gerade diese simple Tätigkeit etwas zu sein schien, das ihm doch mehr Mühe bereitete, als ihm lieb war. Und hatte sein „Schutzgeleit“ seine Konstitution bisher wegen ihrer eigenen Sorgen nicht bemerkt oder auf seine Angst und Unkonzentriertheit geschoben, so ließ diese Unfähigkeit, das kleine Schlüsselloch zu treffen, nun zumindest einen aufschauen.

Sein Vater stutzte – trat dann neben ihn, schaute ihn musternd an, um schließlich seine Hand zu heben, seine Stirn zu fühlen.
 

„Shinichi.“

Sein Ton klang ernst. Er nahm ihm den Schlüssel aus den zitternden Fingern, schloss die Tür auf – und kriegte seinen Sohn gerade noch an der Schulter zu fassen, der fast mit der Tür, gegen die er sich halb gelehnt hatte, in seine Wohnung gefallen wäre.

Und spätestens jetzt sahen sie es alle.
 

Shinichi war aschfahl ihm Gesicht, seine Augen glasig und blutunterlaufen. Heiji schaute Yusaku fragend an – und half ihm dann, seinen Freund in dessen Schlafzimmer zu führen, da Shinichi zusehends wackeliger auf den Beinen wurde. Er spürte Kazuhas bohrenden Blick im Rücken, wandte sich jedoch nicht um.

Dort angekommen fiel der junge Detective kraftlos aufs Bett, hielt sich leise stöhnend den Kopf. Sein Atem war schleppend geworden, seine Bewegungen kraftlos und langsam.

Yusaku warf einen kurzen Blick nach draußen ins Wohnzimmer, vergewisserte sich, dass ihnen keiner nachkam, den beunruhigten Blick seiner Frau wohl bemerkend und schloss die Tür hinter sich. Er trat an Heiji vorbei, griff den Kopf seines Sohns mit beiden Händen und zwang ihn so, ihn anzusehen.
 

„Shinichi. Du stehst unter…“

Shinichi stöhnte leise auf, verhinderte so, dass er seinen Satz vollendete und wollte sich dem Griff seines Vaters entziehen, hielt sich die Hand vor Augen, weil das Deckenlicht ihn blendete und damit mehr unangenehme Erinnerungen wachrief.

„Du stehst unter Drogen, das merkst du doch. Shinichi, woher hast du…“

Er hörte, wie Heiji hinter ihm überrascht nach Luft schnappte, drehte sich jedoch nicht um, schaute seinem Sohn weiterhin ins Gesicht, der seine Augen schließen und wegdämmern wollte.

„Shinichi! Wie kommt es, dass du…“

„Ich weiß nicht…“, murmelte er heiser, drückte abwehrend die Hände seines Vaters von sich, die ihm unerträglich heiß vorkamen auf seiner Haut, hielt sich die Augen zu, presste seine Handballen gegen seine Augäpfel, bis schwarze Kreise in seinem Blickfeld tanzten.

Yusaku betrachtete seine Finger. Schweiß glitzerte an ihnen. Er beugte sich vor, öffnete ihm die Krawatte und den obersten Hemdknopf sowie die Gürtelschnalle.

„Zieh ihm die Schuhe aus, bitte.“, murmelte er an Heiji gewandt.

„Denken Sie, er hat selbst…?“, fragte der Angsprochene unsicher, als er tat, worum er gebeten worden war. Ihm war mulmig zumute. Er hatte schon Drogensüchtige gesehen, auch welche, die gerade noch unter dem Einfluss des Rauschmittels ihrer Wahl standen, aber zu sehen, wie Shinichi die Kontrolle verlor, ließ ihm den Magen flau werden.
 

Das war etwas anderes.
 

„Nicht wissentlich.“

Yusaku schüttelte den Kopf.

„Glaub mir, das tut man sich nicht freiwillig an, was jetzt kommt. Gerade er nicht, gerade jetzt nicht, wo er doch jede Minute klar denken will, um ihr zu helfen. Jemand hat ihm was untergejubelt… und wenn ich mir das so ansehe, kann es nicht lange her sein. Jemand wollte ihn schachmatt setzen. Genau jetzt.“

„Aber würd‘ er nich‘ merken, wenn man ihn mit ner Nadel piekst…?“

Yusaku lächelte bitter.

„Es muss nicht unbedingt eine Injektion gewesen sein. Orale Aufnahme wäre genauso möglich…“
 

Heiji dachte kurz nach – dann sog er scharf die Luft ein.

Yusaku wandte sich um, schaute ihn alarmiert an, bemerkte den ernsten und erschrockenen Ausdruck in Heijis Gesicht.

„Weißt du, wer ihm was…?“, setzte er an, brach dann ab.

Heiji schluckte.

„Ich weiß, dass er im Yard eine Tasse Kaffee getrunken hat…“
 

Er wurde unterbrochen, als Shinichi sich auf die Seite drehte, seinen Kopf in seinem Kissen vergrub. Er verkrampfte zusehends, sein Atemrhythmus geriet aus dem Takt.

Als Heiji weitersprach, fand er den Faden nicht mehr. Er trat näher, langsam, schaute Shinichi ernst ins Gesicht.

„Was… folgt jetz’? Was passiert mit ihm?“

Yusaku blickte seinem Sohn sorgenvoll ins Gesicht.

„Zunächst der Rausch.“
 

„Nein…“, hörten sie ihn wispern. Er schaute sie aus halbgeöffneten Augen aus dem Augenwinkel heraus an. Unwille und Trotz sprachen aus seinem Blick.

„Nein. Ich kann nicht. Ich will nicht. Ich muss doch… Ran…“

Er wollte sich hochrappeln, kam kaum aus seinen Kissen, sank aufgrund seines Zitterns immer wieder ein, kämpfte sich dann doch von der Matratze hoch – nur um vor dem Bett in die Knie zu gehen. Heiji starrte ihn sprachlos an, merkte, wie es in ihm wühlte und rumorte, seinen Freund in diesem Zustand zu erleben.

Und begriff erst jetzt, wieso diese Droge so fatal war. Wieso sie ihn wirklich völlig wehrlos hatte machen können, als er sich in den Fängen der Organisation befunden hatte.

Selbst, wenn Shinichi noch einigermaßen denken konnte, gehörte er schon nicht mehr sich selbst.
 

Yusaku hingegen blickte seinen Sohn ernst an; in seiner Stimme schwang leises Mitgefühl.

„Du kannst nicht, das weißt du. Jemand wollte dich auf Eis legen und hat es geschafft, Shinichi. Du wirst das jetzt aussitzen müssen…“

Er griff ihn unter der Achsel, während Heiji ihn ungefragt unter der anderen packte, und gemeinsam zogen sie ihn wieder aufs Bett.

Yusaku griff Shinichis Kopf mit beiden Händen, versuchte, seinen Blick zu fangen.

„Wehr dich nicht. Du weißt, es wird schlimmer, wenn du’s tust. Du wirst es ertragen müssen, du kennst das, der Zustand geht vorbei. Es ist nicht genug, um dich umzubringen wie diesen jungen Maler. Es ist genau genug, um dich ein wenig kaltzustellen. Die werden ihre Einladung an dich schon noch aussprechen, mein Sohn, und solange…“

„Aber warum dann…“

Shinichi starrte ihn an, schüttelte den Kopf.

„Du bist zu nah dran, anscheinend.“

„Aber ich weiß doch noch gar nicht… ich weiß, mir soll das alles etwas sagen, muss es, irgendwie, aber ich… ich kann nicht denken, ich…“
 

Shinichi schluckte hart, ließ sich zurücksinken, als es langsam zu viel wurde – das Licht zu hell, das Rauschen seines eigenen Bluts in seinen Ohren zu laut, die Angst um Ran viel zu intensiv.

Er merkte, wie sein Mund unangenehm trocken wurde, seine Sicht sich trübte, und wusste, diesmal würde es nicht so glimpflich ausgehen wie vor zwei Nächten.
 

„… ich seh nicht, was…“
 

Seine Stimme verlor sich. Heiji schauderte, als er sah, wie sich Shinichis Augen verdrehten, als sich sein Bewusstsein verabschiedete, weil das Nervengift die Kontrolle über seinen Geist und seinen Körper übernahm. Er sank gegen die Wand, die Augen auf seinen besten Freund gerichtet, der langsam hinüberzudämmern schien in einen leichten Schlaf und doch, das wusste er, daraus nicht zu wecken war.

„Wie lang dauert das jetz‘?“, fragte er mit leiser Stimme, ganz so, als wolle er den Schlafenden nicht stören. Yusaku, der Shinichis Handgelenk gegriffen hatte und seinen Puls fühlte, wandte sich um, seufzte, als er den jungen Mann aus Osaka an der Wand kleben sah, dessen beunruhigter Blick auf seinem Sohn gerichtet war.

Er war bleich, und das trotz seines braungebrannten Teints.
 

Und erst jetzt wurde ihm langsam gewahr, wie eng die beiden jungen Detektive eigentlich befreundet waren.
 

Und das warst du bereit aufzugeben, Shinichi, weil du mit der Schuld nicht leben konntest, mit der Schande nicht leben konntest… mit den Erinnerungen nicht leben konntest.

Du Dummkopf, du…

Du hättest doch Freunde gehabt, die dir geholfen hätten, selbst wenn dieser Alptraum real gewesen wäre, wie du es so lange glaubtest.

Viel zu lange glaubtest.
 

Er hob zu einer Antwort an, als die Tür aufging. Herein kam Shiho, zu ihrer Überraschung. Sie war verdammt blass und humpelte, auf eine Krücke gestützt, zu seinem Bett. Hinter ihr erschien Akai, fast wie ihr Schatten. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu lesen, wie immer; er blieb an der Tür stehen, schloss sie hinter sich.

Heiji starrte sie an, schluckte dann umständlich, ehe er einen Satz soweit formuliert hatte, um seiner Überraschung Ausdruck zu verleihen.

„Sollt’st du nich‘ im Krankenhaus sein?“

„Nerv mich nicht.“

Sie hatte sich auf die Bettkante gesetzt, ihre Gehhilfe abgelegt und reckte sich nun, um Shinichi die Stirn zu fühlen.

„Nicht so schlimm wie letztes Mal. Wahrscheinlich hat er…“

„Das Gift getrunken.“

Yusaku nickte kurz.

„Davon gehen wir aus. Unter Umständen in einer Tasse Kaffee. Weißt du, von wem er regelmäßig Kaffee bekommt oder wo er ihn sich holt?“

Er wandte sich an Heiji, der langsam seine Position an der Wand verlassen hatte und sich unsicher näherte.

„Meistens kocht ihn die Chefsekretärin. In der Kantine gibt es auch welchen. Entweder er kauft ihn sich da, Jillian bringt ihm einen, oder Jenna holt für alle welchen… ich wüsste nicht, wer sonst…“
 

Er hielt inne, als sie ihn in sein Kissen murmeln hörte, schluckte hart.

Wie er so da lag, eingerollt wie ein Embryo, die Finger in sein Kopfkissen gekrallt, das Gesicht blass und die dunklen Haare, die ihm bereits leicht im Gesicht klebten, als starker Kontrast dazu, ließ vergessen, wie alt er eigentlich war.

Er erinnerte sie so unendlich stark an Conan, hilflos und wehrlos wie ein Kind.

Und genau das war er auch in diesem Moment.

Wehrlos.
 

Und trotz fünfundzwanzig Jahren immer noch sehr jung.

Manchmal vergaß sie das fast; sie hatte so viel erlebt, dass es wohl für drei Leben gereicht hätte, fühlte sich so ungleich viel älter, als sie es war.

Zart strich sie ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht.
 

„Wir sollten ihn allein lassen. Es wird nicht lange dauern und noch nicht viel passieren - und wenigstens einmal sollte er von ihr träumen können, ohne dass er sich hinterher beschämt fragen muss, wie viel er diesmal preisgegeben hat, erzählt hat, was er nie erzählen wollte, oder wenn dann… nur ihr.“
 

Heiji schaute sie an, nickte dann unwillig. Yusaku seufzte leise, ließ seine Hand los, bedachte seinen Sohn mit einem langen Blick, ehe er schließlich aufstand, Shiho die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen. Sie ergriff sie, stemmte sich auf ihre wackeligen Beine, stöhnte kurz auf, wartete, bis sie alle schon nach draußen gegangen waren, indem sie so tat, als müsse sie ihren Verband richten.
 

Schließlich war nur noch Akai mit ihr im Raum, schaute sie unverwandt an.

Und sagte nichts, als sie sich zu Shinichi beugte, ihm einen Kuss auf die schweißnasse Schläfe hauchte.
 

„Genieß es, Shinichi… ich will es nicht hoffen, aber es könnte das letzte Mal sein, dass du…“

Sie brach ab, schluckte hart. Ihre Stimme war rau geworden, ihre Mundwinkel verzogen sich, wenn sie daran dachte – an Ran dachte.
 

… dass du mit ihr glücklich bist…
 

Unwillig schüttelte sie den Kopf.
 

Damit humpelte sie vorbei an Akai, der ihr die Tür aufhielt, und nach einem letzten Blick auf den Schlafenden das Zimmer ebenfalls verließ.
 


 


 

Er war wieder auf der Westminster Bridge.

In seiner Hand spürte er ihre Finger, kühl und zart umfassten sie die seinen.

Leicht war ihr Griff, kaum spürbar und dennoch vermittelte er ihm eine wohltuende Sicherheit.

Sie gehörte zu ihm.

Und er würde sie nie wieder loslassen.
 

Er drückte fester zu, wandte sich um, sah sie an. Sie ließ ihren Blick über die Themse schweifen, ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen, in ihren kornblumenblauen Augen leuchtete die Nachmittagssonne, sprühte Funken auf ihr Haar.
 

Und erst jetzt sah er, was sie trug.
 

In ihrer anderen Hand hielt sie einen Strauß Vergissmeinnicht.
 

Sie wandte sich um, als sie seinen Blick auf sich zu spüren schien, runzelte kurz die Stirn, als sie seinen erstaunten Blick bemerkte, hob die Hand.
 

„Sind sie nicht schön? Gefallen Sie dir nicht?“

Er schluckte.
 

Irgendetwas war an den Blumen, das ihn störte. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm etwas sagen sollten, und er wusste nicht, was.
 

„Woher hast du die? Und warum ausgerechnet…“

„Vergissmeinnicht? Ich fand sie schön.“
 

„Sind deine Lieblingsblumen nicht Wasserlilien? Wie dein Name…“
 

„Shinichi. Was regst du dich auf?“

„Ich…“

Er schluckte.
 

Das hier war anders als sonst. Sie lächelte ihn immer noch an, schien amüsiert zu sein über seine Verwirrung, machte sich fast ein wenig lustig über ihn, dass ihn ein kleines Blumensträußchen so aus dem Takt brachte.

Sie lachte.
 

„Ich dachte mir, ich kaufe Sie für dich. Sie stehen für Treue…“

Sie lächelte immer noch, strich ihm mit einer Hand über die Wange.

„Ich dachte, das passt…“

„Ran, ich…“

Weiter kam er nicht. Ihm blieb die Luft weg, als sie ihn küsste; einfach so, blitzschnell – er schloss die Augen, atmete aus, als sie sich von ihm löste, spürte ihre Stirn an seiner.
 

„Sie stehen für wahre Liebe… für Ehrlichkeit… und für Treue.“
 

Er zuckte zurück, blickte sie erschrocken an.
 

„Mach nicht so ein Gesicht. Ich weiß, was war, ich will nicht darauf herumreiten. Ich will, dass du weißt, was ich mir für die Zukunft wünsche… wie es immer sein soll, zwischen uns…“
 

Sie trat einen Schritt zurück, zog ihre Hand aus seiner. Er griff nach ihr, aber sie schien ihm auszuweichen; seine Hand tastete ins Leere, und auch ihre Stimme wurde immer leiser, als sie nun sprach.
 

„Keine Lügen mehr, Shinichi.“
 

Sie schien im Sonnenlicht zu flackern wie eine Fata morgana. Er wischte sich über die Augen, dachte, die Sonne spiele seinen Augen einen Streich, aber nichts half.

Ran schien sich aufzulösen.

Panik stieg in ihm hoch. Er wollte nicht, dass sie ging.
 

„Ran? Ran, was…“

„Ich muss jetzt gehen…“

Ihre Stimme verlor sich, ihre Worte weggetragen von der Brise, die die Themse über die Brücke trieb.
 

„Warum? Wann…“
 

… sehen wir uns wieder?
 

„Bald. Sobald du kommst.“

„Kommen? Wohin? Bleib doch – bleib doch einfach hier…!“
 

Er fing an zu laufen, als sie sich zu entfernen schien.

„Ran, hörst du? Wohin…?
 

„Komm bald, bitte…“
 

Er blinzelte, weil ihn die Sonne blendete – und als er wieder hinsah, war sie weg.

Nur das Sträußchen Vergissmeinnicht lag auf dem Boden.
 

Shinichi ging hin, hob es auf. Das ungute Gefühl, das die ganze Zeit schon in seiner Magengrube etwas rumort hatte, bemächtigte sich seiner nun mit ganzer Macht.
 

Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung.

Und diese Vergissmeinnicht sollten ihm viel mehr sagen – als einfach nur eine Warnung zu sein, vergangene Fehler nicht zu wiederholen.
 

Er sah sie an, gedankenverloren, fühlte den Wind in seinen Haaren, hörte das leise Plätschern der Themse…
 


 

… und schnappte hektisch nach Luft.

Er fuhr hoch, schaute verwirrt um sich, brauchte einen Moment, um einzuordnen, wo er war. In seinem Bett, in seinem Zimmer. Ohne Vergissmeinnicht. Und ohne Ran.
 

Die Gegenwart holte ihn ein, schmetterte ihn nieder.

Shinichi ließ sich langsam zurücksinken, hielt sich die Stirn, hinter der immer noch eine mittelmäßig begabte Teenie-Band mit Schlagzeug und Bassisten für ihren Durchbruch zu proben schien.
 

Dann atmete er durch, schwang die Beine über die Bettkante und kämpfte das einsetzende Schwindelgefühl vehement nieder.
 

Vergissmeinnicht.

Die hatten auch etwas mit dieser Shakespeare-Sache zu tun, mit Hamlet und Ophelia.

Und er zweifelte nicht daran, dass, wenn sie Ran nicht rechtzeitig fanden, diese Blumen um sie herum arrangiert sein würden.
 

Er stöhnte auf.
 

Ich brauche meine Notizen. Vielleicht kann ich Jenna so helfen, Ran zu finden. Ich muss das Rätsel um diese Blumen lösen.

Und ich muss mich beeilen – bevor mich Phase zwei schachmatt setzt.
 

Heiji war neben Kazuha aufs Sofa gesunken, ließ es zu, dass Kazuha sich an ihn schmiegte, legte fast automatisch seinen Arm um ihre Taille, griff nach ihren Fingern und drückte sie. Ihm ging das Bild von Shinichi, der auf allen Vieren auf dem Boden kniete, unfähig, sich auf den Beinen zu halten, und das eine knappe Stunde, nachdem er das Zeug getrunken hatte, nicht aus dem Kopf.

Wie hatte es ihm gehen müssen, als man ihm das Zeug intravenös verabreicht hatte?

Wahrscheinlich hatte es seine Wirkung ungleich schneller entfaltet – und ungleich intensiver.

Er hatte nie den Hauch einer Chance gehabt.
 

Nie.
 

Heiji schluckte hart.
 

„Was wollten die da drin mit ihm? Warum dieses Zeug? Hätten die nich…?“

Langsam hob er den Kopf. Shiho schluckte, rieb sich die Schläfen.

„Du weißt doch, wie se mit ihren Gefangenen umgehen, also sag schon was…?“

„Heiji…“

Yukiko schluckte.

„Heiji, lass gut sein…“

Der junge Osakaner rieb sich über die Augen, schüttelte den Kopf.

„Und wie kanns überhaupt sein, dass die dieses Gegengift hatten und du nich? Hätt er… wäre er von Anfang an er selbst gewesen, dann…“

Shiho seufzte leise, schaute den jungen Polizisten sachlich an, ehe sich ihre Lippen zum dünnsten Lächeln verzogen, das die Welt je gesehen hatte.

„Ich war zwar eine der Besten, aber nicht die einzig helle Glühbirne da drin. Die forschten ja weiter an dem Zeug. Und ihnen ist aufgefallen, dass es Anomalien gab. Alles was sie nicht wussten, war, dass diese Anomalien auch an ihren Opfern schon aufgetreten waren. Sie entwickelten ein Gegengift und basta… da drinnen haben die alle Ressourcen, personelle wie materielle. Alles das, was ich hier leider nicht hatte…“

Sie schluckte.

„Du weißt, was er getan hat. Er wurde gewarnt von Vermouth, dass ein neuer Angriff bevorstand. Dass meine und seine Tarnung aufgeflogen war, was konkret hieß, dass sie mich mitgenommen und ihn hier einfach erschossen hätten. Er war nicht wichtig, war er nie, und das wusste er genau. Und genau da sah er Handlungsbedarf. Wollte er nicht gleich sterben, musste er interessant werden – und wollte er nicht, dass alle anderen starben, musste er sie schützen. Also kontaktierte er das FBI, schaffte alle außer Reichweite des Detonationsradiusses der Bombe, die er zu werfen gedachte, und zog die Aufmerksamkeit mit diesem Video auf sich. Deshalb holten sie sich ihn. Der Boss ist… ein neugieriger Mensch. Es tat nichts zur Sache, ob er es als Shinichi oder Conan tat.“

Erschöpft seufzte sie, griff dankbar nach dem Glas Saft, dass Sonoko ihr reichte.
 

„Was sie mit ihm da drin machten, geschah nicht aus irgendeinem Zweck. Es diente nicht der Forschung, weder am APTX oder am HLZG. Sie wollten ihn verhören. Ja, sicherlich auch Rache üben. Aber… letzten Endes machte es ihnen wohl auch einfach Spaß.“

Sie nippte an ihrem Saft, drehte das Glas unsicher in ihren Fingern, starrte bedrückt hinein. Sonoko war blass geworden – sie, als eine der wenigen neben Kazuha, kannte die Geschichte um die Organisation nicht in dieser Ausführlichkeit.

„Das heißt, Ran ist in den Fängen von…“
 

„Von Menschen ohne Skrupel und Gewissen, die ihm einfach nur weh tun wollen. Richtig.“
 

Akai schaute sie an – wer es wollte, mochte in seinen Augen so etwas wie Sorge lesen; an und für sich war sein Gesicht sachlich wie immer, verriet kaum eine emotionale Regung. Als er nun allerdings sprach, schauten sie ihn alle an. Seine Stimme klang scharf, jedoch nicht aggressiv, in seine Augen war ein entschlossener Blick getreten.

„Sie wussten und wissen genau, er wollte nur rein in ihr Hauptquartier. Und sie wussten auch, er würde, wenn er drin wäre, versuchen, wie ein Geschwür die Organisation von innen zu zerstören, mit welchem Mittel auch immer das FBI – also wir – ihn ausgestattet hatte. Dass es ein Trojaner war, der Itakuras Verschlüsselungs-Software knackte, ahnten sie allerdings nicht.“

Er lächelte dünn.

„Ich habe es euch bereits gesagt. Sowohl er als auch wir wussten, ungeschoren würde er nicht davonkommen, das war… einkalkuliert. Von dieser Droge hatten wir allerdings keine Ahnung.“
 

„Was wohl auch besser so war.“
 

Shinichis Stimme klang heiser, und er sah unendlich müde aus. Langsam schlurfte er an den Tisch, griff sich ein sauberes Glas und eine Wasserflasche, die dort standen, schenkte sich ein und trank ein paar Schlucke, versuchte, dabei nicht die Hälfte zu verschütten. Seine Hände zitterten stark und er fühlte sich wie nach einem Dauerlauf, aber er wollte, dass die anderen so wenig wie möglich davon mitbekamen. Und so stellte er das Glas konzentriert und so ruhig wie möglich ab und wischte sich mit beiden Händen über sein Gesicht, um wach zu werden.

„Ihr solltet das Thema wechseln. Wissen wir schon etwas Neues?“

Er wartete die Antwort nicht ab – der bedrückte Blick aus den Augen der Anwesenden sagte ihm alles.

„Also nicht.“

Er atmete aus, langsam, erinnerte sich dann, weshalb er eigentlich gekommen war und sah sich um, ging zum Wandregal, wo er seine Notizen zu laufenden Fällen für gewöhnlich ablegte und suchte nach den Aufzeichungen, die er zu den Blumen schon gemacht hatte.
 

„Du warst auch nicht lange weg. Zehn Minuten vielleicht. Sag mal, was suchst du? Solltest du dich nicht lieber hinsetzen, du siehst aus, als ob du gleich umfallen würdest…“
 

Shiho schaute ihn stirnrunzelnd an, während Heiji aufstand.
 

„Hast du eine Idee?“

„Ich bin mir nicht sicher.“, murmelte Shinichi, während er den nächsten Packen an Blättern herauszog und mit unsicheren Fingern durchblätterte. Die Porträtfotos der jungen Frauen fielen ihm in die Hände; er runzelte die Stirn, klemmte sie sich fahrig unter den Arm, zog weiter Akten aus dem Schrank und ließ sie achtlos zu Boden fallen, wenn sie das Gesuchte nicht enthielten.

„Ich denke, vielleicht sagen uns die Blumen, wo wir sie suchen sollten. Bisher passten sie zu jedem der Mädchen. Für Ran… blieben Veilchen übrig.“

Er drehte sich um, fand den Blick seines Vaters, schluckte.

„Treue, Ehrlichkeit, wahre Liebe. Wie… makaber. Es passt zu gut.“

Yusaku nickte langsam.

„Gut, setz dich, wir kriegen das auch ohne deine Aufzeichnungen hin. Komm.“

Shinichi zögerte kurz, ließ dann ab von seinen Ordnern und kehrte an den Tisch zurück, ließ sich auf den Stuhl sinken, den sein Vater ihm zurechtrückte.

Sitzen tat gut; und so atmete er durch, sortierte die Fotos auf den Tisch. Heiji zückte sein Notizbuch, Yusaku sein Smartphone.

„Was war das erste?“
 

„Stiefmütterchen für Ayako.“, murmelte Shinichi, tippte auf das Bild, das Ayako’s Ölgemälde zeigte.

„Man fand sie im Park. Stiefmütterchen stehen für Einheit, und für das Gedenken, die Erinnerung. Außerdem sind Stiefmütterchen die Wappenblume Osakas.“

Heiji nickte kurz.

„Wie passt das zu Ayako? Bis auf das mit der Wappenblume, meine ich.“

„Sie sah… Ran so ähnlich.“
 

Sonoko war blass geworden, als sie das sagte. Sie starrte blass auf Ayakos Porträt, das Shinichi auf den Tisch gelegt hatte.

Kogorô nickte.

„Ich glaube, es ist klar, wem das galt und wie es zu deuten ist. Du hattest von Anfang an Recht zu vermuten, dass sie dahinterstecken.“

Er warf Shinichi einen ernsten Blick zu.

„Eure Einheit, dein Gedenken an Ran, die du für tot hieltst. Und sie bis zu diesem Zeitpunkt auch noch. Wirklich clever.“

Shinichi runzelte die Stirn, sparte sich einen Kommentar, zog stattdessen das zweite Bild hervor.

„Das… war Erin. Für sie gab es Rosmarin.

Fenchel für Juniper Torres.“
 

Er legte die beiden Bilder auf die Tischplatte.

„Rosmarin, Champagnergondel. Liebe, Romantik. Die beiden haben sich in der Champagnergondel sogar verlobt. Fenchel steht für Eitelkeit, Schmeichelei. Sie war ein Model, gefunden wurde sie bei Madame Toussauds.“
 

Er seufzte, legte eine Fotographie eines Tatorts dazu.

„Meredith. Eduard Bradys Freundin, mit Gänseblümchen. Sie stehen für Unschuld und ein gebrochenes, enttäuschtes Herz – überaus passend für Meredith, die von Eduards Machenschaften nichts wusste und nun am Ende den Tod ihres Freundes betrauern muss. Gefunden im Sherlock Holmes Museum.“
 

Shinichi warf einen Blick in die Runde.

„Die Blumen scheinen passend zu den Mädchen gewählt worden zu sein. Die Tatorte, oder besser gesagt, Ablageorte, halte ich für völlig willkürlich; Orte, die von Touristen frequentiert werden, damit die Leichen bald gefunden werden, das ist alles.“
 

Er strich sich durch die Haare.

„Aber warum diese Parallelen zu Hamlet? Wie bringt uns das zu Ran?“
 


 


 

Jenna lief mit den anderen durch die Gasse. Adrenalien pumpte durch ihre Adern, Angst und Anspannung schärften ihren Blick genauso wie ihr Denken.

Sie hatten mit Blaulicht und Sirenen den Weg hierher gemacht, und nun war sie mit ein paar Einheiten Scotland Yards dabei, den Apple Market zu filzen; bislang allerdings erfolglos.

Sie hasteten von Stand zu Stand, zeigten den Verkäufern die Phantombilder von Gin und Chianti, die sie noch schnell vom Phantombildzeichner des Yards nach Shinichis Beschreibungen hatten machen lassen; bisher jedoch konnte ihnen kaum jemand Auskunft geben.

Jenna blieb stehen, seufzte laut. Es war ihr ein Rätsel; die beiden sahen nicht eben so aus, als wären sie ein Pärchen, das sich nahtlos in die Menge eingliederte, zumindest auf den ersten Blick nicht. Als sie jedoch ihren Blick durch die teilweise durchaus illustre und in jedem Fall immer sehr heterogene Schar der Leute warf, die sich hier bewegten, konnte sie sich ihren Misserfolg bisher doch durchaus erklären.
 

We’re a melting pot.

And the Apple Market, similar to Camden Lock Market, is a very popular spot for tourists from all over the world.
 

And then – no one can guarantee that they run around with their long black cloaks like just having escaped the latest Matrix Movie. When they dress up like normal strangers, nobody will notice them.

You didn’t realize him as one of them back when you met him, Jenna. As Sher- ahm, Shinichi pointed out, that lawyer probably was Gin.
 

Screw it.
 

Sie verdrehte die Augen, winkte einen der Sergeants zu sich, als sie in das nächste Gebäude gehen wollte; es schien leer zu stehen, und aus Gründen der Sicherheit betrat sie es vorschriftsgemäß nicht allein.

Sie näherte sich der Tür mit gezogener Dienstwaffe, griff nach der Klinke, merkte, wie Anspannung sie ergriff.
 

Sie drückte das kalte Eisen des Griffs nach unten, stieß die Tür auf, ohne hineinzugehen, wartete mit angehaltenem Atem; als kein Laut nach außen drang, trat sie mit vorgehaltener Waffe ein.
 

Dunstig strömte das Licht durch die verstaubten Fenster.
 

In der Mitte des Raums stand ein einziger Tisch.
 

Auf ihm, mittig, ein Bilderrahmen mit einer Zeichnung.
 

Zu sehen war ein Mädchen.
 

Ran.
 

Jenna hielt die Luft an.
 

Und vor der Staffelei, auf dem Boden, lag eine junge Frau, reglos.
 

No!
 


 


 

Er ging, als es anfing, und hoffte, keiner bemerkte es, dass er sich vom Acker machte, und warum.
 

Vor allem, warum.
 

Sie alle diskutierten wild, worauf die Bezüge zu Hamlet hinweisen könnten, der Tonfall war angespannt, die Wortfetzen flogen, genauso wie Duzende von Post-its, auf die man hastig Hinweise und Ideen kritzelte und auf den Tisch klebte - und so fiel es kaum auf, als er ohne Hast aufstand. Mit so festem Schritt, wie er zustande brachte, wankte er ins Badezimmer – und schloss hinter sich die Tür ab. Er drehte das Wasser der Badewanne auf, ließ es kalt laufen – er wusste, er würde nicht lange genug stehen können, um etwas vom kühlen Nass aus dem Waschbecken zu haben, und so hatten sie sich schon damals in LA dieser Methode bedient. Er sank erschöpft gegen die Wannenwand, halb hinübergebeugt, ließ einen Arm hineinhängen um sich den Puls zu kühlen – auch wenn es nur wenig war, ein bisschen half es.
 

Er spürte die ersten Anzeichen, er kannte sich genug, um das zu merken - und er wollte nicht, dass irgendjemand auch nur ansatzweise mitbekam, wie es aussah, wenn das Grauen ihn packte und mit sich riss in diesen schwarzen Ozean voll Schmerz und Verzweiflung, in dem er jedes Mal, ausnahmslos jedes Mal qualvoll ertrank.
 

Das soll keiner sehen.

Keiner hören.
 

Einmal nur, bitte.
 

Sein Kopf sank langsam auf den Wannenrand, als er müde und flach atmend in sein Spiegelbild schaute, das ihn verzerrt und Wellen schlagend entgegenblickte. Noch berührten kaum seine Finger das Wasser, nur der Wasserstrahl rann seinen Unterarm entlang – er wünschte, es würde ein wenig schneller einlaufen, als er unmotiviert darin platschte.

Er keuchte, sog scharf die Luft zwischen die Zähne, presste im Anschluss die Lippen aufeinander, biss die Zähne zusammen, so fest, dass sein Kiefermuskel schmerzte, als sie anfingen, die Schmerzen – doch noch war es erträglich. Er ließ die Stirn gegen den kühlen Wannenrand sinken, die andere Hand in sein Hemd gekrallt, atmete stoßweiße, konzentriert, versuchte, die Kontrolle zu behalten, solange es ging.

Solange er sich bewusstmachen konnte, dass es nur Schmerzen waren, die vorübergingen, hatte er noch kein Problem. Er versuchte sich aufs Luftholen zu fokussieren, so wie man es ihm beigebracht hatte – er hatte damals gelacht und sich zunächst geweigert, Schmerzen wegatmen, das machten doch nur Schwangere – aber es wirkte.
 

Der Geist war Herr über das Fleisch, solange der Geist noch der Herr über sich selbst war.
 

Er wusste, auch das würde sich ändern.
 

Dann hörte er Schritte, die sich näherten, eilig, aber dennoch schwer- zu schwer, um einer Frau zu gehören. Und er ahnte, dass es sein Vater war. Im nächsten Moment konnte er der Türklinge dabei zusehen, wie sie scheinbar von Geisterhand bewegt, rauf- und runtersprang, zuerst einmal tastend – um dann immer hektischer zu werden, als sich die Tür nicht öffnen ließ.

Aber sein Vater wäre nicht sein Vater, würde er jetzt die Nerven verlieren. Er hörte ein gepresstes Schnauben, ein tiefes Luftholen, und dann die sehr ruhige, dunkle Stimme Yusaku Kudôs.
 

„Shinichi. Wenn du mich hörst, mach die Tür auf.“

Yusaku schluckte.
 

Shinichi schloss die Augen, schluckte schwer. Hitze stieg ihm in den Kopf, immer mehr, ließ sein Gesicht leicht feucht glänzen, als der Schweiß in winzigen Tröpfchen aus seinen Poren drang, mit der Absicht, im ein wenig Linderung zu verschaffen.

Dass das zwecklos war, wusste er. Sein Körper jedoch schien während all der Zeit, in der er sich mit dieser Substanz auseinanderzusetzen hatte, nichts dazugelernt zu haben.

Er rieb sich über die Nasenwurzel, fühlte den feuchten Film, sah ihn auf seinen Fingern glitzern, als er sie vor seine Augen hob.

Und er sah auch, wie sie zitterten.
 

„Daraus wird nichts, fürchte ich.“, erwiderte er leise. Seine Stimme klang heiser, und er merkte, wie ihm langsam die Sinne schwanden, ihm schwummrig und wattig im Kopf wurde. Yusaku ließ seine Stirn gegen die Tür sinken.

„Du Dummkopf.“

„Ach hör doch auf, Vater.“

Shinichi schnappte nach Luft, unterdrückt, kniff die Augen zusammen, als ihn der Schmerz aufs Neue packte, sich offenbar einen Spaß draus machte, ihm kurz alles Blut aus seinem Herz zu drücken, seinen Brustkorb eisern zu umklammern, um ihm so weder das Atmen noch einen Puls zu erlauben, ehe er ihn wieder losließ, ihn wie welk zusammensinken ließ. Shinichis Kopf sank nach hinten gegen den Badewannenrand, nachdem er seine mittlerweile ziemlich kalte Hand aus dem Wasser zog, sich damit übers Gesicht strich.
 

Der Punkt, wo das auch nichts mehr half, würde bald erreicht sein.
 

Er atmete schnell und heftig, biss die Zähne zusammen. Hinter ihm rann das Wasser mittlerweile fast lautlos in die Wanne – der Hahn war breit und sanft geschwungen, erlaubte einen relativ geräuscharmen Wasserzulauf, sobald etwas mehr in der Wanne war. Kurz lauschte er dem beruhigenden Raunen des Wassers, bis er sich wieder fasste.
 

„Tu mir einen Gefallen und geh einfach von der Tür weg.“, presste er hervor.

„Und wo du schon dabei bist, mach die Tür zum Wohnzimmer hinter dir –…“, er schluckte hart, „zu. Und pass auf, dass keiner rauskommt. Ich komm dann schon…“

Er brach ab, als es zuviel wurde. Yusaku stand draußen vor der Tür, die Handflächen flach ans Holz gepresst, die Stirn dagegen gelehnt – und hörte ihn.

Und er wusste, er versuchte mit aller Macht, leise zu sein, sie nicht hören zu lassen, wie weh das tat, sie nicht das spüren zu lassen, was er spürte.
 

Er fühlte eine Hand, die sich um seinen Ellenbogen legte, eine zweite Hand, die seinen Unterarm umgriff und roch Yukikos Parfum. Sie schaute ängstlich zu ihm hoch – und versuchte doch gerade diese Angst nicht zu zeigen.
 

„… nach, wenns vorbei ist. Ihr kennt das doch…“

Shinichi seufzte müde. Er fühlte, wie etwas seine Gedanken aufzufressen begann, sein Bewusstsein aufsog wie ein schwarzes Loch und ahnte, dass der Moment nahe war, wo er nicht mehr Herr über sein Denken sein würde – und er wünschte sich nichts mehr, als dass es einmal nur keiner hörte.

Heiß strich sein Atem über seine Lippen, als ihm langsam immer schwindeliger wurde. Kraftlos ließ er sich zur Seite sinken, lag halb auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, legte sich seinen immer noch kühlen Handrücken auf die Stirn, hielt sich mit der anderen Hand den Mund zu, um seinen Schrei zu dämpfen, als es anfing – als alles ruhige Atmen nichts mehr half, alles sich Einreden, dass das alles nicht echt wäre und vorüberging –

denn alles, was jetzt zählte, war das Jetzt, und es war furchtbar.

Er fühlte, wie etwas seine Gedanken niedermähte wie eine Asphaltierwalze, jeden aufkommenden Satz vertilgte, jeden Versuch seines Hirns zunichtemachte, Kontrolle zu behalten, zumindest ein kleines Bisschen. Er rang mit sich, wollte die Herrschaft über sich nicht abgeben, zumindest ein kleines Bisschen selbst behalten, damit es nicht ganz so schlimm würde, nicht ganz so… real… wenn nur eine kleine Stimme blieb, die ihm einflüsterte, dass er nur träumte, dass der Traum ein Ende finden würde und diese Qualen auch.

Doch diese feine Stimme hatte keine Chance.

Seine Sicht verschwamm, sein Badezimmer löste sich auf in schwarze Flecken, sein Orientierungssinn verabschiedete sich und alles, was blieb, war…

Dunkelheit.

Seine Lippen verzogen sich zu einem bizarren Versuch eines sarkastischen Lächelns, als er fast spürte, wie die Droge ihn ausknipste.
 

>And action…<
 

Eng schien es, dicht und schwer, die Materie um ihn herum. Es schien keine Luft zu sein, was ihn schlagartig panisch werden ließ – und als er versuchte, nur versuchte, Luft zu holen, schrie in ihm etwas auf.
 

>Wasser!<
 

Er war unter Wasser.

Shinichi riss die Augen auf, griff sich an Mund und Nase, hielt sie sich mit beiden Händen zu, versuchte mit seinen Blicken durch die Dunkelheit zu dringen, die Oberfläche zu finden, trat Wasser, um nicht weiter zu sinken und konnte doch nicht sagen, ob er nicht gerade weiter nach unten schwamm.
 

Es sah überall gleich aus.
 

Das Wasser umhüllte ihn, schien ihm aktiv die Luft zum Atmen und alles an Wärme, was sein Körper hergab, nehmen zu wollen, lähmte seine Bewegungen immer mehr, zog an seinen vollgesogenen Klamotten, wollte ihn hinunterzerren – tief hinunter, in bodenlose, undurchdringliche, schwarze Kälte.
 

Er fühlte, wie sein Körper kämpfte. Sein Brustkorb verkrampfte, als der Sauerstoff knapper wurde und er immer noch die Luft anhielt, sich das Atmen nicht erlaubte, weil auch nur ein Zug gereicht hätte, um ihm die Lichter für immer auszublasen. Seine Finger wurden taub, seine Oberschenkel brannten, als sie gegen den Widerstand des Wassers ankämpften – und gegen sein eigenes Gewicht.

Eins ums andere Mal hob er seine Arme, griff wieder nichts als Wasser, sah nichts als Wasser, und hörte nichts außer sein eigenes Blut in seinen Ohren rauschen.
 

Vor seinen Augen flimmerte es, seine Lungen schrien ihn förmlich an, sie doch endlich das tun zu lassen, wozu sie da wären – er öffnete den Mund zu einem qualvollen Schrei, als er kapitulieren musste, einsehen musste, dass er keine Chance hatte, er war zu tief, das Wasser –
 

Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht, plötzlich. Laut drang sein eigenes Keuchen an sein Ohr, als er schwer atmend nach Luft schnappte, mit seinen müden Armen im Wasser platschte und vom Wellengang immer wieder unter Wasser gedrückt wurde.
 

Dann endlich, hatte sich sein Körper soweit beruhigt, dass er wahrnahm, wo er war, gezielter Schwimmbewegungen machen konnte, den Wellen auswich oder zusah, den Kopf über Wasser zu halten.
 

Über seinem Kopf glitzerten die Lichter der Stadt.
 

Vor ihm lag eine Kaimauer. Dahinter konnte er den runden Bau des Globe Theatres ausmachen.
 

> Ich schwimme also in der Themse. Oder ertrinke in ihr, wenn ich nicht bald zusehe, dass ich hier rauskomme. <
 

Und gerade als er zu der rostigen Leiter schwimmen wollte, die an dieser Stelle ins Wasser führte, bemerkte er sie.
 

Vergissmeinnicht.
 

Er schluckte, merkte, wie Kälte ihm erneut in die Glieder fuhr – eine andere Art von Kälte, diesmal.
 

Nackte Angst.
 

Er sah um sich, sein Atem in kleinen, weißen Wolken vor seinem Gesicht.
 

Vergissmeinnicht, überall. Tanzend auf den Wellen, tausende davon.
 

Deshalb hatte er auch nicht gesehen, wo oben und unten war. Sie bedeckten den Fluss wie ein Teppich, das Mondlicht drang kaum durch.
 

Bis auf eine Stelle.
 

Etwas Weißes schien auf dem Wasser zu liegen.
 

Shinichi schluckte, riss sich zusammen, begann, durch das Meer aus Vergissmeinnicht zu pflügen, hin zu der Stelle.
 

Als er endlich dort ankam, erkannte er, was dort trieb.
 

Es war ein Stück Stoff.
 

Seide, reinweiß.
 

Aufreizend langsam stellten sich seine Nackenhaare auf. Die Angst, die er vorhin gespürt hatte, wandelte sich in blanke Panik um, ließ ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er holte Luft, tauchte ab, riss die Augen unter Wasser auf.
 

Und was er sah, ließ ihn völlig vergessen, wo er sich befand.
 

Unter ihm trieb, schön wie ein Engel, Ran, in einem weißen Kleid.
 

Sie sah ihn an.
 

> Ran! <
 

Und er schnappte nach Luft für einen Schrei, der ihm nie über die Lippen kommen sollte.

Wasser strömte dorthin, wo nie welches sein sollte, und sein Körper versagte den Dienst aufgrund dieses für ihn unvereinbaren Zustands – in eine menschliche Lunge gehörte kein Wasser.
 

Es fühlte sich an wie ein Blitzschlag, auch wenn er nie vom Blitz getroffen worden war – Schmerz, unbeschreiblich qualvoll fühlte sich das an, er würgte, versuchte zu husten, aber es gab kein Entrinnen…
 

Und dann war alles schwarz.
 

Endlich.
 


 

Und er schrie. Griff sich an die Brust, schnappte nach Luft, qualvoll, hörte, wie draußen Tumult herrschte – er rutschte aus, als er aufstehen wollte, die Wanne war übergelaufen, hatte ihn stellenweise durchnässt.

Er fing sich ab am Wannenrand, stellte den Hahn ab, als hinter ihm die Tür gegen die Wand krachte.
 

Er sank zu Boden, einfach so, unfähig, etwas zu sagen.

Wohl hörte Shinichi ihre Stimmen, aber verstand doch nicht ein einziges Wort. Er fühlte, wie man ihn hochzog, nach draußen brachte und im Wohnzimmer auf das Sofa legte, jemand hatte eine Decke geholt, ein anderer ein Handtuch, jemand anderes zog an seinem nassen Hemd – und erst jetzt fing er an, sich zu wehren.
 

„Lasst das…“, murmelte er langsam.

„Sag mal wollteste dich ersäufen, Kudô?“, fragte Heiji ungehalten.

Sorge stand ihm quer übers Gesicht geschrieben, Anspannung sprach aus jeder Faser seines Körpers. Yukiko hatte sich neben ihm gesetzt, auf der anderen Seite saß Shiho, sah ihn unergründlich an, wagte nicht, ihn anzusprechen oder anzufassen.
 

Sie alle hatten diesen Schrei gehört.
 

Shinichi hob die Hand, brachte ihn zum Schweigen. Setzte sich auf und stützte die Ellenbogen auf die Knie, seinen Kopf in seine Hände, und versuchte, das Chaos in seinen Gedanken zu ordnen.
 

Er wusste, er hatte gesehen, was folgte, wenn er versagte.
 

Und die Zeit lief ihm davon.
 

Shinichi schluckte, keuchte, versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, starrte auf das Wasser, das aus seinen Haaren tropfte und sich in kleinen Pfützen zu seinen Füßen sammelte.

Der Traum von gerade eben stand in Fetzen vor seinen Augen, sein Herz raste immer noch – das Bild von ihr, schwerelos im Wasser schwebend, ging ihm nicht aus dem Kopf.
 

Wunderschön und tot.
 

Treibend, im Wasser der Themse, umgeben von Vergissmeinnicht, vor dem Globe Theater.
 

Als ihn die Erkenntnis traf, fühlte es sich wie eine zweite, eiskalte Dusche an.
 

Er fragte sich, wie lange er so blind hatte sein können. Er stürzte fast vom Sofa, als er aufsprang, in den Flur stolperte, die Taschen seines Sakkos auf links stülpte.

Und fand, was er suchte.
 

Ein kleines, bedrucktes Stück Papier.

Eine Eintrittskarte.
 

Shakespeare’s Hamlet

Globe Theatre

May 4th, 2017

6 pm
 

Heute. Das ist heute!
 

Hastig steckte er die Karte weg, als er Schritte hinter sich hörte.
 

„Was ist das?“

Heijis Stimme durchbrach die Stille.

„Nichts.“

Schnell kam ihm das Wort über die Lippen – zu schnell, das wussten sie beide.

„Shinichi…“
 

Heiji verschränkte die Arme vor der Brust. Hinter ihm betrat Akai den kleinen Flur. Shinichi verdrehte die Augen seuzfte.
 

„Eine Karte. Meine… Einladungskarte.“
 

Shinichi schluckte, zog die Karte hervor.

„Hamlet. Heute, im Globe. Um sechs.“
 

Er zog die Hand zurück, als Heiji danach schnappte.

„Vergiss es.“
 

Er quetschte sich an den beiden vorbei zurück ins Wohnzimmer, stiefelte in sein Schlafzimmer, die fragenden Blicke ignorierend.

„Ich zieh mir jetzt erst mal was Trockenes an, wenn’s recht ist.“
 

Als er zurückkam, wartete scheinbar die spanische Inquisition auf ihn.

Heiji und Akai hatten, erwartungsgemäß, den Rest der Truppe eingeweiht.
 

„Shinichi, was soll das?“

Die Stimme seines Vaters klang scharf.

„Was wolltest du? Allein…“

„Ganz recht.“
 

Shinichi setzte sich.

„Nunja, nicht ganz allein, vielleicht. Es sollte aber auf jeden Fall so aussehen, als wäre ich da allein, denn ehrlich, welchen Sinn…“

Er warf Akai einen Blick zu, der alles sagte. Jodie beobachtete sie beide, seufzte.

„Right. Ich verstehe ja, dass du sie in dem Glauben lassen willst, du wärst allein und harmlos. Was du im Moment leider auch bist.“

„Danke für Backobst.“

Shinichis Stimme troff vor Sarkasmus.

„Ernsthaft. Keiner weiß das besser als ich. Aber die Karte ist für eine Person bestimmt, für mich. Ich fand sie im Loft. Wusste nicht, welche Bedeutung sie hat. Es ist eine Eintrittskarte für Hamlet, heute um sechs Uhr Abends. Globe Theatre.“
 

Er schluckte.

„Ich nehme an, sie wird dort sein. Aber ich weiß nicht, wer die Karte dort für mich versteckt hat. Es könnte Brady gewesen sein, oder Gin. Oder auch Bourbon. Freund oder Feind.“
 

Seine Augen wanderten starrten blicklos auf die Karte.
 

„Um ehrlich zu sein, glaube ich fast, dass es nicht Gin war. Ich denke, er will kein Risiko eingehen. Ich hätte sie… wohl hinterher finden dürfen.“

Er hob den Blick.
 

„Tot. Wie Ophelia.“

Er schluckte hart.

„So sah ich sie. In der Themse. Wie… wie Hamlets Ophelia. Ertrunken…“
 

… und ich ertrank mit ihr.
 

“Ich nehme aber nicht an, dass… er die Themse meint.“

Yusakus Stimme klang ruhig.

„Allein schon deswegen nicht, weil sie wohl abgetrieben werden würde, er würde nicht riskieren wollen, dass du sie nicht siehst. Es muss etwas anderes gemeint sein. Vielleicht sollten wir hingehen…“
 

„Es ist erst kurz nach vier.“

Shuichis Stimme ließ sie aufhorchen.

„Ich denke nicht, dass er sie früher dort ablegt. Ich denke, er will die große Show. Du bist schließlich eingeladen worden.“

Kogorô merkte, wie in ihm Ärger hochkochte.

„Na hören Sie mal, ich will nicht warten, bis er sie da halbtot oder tot ablegt! Wir reden hier von…“

„Er wird sie nicht wieder mit dem Schwert verletzen.“
 

Shiho’s leise Stimme unterbrach ihn mühelos.

„Nicht wahr? Shinichi?“
 

Shinichi seufzte leise.

„Nein. Wird er nicht.“
 

Er sah auf.

„Sie hat das schon einmal durchgemacht und überlebt. Ihr Blut ist schon einmal geflossen. Ich denke… er will sie ertrinken lassen. Er wird sich nicht wiederholen. Das tut er nie.“

Seine Stimme hörte sich nachdenklich an.

Heiji seufzte.

„Klingt nach der Logik von dem Typ. Aber wo? Und wie finden wir sie rechtzeitig? Das Theater wird voll sein, und wenn wir zu früh aufkreuzen…“
 

„Nicht wir, Heiji.“
 

Shinichi sprach leise, sah ihn nicht an, als er redete.
 

„Das sagte ich schon. Hinein gehe nur ich. Allein.“
 

Dann durchbrach sein Telefon die Stille.
 

Shinichi drehte sich um, angelte nach seinem Sakko, das immer noch im Schlafzimmer auf dem Boden lag – dort, wo sein Vater es achtlos liegen gelassen hatte, als er ihm heraus geholfe hatte. Mit immer noch kalten Fingern kramte er in dessen Taschen, bis er endlich sein Smartphone gefunden hatte und verbrachte die nächsten paar Sekunden damit, zu versuchen, trotz des Sprungs im Display abzuheben.

Währenddessen schrie ihm das Telefon buchstäblich ins Gesicht, wer da anrief.

Es war Jenna.

„Please tell me that you’ve got good news for me, Watson.”

Shinichi hielt sich das Telefon dicht ans Ohr, ließ sich auf die Bettkante sinken, hörte zu.

„I would not go that far.”

Jenna war mittlerweile an das Bild herangetreten; um sie herum schwirrten police officers wie die Bienen und riegelten das Lagerhaus ab. Einige Spurensicherer in weißen Anzügen machten sich bereits daran, ihrer Arbeit nachzugehen – Spuren zu sichern, eben – und Montgomery unterhielt sich mit James Black draußen vor ihrem Van, den sie als mobile Einsatzzentrale dabeihatten. Jenna beobachtete die beiden durch die offene Tür, dann drehte sie sich wieder um.

Sie spürte die Unruhe am anderen Ende der Leitung, und seufzte.

„But not bad news, either. But… news.”

“Aha.” Shinichi seufzte, zerstrubbelte sich die immer noch leicht feuchten Haare und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er bitte so nass geworden war – eigentlich hatte er doch nicht seinen Kopf unter Wasser getaucht.

„Then hit me. What news do you have?”

Jenna schluckte, räusperte sich.

“Well, I suppose, we found their second hideout. But – “

Sie unterbrach einen Einwurf seinerseits rasch.

„-but I think they must have a third.”

Sie biss sich auf die Lippen, kurz. Dann fing sie an, zu beschreiben.

„We’ve found an empty storehouse; and when I say empty, I mean it – it’s a huge building, nothing inside. Just a scaffold int its centre. It displays a charcoal drawing. It’s…”

“Ran.”

Shinichis Stimme war kaum lauter als ein Wispern.

„Can you send me a picture?”

“Should arrive just this second.”

Shinichi nahm das Telefon kurz weg vom Gesicht und öffnete sein Emailprogramm – Jenna hatte nicht zuviel versprochen, das Foto war bereits angekommen. Er merkte am Rande, wie alle um ihn herum zusammenrückten um einen Blick auf das Display zu erhaschen, als er nach einem Moment des Zögerns die Mail öffnete und das Bild lud. Er wusste nicht, ob er wirklich sehen wollte, was dort zu sehen war; allerdings musste er jede Information bekommen, die er kriegen konnte.

Die Zeichnung war wunderschön.

Ganz offensichtlich war es das Bild aus der Zeitung gewesen, das, welches der Reporter abgedruckt hatte nachdem er Ran auf der Westminster Bridge getroffen hatte.

Sie schaute auf einen Punkt jenseits des Bildes, und genau wie damals wusste er, wen sie angesehen hatte – wen sie auch heute ansah.

Ihn.

Ihr Blick wach, voller Schmerz und Sehnsucht, ihre Haare wehten leicht im Wind. Sichere, mal kräftigere und mal zartere Striche fingen die Form ihres Kopfes ein, den sanften Schwung ihrer Lippen die sich zum halb geöffneten Mund formten, Schatten deuteten Volumen und die Lichtsituation an.

Es war nur eine Zeichnung, und man sah ihr an, in welcher Eile sie entstanden war, dennoch traf jede Linie ins Schwarze.

Er schloss die Augen, biss sich auf die Lippen, versuchte zu atmen. Das Telefon in seiner Hand zitterte und niemand traute sich, etwas zu sagen.

„It’s beautiful.“, murmelte er schließlich leise.

„Yes, it is.“

Jenna verkramfte ihre Hand um ihr Telefon.

„There’s a lot of forgetmenots around the easel, too. But I guess, that’s…”

“Not surprising, no.”

Er seufzte, zwang sich das Bild mit einem raschen Wischen über das Display fürs Erste verschwinden zu lassen.

„No hint as to where they’re gone?”

“No. But we’re not done with securing traces and tracking them down. I’ll leave here myself within the next couple of minutes. It’s obvious they’re not here anymore, so I think it’s best to swarm out and do some good, old police work.”

“Meaning showing around pictures again and ask people.”

“Right.“

„Right.“

Shinichi schluckte, seufzte. Er hörte, wie Jenna sich am anderen Ende der Leitung unruhig bewegte.

„There’s something else you want to tell me.”

Jenna drehte sich langsam um, blickte auf den Boden zu ihren Füßen, wo gerade ein Spurensicherer mit weißer Farbe eine Linie um einen Körper zog.

Einen toten Körper.

“I told you the storehouse was empty besides that picture and the scaffold.”

“That’s what you said.”

Shinichi merkte, wie Nervosität sich in ihm breitmachte, das Adrenalin durch seine Adern kroch und seinen Puls in die Höhe trieb.

„I think, that’s what it should be like – that’s how they initially planned us to find the setting. But… actually, that was not everything we found in that place.”

Sie betrachtete das Gesicht der Leiche mit leichtem Bedauern.

„We found Victoria Shelley here. She’s dead. Stabbed. I have no idea…”

Sie hielt inne, als sie ein lautes „klonk!“ am anderen Ende der Leitung hörte und wartete, bis ihr Chef sein Handy vom Boden wieder aufgelesen hatte.

„Fuck.“

Jenna zog die Augenbrauen hoch.

„Yeah. Seems she was a bit nosier than we anticipated. She’s actually wearing a constable uniform – I wonder where she got it. She must’ve been eavesdropping when we were talking about our plans in Scotland Yard – “

Shinichi traute seinen Ohren kaum, seine Augenbrauen waren in die Höhe geschnellt.

„You must be kidding me. You’re not seriously telling me that a woman could dress up as an police constable and sneaking around in Scotland Yard…?”

“I am. Rest assured, ACC Montgomery is right now on his phone, ripping the security department into pieces. He’s fuming, I’ve seldom seen him like this. That’s…”

Shinichi verlor schlagartig alle Farbe im Gesicht.

„Wait, Jenna. When she knew where we would look after Gin and Chianti, she also…”

“Right. Probably heard all about your story, too. Or at least, part of it.”

Shinichis Finger wurden taub, in seinen Ohren begann es zu rauschen.

„Have you searched her yet?”

“No. Waited for crime scene investigators first.”

“Are they present, now?”

“Yes.”

“Then, for heaven’s sake, look if she has her mobile still with her. And any other device that’s able to record or take pictures.”

Jenna hörte sehr wohl die Anspannung in seiner Stimme – und verstand sie nur zu gut.

Sie legte das Handy kurz auf den Boden und ließ sich von den Tatortuntersuchern ein paar Handschuhe reichen, begann dann systematisch die Leiche abzutasten, jede Tasche zu durchsuchen – und wurde fündig. Neben ihrem Mobiltelefon fand sie ein Diktiergerät, einen Notizblock und einen zusätzlichen kleinen Fotoapparat.

Sie begann die Sachen systematisch zu untersuchen; der Fotoapparat war anscheinend wirklich nur ein Backup – die Speicherkarte war jungfräulich leer. Das Diktiergerät war jedoch angeschaltet, auch in diesem Moment, und zeichnete auf. Jenna stellte es ab, rief die Dateien im Wiedergabemodus auf und schluckte hart, als sie Fetzen ihres Gesprächs im Keller vor Bradys Tür hörte. Es hatte alles aufgezeichnet.

A nightmare.

Dann wandte sie sich dem Mobiltelefon zu, seufzte.

“The recording device has recorded everything that was spoken this whole afternoon.”

Shinichi atmete tief ein- und wieder aus.

“Is it connected to the internet?”

“No. It’s an old-fashioned voice recorder. The camera is empty. I guess there might be some stuff on her phone, but it’s locked by fingerprint access.”

Shinichi lächelte säuerlich.

“That’s no problem. Actually, that makes it a lot easier for us. Just use her fingerprints.”

Jenna blinzelte – dann stöhnte sie lauft auf, klatschte sich mit einer Hand gegen die Stirn, fluchte unflätig. Und sie hörte ihn leise lachen, zum ersten Mal an diesem Tag.

Ihre Mundwinkel verzogen sich kurz zu einem Lächeln, dann ging sie erneut in die Knie, griff nach der rechten Hand ihrer Leiche und entsperrte das Telefon mit ihrem Zeigefinger.

Dann stand sie wieder auf, tippte sich durch das Menü, bis sie die Fotos gefunden hatte.

Und es waren viele.

„She’s made plenty of images. I guess, she might have left the Yard before us, and had this building in her mind – a lucky strike. She arrived here before us. She actually made… pictures… of…”

Ihre Stimme brach, als sie sich von Bildern, die das Gebäude von außen zeigten zu Bildern wechselten, die den Innenraum zeigten.

Sie zeigten einen Mann, der in einem Klappstuhl saß und eine Zigarette rauchte. Schwarzer Anzug, silbernes Haar, schwarzer Hut.

Ihr lief es eiskalt den Rücken runter.

Und dann kamen Bilder von ihr – und Jennas Herz blieb fast stehen.

Sie sah Ran – Ran, wie sie in der Mitte des Raums stand, Ran, die ausgezogen wurde, Ran, der man ein weißes Kleid über den Kopf stülpte. Ran, die währenddessen lautlos weinte.

Rans Gesicht.

Wunderschöne Bilder, wenn sie sie so ansah – das Licht der Nachmittagssonne fiel durch eine Reihe hoher Fenster, beleuchteten den Fleck, an dem Ran stand.

Ihre Augen blieben auf dem letzten Bild hängen, raubten ihr den Atem – es zeigte die junge Japanerin vollständig angezogen in einem Traum aus weißer Wildseide, entrückt, wie aus einer anderen Welt. Die Schönheit des Moments erschien ihr absurd, in seiner ganzen Art ein zynischer Kommentar dessen, was dieses Kleid eigentlich symbolisierte. Ran stand allein in der Halle, Chianti war nicht auf dem Foto. Das goldgelbe Sonnenlicht ergoss sich aus dem Fenster auf den nackten hellgrauen Betonboden um sie herum, sammelte sich scheinbar unter ihren nackten Füßen. Um sie herum tanzte glitzernd golden der Staub, flirrte wie Feenpuder im gleißenden Sonnenlicht. Das Kleid strahlte, reflektierte das Licht, und auf Rans schokoladenbraunen Haaren lag der gleiche, warme Glanz. Sie sah aus wie eine Prinzessin. Wie ein Wesen nicht von dieser Welt.

Und in ihrem Gesicht glitzerten Tränen.

Ran schaute zur Seite, zweifellos zu Gin – Jenna konnte in etwa ausmachen wo Ran gestanden haben musste, der Staub in der Halle zeigte die Spuren recht deutlich.

Jenna merkte, wie ihr das Bild den Atem raubte, wie ihre Augen zu tränen begannen und versuchte, sich zusammen zu reißen. Tapfer versuchte sie, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken, der sich dort groß und klebrig breitgemacht hatte.

Die Uhrzeit der Aufnahme zeigte ihr, dass das Foto in etwa eine Stunde her war.

„Jenna?“

Jennas Finger zitterten, als sie sich über die Stirn wischte.

„I’m sorry. I’m here. It’s just… it’s hard to bear.”

Shinichi sagte nichts; Jenna ahnte, warum.

„Shelley observed them. I think, as she realized what was going on, she wanted to leave. Call the police, maybe. There are plenty of photos that seem to have been shot through the window. We’ve found a freshly collapsed pile of boxes and barrels right outside, she must have been standing atop of these. Maybe, when she decided to leave and call the police, she…”

“Stumbled, caused the pile to collapse, and alarmed Gin. Who killed her. And as she’s got the police uniform on her, he didn’t search her, not assuming that she’d recorded anything. Maybe he was too much in a hurry to leave, anyway. Or he simply didn’t care.”

Shinichi schluckte.

“Can you… send me the sound files and pictures…?”

“I’m not sure if you want to –“

“Let me decide that for myself, Jenna.”

Seine Stimme klang harscher als beabsichtigt.

„I’m sorry, it’s just…“

„No, it’s fine. You‘re right. I’ll do it at once. Just give me a sec.”

Damit machte sie sich auf den Weg zum Wagen, der die mobile Einsatzzentrale darstellte und schlich sich an Montomery vorbei, der immer noch wüst in sein Telefon brüllte. Drinnen war niemand – alle waren damit beschäftigt, den Tatort und die Spuren zu sichern, sowie das weitere Vorgehen zu planen.

Jenna setzte sich an den Rechner, stöpselte ihr Telefon an den Computer und zog den Chip aus dem Audiorecorder, stopfte ihn in den dafür vorgesehen Slot am Computer. Dann zog sie die Dateien ohne Umweg auf ihr Handy. Währenddessen schickte sie von Victoria Shelleys Handy die Fotodateien an Shinichi – von welcher Emailadresse er die Dateien bekam, war schließlich egal. Als das getan war, tat sie das Gleiche mit den Audiofiles, diesmal aber von ihrem Handy aus.

Im Anschluss hob sie das Handy wieder ans Ohr.

„Okay. I’m done.“

„Thankyou.“

Shinichi schluckte, zögerte kurz.

„Jenna, what I am telling you now, I don’t want you to share with Montgomery.”

Heiji starrte ihn an, genauso wie Shuichi.

„I’ve got reason to believe that they’ll be at the Globe theatre at six o’clock. And I do believe that’s exactly where and when they want to kill Ran. So maybe it’s wise to…”

“Direct the search between the space of this storehouse here and the Theatre.”

“Yes.”

“Why not going there right now and…“

“…wait for them? Because they won’t come if they see police infesting that place.”

Shinichi schluckte, massierte sich mit seiner freien Hand die Nasenwurzel.

“Listen, I would like you to find her before she gets there. I don’t want to take the risk of her being harmed again. So that’s why – I fear that if we tell Montgomery, they’ll send forces there immediately. I don’t want that. I’ll go there myself, as intended.”

“As intended…?”

Shinichi lächelte bitter.

“As it happens, I found that I got an invitation. Keep me posted, please; I will tell you, too, if I find out something of significance. Good luck, Jenna… and…”

Er schluckte. Jenna schloss die Augen – sie hörte die Müdigkeit in seiner Stimme, biss die Zähne zusammen.

„Yes…?“

„… be careful.“

Damit legte er auf.

Kurz atmete er durch, straffte die Schultern. Wollte sich wappnen für das, was ihn erwartete, wenn er die Bilder öffnete, die Jenna ihm geschickt hatte, die Audiodateien anhörte.

Mit kalten Fingern navigierte er durch das Menü seines Smartphones, rief die App auf, mit der er seine Mails checkte, wartete, bis die Email vollständig geladen hatte, lud die Bilder auf seinen Speicher herunter, genauso wie die Audiofiles.

Und öffnete sie.

Die Wahrheit lachte ihm laut und grausam ins Gesicht – und das obwohl er wusste, was ihn erwartete. Er schluckte hart, als er Gin sah. Er hörte Sonoko wimmern, als sie zu den Bildern kamen, in denen Ran zu sehen sah, hörte Kogoro mit den Zähnen knirschen.

Er fühlte sich, als würde er mit jedem Klick ein Stückchen mehr sterben.

Er sah, wie sie sie reinführten. Ihr die Fesseln abnahmen, den Knebel abzogen.

Er schloss die Augen, atmete schwer durch, als die Bilder kamen, die sie zeigten wie sie ihre Kleider ablegte.

Als er zum ersten Foto kam, in dem sie das Kleid trug, hielt er es nicht mehr aus.

Er legte das Handy mit dem Display nach unten auf sein Bett, drückte sich an den anderen vorbei, denen das Entsetzen und die Angst ins Gesicht geschrieben stand, hastete ins Badezimmer in dem immer noch eine Pfütze stand, auf der er fast ausrutschte. Er fing sich ab, klammerte sich an der Toilettenschüssel fest und übergab sich.
 

Es war entschieden zu viel.

Das Bild von Ran in diesem Kleid brachte ihn an seine Grenzen, brachte seinen ganzen Organismus dazu, sich aufzulehnen und zu rebellieren.

Er sah das Bild – und sah die Angst in ihren Augen. Ihre Haltung, ihre Mimik, alles an ihr sprach zu ihm – erklärte ihm wortlos und doch beredter als jeder Bestsellerautor, wie unendlich viel Angst sie hatte.

Wie sehr sie sich wünschte, er wäre hier, um diesen Alptraum zu beenden.
 

Er stand hier, umarmte seine Kloschüssel und keuchte. Sein ganzer Körper zitterte – aber es war nicht nur die Angst, die ihn schüttelte.

Auch nicht die Nebenwirkungen des Gifts.

Und auch nicht die Widerwärtigkeit der Szene, der Ran ausgesetzt gewesen war – so verletzlich gegenüber dem Mann, der sie in ihrem Leben am Meisten verletzt hatte.
 

Es war die blanke Wut.

Ein Zorn, wie er ihn noch nie gespürt hatte. Wild, laut, vernichtend.
 

Er rappelte sich hoch, wankte zum Waschbecken und spülte sich dem Mund aus, klatschte sich eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht, um die letzten Reste dieser Lähmung zu vertreiben die ihn, ungewollt, seit vorhin im Griff hatte; um sein Hirn aufzuwecken.

Shinichi starrte in den Spiegel, atmete tief durch.

„Das hat jetzt ein Ende.“
 

Er drehte sich um, um Heiji und seinen Vater im Türrahmen zu sehen, starrte sie wild entschlossen an.

„Ich bleib hier nicht länger sitzen. Ihr könnt sagen, was ihr wollt, es ist mir…“

„Absolut deiner Meinung.“

Heiji nickte, brachte Shinichi zum Verstummen.

„Lass uns drüber reden, wie wir’s angehen. Wenn’de pünktlich sein willst, musste eh langsam in die Puschen kommen.“

„In die Puschen kommen?“, echote Shinichi, zog eine Augenbraue hoch – verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar. Er stiefelte zurück, an der Gruppe der Wartenden vorbei, die sich wieder im Wohnzimmer versammelt hatten, griff sich sein Handy und ließ es in seine Jackentasche gleiten. Dann warf er einen auffordernden Blick in die Runde.

„Also gut, wie gehen wir’s an?“

Kapitel 52: Ophelia

Kapitel 52: Ophelia
 

Ran wusste nicht, wie lange sie gefahren waren. Sie stand immer noch teilweise unter Schock, hatte sich aber mittlerweile wieder soweit gefasst, um ihren Kampfeswillen wieder zu finden. Die Fahrt im Van war um einiges angenehmer als die im Porsche gewesen, was an und für sich wohl der Gipfel der Absurdität war.
 

Tja, Porsche fahren stellt sich wohl auch jeder etwas anders vor…
 

Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie wohl zynisch gelächelt, als sie mit traurigem Blick die filigrane Pailettenstickerei auf ihrem Kleid studierte.
 

Fakt war: man hatte sie mit dieser Wolke von einem Kleid wohl einfach nicht mehr in den Kofferraum falten können, schätzte sie. In einem Wagen mit Fenstern hätte man sie leichter erkannt, ein zu großes Risiko – wahrscheinlich fahndete schon die ganze Stadt nach ihr. Also saß sie hier, auf dem Boden des Lieferwagens mit gefesselten Händen und einem sorgfältig zwischen die korallrot geschminkten Lippen geschobenen Knebel um ihren Lippenstift nicht zu sehr zu ruinieren – noch so eine himmelschreiende Absurdität, dachte Ran – und harrte der Dinge, die da kommen würden. Ihr gegenüber saß Chianti, sah sie gelangweilt an. Offenbar waren ihr die guten Sprüche ausgegangen, oder aber sie hatte die Freude an ihrem neuen Spielzeugpüppchen bereits verloren.

Ran streckte den Rücken durch, stöhnte leise auf, versuchte ihre Handgelenke in den Kabelbindern halbwegs bequem zu drehen.

Sie schätzte, dass zwischen ihrem unfreiwilligen Make-over und dem jetzigen Zeitpunkt eine knappe Stunde vergangen war.

Sie waren nicht besonders lange gefahren; seit einigen Minuten standen sie nun.

Offenbar warteten sie.

Sie wusste nur nicht, auf was.
 

Ihr Rücken schmerzte, und sie hatte das Gefühl in ihren Fingerspitzen verloren, was sie ein klein wenig beunruhigte. Immerhin war es nicht mehr so heiß; nur ihre von der vorhergehenden Fahrt im Porsche schweißnassen Haare kitzelten sie noch im Nacken. Zum Glück fiel ihr das Atmen zunehmend leichter – der Kofferraum des A365 war nicht eben groß gewesen, und sie hatte mehr oder weniger klein zusammengeknüllt und eingequetscht in völliger Dunkelheit gelegen. Sie hatte das Gefühl gehabt, sich selber langsam den Sauerstoff wegzuatmen und der Gestank dieser widerlichen Zigaretten hing auch hier wohl schon seit Jahrzehnten in den Textilien, hatte ihr fast die Sinne geraubt. Das Dröhnen des Motors war ihr in sämtliche Knochen gefahren, hatte sie schmerzen und kribbeln lassen. Sie wand die Finger, krümmte ihre Zehen.
 

Fühlen sich immer noch etwas taub an. Wahrscheinlich aber ist das dein kleinstes Problem.
 

Und sie kam nicht umhin, sich zu fragen, wie viele Menschen in diesem Kofferraum wohl schon gelegen hatten.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten sie angehalten – gerade als ihr benebelter Geist sie ins Land der Träume hatte schicken wollen.
 

Der Motor verstummte, Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen – und dann ging die Heckklappe auf. Ran blinzelte; vor Müdigkeit und Erschöpfung, nicht etwa, weil ihre Umgebung sie geblendet hätte. Sie fühlte, wie sie unter der Achsel am Oberarm gepackt und in die Höhe gezerrt wurde, ehe zwei Arme sie hochhoben.

Der Geruch von kaltem Rauch blies ihre Müdigkeit mit einem Mal weg.

Da sie an Händen und Füßen gefesselt war, konnte sie nicht selber laufen; und so musste sie erdulden, von Gin getragen zu werden. Sie versuchte, ihre Arme so nahe wie möglich am Körper zu halten, was kaum möglich war, waren sie ihr doch am Rücken gefesselt worden, versuchte, so wenig wie möglich Körperkontakt zu ihm zu haben, spannte jeden Muskel an, der ihr zur Verfügung stand. Als sie wortlos durch die kühle, dunkle Garage gingen – denn dort schienen sie angekommen zu sein – sah sie sich aufmerksam um. Leider bot keines der Fenster einen ungehinderten Blick nach draußen – sie waren größtenteils mit Vorhängen versehen. Dennoch sah es irgendwie nach einer recht netten Wohngegend aus.
 

Wie seltsam.
 

Sie gingen durch eine Tür, erreichten eine Art Halle. Chianti, die vorausgegangen war, betätigte den Lichtschalter, erhellte, was Ran in diesem Raum erwartete.
 

Weißgrauer Betonboden, weiße Wände, Fenster, die mit Papier zugeklebt waren, größtenteils. Die weißgelben Papierbögen filterten das Sonnenlicht, tauchten den Ort in mystisches Zwielicht, bis auf die kleinen Flecke, wo das Papier schon eingerissen war.

Dort sammelte sich das Sonnenlicht, blendete einen fast.
 

Ihre Schritte hallten durch den Raum.
 

In der Mitte stand eine Art Hocker, ein Haufen weißer Stoff auf dem Boden lag daneben. Außerdem ein Tisch, auf dem eine Dose Haarspray und ein kleines Täschchen standen, wie man sie zum Reisen mitnahm, um dort drin seine Hygieneartikel aufzubewahren.
 

Und Ran erstarrte, verkrampfte noch mehr, als sie es ohnehin schon war.
 

Sie ahnte, was es mit dem weißen Haufen Textilien auf sich hatte. Sie schluckte, ihre Augen waren vor Angst geweitet – und dennoch versuchte sie immer noch, ruhig zu bleiben. Rational.

Sie half ihm nicht, wenn sie hier durchdrehte, hysterisch oder panisch wurde, oder durch provozierende Äußerungen ihren Entführer zur Weißglut und damit zu unüberlegten Aktionen brachte.
 

>Wobei, Letzteres, Ran… mach dich nicht lächerlich.

Dafür bist du nicht der Typ…<
 

Sie schluckte, ließ sich auf den Hocker setzen wie eine Puppe, und nichts anderes schien sie zu sein in ihren Augen. Sie fühlte, wie man ihr die Fesseln aufschnitt. Chianti war es, und sie nahm ihr auch den Knebel aus dem Mund. Gin stand vor ihr, nachdem er den Raum abgesperrt hatte, hielt ihr die Pistole vor die Brust.
 

Er sparte sich, ihr zu erklären, was hier nun vor sich gehen würde – und er wusste, genauso wie Ran selbst, das war nicht nötig.

Sie wusste auch so, dass sie jetzt aus ihr das letzte Opfer machten.

Und so stand sie auf einen Wink Gins auf, blieb starr stehen wie eine Schaufensterpuppe, schaute blicklos geradeaus und versuchte einfach nicht da zu sein.

Geistig nicht hier zu sein, bei ihm zu sein, bei Shinchi, der gerade wohl umkam vor Schuld, Sorge, Angst… weil genau das eingetreten war, was er befürchtet hatte, und er wieder nicht da gewesen war, um ihr beizustehen.
 

>Dabei war das doch gar nicht deine Schuld, Shinichi…<
 

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es an ihr zog und zerrte. Es ekelte sie an, wie sie mit ihr umgingen – sie versuchte, auszublenden, wer sie anfasste, und wer sie ansah, als Chianti anfing, ihr ihre Kleider auszuziehen.

Sie hörte den Reißverschluss zurren, die Druckknöpfe aufklicken und hielt still, als man ihr die Jacke auszog.

Die Strickweste, die Bluse, das Unterhemd, ohne sich die Mühe zu machen, darauf zu achten, dass nichts kaputtging.

Sie würde die Sachen ohnehin nicht wieder anziehen.

Nie wieder.

Ran verzichtete darauf, sich die Hände fröstelnd um den Oberkörper zu schlingen, merkte sie doch, wie ihr eine Gänsehaut über die Arme kroch, und war nur froh, dass man ihr die Unterwäsche anließ.

Sie versuchte, neben sich zu stehen, sich irgendwie auszuklinken, auszublenden, was man ihr hier antat, als ihr Rock zu Boden glitt. Sie taumelte nach vorne, als ihr die Frau einen Schubs von hinten zwischen die Schulterblätter gab, um sich selber besser auf den Stuhl stellen zu können – dann hörte sie es rascheln, und kurz war alles weich, eng und weiß um sie herum.

Rund um sie herum begann Chianti den Stoff zu ziehen und zu zerren und fluchte – Ran ließ es über sich ergehen, schloss die Augen, versuchte, nicht loszuheulen.
 

>Gott, was ist das hier…

Was für eine Farce…

Man macht mich hier hübsch für unseren Tod.
 

Shinichi…

Wo steckst du nur?

Du wirst mich doch finden, oder?
 

Sicher findest du mich…

Sicher…
 

Du bist schließlich Sherlock Holmes…<
 

Ein kurzes Lächeln huschte ihr über die Lippen, nur ein Anflug, genauso schnell gegangen wie gekommen, eine vage Ahnung.
 

>Nein.

Du bist du…

Du bist Shinichi Kudô.<
 

Dann wurde es wieder hell über ihr und sie stand wie in eine Zwangsjacke gepfercht in dem Kleid eingesperrt mitten im Raum. Chianti zog die Corsage auf ihre Hüften hinab, damit sie ihre Hände aus ihrem Gefängnis ziehen konnte, schob und zog sie unsanft durch die kleinen Ärmelchen des Kleides, zerrte das Oberteil wieder in Position und zurecht und schloss mit einem solchen Ruck den Reißverschluss im Rücken, dass Ran keuchend ausatmete, kurz ins Wanken geriet.
 

>Das Kleid sitzt gut eng…!<
 

Ran schluckte, zitterte immer noch – und konnte nicht verhindern, nun doch einen Blick auf das zu werfen, was man ihr gerade angezogen hatte.
 

Das Kleid war ein absoluter Traum.
 

Weiße und perlmuttfarbene Pailletten und Perlen glitzerten über den zarten Stoffdrapagen, formten filligrane Blütenranken rund um Spitzenbesätze, um sich in einem Regen von funkelten Sternen aufzulösen. Während das Oberteil eng anlag, entfaltete sich der Rock in einer Wolke aus mehreren Lagen Tüll, der die Seide darüber fast schwerelos wirken ließ und hinten in einer Schleppe endete. Sie merkte, wie Chianti immer noch hinter ihr am Schaffen war – und sie ahnte, was sie tat.

Sie knöpfte eine schier endlos wirkende Reihe kleiner Perlenknöpfe zu, die den Reißverschluss verdeckte.
 

Ran konnte kaum mehr stehen, als die Erkenntnis sie wie ein Schlag ins Gesicht traf.
 

Sie fühlte, wie ihr zunehmend die Luft zum Atmen wegblieb, als sie an sich herabsah, fühlte, wie sich ihr Hals langsam zuschnürte, als ihr klar wurde, was sie hier trug.
 

>Du hast ein Brautkleid an, Ran.
 

Nicht irgendein weißes Kleid.

Das ist ein Brautkleid.<
 

Tränen stiegen ihr in die Augen, ihr ganzer Körper begann zu beben und zu zittern, als sich das volle Ausmaß dieser Situation vor ihr ausbreitete.
 

Er sollte sie in einem Brautkleid finden.
 

>Shinichi…<
 

Völlig lautlos begann sie zu weinen.
 

Chianti ging um sie herum, schaute sie spöttisch lächelnd an.

„Hör auf zu flennen.“
 

Sie griff nach dem Lippenstift, der auf dem Tisch stand, zog die Kappe ab und drehte ihn heraus.

„Du willst doch dein Makeup nicht ruinieren.“
 


 

Und nun saß sie hier, nachdem man sie frisiert und geschminkt hatte – und trotz der Situation war Ran nicht umhingekommen, sich zu fragen, woher Chianti das Know-how nahm, sie zu schminken. Tatsächlich schien sie aber ganz genau zu wissen, worauf’s ankam; ihre Handgriffe waren ruiniert gewesen, jeder Strich, jeder Tupfer, jede Strähne saß, wo sie sollte. Sie hatte sich gesehen, kurz, in der glänzend schwarzen Lackierung des Vans, in diesem zauberhaften Kleid, frisiert, geschminkt, herausgeputzt.

Der Anblick des Kranzes aus Vergissmeinnicht, die die exakt gleiche Farbe ihrer Augen hatten, hatte ihr die Luft abgeschnürt, ihr Herz mit eiskalten Fingern umklammert, so fest, dass es sich anfühlte, als wolle es hier und jetzt einfach stehen bleiben.
 

Der Anblick hatte sie fast um den Verstand gebracht, hatte gewütet und gewühlt in ihr, all ihre Wünsche und Träume ans Tageslicht gezerrt und sie wie einen Zigarettenstummel unter der Sohle von dreckigen Stiefeln zertreten, in den Asphalt gerieben.

Es tat so weh.
 

Wäre der Ort und der Anlass ein anderer…
 

Dann, Shinichi…
 

Erst jetzt kam sie dazu, sich zu fragen, wie all diese Leute eigentlich ihren Weg in die Organisation gefunden hatten. Wer war Chianti vorher gewesen? Wie hieß sie eigentlich?

Was hatte sie dazu bewogen, ihr Leben aufzugeben und sich dem Verbrechen hinzugeben… Erpressung, Entführung, Mord?

Wie und wann war Gin eingestiegen?

Wer war ihr Boss gewesen – gab es ihn noch? Steckte er hinter all dem? Oder trieb Gin nur sein unbändiger Hass und sein nicht tot zu kriegendes Streben nach Rache an?

Was bewog Chianti, ihm immer noch zu helfen?

Gewohnheit?

Der gleiche Hass?

Angst vor Gin?
 

Von allem etwas?
 

Sie beobachte die Frau ihr gegenüber unverhohlen, die sich gerade eine weitere Zigarette ansteckte und damit die Luft im Inneren des Vans noch mehr verpestete, als sie es ohnehin schon war.

„Ah. Schau mich nicht so an, Schätzchen. Freu dich, immerhin wirst du zauberhaft aussehen, wenn er dich findet. Und letzten Endes werdet ihr endlich zusammen sein, wenn auch… anders als ihr wohl geplant habt. Aber hey – ich war schon immer dafür: das Ziel ist das Ziel. Der Weg dahin ist doch Nebensache.“
 

Rauch quoll aus ihrem Mund, während sie sprach, in feinen blaugrauen Schwaden. Nun nahm sie einen weiteren Zug, lachte leise in sich hinein.

„Ich muss gestehen… auf eine gewissen Weise freue ich mich sogar, ihn wieder zu sehen. Nicht, dass er je mein Typ gewesen wäre, aber selbst ich muss zugeben - er hatte was. Er war anders, als die anderen. Und sein… Glaube an sich und an die Wahrheit, seine Prinzipientreue ist bemerkenswert. Die Art, wie er sich ausdrückte, argumentierte, wie er agierte, seine Schlussfolgerungen zog, präzise seinen Plan durchzog, furchtlos, kompromisslos - ja, sieh mich nicht so an-“

Sie war aufgestanden, schlich durch den engen Raum des Vans wie eine Raubkatze in einem zu kleinen Käfig, die Muskeln gespannt und bereit, den nächsten mit ihren scharfen Krallen zu zerreißen, der den Fehler machte, ihr in die Quere zu kommen.
 

Nun war sie vor Ran stehen geblieben, nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette, lächelte zynisch.
 

„- selbst so eine verdorbene Seele wie ich erkennt doch einen Ausnahmecharakter, wenn er vor einem steht. Shinichi Kudô ist nicht wie jeder andere Schnüffler da draußen, den wir schon umgelegt haben. Nichtsdestotrotz - er läuft schon viel zu lange ungestraft herum.“ Sie pustete Ran den restlichen Rauch langsam ins Gesicht. Ran schloss die Augen und verzog es angewidert, hielt die Luft an.

„Weißt du, er und wir, wir sind uns nicht so unähnlich. Wir streben alle nach Vergeltung… nur definieren wir diesen Begriff ein wenig anders.“
 

Sie lachte, trat einen Schritt zurück, bedachte Ran, die gerade wieder die Augen öffnete und vorsichtig einatmete, mit einem abschätzenden Blick.

„Weißt du, was das Erste war, was der Boss sagte, als wir ihn bei uns hatten?“

Ran sparte sich, den Kopf zu schütteln.
 

„Wie schade es wäre… dass Kudô schon so verloren war an dieses lachhafte Konstrukt von Gerechtigkeit, dem er anhing. Er wäre groß geworden in unserer Organisation, wäre er zumindest noch ein wenig formbar gewesen. Größer als ich. Größer wahrscheinlich sogar als Gin…“

Ein böses Lächeln zierte ihre Lippen.

„Vielleicht sogar größer als Anokata selbst, eines Tages.“
 

„Du faselst zu viel, Chianti.“
 

Unmerklich war die Tür aufgegangen, und Gin trat ein, bedachte seine Komplizin mit einem eiskalten Blick. Hinter sich schloss er die Tür, ohne sich dafür umzudrehen.
 

Dann wandte er sich um, zog ein paar Uniformen aus einem Karton, warf eine davon Chianti zu.

„Es wird Zeit.“
 


 

Shinichi telefonierte. Neben ihm lenkte Heiji den Wagen durch die einsetzende Londoner Rushhour und versuchte, nicht lauthals zu fluchen. Ihm wäre im Moment gerade lieber, wenn Shinichi fahren würde; der allerdings telefonierte gerade mit Jenna, und sie war in etwa die dritte oder vierte Person, die er anrief, neben, wer hätte das Gedacht – Mrs Hudson, Montgomery und James Black.

Er warf ihm einen genervten Blick zu, als es ihn in die Gurte drückte, weil Heiji eine Vollbremsung hinlegte.
 

„Verdammt, Hattori, wir haben in Japan doch auch Linksverkehr, wo zum Henker ist dein Problem…“

„Wir haben aber nicht solche Irre auf der Straße!!“
 

Shinichi wollte etwas erwidern, als eine Stimme aus seinem Telefon ihn daran erinnerte, dass er noch ein Gespräch führte.
 

„Sir? Are you still there?”
 

“Hi, Jenna, yes. And stop calling me “Sir”. Yes, I do know we’re back on duty, and I’m technically your superior, but I don’t care. Back to business.”

Er verdrehte die Augen.

“We’re on our way there, should be at our destination in a couple of minutes. Listen, Jenna, I only want you in there, no one else. Got me? NO ONE ELSE. Try to change your appearance before going in there, please. By no means must they find out who you are. All is lost, if they do. And tell Montgomery to stay outside.”

Heiji seufzte lautlos. Seine Finger waren kalt geworden, umklammerten das Lenkrad. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, sah Akai im Auto hinter ihnen; er war mit Jodie und Kogorô unterwegs. Hinter ihnen saß Yusaku, sein Blick war nicht zu deuten. Seine Frau war mit Shiho, Kazuha und Sonoko in Shinichis Wohnung zurückgeblieben. Widerwillig zwar, aber die vier hatten erkannt, dass es besser so war.
 

Den Blick, den Frau Kudô ihrem Sohn zugeworfen hatte, als er aus der Wohnung ging, würde er nie vergessen.

Es war klar, was sie fürchtete.

Und insgeheim, fürchteten sie das wohl alle.
 

Kudô… wie wird das enden…

Wirst du sie retten können?

Wirst du… zu retten sein?
 

Sie hatten nicht viel Zeit verloren; Shinichi hatte die Klamotten gewechselt und in den nächsten zehn Minuten hatten sie ihren Schlachtplan entworfen.

Er würde, und davon ließ er sich nicht abbringen, alleine in die Vorstellung gehen; einzig Jenna sollte separat noch eine Karte erwerben, um in das Gebäude zu gelangen; sie fiel von ihnen allen als waschechte Londonerin am wenigsten auf.
 

Er, Shuichi, Herr Kudô und Kogorô würden in der Nähe bleiben, um gegenbenfalls einschreiten zu können, und um Ran in Sicherheit zu bringen, sobald sie sie gefunden hatten – und die Polizei daran zu hindern, es zu früh zu tun. Sie hatten einen Evakuierungsplan angedacht, und würden zusammen mit Montgomery zur Geschäftsleitung des Theaters gehen, um ihn von der Sache zu informieren, sollte sich abzeichnen, dass es nötig wurde.
 

Sie hofften, dass dem nicht so sein würde.

Dennoch - das Theater würde voll sein. Sie wollten nicht riskieren, Unschuldige zu verletzen.
 

„Das wird er nicht tun.“

Er fing sich Shinichis Blick ein, der gerade sein Gespräch beendet hatte, und sich unbewusst am Handgelenk kratzte, sofort aufhörte, als er sah, wie Heijis Augen dorthin huschten, verdrehte die Augen, lächelte bitter.
 

„Eigentlich juckt es schon lange nicht mehr. Aber die Übersprungshandlung hat sich eingeschliffen, anscheinend. Ich dachte, ich hätte mir das abtrainiert.“

„Was macht dich so sicher?“, warf Heiji ein, ohne auf Shinichis Kommentar einzugehen.

„Dass Gin es nicht öffentlich machen wird? Dass er nicht einfach reinmarschiert, auf mich zielt und abdrückt?“

Shinichi hob eine Augenbraue, grinste schief.

„Ja. Am Flughafen schien‘s ihm reichlich egal zu sein.“

„Am Flughafen wollte er Chaos stiften, um jemanden zu entführen. Ich denke, es hätte ihm sicher gefallen, Shiho an der Stelle endlich töten zu können, aber sein Primärziel war ein anderes.“

Shinichi zog gedankenverloren die Unterlippe zwischen die Zähne.
 

„Ich denke, er wird mich wissen lassen, wohin ich kommen soll. Er weiß genau, dass ich ihm in großen Menschenmengen entkommen könnte, und er hat diesmal nur Chianti an seiner Seite, keine Organisation. Ich schätze viel eher, dass Ran publik auftauchen wird. Ich könnte mir vorstellen…“

Er schluckte.

„Hm…?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass er mich zu sich bestellt, um mir zu sagen, wo sie ist. Und ich will euch dann abrufbereit haben, damit ihr sie retten könnt.“

„Und du?“

„Tja.“

Shinichi ließ sich zurücksinken, starrte aus der Windschutzscheibe des Autos nach draußen.

„Das sehen wir wohl, wenn es soweit ist.“
 

Er blickte kurz in den Rückspiegel, fing sich den ernsten Blick seines Vaters ein und seufzte.

„Ich geb mein Bestes, nicht draufzugehen, ich versprech‘s.“
 

Yusaku Kudô zog die Augenbrauen hoch.
 

„Du weißt…“

„Es wird schon werden.“

Shinichi drehte sich um.

„Ich bin kein kleines Kind mehr. Seitdem sind fünf Jahre vergangen, Vater. Ich hab mit diesem Bastard noch eine Rechnung offen, und ich lass nicht zu, dass er mich darauf sitzen lässt. Ich will, verdammt nochmal, dass er bezahlt.“

Seine Stimme war gefährlich leise geworden. Er drehte sich wieder um, wortlos, seufzte.

„Da vorne rechts. Dann sind wir da.“

Heiji zog die Augenbrauen zusammen.

„Den Rest geh‘n wir wohl zu Fuß?“

„Natürlich. Was dachtest du? Und bevor ihr mir folgt, geht ihr euch auch ein bisschen Verkleidung kaufen.“

Er deutete auf ein Bekleidungsgeschäft weiter unten in der Straße.

„Ihr wisst, wie ihr hinkommt?“

Yusaku nickte.

„Gut.“

Shinichi schluckte, vergewisserte sich, die Eintrittskarte in seinem Sakko zu haben, schaute dann auf, zuerst zu seinem Vater, dann zu Heiji.
 

„Also gut. Vermasselt’s nicht.“

„Sagt der Richtige.“

Heiji schluckte, konnte seine Nervosität kaum verbergen.

Shinichi verdrehte die Augen.

„Ihr wolltet dabei sein, diesmal. Nun seid ihrs – wenn…“

„Kudô.“

Heiji unterbrach ihn.

„Du bist mein bester Freund. Ich will nur, dass es gut ausgeht, diesmal. Nich‘ nur Ran will dich wieder in Japan seh‘n. Nich‘ nur sie will, dassde lebst.“

Er verdrehte die Augen.

„Pass auf dich auf. Und ruf um Hilfe, wenn du se brauchst.“

Shinichi starrte ihn an, kniff die Lippen zusammen.

„Schaut auf eure Telefone. Ich lass euch wissen, wenn ich was weiß.“

Er atmete tief durch.
 

„Also gehen wir es an.“
 

Damit stieg er aus, warf die Tür hinter sich ins Schloss und begann, die Straße hinabzugehen, geradewegs zu auf das große, runde, reetgedeckte Gebäude.
 

Das Globe Theatre.
 

Und hinter ihm gluckste das Wasser der Themse, als es an die Kaimauer schwappte.

Ein eiskaltes Kribbeln rann ihm die Wirbelsäule entlang den Rücken hinunter, stellte aufreizend langsam jedes Härchen einzeln auf. Kurz schloss er die Augen, als ihm sein Bewusstsein pflichtbewusst und wie auf Kommando diesen Alptraum in seinem Kopfkino abspielen wollte – dann schüttelte er ihn vehement, vertrieb die Bilder.
 

Öffnete die Augen und richtete sie gerade aus auf das Gebäude, das vor ihm lag.
 

Nein.

Soweit lasse ich es nicht kommen.

Das lass ich nicht zu.
 

Ran!
 

Akai, der ebenfalls ausgestiegen war, trat neben Heijis Fenster. Heiji kurbelte es herunter, blickte auf.
 

Auf den Lippen des FBI-Agenten war ein Lächeln geschlichen.
 

„Ich denke, jetzt heißt es sein, oder nicht sein, nicht wahr...?“
 


 

Man hatte ihr die Fesseln abgenommen, auch den Knebel. Vor ihr ging Chianti, hinter ihr Gin, und der hielt sie mit einer Hand am Handgelenk fest mit einem Griff, der versprach, ihr selbiges zu brechen, sollte sie einen Mucks machen. Sie wusste, unter seiner Jacke, griffbereit, steckte seine Waffe.

Ein Fluchtversuch wäre dumm; sie würde damit nicht nur sich, sondern auch alle anderen hier gefährden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen und zu hoffen, dass Shinichi einen Schritt schneller war, als seine Verfolger hier.

Beide hatten Uniformen der Mitarbeiter des Globe-Theatres an und führten sie nun durch ein Gewirr von Gängen. Sie waren unbehelligt durch den Lieferanteneingang hineingekommen; in den Augen der anderen Mitarbeiter sah Ran wohl einfach aus wie eine Schauspielerin. Es ging zu wie in einem Wespennest; wie sie aus Gesprächsfetzen erfuhr, war dies hier die Uraufführung von „Hamlet“, und entsprechend aufgeregt war jeder und alles hier. Und wären die Umstände nicht die gewesen, die sie eben waren, dann hätte sie die Gelegenheit, hier Mäuschen spielen zu können, sicher genossen. Überall rannten Leute von der Technik herum, Maskenbildner legten letzte Hand and, Schauspieler in Kostümen probten noch einmal ihren Text oder suchten noch dieses oder jenes Accessoire.

Es war aufregend.
 

Sie hatte dafür keinen Sinn.
 

Sie waren hinabgestiegen in den Bauch dieses Ungeheuers, das das Globe Theatre darstellte; und je weiter sie eindrangen in dessen Gedärme, desto weniger Leute wuselten herum, bis sie fast allein waren.

Ran schluckte.
 

Dann schienen sie angekommen zu sein, wo sie eigentlich hinwollten – in den Raum, der direkt unter der Hauptbühne lag. Neben einer schier unermesslichen Menge an Requisiten und Kostüme wurden hier auch ganz offenbar spezielle Bühnenteile aufbewahrt, um durch eine komplexe Hebemechanik ausgetauscht werden zu können
 

Unter anderem eine Art längliche, geschwungene, flache, Wanne.

Gerade eben lief Wasser in ebendiese Wanne ein, ließ die Blüten, die ein Mitarbeiter einstreute, Schwimmen. Ran schluckte.
 

Was führen die hier heute gleich nochmal auf?

Hamlet…?
 

Und ihr fiel es wie Schuppen von den Augen.
 

Ophelia war Hamlets Liebe, bevor er Dänemark verließ. Sie liebte ihn innig bis an ihr Ende. Sie verzweifelte über die Ereignisse, die am Hofe vorfielen, über seine Veränderung… und verlor ihren Verstand.

Sie ertränkte sich.
 

Ein Zittern durchlief ihren Körper. Das hier war die Nachbildung des Baches, in dem Ophelia sich in Shakespeares Stück ertränkte.
 

Deswegen die Blumen. Es waren Ophelias Blumen…

Wie lange haben die das hier geplant?!
 

Dann bemerkte der Mitarbeiter ihre Anwesenheit, schenkte ihnen einen überraschen Blick.

„Hey? Watcha doin‘ down ´ere? `ts not time already, is it?”

Ran schrie grell auf, als der Mann vor ihren Augen zusammensackte. Aus einem Loch auf seiner Stirn quoll dunkles Blut. Sie hatte nicht mitbekommen, wie Gin seine Waffe zog – unfassbar schnell, unfassbar leise war es geschehen; der Schalldämpfer hatte seine Sache exzellent gemacht. Der Mann hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt.

Ran starrte auf die Leiche, die nun vor ihren Füßen auf dem Boden lag, spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausgebrochen war, Übelkeit in ihr hochstieg. Scharf stach der Geruch des Pulvers in ihre Nase.

Nur mit Mühe wandte sie sich ab.

Nur mit noch mehr Mühe schaffte sie es, den Brechreiz niederzuringen.
 

Gin steckte seine Waffe weg, seine Miene unbewegt, nickte in Richtung der am Boden liegenden Leiche. Sein Griff um ihren Arm verstärkte sich, als er sie zur Seite zerrte.

„Chianti.“

Die Angesprochene warf ihm einen angewiderten Blick zu, beugte sich aber seiner unartikulierten Aufforderung, den leblosen Körper beiseite zu schaffen und begann den armen Kerl hin eine dunkle Ecke hinter ein paar Kartons zu ziehen. Eine Weile war nur das Einlaufen des Wassers sowie das scharrende Geräusch eines Körpers, den man über rauen Boden schleifte und Chiantis Schnauben und ächzen zu hören.
 

Ran stand wie fest gefroren auf der Stelle, starrte auf die tanzenden Wellen im Becken, schluckte.
 

Ihr schwante Übles bei dem Anblick.
 

„Schön, nicht…?“

Gin lachte, lehnte seinen Kopf über ihre Schulter, kam mit seinem Gesicht dicht an ihr Ohr.

„Weißt du, Ran…“, flüsterte er leise mit seiner rauen Stimme. Ran erstarrte, hielt die Luft an.
 

„Weißt du, ich denke, einmal erstochen zu werden reicht. Diesmal gehen wir auf Nummer sicher bei dir. Und ich kann mir kaum ein besseres Bild für dein Ende vorstellen als das der Ophelia, die sich aus Kummer über ihren Hamlet ersäuft. Ich finde, das hat er verdient, dein Held… das noch zu erleben, bevor ich ihn dir hinterherschicke.“
 

Er ließ seine Hand über die Stelle auf ihrem Bauch wandern, wo er sie verletzt hatte, raubte ihr damit den Atem. Sie stolperte zurück, gegen ihn, wollte weg, wollte sich wehren und kam doch nicht vom Fleck; er hielt sie zu fest. Eine Hand hatte er um ihren Bauch geschlungen, mit der anderen hielt er immer noch ihren Arm fest, verdrehte ihn leicht, zwang sie zum Stillhalten. Dann drückte er ihr einen Kuss auf den Hals, der sie vor Ekel und Abscheu erschaudern ließ. Der Stoß, den er ihr daraufhin in den Rücken versetzte, ließ sie fast zu Boden gehen. Sie stolperte zum Beckenrand, konnte sich gerade noch abfangen, starrte auf die Wellen, sah ihr eigenes, angsterfülltes Gesicht. Dann warf sie einen Blick nach oben, schluckte. Das Becken würde, so sah es aus, hochgefahren werden, und dort fertig vollaufen. Über ihr war eine Tür konstruiert; diese würde man dann wohl kurz vor der Szene, in der Ophelia sich ertränkte, entfernen, um den kleinen Fluss offen zu legen, in den sie steigen würde.
 

Nur, dass da dann schon jemand drin liegen würde.
 

Sie bemerkte Chianti, die aus einer dunklen Ecke wiederauftauchte und nach einem der Eimer griff, in denen die Blüten lagen, begann, sie unzeremoniell in die Wannenkonstruktion zu schütten. Gin wartete, eine Hand wieder an Rans Oberarm, hielt sie eisern fest.
 

„Stell dir das Bild vor, Ran. Wenn er kommt, und merkt, dass alles zu spät ist… dass er dich wieder nicht retten konnte… Ich denke fast, er wird seinen Tod willkommen heißen. Nein, ich weiß es sicher…“
 

Gins Stimme klang kalt an ihr Ohr, der Gestank von kaltem Rauch in seinem Atem ließ sie fast würgen.
 

„Weißt du, woher ich das weiß…?“
 

Ran zwang sich, die Zähne zusammenzubeißen und das Zittern zu unterdrücken, dass sie ergriffen hatte und ihren ganzen Körper schüttelte. Er antwortete ihr auch ohne eine Reaktion seinerseits.
 

„Weil ich den gleichen Wunsch, nämlich diese stumme, verzweifelte Bitte, ihn dir doch gleich hinterherzuschicken, schon das letzte Mal in seinen Augen sehen durfte… wusstest du das? Er lebt, weil ich ihn leben ließ. Ich wollte, dass er leidet, zugrunde geht an dieser Schuld… und das klappte gut, bis zu dem Moment, als herauskam, dass du überlebt hattest.“

Gins Stimme war hart geworden, sein Griff schmerzte zusehends.
 

„Ich denke, dieses Mal bin ich der Spielchen Leid. Er sicher auch.“
 

Ran biss sich auf die Lippen, schmeckte den Lippenstift, den ihr Chianti aufgetragen hatte, schauderte.
 

Shinichi.
 

Dann klingelte ein Handy, zerriss die Stille.

Gin zog es mit einer Hand aus seiner Jackentasche und hob ab.

„Ah. Also ist er pünktlich eingetroffen. Sehr gut. Danke, Bourbon…“

Er legte auf, lachte leise.

„Unser Ehrengast ist eingetroffen, Chianti…“

Chianti kippte den letzten Eimer Blüten in den Container, dann drehte sie sich um, lachte.

„Ich kann’s kaum erwarten…“, grinste sie.
 

Dann trat sie auf Ran zu.

„Nun, Ran. Damit du nicht die ganze Stimmung durch unnötiges Geschrei zerstörst und die Schauspieler in ihrem Stück störst… setzen wir dich jetzt erst mal schachmatt. Sieh’s positiv! Vielleicht bekommst du gar nicht mit, wie du ersäufst.“
 

Damit zog sie ein kleines Etui aus der Tasche, klappte es auf und nahm mit spitzen Fingern die Injektion heraus, zog die Kappe von der Nadel, ließ ein paar Tropfen herausquellen.
 

Ran starrte die Nadel an, einen Moment, sog scharf die Luft ein – im nächsten kehrte das Leben in ihre Glieder zurück.

„Nein!“

Sie schrie, begann sich zu winden, wollte sich aus Gins Griff befreien, hatte aber nicht mit seiner Reaktionsschnelligkeit gerechnet. Sie trat ihm auf die Füße, versuchte, ihn noch ganz woanders hin zu treten, aber sie war erstens: barfuß und er zweitens: ihr körperlich weit überlegen. Er drehte ihr den Arm auf den Rücken und verrenkte ihn, zwang sie, sich zu fügen, und legte ihr gleichzeitig den anderen Arm um den Hals und drückte zu.
 

Ran, die sich auf einmal mit der Tatsache konfrontiert sah, keine Luft mehr zu bekommen, keuchte auf, versuchte mit ihrer freien Hand, Gins Arm zu lockern, kniff und kratzte um ihr Leben.

Nicht lange, allerdings.
 

Chianti griff nach ihrer Hand, hielt sie mit nur einem Arm erstaunlich ruhig, setzte die Spritze in ihren Oberarm und drückte zu.

Blitzschnell.
 

Ran starrte die Frau an, japste nach Luft. Angst hatte sie gepackt.

Und sie konnte sich zu gut vorstellen, wie es ihm damals gegangen war. Mit Sicherheit hatte er sich auch gewehrt. Sich widersetzt.

Und war wohl ähnlich machtlos gewesen.
 

Chianti ließ die Spritze fallen, nahm ihre Sonnenbrille ab, lächelte.
 

„Ran, meine Süße- es war mir eine Freude. Nun leb wohl…“
 

Sie zwinkerte. Ran starrte in ihr Gesicht, sah dieses Auge, sah den Schmetterling. Beobachtete, wie er mit den Flügeln schlug, genau einmal.
 

Der Schmetterling…
 

Dann verdunkelte sich ihre Sicht, das Gefühl verließ ihre Beine und sie sackte zusammen.
 

„Immer noch die gleiche Dramaqueen, Chianti? Denselben kitschigen Sinn für’s Theatralische…?“

Gin justierte seinen Griff, als Ran in seinen Armen schwer wurde, lächelte spöttisch.

„Wird dir das nicht mal langweilig?“
 

Chianti grinste nur, schob sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase.
 

„Ja, und nein. Abgesehen davon SIND wir in einem Theater, also, was juckt es dich, Gin. Mich interessiert vielmehr – was ist, wenn sie tatsächlich nochmal wach wird?“
 

Chianti sah zu Gin, der Ran hatte zu Boden gleiten lassen.

„Das soll sie sogar.“
 

Gin lächelte.

„Das Anästhetikum war nur so stark dosiert, dass sie nicht gleich die Vorstellung stört. Sie wird wach werden, sobald das Wasser hoch genug steht, um sie zu ertränken, wenn es in ihre Nase läuft und sie zum Husten bringt. Und dann wird es zu spät sein.“
 

Er ließ seine Hand über die Konstruktion streifen.

„Die Wanne ist gerade einmal so hoch, dass ein Mensch flach in ihr liegen kann – alles andere wäre unnötiger Balast. Sie wird genau dann vollgelaufen sein, wenn die Szene dran ist. Es wäre zwar schneller gegangen, wenn das Wasser schon weiter eingelaufen wäre, aber dann hätte unser Plan nicht funktionert. Deshalb haben wir ja auch die Ablaufpläne gefälscht, das weißt du doch.“
 

Er lachte leise. Dann drehte er sich um, hob die bewusstlose Ran auf, ließ sie in die Wanne gleiten. Das Wasser reichte ihr in etwa bis zu den Ohren. Um sie herum begannen die kleinen Blüten auf den Wellen auf und ab zu tanzen, der Kleid des Rocks bauschte sich, schwebte gesterhaft im Wasser, dort, wo er sich mit dem kühlen Nass vollgesogen hatte.
 

„War schön mit dir, Angel.“
 

Gin gab der Wange einen Klaps, drehte sich um und ließ die Wanne mit einem Knopfdruck nach oben fahren, wo sie an ihrer Abdeckung andockte.
 

„Zeit, uns auf unseren Auftritt vorzubereiten, Chianti.“
 


 

Shinichi musste sich eingestehen, dass von seiner anfänglichen Gefasstheit langsam nichts mehr übrig war. Er blickte um sich – aufgeregte Gesichter, wohin er auch blickte. Das Publikum bestand aus Touristen, vorwiegend, aber auch eingefleischte Londoner Shakespeare-Fans drängten sich in den Rängen. Die Sonne brach durch die Öffnung im Dach auf die Spielfläche vor ihm. Um ihn herum drängten sich die Menschen; Kinder weinten, Erwachsene schrien und lachten, Mitarbeiter brüllten sich heiser bei dem Versuch, Getränke, Snacks und Programmhefte an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Unter seinen Füßen knirschte der Sand, die Luft war bereits jetzt stickig und sein Hemd begann ihm am Rücken festzukleben.
 

Die Angst um Ran raubte ihm fast den Verstand.
 

Seine Karte war eine sogenannte „Groundling“-Karte gewesen; ein Stehplatz in den vorderen Reihen, die man verkaufte, um dem Publikum ein authentisch nachempfundenes Theatergefühl zu vermitteln. Diese Plätze hatte man früher den Leuten, die sich einen teureren Platz unter den überdachten Rängen nicht leisten konnten, für einen Penny verkauft. Immerhin war das Theater damit eine Sache des gesamten Volks gewesen, nicht nur ein exklusiver Genuss für die reichere Bevölkerung.

Ihn brachte dieses Detailwissen über englischen Theatertraditionen an der Stelle allerdings kaum weiter.
 

Shinichi fröstelte, trotz der Tatsache, dass die Sonne für Londoner Verhältnisse unbarmherzig auf sie herniederbrannte.

Er sah sich um und erschrak fast zu Tode, als er eine Stimme direkt an seinem Ohr hörte.
 

„And? Any idea as to where they’ve put her, Sir?”

Shinichi hatte die Augen aufgerissen, merkte, wie sein Puls in die Höhe geschossen war, beruhigte sich nur langsam wieder.
 

„For heaven’s sake, Jenna.“
 

Er wandte sich nicht um, als er sprach, versuchte generell, die Lippen so wenig wie möglich zu bewegen. Aus den Augenwinkeln wurde er einer weiblichen Gestalt gewahr, der die schwarzbraunen Haare lang über die Schultern fielen. Sie trug ein gepunktetes Wickelkleid, darüber eine Jeansjacke und Stiefel, auf ihrem Kopf eine Kappe, um ihre Schulter war eine mittelgroße, geblümte Tasche geschlungen.
 

„Not bad – not bad at all, Jenna. That’s an A for perfect disguise.”
 

“Thanks, Sir.”

“And didn’t we…”

Er merkte, wie sie ein wenig zusammenzuckte, und nun doch ins Stottern geriet.

„Sorry. No, but it’s kind of hard to get accustomed to call you Shinichi, Sir. Ah. Shinichi.”

Sie warf ihm einen Blick über ihre Sonnenbrille zu.
 

„And?“

„No.“

Shinichi seufzte.

„I wonder if there’s some way to hide someone or something on that stage. But we can’t see up there, and I bet that’s not a coincidence. Why didn’t you go for a seat up the ranks?”
 

“I tried. But no chance there - the house is sold out.”, Jenna moaned.

“All I got was this. But you’re right. The view would’ve been much better. But it’s a premiere today, and every seat is sold.”
 

Sie blickte die zwei Ränge hoch, ließ ihre Augen über die zahlreichen Besucher schweifen. Aufgeregtes Gelächter drang an ihre Ohren, die Sprachen vieler Herren Länder lagen in der Luft.
 

„What do you think, where could they be? Where will they hide?”
 

Er schüttelte kaum merklich den Kopf, bedeutete ihr so, dass er es bevorzugte, ab jetzt leise zu sein. Sie wollten nicht auffallen, und zwei sich eigentlich unbekannte Menschen, die die ganze Zeit miteinander tuschelten, zogen Aufmerksamkeit auf sich. Shinichi schluckte, schloss die Augen, merkte, wie sein Herz ihm bis zum Hals schlug, sein ganzer Körper zum Zerreißen gespannt war wie die Sehne eines Bogens.
 

Er wusste, sie war in Gefahr.
 

Jetzt, in diesem Moment.
 

Und es kostete ihn alles, was er an Willenskraft aufbieten konnte, einfach stehen zu bleiben und zu warten.
 

Jenna starrte ihn an, kniff die Lippen aufeinander, trat dann nach vorne, um wie er in der ersten Reihe zu stehen.

Hoffte, allein ihre Anwesenheit und das Wissen, dass sie alle da waren und alles taten, um sie zu retten, half ihm.
 

Dann hob sie den Kopf, genauso wie Shinichi neben ihr, als das Stück begann.
 

Chianti schob sich die Sonnenbrille auf die Nase, zog ihre Kappe zurecht. In ihrem Arm trug sie ein Bündel Programmhefte, händigte gerade lächelnd eines an einen jungen Mann aus, nahm das Geld dafür und stopfte es in einen Beutel, der um ihren Bauch hing. Sie hasste diesen lächerlichen Aufzug.
 

Dafür hatte sie ihn endlich entdeckt. Er stand ganz vorne, beobachtete das Geschehen auf der Bühne, nicht ahnend, dass er seiner Ran so nah war.

Und doch unerreichbar fern.

Sie versuchte zu schätzen, wie viel Wasser bereits in dem Tank war, ob es schon ihre Nase erreicht hatte…
 

Minuten um Minuten vergingen, als sich das Schauspiel auf der Bühne entwickelte – die Geschichte des danischen Prinzen Hamlet, der nach Hause zurückkehrte um zu erfahren, dass sein Vater ermordet worden war und sein Onkel seine Mutter geheiratet hatte. Den die Situation so überrannte, das Netz von Intrigen und Lügen am Hofe selbst so zersetzte, dass er selber anfing, einen Fehler nach dem anderen zu machen, sich selbst als Held zunehmen demontierte.

Verzweiflung und Angst fraßen ihn auf.
 

There is something rotten…
 

Chianti lächelte, als sie diesen Satz hörte, den der Schauspieler so wohlintoniert von sich gab.
 

Oh yes, there is. Something very rotten, indeed…
 

Dann läutete es zur ersten kurzen Spielpause – die Hitze hatte die Organisatoren zu dieser Entscheidung bewogen, um allen genügend Zeit und Gelegenheit zu geben, genügend zu trinken und eben diese Flüssigkeit auch wieder loszuwerden.
 

Das war ihr Zeichen.
 

Shinichis Haare stellten sich auf, als er sie roch. Dieses Parfum, gemischt mit dem Geruch dieser Zigaretten, die sie wohl alle Kette rauchten.

Er roch es tatsächlich zuerst, als dass er sie sah, versteifte sich unwillkürlich. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Frau, wie sie neben ihn trat, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Kurz, ganz kurz, schob sie mit ihrer Hand ihre Brille ein wenig tiefer, zwinkterte ihm zu – als ober nicht ohnehin schon wusste, wer da neben ihm stand.
 

Chianti.
 

Er hoffte inständig, Jenna hielt still und drehte sich jetzt nicht um. Sie spielte gerade mit ihrem Handy, schien Fotos durchzugehen, die sie vom Stück gemacht hatte. Er ahnte, sie beobachtete ihn in der Spiegelung ihres Telefons. Ganz sicher hatte sie die Ohren gespitzt und lauschte.

Anerkennend nahm er zur Kenntnis, dass man nichts bemerkte. Sie hatte wirklich gut aufgepasst.
 

Good girl, Jenna.
 


 

„A program, Sir? A drink, maybe?“
 

Shinichi drehte sich nun um, schaute sie an, musterte dann das Programmheft, das sie ihm vor die Nase hielt.

„Sure, why not.“

Ohne den Blick von ihr zu wenden, griff er in seine Jackentasche, wo er immer ein paar Pfundmünzen hatte, gab sie ihr – er ahnte, ihr war vollkommen egal, wie viel er für das Heft bezahlte. Sie drückte es ihm ihn die Hand.

„Thankyou, Sir. I hope you enjoy the show.“

Damit wandte sie sich um und ging. Er atmete tief durch, fing sich Jennas Blick ein, sah sie nicht an, tat so, als würde er das Programmheft durchblättern.
 

„Yes. And you stay here, Jenna. I warn you.”

“But…”

“No.” Er atmete gepresst aus.

„Not only that what‘ll happen now for sure will be very dangerous and I want to keep you out of it – I still don’t know where Ran is. If she’s up here, I’ll need you here. Right here.”

Er schluckte, merkte erst jetzt, wie trocken seine Kehle geworden war, räusperte sich.
 

“No discussion. You. Stay. Here.”
 

Er wandte sich ihr nicht zu.
 

„That’s an order, Detective Sergeant Watson. Don’t you dare following me.”
 

Er bemerkte, wie sie schluckte, ihre Widerworte für sich behielt, sich stattdessen räusperte.
 

„Take care and good luck, Sir.”
 

Shinichi nickte, dann begann er sich durch die Menge zu wühlen, Chianti hinterher, in gebührendem Abstand.
 

Jenna begann zu zittern, schluckte hart. Griff nach ihrem Handy und begann zu schreiben.
 


 

Heiji schreckte auf, ließ seine Cola fallen, als sein Handy vibrierte.
 

Las nur die Nachricht.
 

It’s starting. They’ve come and fetched him.
 

Heiji rempelte Kogorô an, der neben ihm stand; Shuichi und Jodie hatten sich in umliegende Gebäude verzogen, um von dort die Szene beobachten zu können – und eventuell einzugreifen.
 

Yusaku, der etwas abseits gewartet hatte, bemerkte Heijis Bewegung, kam ebenfalls näher.
 

„‘s fängt an.“
 

Er begann zurückzuschreiben.

Jenna zog die Augenbrauen hoch, las die Nachricht.
 

>Who?<
 

>A woman. Couldn’t see much. Sunglasses. Wore a GT uniform.<
 

>Likely Chianti. Where’s he?<
 

>Followed her. She sold him a programme, he went after her. I don’t know where exactly. Inside, presumably.<
 

>And you?<
 

>Stay put, by his order. If Ran is here, he said, he’ll need me here.<
 

>That’s right. So we don’t know…?<
 

>Not yet. :(<
 

Eine kurze Pause entstand. Dann ging eine neue Nachricht von Jenna auf seinem Handy ein.
 

The play is starting again. I assume, whatever it is, that’s going to happen, it will happen now – it’s noisy, they won’t hear anything…
 

Heiji biss sich auf die Unterlippe.
 

I assume you’re right, Jenna.
 

Er fuhr sich durch die Haare, brachte damit noch mehr Unordnung in seine ohnehin schon zerzausten Haare. Er konnte sich vorstellen, wie Jenna sich gerade fühlte – er wusste selber nur zu gut, in welche Gefahr, Shinichi sich gerade begab.
 

Keep your eyes open, Watson.
 

Er wartete keine fünf Sekunden auf die Antwort.
 

I will.
 

Damit steckte er sein Smartphone weg, blickte mit einem unguten Gefühl im Bauch auf den Bau vor sich. Er bemerkte, wie Shinichis Vater neben ihm sich mit beiden Händen übers Gesicht fuhr.
 

Jenna hingegen zuckte zusammen, als ihr Telefon zu klingeln begann. Als sie den Namen auf dem Display las, erstarrte sie, hob ab, hielt das Telefon ans Ohr.
 

Sherlock
 

Sie hörte nur Rascheln und Schritte.

Atemgeräusche.
 

Bis die ersten Gesprächsfetzen zu vernehmen waren, dauerte es eine Weile.

Und ihr Herz setzte drei volle Schläge aus, als es begann.

Sie ahnte, was er getan hatte; er hatte ihr Handy blind angewählt, um sie auf dem Laufenden zu halten.

Um eventuell zu hören, wann es besser wäre, abzuhauen.

Oder die anderen zu holen.
 

Oder Ran zu retten.
 


 


 

Shinichi stellte sicher, dass er die Tastatursperre eingeschaltet hatte, damit das Telefon nicht von selbst ausging. Mittlerweile hatte er zu Chianti aufgeschlossen. Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu, deponierte ihre Programmhefte und die Bauchtasche bei nächster Gelegenheit auf einem Stuhl.
 

„Braver Junge.“

Er warf ihr einen wütenden Blick zu.

„Als ob ihr nicht wüsstet – wo ist sie?“

„Das wirst du gleich erfahren, Kudô.“
 

Sie schritt neben ihm aus, führte ihn Backstage und zu einer Treppe, die nach unten führte. Wie selbstverständlich sperrte sie die Türen auf, die vor ihnen auftauchten, fing sich seinen fragenden Blick ein.
 

„Komm, du weißt, wir sind keine Anfänger. Sich hier einzuschleichen und an Schlüssel zu kommen, ist unser kleinstes Problem gewesen.“
 

Damit stieß sie die letzte Tür zu, sperrte hinter sich ab – und warf den Schlüssel irgendwo in die Dunkelheit. Shinichi erstarrte, schaute sich um.

Über sich hörte er gedämpft Stimmen und Schritte. Der Raum war riesig, und nur in der Mitte spärlich beleuchtet; am Rand standen diverse Requisieten und Maschinen, lagen Bündel von verschiedenen Stoffen, lagerten Traversen und Bühnenbeleuchtungen. Von den Decken hingen hie und da Ketten und Seile. Und wenn ihn nicht alles täuschte, sah er hinten im Schatten ein paar Beine unter einer Plane.
 

Er schluckte hart.
 

„Wie schön, dass du unsere Einladung angenommen hast, Kudô.“
 

Gin!
 

Shinichi merkte, wie in ihm kurzzeitig alles scheinbar zu Eis erstarrte.

Er blickte sich um, hektischer als er es wollte, sah ihn jedoch nirgends. Sein Puls war innerhalb von Sekundenbruchteilen in die Höhe geschossen.
 

Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlich – und langsam ahnte er, wo er war.
 

„Wir sind unter der Hauptbühne.“, stellte er mehr für sich fest, als für jemand anderen.

Eine Antwort erhielt er dennoch.

„Richtig.“
 

Shinichi drehte sich um seine eigene Achse, ließ seine Augen durch die Dunkelheit gleiten, tastete jeden Schatten ab – und dann sah er ihn.
 

„Um auf die Einladung zurückzukommen – ihr habt ja lange genug auf euch warten lassen…“
 

Gin lachte, trat in den fahlen Lichtkreis, der von einer kleinen Deckenlampe erzeugt wurde.
 

„Sein oder nicht sein, Kudô.“
 

Silbern blitzte das Katana im Dämmerlicht.

Kapitel 53: Sein oder nicht sein

KAPITEL 53: SEIN ODER NICHT SEIN
 


 

„Nimm ihm seine Waffe ab, Chianti.“
 

Shinichi hob eine Augenbraue, starrte Gin an genervt an, zog langsam seine Waffe und fragte sich, woher er so viel Gelassenheit nahm. Allerdings...

Jetzt Gegenwehr zu leisten half niemandem.

Jetzt zu provozieren half niemandem.

Er musste wohl oder übel mitspielen, solange er nicht wusste, wo Ran war.
 

Er trat näher, langsam, fühlte, wie es in seinem Schädel fast zärtlich zu pochen begann, ein sanftes Trommeln gleich hinter seiner Stirn, wie Finger, die jemand ungeduldig auf die Tischplatte klopfte, unaufhörlich, nervtötend, kaum zu ignorieren. Shinichi fluchte innerlich, kniff ärgerlich die Lippen zusammen. Er taxierte Gin, der mit seinem Samuraischwert vor ihm stand, ihn lauernd anblickte. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie eh und je, wohl bemessen, keine Kräfte verschwended, fokussiert. Er händigte Chianti wortlos seine Dienstwaffe aus, wandte seinen Blick nicht von Gin.
 

Der Ausdruck in seinen Augen sprach von einem Hunger, wie Shinichi ihn kaum jemals bei jemandem gesehen hatte.
 

Gin gierte.

Und Shinichi wusste genau, wonach.
 

Er schluckte trocken, in seinen Ohren klang immer noch das metallene Klingeln des Schlüssels, der in eine Ecke geworfen worden war. Eine etwaige schnelle Flucht war damit unmöglich.

Er würde das wohl oder übel aussitzen müssen.
 

Und so sehr er sich umsah und lauschte, von Ran fehlte jede Spur.
 

„So sehen wir uns also wieder, Kudô.“
 

Gin’s kalte Stimme schlich durch den dunklen, weiten Raum.
 

„In der Tat.“
 

Shinichi bemühte sich um Ruhe.

„Willst du nun wahrmachen, was du mir damals versprochen hast? Du bist ein wenig spät dran, Gin.“

Er schluckte hart, steckte seine Hände in die Hosentaschen, um sein Zittern nicht zu zeigen.
 

„Es gab Zeiten, da wäre ich dir dankbar dafür gewesen. Ich muss dir nicht sagen, dass sie vorbei sind. Womit wir beim Thema wären – wo ist Ran?“
 

Die letzten drei Worte klangen panischer, als er beabsichtigt hatte.
 

Gin lächelte nur. Schwang das antike Katana sachte in der Luft, ließ das Licht auf seiner Klinge tanzen, horchte auf den feinen Klang, als es durch die Luft schnitt, sein Lied von Tod und Schmerz sang.
 

Shinichi starrte ihn an, merkte, wie in ihm die Unruhe wuchs.
 

„Wir warten noch auf sie.“

„Wie meinst du das?“
 

Gin lächelte.

„Ich… hatte eigentlich geplant, dich zu töten, wenn du am Boden liegst. Du stehst mir momentan noch ein wenig zu aufrecht, wie du ja selber gerade zugegeben hast – also muss ich wohl oder übel den Soll-Zustand erst wiederherstellen.“

Gins Lippen kräuselten sich, in seinen Augen blitzte es gefährlich.

Shinichi starrte ihn an, fühlte, wie das Adrenalin sein Hirn flutete, ihn kaum mehr rational denken ließ, ihn zum Handeln drängen wollte.

Nur mit Mühe riss er sich am Riemen, atmete durch.
 

Gin trat näher, langsam. Er hob den Kopf, bedachte sein Gegenüber mit einem langen, abschätzenden Blick, ließ das Katana kleine Kreise in die Luft zeichnen.
 

„Weißt du, sie lebt noch. Noch. Aber sei dir versichert, wir werden es mitbekommen, wenn sie stirbt. Und wenn das dann passiert ist, wenn sie tot ist, wenn du zerbrochen auf dem Boden liegst, weil du ihr nicht helfen konntest, weil du mal wieder Schuld an ihrem Leid, an ihrem Tod bist, dann… dann werde ich dich erlösen, Kudô. So… meine ich das.“
 

Er war vor ihm stehen geblieben, hatte das Schwert gehoben, die Spitze auf Shinichis Brust aufgesetzt. Er konnte die scharfe Klinge durch sein Hemd hindurch auf seiner Haut spüren, schauderte.
 

„Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff, Sherlock. Ich will diese Schuld in deinen Augen noch einmal sehen… du sollst büßen, für das, was du uns angetan hast. Nicht wahr, Chianti?“
 

Die Blondine war neben ihn getreten, grinste. Ihre Brille hatte sie abgelegt, schaute ihn voller Spott aus ihren hellblauen Augen an.

Shinichi fühlte, wie sich zum Adrenalin noch etwas anderes gesellte.

Blanke, schier grenzenlose, heißer als die Hölle lodernde Wut.
 

Nicht mit mir. Nicht noch einmal.
 

„Wo. Ist. Sie…?!“
 

Scharf schnitten seine Worte durch die Luft.

Seine Geduld war am Ende.
 


 

Jenna fluchte, wünschte sich wie noch nie in ihrem Leben, zumindest etwas Japanisch zu sprechen. Sie konnte nur warten, bis eine Anweisung auf Englisch kam; oder sie sich aus den Stimmen oder anderen Geräuschen zusammenreimen konnte, was Sache war. Sie presste sich das Smartphone an ihre Ohrmuschel, hielt mit ihrer anderen Hand ihr anderes Ohr zu, damit so wenig störende Geräusche wie möglich an ihr Gehör drangen und lauschte angestrengt.

Sie wagte kaum zu atmen.

Nie war sie sie so zum Zerreißen gespannt gewesen.

Seit damals, seit sie ihre Schwester in den Flammen fast verloren hatte, hatte sie nie wieder eine so abgrundtiefe, seelenfressende Angst verspürt.
 

She mustn’t die. Tell me where she is and I’ll save her! Just tell me – tell me!
 

Über ihrem Kopf entfaltete sich das Schauspiel weiter.

Unter ihren Füßen ebenfalls.
 


 

Shinichi merkte, wie ihm eine Sicherung langsam aber sicher durchzubrennen drohte, atmete tief durch.

„Weißt du, Gin, ich glaube, ich werde langsam zu alt für diesen Mist. Ich denke auch, ich habe lange genug gewartet. Wo habt ihr sie hingebracht? Was habt ihr mit ihr gemacht?!“

Seine Stimme war laut geworden, und es scherte ihn nicht mehr, dass man deutlich die Wut und auch die Angst in ihr mitschwingen hören konnte.

Er wischte das Katana vor seiner Brust ärgerlich beiseite, setzte an, um zu versuchen, es ihm ganz abzunehmen. Gin wich ihm aus, geschmeidig wie ein Schatten, stellte ihm ein Bein, setzte mit einem Stoß in den Rücken nach, ließ ihn zu Boden segeln. Shinichi stürzte, landete auf allen Vieren. Er keuchte auf, als er einen spitzen Damenstiefel zwischen seinen Rippen spürte, der ihn auf den Rücken drehte und starrte geradewegs in Gins eisig funkelnde Augen. Ein winziges Lächeln umspielte dessen Lippen, als er sein Katana ansetzte – direkt unter Shinichis Kinn. Er zwang ihn, es zu heben, starrte ihm höhnisch ins Gesicht.
 

„Warum wehrst du dich eigentlich noch? Du solltest wissen, dass du keine Chance hast. Die hattest du nie – damals nicht, und heute genauso wenig.“
 

Shinichi atmete schwer, fühlte, wie seine Wut in seinen Eingeweiden brannte, ihn von innen her aufzufressen drohte, alles an rationalen Gedanken in seinem Kopf in Schutt und Asche legte.

Und gleichzeitig lähmte ihn eine schier unfassbare Angst. Er ahnte, dass jede Minute, die verstrich, zu Rans Ungunsten ausfiel. Ihm lief, das fühlte er deutlich, die Zeit davon.
 

Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als er ihn spürte.

Einen kleinen, nassen, kalten Tropfen auf der Stirn.

Er hob die Hand, langsam, wie in Zeitlupe, wandte dabei in keiner Sekunde seinen Blick von Gin ab.

Mit seinen Fingerspitzen berührte er die Stelle an seiner Stirn, hob seine Hand vor Augen, gestattete sich erst jetzt, zu überprüfen, was da auf sein Gesicht getropft war.
 

Im dunklen Zwielicht glänzten seine Fingerkuppen feucht.

Wie betäubt studierte er den nassen Film auf seiner Haut, zerrieb ihn, bis von ihm nichts mehr übrig war.

Dann blickte er nach oben – und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er begriff, war er da sah.

Sein Herz setzte einen Schlag aus, fand nur mit Mühe in seinen Rhythmus zurück.
 

Es war totenstill in der Halle – niemand sagte etwas. Gin grinste boshaft, als er Shinichi dabei zusah, wie er eins und eins zusammenzählte, genoss das Geräusch, das dessen Atem machte, als sein Puls nach oben schoss und damit auch seine Atemfrequenz.

Shinichi keuchte, griff sich an die Brust. Sein Mund war schlagartig wie ausgetrocknet, sein Gehirn wollte einfach abschalten, als ihm klar wurde, was hier passierte.

Was dieser kleine Wassertropfen bedeutete.
 

Das Ende.
 

Dann fiel ein zweiter Tropfen Wasser auf seine Stirn und riss ihn zurück in eine Realität, die ihn mit all ihrer Grausamkeit lauthals ins Gesicht lachte.
 

Shinichi fuhr hoch, rappelte sich, auf, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Panik hatte ihn ergriffen, nackte Angst.

Er schüttelte den Kopf, formte mit seinen Lippen lautlos immer und immer wieder das gleiche Wort.
 

Nein.
 

Nein, nein, nein.
 

Und dann hörten sie es.
 

Wasserplatschen. Gedämpfte Rufe. Klopfen.
 

„Nein!“, keuchte er, starrte nach oben.
 

Er verzog das Gesicht, konnte sich nicht wehren, als sie seinen Kopf fluteten, ihn zu ertränken drohten – all die Bilder, die er nun schon so oft gesehen hatte.

Wasser.

Blumen.

Ran.
 

Ran, die ertrank.

Ran, der er nicht helfen konnte.

Ran, die starb, weil er wieder zu spät gekommen war.

Ran, die für seine Fehler bezahlte.
 

„RAN!“
 

Er schrie. Schrie, wie noch nie in seinem Leben.
 


 

Jenna erstarrte. Inmitten der Hitze des Gefechts auf und vor der Bühne klang in ihrem Kopf sein trommelfellzerfetzender Schrei wieder, löschte jeden Gedanken, der dort gerade noch gewesen war, aus, füllte all ihr Denken mit namenloser Angst.

Angst.
 

„Sherlock… what’s going on? Talk to me… talk to me! Tell me what to do, I want to help, I…”
 

Sie krallte ihre Finger um ihr Smartphone, zitterte am ganzen Körper.

Und fühlte sich hilflos wie nur ein einziges Mal in ihrem Leben zuvor.
 


 

Sein lautes, höhnendes Gelächelter ließ die Realität über ihn hereinstürzen wie einen Kaventsmann. Wie diese riesige, albtraumhafte, alles niederwälzende Welle zog ihn dieses Lachen nach unten, erstickte ihn fast, raubte ihm die Luft zum Atmen, die Kraft, wieder aufzutauchen.
 

Laut, schallend, und voll hässlicher Freude.
 

Ein dritter Tropfen traf ihn auf der Stirn. Shinichi hob die Hand, wischte sie ärgerlich weg – und diese simple Bewegung war es, die ihn langsam wieder funktionieren ließ.
 

Reiß dich zusammen. Noch ist sie nicht tot. Du weißt jetzt, wo sie ist. Tu was!

Verdammt!
 

Shinichi riss sich los vom Anblick des Tanks an der Decke, starrte Gin an.

Langsam schaltete sein Denken sich wieder ein. Er sahden Schlauch, der nach oben führte, erblickte Hebel und hydraulische Pumpen.
 

Dieses Ding wird hochgefahren. Also muss man es auch wieder herunterbekommen. Wenn ich es nur einen Spalt von der Decke bewegen kann, wäre schon viel gewonnen – damit sie Luft bekommt…
 

Shinichi schaute hektisch um sich, fand, was er suchte – den Schalter an der Wand, um den Mechanismus der Hebevorrichtung zu betätigen nämlich – und wollte auf ihn zu rennen.
 

Weit kam er nicht.
 

Es blitzte auf, kurz, vor seinem Auge. Er blieb gerade noch stehen - dann stand Gin vor ihm, zwischen ihm und der Mechanik.
 

Shinichi, überlegte, kam zu einem Schluss.

Er kam hier wahrscheinlich nicht weiter. Jemand anders vielleicht schon. Er wich zurück, griff in seine Jackentasche. Er wusste, viel Zeit blieb ihm wahrscheinlich nicht, und er wollte sicher gehen, dass sie ihn auch hörte.
 

Your part, Watson…
 

„Jenna!“
 

Hilf mir…
 


 

Jenna war umringt von Menschen, die lauthals auf die Bühne brüllten – ein Nachteil, ein Groundling zu sein, war der, dass man in das Geschehen mit einbezogen wurde. Sie hielt sich ihr Handy immer noch ans Ohr, aber hörte kaum noch etwas, bis –
 

„Jenna, can you hear-“
 

Shinichis Rufen ging im Lärm erneut unter.

Jenna hielt sich mit der anderen Hand ihr anderes Ohr noch fester zu, presste ihr Smartphone so fest an ihr Ohr, dass sie glaubte, bereits ein Relief ins Glas des Displays gedrückt zu haben, hielt die Luft an. Adrenalin pumpte durch ihren Körper, ließ alle ihre Haare zu Berge stehen, machte aus ihren Knien Wackelpudding. Sie war in ihrem Leben noch nie so angespannt gewesen.
 

Und sie hatte ihn in ihrem Leben noch nie so panisch schreien gehört.
 

„Jenna – on stage – water – she’ll-“
 

Irgendetwas schnitt ihm die Stimme ab. Jenna merkte, wie sich seine Panik auf sie übertrug.

Sie schluckte, starrte auf die Bühne, suchte nach Wasser. Auf der Bühne stand gerade Ophelia, lamentiertend – verwirrt, enttäuscht, mit ihren Blumen in den Händen. Das Publikum rief ihr immer noch zu. Sie kämpfte sich vorwärts, zog sich mit ihren Händen an der Bühne hoch, um den Boden derselben begutachten zu können.
 

Those goddamned flowers.
 

„Jenna, please!“
 

Sie hörte ihn kaum, und Panik machte sich in ihr breit. Ganz offensichtlich war unten gerade ein Kampf im Gange, und sie stand hier oben.
 

Ein Geräusch von Metall, dass gegen Beton schlug und ein kurzer Schrei ließen sie kurz das Schlimmste befürchten, bis –
 

„– water – stage…“
 

Seine Stimme kam keuchend, dann ein erneuter Schrei – diesmal, und sie war sich ganz sicher, war es ein Schmerzenschrei – dann knackte die Leitung, rauschte, erstarb.
 

„Sir?“
 

Jenna ließ ihr Handy sinken, starrte auf das Display. Es zeigte einen beendeten Anruf an.

Die Verbindung war weg.
 

Sherlock!
 

Was war passiert?
 

My god, what…
 

Ihr Mund war wie ausgetrocknet, in ihrem Kopf drehte sich alles, ihre Gedanken schlugen mehr Salti als die Artisten im Chinesischen Staatszirkus. Sie fröstelte, und das trotz der Sommerhitze. Jenna blickte um sich, verwirrt – die Leute drängten immer noch gegen sie, starrten auf die Bühne wo Ophelia weinte, und Hamlet… keine Blumen bekam. Sie sah Besorgnis in ihren Gesichtern, Gespanntheit, sie alle waren gebannt von dem Drama, das sich auf der Bühne vor ihren Augen entfaltete, während Jenna voll und ganz gefangen in ihrem eigenen war.
 

Dann blinkte ihr Handy kurz, das Display erlosch und kehrte zurück in den Standby-Modus.
 

Und diese simple Funktion war, es die Jenna wieder ins hier und jetzt riss. Ihre grauen Zellen begannen wieder warmzulaufen, als sie sich zur Bühne zurück durchkämpfte, die wütenden Beschimpfungen ignorierend. Er brauchte ihre Hilfe.
 

Jetzt.
 

Also, zurück auf Anfang - was hatte er gesagt?
 

Bühne? Wasser?
 


 


 

Ran war aufgewacht, als ihr das Wasser in die Nase gelaufen war. Ein kleines Tröpfchen, das gemein und langsam in ihre Luftröhre rann, bis es an einen Ort ankam, der es nicht haben wollte – ihre Lunge.
 

Sie hustete, bekam durch ihre ruckartige Bewegung schlagartig noch mehr Wasser in ihre Luftröhre und wurde panisch, hielt endlich die Luft an – sie öffnete die Augen, und sah um sich herum nur schwarz.
 

Ich bin in diesem Tank!
 

Und über ihrer Nase waren kaum zwei Zentimeter Luft mehr. Das Wasser lief noch.

Sie schloss die Augen wieder, fing an ihre Umgebung abzutasten, fand unter sich Boden, neben sich Wände und über ihr die Decke. Sie drückte sich nach oben, bis ihre Nase gerade so aus dem Wasser ragte, atmete schnaubend aus, hustete. Dann atmete sie ein, tief, ahnend, dass dies vielleicht ihr letzter Atemzug sein könnte.

Und er musste reichen, um sie hier durchzubringen. Sie tauchte unter, begann an den Wänden zu klopfen, sie abzutasten, nach einem Schloss, Scharnier oder Griff. Versuchte, auf sich aufmerksam zu machen, irgendwie, hämmerte und schlug mit ihren Fäusten gegen die Wände, immer lauter, immer hektischer.

Gedämpft drangen Stimmen zu ihr, sie spürte die Vibrationen von Leuten, die über die Bohlen schritten.
 

Offenbar ist das Stück in vollem Gange. Bitte – bitte hört mich! Ihr müsst mich doch hören…!
 

Sie klopfte mit ihren Händen gegen die Unterseite der Bühne so gut sie konnte, trieb immer mal wieder ein wenig ab. Dass Hilfe so greifbar nah war und doch scheinbar unerreichbar fern, brachte sie fast um den Verstand.
 

Helft mir!
 

Sie mussten sie doch Klopfen hören! Ran hielt inne, kurz, lauschte, ob sich etwas regte. Luftblasen stiegen auf, als ihr sie langsam ausatmete. Der Sauerstoff ging ihr aus, und nackte Angst stieg in ihr hoch, erneut, übernahm ihr Handeln und mähte sämtliches rationales Denken platt.

Sie begann erneut, wie wild gegen die Bohlen zu trommeln, ignorierte den Schmerz in ihren Fingern, als sie sich die Haut an den rauen Planken aufschürfte, fühlte, wie ihre Lungen nach Sauerstoff zu schreien anfingen. Es brannte, tat jämmerlich weh. Sie hatte noch nie derart lang die Luft angehalten, und es forderte alles an Überlebenswillen, nicht einfach einzuatmen.
 

Shinichi – hilf mir!
 


 

Ran…
 

Shinichi kniete keine fünf Meter unter ihr, Wasser tropfte ihm auf Kopf und Schultern. Gin hielt ihm sein Katana an den Hals, während Chianti mit ihrer Glock auf ihn zielte – nur zur Sicherheit. Sie hatten ihn Brüllen gehört, es war offensichtlich, dass er noch jemanden oben hatte, der ihm half. Mittlerweile lag Shinichis Smartphone tot und zertrümmert auf dem nackten Betonboden.

Er selber blutete aus einer Wunde an seiner Hand, hielt sie mit der anderen Hand zu, keuchte. Sein Gesicht war blutleer.

Für ihn schien die Zeit stillzustehen.

Reglos kniete er vor ihnen, gezwungen zur Bewegungslosigkeit, starrte nach oben – und hörte sie. Gin lächelte kalt, genoss den Anblick seines Gegners sichtlich.

Shinichi lauschte, merkte, wie eine lähmende Kälte ihn ergriffen hatte. Sie hatten ihn in die Knie gezwungen, und er wusste nicht, warum er sich nicht wehrte, warum er nicht kämpfte – er konnte einfach nicht.

In diesem Moment hörte und fühlte er nur sie, spürte beinahe am eigenen Leib, wie sie um ihr Leben rang. Und starb mit jedem Moment, der verstrich, ein wenig mehr mit ihr.

Shinichi fürchtete sich vor dem Moment, an dem es still werden würde.

Es fühlte sich an wie damals, genauso wie vor fünf Jahren.

Er konnte ihr heute genauso wenig helfen wie seinerzeit.

In seinem Kopf hämmerte es, der Gedanke, was hier gerade passierte, war schier unerträglich, für ihn kaum zu begreifen, schnürte ihm den Atem ab, raubte ihm jede Kraft zur Gegenwehr.

Shinichi kniff die Augen zusammen, kurz, versuchte zu denken, irgendetwas zu finden, womit her helfen könnte, eine Lösung, einen Ausweg…

Es gab keinen.
 

Es tut mir Leid, Ran… Ran..

Ran!

Halte durch…
 

„Jenna, please…“, flüsterte er. Er hoffte, sie hatte ihn verstanden. Hatte das Handy griffbereit gehabt. Über ihnen drangen Schreie, Pfiffe und Applaus zu ihnen herunter.
 

Und immer noch das verzweifelte Klopfen Rans.
 

Jenna, please find her… save her…
 

Und ihr fiel es wie Schuppen von den Augen.

Ophelia ertränkte sich selber. Irgendwann in den nächsten Szenen.

Da oben musste irgendwo Wasser sein!

Sie steckte das Handy ein, fasste einen Entschluss. Sie umgriff die Bühnenkante mit beiden Händen und schwang sich, sehr zum Erstaunen der Leute, die um sie herum dem Schauspiel bewohnten, auf die Bühne – wo sie gleich noch mehr Erstaunen verbreitete.
 

„I’m sorry!“, schrie sie, ehe die Ordner kamen, um sie von der Bühne zu ziehen.

„Scotland Yard!“

Sie zog ihre Marke, atmete schwer.

„Is there a water tank on stage?”

Mit einem Mal war alles still, schien die Szene wie eingefroren.

“Yes, madam.”

Die Schauspieler um sie herum nickten.

„Over here. We need it in the next scene. Ophelia –“

„Great. How do we open it?”, unterbrach Jenna den Schauspieler atemlos, der augenscheinlich Laertes verkörperte, unwirsch.

“Why – “

“Because there might be a woman drowning in it right now! How do we –“

“It’s a mechanism. Our staff member in the basement…”

Jenna, die sich mittlerweile auf den Boden gelegt hatte, um an den Planken zu horchen, starrte ihn an.

„I doubt he can help us. Is there another way?“

„No, I’m afraid –“

In diesem Moment spürte sie das Klopfen. Und es ging ihr durch Mark und Bein.

„She’s in there!“, schrie sie nur.

„Open it! For heaven’s sake! Hurry!“
 

Tumult entstand. Schauspieler begannen zu laufen, zogen alles herbei, das als Stemmeisen dienen konnte, begannen, ihre Werkzeuge unter die Bühnenbretter zu klemmen und auszuhebeln. Jenna hingegen horchte immer noch, merkte, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb hämmerte. Das Publikum, das bis gerade eben noch getobt hatte, wurde schlagartig still.

Das Klopfen wurde schwächer.

Und sie wusste immer noch nicht, ob er überhaupt noch lebte.
 


 

Ran schwamm reglos im Wasser. Sie hatte aufgehört zu hämmern, konzentrierte sich darauf, nicht zu atmen, was ihr zunehmend schwerer fiel. Der fehlende Sauerstoff machte ihr Hirn träge, und das wiederum führte dazu, dass es nur noch mit Mühe den Willen aufbrauchte, nicht einfach mal so richtig tief Luft zu holen, wie es ihre Lungen eigentlich verlangten.

Dann erschien über ihrem Kopf ein kleiner Spalt Licht. Ran lächelte sanft.
 

Sie kommen…
 

Gleichzeitig schwanden ihr die Sinne. Um sie herum wurde alles langsam schwarz, leise und ruhig.

Und langsam atmete sie ein.
 

Shinichi…
 


 

Shinichi starrte immer noch an die Decke, merkte nicht, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, lautlos. Das Hämmern hatte seit ein paar Sekunden aufgehört. Kurz darauf hatten sich andere Geräusche eingestellt – Klopfen, und das Geräusch von berstendem Holz.
 

Lass sie nicht zu spät kommen, bitte.
 

Er wandte seinen Kopf zu Gin, der ihn anstarrte, mit einem vernichtenden Blick auf seinen harten Zügen.

„Du dreckiger Bastard.“

Gin grinste hässlich.

„Ach komm. Mehr hast du nicht für mich?“

Er holte aus – und Shinichi wich gerade noch aus. Er rollte zur Seite, rappelte sich hoch, lief zur Wand, schlug einen Haken um aus der Schusslinie Chiantis zu kommen, schlitterte hinter eine alte Kulisse. Er hörte ihre Schritte, schaute hektisch um sich und versuchte, irgendetwas in dem Haufen Schrott zu finden, mit dem er sich wehren konnte. Er fand auch etwas.

Und er lachte laut auf, als er sah, was es war.
 

Ein Schwert.
 

Bei weitem nicht so edel, leicht und ausbalanciert wie Gins Katana, aber immerhin, ein Schwert. Fest schlossen sich seine Finger um das Heft. Dann schlich er so leise er konnte weiter, immer wieder nach oben horchend. Versuchte, ein wenig um Gin und Chianti herum zu laufen, um sich ihnen von hinten zu nähern.

Irgendwie musste er Chiantis Waffe loswerden.
 

„Hey, Kudô! Wir spielen aber nicht Verstecken jetzt, oder?“
 

Er hörte sie – sie schien nicht weit weg von ihm zu sein. Shinichi drückte sich in einen Spalt zwischen einem Schrank und einer alten Rüstung. Hob die Hand mit dem Schwert, ignorierte seine Müdigkeit und die Tatsache, dass sein Entzug bald einsetzte.

Wartete.

Schloss die Augen, horchte in die Dunkelheit, und machte sich bereit.
 


 

Jenna griff mit bloßen Fingern nach den gebrochenen Holzstücken, zerrte und brach sie ab, wo es ging, hielt nur inne, um die Frau neben sich, die einen Hammer schwang, weiteres Holz lose schlagen zu lassen. Ihre Finger bluteten bereits, sie hatte sich jede Menge Splitter eingezogen, aber das juckte sie gerade gar nicht - langsam entstand eine Öffnung, und sie konnte es sehen – das Wasser, die Blumen.

Und eine Menge weißen Stoff.
 

Jenna merkte, wie ihr Puls sich in ungeahnte Höhen schraubte.

„There she is! Widen that hole, we must get her out-“

Sie zog an dem Kleid, um Rans Kopf zur Öffnung zu bringen, schaffte es – und erschrak. Rans gesamtes Gesicht war unter Wasser, ihre Augen geschlossen, ihre Lippen leicht geöffnet.
 

No – no, no, no – you mustn’t…!
 

Sie griff ins Wasser, mit beiden Händen neben ihren Kopf, zog ihn aus dem Wasser. Ran atmete nicht.

„Quick, please!“

Ein Mann bedeutete, ihr beiseite zu gehen – er hatte eine Axt geholt, schlug damit auf die Bretter ein, vergrößerte das Loch weit genug und half Jenna, Ran aus dem Wasser zu ziehen. Sie legten sie auf die Bohlen.

Um sie herum schien das gesamte Globe Theater den Atem angehalten zu haben.

Jenna beugte sich über sie, horchte an ihrem Mund, merkte, wie Ohnmacht sie befiel.

Zitternd hob sie die Hand, tastete nach einem Puls an ihrem Hals.
 

No, no, no…!
 


 

Er ließ sie an seinem Versteck vorbei gehen, schwang dann sein Schwert mit der flachen Seite der Klinge gegen ihren Kopf, gab ihr dann einen Tritt in den Rücken. Mit einem Schrei ging sie zu Boden, wollte sich aufrappeln, als er auf ihre Finger trat, damit sie die Waffe losließ.

Sie brüllte vor Schmerz, versuchte, ihn zu fassen zu kriegen. Shinichi hob die Waffe auf, schob sie sich in den Hosenbund, trat zurück.

Chianti stöhnte, rappelte sich hoch. Shinichi starrte sie wortlos an, hielt sein Schwert mit verkrampften Fingern, zitterte. Sie hob die Hand, fasste sich in ihren blonden Lockenschopf, führte sie sich wieder vor Augen. Und er sah, wie es in ihr brodelte und kochte.

Dunkel glitzerte es an ihren Fingerkuppen; offenbar hatte er ihr eine Platzwunde beigebracht. Er fragte sich, wie sie überhaut stehen konnte; zimperlich war er nicht wirklich gewesen. Ihr Schädel musste eigentlich dröhnen wie eine Glocke, gegen die man mit Wucht einen Hammer geschlagen hatte.
 

„Du kleine, dreckige Ratte.“

Sie spuckte aus, taumelte auf ihn zu, zeigte eine deutliche Schlagseite.
 

Ah, immerhin. Schwindlig ist ihr also.
 

„Du kleine, dreckige Ratte. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Du wirst sterben, genauso wie deine kleine Freundin…“

Sie hielt inne, ihr Mundwinkel zog sich hämisch nach oben, als er den Schock auf seinem Gesicht sah.

„Hattest du sie etwa schon vergessen? Na…“

Langsam hob Chianti die Hand, zog sich die Sonnenbrille von der Nase, warf sie in die Dunkelheit neben sich.

Shinichi schluckte, starrte auf den Schmetterling auf ihrem Augenlid. Sein Herz raste, sein Puls war bestimmt schon weit jenseits der 180.

Er hatte Angst. Aber ans Aufgeben dachte er nicht.
 

Ran…
 

„GIN!“, hörte er sie rufen, riss ihn aus seinen Gedanken.

„Der kleine Detektiv ist hier…“
 


 

Shinichi…
 

Ran wusste nicht genau, wo sie war. Es fühlte sich immer noch wie Wasser an – ihre Lungen bewegten sich kaum, jeder Atemzug, den sie versuchte, fühlte sich an als wolle sie durch einen nassen Schwamm atmen, feucht, dicht, undurchdringlich - und so schrecklich zwecklos. Sie fühlte keine Luft in ihren Lungen.
 

Bin ich tot…?
 

Irgendetwas schüttelte sie, irgendwer versuchte Luft in ihre Lungen zu zwingen.

Und es tat weh.
 

Es funktioniert nicht… lasst mich…
 

Wieder.

Und wieder.
 

„Ran!“
 

Jenna beugte sich erneut über Ran, bedeckte ihren Mund mit ihrem, blies ihr mit aller Kraft Luft in die Lungen, um dann wieder zur Herzrhytmusmassage überzugehen.
 

„Ran, please!“
 

Immer noch rührte die junge Frau sich nicht. Jenna merkte, wie sie weinte – schon seit einiger Zeit rollten ihr die Tränen über die Wangen, unterdrückte sie nur mit Mühe ein Schluchzen.

„Ran! You must breathe! Breathe!”
 

Don’t do this to me – don’t do this to him – don’t, just don’t, fight, Ran, breathe!

Breathe, breathe, breathe!
 

Erneut holte sie tief Luft, beugte sich über die junge Frau, pustete, was ihre Lungen hergaben – und merkte, wie ein Beben durch Rans Körper lief.

Sie hustete, spuckte, japste nach Luft. Jenna starrte sie an, perplex – dann halfen sie und der Schauspieler mit der Axt ihr, sich aufzusetzen, damit sie besser abhusten konnte.

„Shin-…“

Weiter kam sie nicht. Sie blickte um sich, nahm diese Menge an fremden, besorgen Gesichtern auf, und fand doch das eine nicht, das sie unbedingt sehen wollte. Keuchend zwang sie die Luft in ihre Lungen, merkte doch, wie ihr bereits eine ganz andere Macht ihr den Atem rauben wollte.

Sie zitterte, schlang ihre Arme um sich, japste und hustete, als ein weiterer Schwall verirrten Wassers den Weg ins Freie gezwungen wurde.

Dann schaute sie auf, blickte Jenna geradewegs ins Gesicht. Sie brachte keinen Laut über ihre Lippen, aber Jenna konnte den Namen von ihren Lippen ablesen.

Sie hätte auch ohne diese stumme Frage gewusst, nach wem sie suchte.
 

Shinichi.
 

Jenna holte ihrerseits tief Luft, strich sich ihre Haare aus der Stirn, zerrte sich die Perücke vom Kopf. Sie schluckte, wischte sich über die Augen.

„I’ll bring him back. I promise. Don’t worry.“

Dann griff sie nach ihrem Telefon, rief Heiji an, schilderte ihm die Lage und gab im Anschluss ein paar schnelle Anweisungen auf Englisch an das Theaterteam, winkte dem herbeieilenden Arzt, damit er sie fand.
 

Dann rappelte sie sich hoch, strich sich über ihr Kleid, schluckte - und fing an zu laufen, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Auf dem Weg nach unten lief sie Akai und Heiji in die Arme, sah Kogorô und Yusaku, hielt kurz inne, wartete, bis die vier Männer zu ihr aufgeschlossen hatten, presste ihre Hände in ihre Seite. Das schnelle Laufen und die unregelmäßige Atmung hatten ihr Seitenstechen eingebrockt.
 

„She’s over there. On stage. Almost drowned, but awake now, a medic is with her right now, maybe you-“

Sie schaute Kogorô an, der nur nickte und in Richtung Bühne stürmte. Draußen, das wusste sie, umringten Polizisten bereits das Theater. Dann wandte Jenna sich den drei anderen Männern zu.

„Down. Down! They must be below the stage…!”, brachte sie keuchend hervor, ehe sie auf dem Absatz kehrte und ihnen vorausrannte.

Ihre Hände bluteten, umklammerten ihre Dienstwaffe. Sie rannten durch offene Türen, bis sie vor der letzten standen. Und diese – war verschlossen.
 

Aus dem Inneren drangen Schreie zu ihnen heraus.
 


 

Shinichi kämpfte verbissen. Seine Hand tat weh; der Schnitt, den Gin ihm beigebracht hatte, als er ihm sein Telefon aus der Hand geschlagen hatte, war nicht tief, aber schmerzte ekelhaft und das Blut klebte seine Finger zusammen. Daneben war ein Schwert zu schwingen schwieriger und ermüdender, als er gedacht hatte. Chianti hatte sich mit einem ziemlich schwer aussehenden, neobarock wirkenden Kerzenleuchter bewaffnet und Shinichi mochte sich den Abdruck, den das Ding auf seinem Schädel hinterlassen würde, besser nicht vorstellen. Sie wirkte teilweise etwas benommen und orientierungslos, begann nichtsdestotrotz mit dem hässlichen Ding in seine Richtung auszuholen… Shinichi wich zurück, versuchte, die Schläge zu parieren oder auszuweichen und hoffte, dass er Chianti nicht entglitt.
 

Das Ding hat bestimmt 'ne unberechenbare Flugbahn.
 

Er grinste schief, duckte sich gerade noch weg als er den Luftzug eines zweckentfremdeten Kerzenleuchters über sich spürte.
 

Haarscharf.
 

Gleichzeitig versuchte er, nach hinten zu lauschen - Gin konnte nicht weit sein.

Shinichi keuchte, fühlte, wie man ihn zusehends in eine Ecke drängte, und war doch nicht bei der Sache, schaute immer wieder nach oben und konnte doch nichts sehen.

Es war beunruhigend still geworden, dort oben.

Unwillkürlich ließ er den Arm sinken, spürte, wie sein Herzschlag fast erlahmte bei dem Gedanken.
 

Bitte…

Ran.
 

Er sah ihn gerade noch aus den Augenwinkeln. Nur mit Mühe parierte er den Hieb Gins, der in der Dunkelheit hinter ihm aufgetaucht war – dem nächsten wich er aus, indem er sich zu Boden fallen ließ, und hörte einen ohrenbetäubenden Schrei gleich darauf. Er rappelte sich hoch, taumelte ein paar Schritte zurück und wurde Zeuge der bizarrsten Szene, die er je gesehen hatte.

Gin hatte statt seiner Chianti getroffen, die ihm gerade von hinten ihren Kerzenständer hatte überziehen wollen.

Die Blondine hustete, blinzelte ungläubig. Dann brach sie zusammen, presste stöhnend ihre Hände auf die blutende Wunde in ihrer Seite.

Gin starrte sie an. Dann drehte er sich um.

Shinichi schluckte, hob sein Schwert. Er war am Ende seiner Kräfte, keuchte, holte rasselnd Atem. Er umklammerte den Griff seiner Waffe mit schweißnassen Fingern, so fest, dass seine Knöchel hervortraten.

Sein Kopf war wie leergefegt.

Einzig und allein ihr Name hallte wider in seinen Ohren, nur in seinen Gedanken, und dennoch lauter als ein Airbus beim Abflug auf dem Rollfeld.
 

Ran…
 

Er biss sich die Lippen blutig, wartete angespannt, beobachtete den Mann, der ihm gegenüberstand.

Gin sah nicht im Geringsten müde oder erschöpft aus.

Im Gegenteil. Er schien völlig abgeklärt, der Herr der Situation.

Völlig zufrieden, selbstsicher, fokussiert auf diese eine Ziel, das ihn seit Jahren antrieb.
 

Rache.
 

Gin starrte ihn an, ein sanftes Lächeln auf den Lippen, in seinen Augen kalter Hohn.

„Na, Kudô? Nun sind es nur noch wir beide. Denkst du nicht, wir sollten deinen kleinen Engel nun nicht länger warten lassen…?“

Shinichi leckte sich über die trockenen Lippen, untedrückte den Impuls, zurückzuweichen.

„Niemand weiß, ob sie tot ist. Jenna…“

„Ach, glaubst du, sie konnte sie retten? Dein kleiner Sidekick?“

Er grinste schäbig.

„Komm, gib’s zu. Der Grund, warum du hier bist und sie oben, ist der, dass du ihr die Konfrontation mit mir nicht zutrautest. Habe ich nicht Recht?“

Shinichi hob den Kopf, erwiderte nichts.

„Ich kann dir sagen, was du gemacht hast. Du hast – schon wieder – diesen Fall vor deine Freundin gestellt.“

Er lachte kalt. Shinichi schnappte nach Luft.

„Ich wusste nicht, wo – wie hätte ich –…“

Gin schnalzte mit der Zunge.

„Oh, doch, hättest du.“

Gin kam näher, langsam.

„Du hättest das tun können, was du bestimmt vorhattest. Sie zum Flughafen bringen. Dann… wäre das hier nie passiert.“

Shinichi erstarrte, riss seine Augen auf.

Das hatte gesessen, und das wusste er. Genau der gleiche Gedanke quälte ihn seit dem Moment, als er am Telefon Rans Entführung hatte beiwohnen dürfen.

Er hatte wieder einmal seine Arbeit vor Ran gestellt. Was hätte Montgomery schon machen können? Ihn feuern? Erneut?

Hätte es ihm etwas ausgemacht?

Er schüttelte den Kopf, versuchte, den Gedanken abzuschütteln.
 

Das ist es, was er will, Kudô. Dich verunsichern, ablenken, mürbe machen. Du kennst das doch.

Lass das nicht zu.

Konzentrier dich, wenn du hier lebend rauswillst.

Du hast es ihr versprochen.
 

Shinichi schluckte, sein Arm brannte, er konnte das Schwert kaum noch heben. Er griff es mit der zweiten Hand, schluckte. Das böse Grinsen auf Gins Lippen machte ihn nur noch wütender. Verzweiflung riss ihn auseinander und in ihm kochte ein Zorn, den er in diesem Ausmaß noch nie gespürt hatte. Lodernd wie die Hölle, hungrig, rasend, bereit alles zu verschlingen, das sich ihm in den Weg stellte.

Und wenn er selbst es wäre.

Er zitterte am ganzen Körper, wusste, langsam stellte sich auch der Entzug des Halluzinogens wieder ein; seine Karten standen denkbar schlecht.

Aber vor ihm stand nicht irgendwer.

Sie hatten eine Rechnung offen.

Adrenalin pumpte durch seine Adern, hielt ihn aufrecht. Es konnte kosten, was es wollte, er würde nicht eher aufgeben, bis dieser Mann für all das bezahlte.

Er würde kämpfen bis zum letzten Atemzug.

Gin hob sein Schwert. Shinichi hob seins, suchte mit seinen Füßen einen sicheren Stand und wünschte sich für einen kurzen Augenblick, doch eher Kendo und nicht Fußball gelernt zu haben.
 

„Was nun? Gin?“
 

Gin lachte höhnisch auf – dann rannte er mit einem grollenden Knurren auf ihn zu, flink wie ein Panter, sein Schwert scharf wie dessen Krallen. Er hieb an, und Shinichi war zu langsam, um ihm komplett auszuweichen. Er entging dem ersten Hieb, war aber zu langsam, um dem Rückzieher auszuweichen. Scharf und heiß schnitt der Schmerz über seinen Arm – Blut begann, aus der Wunde zu quellen. Shinichi schrie auf, taumelte nach vorn. Er starrte Gin an, merkte, wie in ihm etwas endgültig durchbrannte, ausbrach, die Ketten zerfetzte, in denen es bisher gelegen hatte.

Er holte Luft, dann schrie er auf, begann sein Schwert zu heben als Gin erneut auf ihn ansetzte – und schlug zu, als Gin erneut gegen ihn hieb.
 

Und traf.
 

Gin brüllte – und ließ das Katana fallen. Shinichi hatte ihn mit voller Wucht am Handgelenk getroffen. Das Schwert war zu stumpf, um ihm eine Schnittwunde beizubringen, wie er sie abbekommen hatte, wohl aber schwer genug und seine Wucht groß genug, um Knochen zu brechen und eine Platzwunde zu verursachen.

Und das war augenscheinlich passiert.

Shinichi beeilte sich, das Katana aufzuheben, warf seine eigene Waffe weg. Mit einem lauten Klirren verschwand sie schlitternd in der Dunkelheit.

Und dann hörte er sie von draußen gegen die Tür hämmern. Er schluckte, trat näher, nahm Gin zuerst seine Waffe ab, die er gerade ziehen hatte wollen, allerdings mit wenig Erfolg, nachdem seine rechte Hand gebrochen war und aus einer großen Wunde blutete.

Dann schoss er auf die Scharniere, wobei er Gin immer noch das Schwert unter die Nase hielt. Die Tür gab nach, und Akai, Heiji, sein Vater und Jenna stürzten herein.

Und blieben wie angewurzelt stehen.
 

Shinichi stand da, im Dämmerlicht, verschwitzt und verletzt, schwer atmend, schaffte es jedoch, Gin das Katana mit ruhiger Hand unter die Kehle zu halten, trat näher, langsam.

Dann beugte er sich vor. Seine Augen blitzten kalt, in seinen Zügen lag eine Härte, wie Jenna sie bei ihm noch nie gesehen hatte.
 

Mörderisch, fast.
 

Heiji starrte ihn an, wollte nach vorne treten, aber Akai hielt ihn zurück.

„Lass ihn.“

Yusakus Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

„Vergiss nicht, was er ihm verdankt…“

Heiji schluckte, nickte langsam.
 

Kudô.
 

Dann hörten sie ihn sprechen, seine Stimme schneidend scharf.
 

„Sollte sie tot sein, Gin…“
 

Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

„Ich schwöre dir, dann wirst du dir wünschen, dass ich dein Leben hier und jetzt beendet hätte.“

„Warum tust du’s nicht?“, flüsterte Gin genauso leise zurück, grinste böse. „Ich sags dir. Weil du nicht die Eier hast, deshalb. Du hast Angst, du bist schwach, das warst du immer…“

Shinichi lächelte humorlos.

„Seltsam nur, dass ich dann hier stehe und du vor mir auf dem Boden liegst.“

Als Gin etwas sagen wollte, drückte er kurzerhand die Spitze des Schwerts ein wenig fester in dessen Haut – und hielt still, als der erste Tropfen Blut aus der Wunde quoll.
 

Niemand wagte, sich zu bewegen. Und als Shinichi erneut ansetzte, war seine Stimme kaum lauter als ein leises Zischen.
 

„Ich will, dass du bezahlst. Ich will, dass du für jeden. Einzelnen. Mord. Bezahlst. Und sei dir sicher, das wirst du.“

Er schluckte, dann drehte er sich um, ruckartig, und ging.

Er ertrug diesen Mann nicht eine Sekunde länger; und erst jetzt bemerkte er, dass neben Akai, seinem Vater und seinem besten Freund noch ein drittes Gesicht in der Tür erschienen war.
 

Jenna.
 

Er blieb stehen, wie angewurzelt.

Ehe er jedoch etwas sagen konnte, war sie vorgetreten, schluckte.

„She’s upstairs. The theater’s first aid service is tending to her. She’s alive, but it was a close call, I –“

Der Rest ihrer Erklärung ging unter, als er sie ohne Vorwarnung in seine Arme zog und an sich drückte. Sie schluckte hart, erwiderte die Umarmung zögerlich.

„Go, get to her. She’s sick with fear…“, wisperte sie leise.

„Thank you.“, raunte er heiser in ihr Ohr, brachte wieder ein wenig Abstand zwischen sich und ihr, und sie sah an seinen rotgeränderten Augen, dass er den Tränen nahe war.

„You’re… you’re welcome… Shinichi.“, wisperte sie.

Er nickte nur, schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln - dann rannte er die Treppen hoch, gefolgt von Heiji und seinem Vater.
 

Der Rückweg war deutlich schwieriger zu bewerkstelligen als der Hinweg; das Globe Theatre gestaltete sich als das sprichwörtliche Wespennest, in das man gestochert hatte. Und die Wespen flogen nun wild umher, in heller Aufregung.

Officers von Scotland Yard kamen ihnen entgegen, ließen sich von Shinichi kurze Anweisungen geben, hasteten die Treppe hinunter. Schauspieler und Crew des Theaters standen in kleinen Ansammlungen herum und tuschelten, oder rannten mehr oder weniger koordiniert durch die Gänge.

Besucher strömten nach draußen, die meisten, zumindest; manche versuchten auch, nach unten zu gelangen, um ihrem Besuch hier noch etwas Würze zu verleihen und wohl auch um mit einem Bild des Tatorts den Instagram-Post des Tages zu landen - was ihnen ein Trupp von Polizisten verwehrte.

Er spürte all ihre Blicke auf sich kleben, als er sich durch die Massen drückte, in einer Hand immer noch das Katana haltend, an dem nun sein eigenes Blut antrocknete.

Und er hörte sie rufen.
 

Sherlock!
 

Shinichi blieb nicht stehen, folgte den Schildern, die zur ärztlichen Versorgung des Theaters wiesen, atmete kaum. Anspannung zerrte immer noch an seinen Nerven, auch wenn er doch schon wusste, dass es noch einmal gut gegangen war, dem Anschein nach.

Er konnte es wohl erst glauben, wenn er es sah. Er hatte schließlich schon einmal geglaubt, was ihm jemand erzählt hatte.

Dann waren sie angekommen – und fanden die Tür geschlossen. Vor ihr stand Kogorô, der nervös an einer Zigarette zog, einen dampfenden Becher in der Hand. Shinichi merkte, wie sein Mund staubtrocken wurde, seine Zunge ihm am Gaumen zu kleben begann. Seine Schritte verlangsamten sich, seine Füße fühlten sich bleischwer an, die letzten Meter schien es ihm, als würde er durch Morast waten.

Dann sah Kogorô auf – erblickte ihn. Shinichi blieb stehen, hielt den Atem an.
 

Sie ist tot, Shinichi. Hörst du? Tot, wegen dir!

Lass dich bloß nie wieder blicken!
 

Er hörte Kogorôs Stimme in seinem Kopf, als ob es gestern gewesen wäre.

Er wusste nicht, ob er damit rechnete, dass sie sich wiederholen würde.

Fakt war, mit dem was kam, rechnete er sicher nicht.
 

Kogorô stellte den Becher beiseite, drückte seine Zigarette am Rand des Abfalleimers aus, der neben ihm stand. Trat auf ihn zu, schluckte.

Hob seine Hand, strich sich über den Bart, räusperte sich unsicher.

„Es geht ihr gut. Sie checken gerade noch ihre Werte. Sie… sie kann kaum erwarten, dich zu sehen, sie hat sich Sorgen gemacht…“

Shinichi starrte ihn an, blinzelte. Dann hob er selber die Hände, langsam, wischte sich übers Gesicht, atmete aus. Und tat etwas, was er bis vor kurzem noch für unmöglich gehalten hätte.

Er umarmte Kogorô, kurz.

„Danke.“

Kogorô starrte ihn nur an, schluckte trocken, nickte kurz.
 

Nein. Ich danke dir.
 

Dann ging die Tür auf, und eine Sanitäterin steckte ihren Kopf heraus, blickte suchend um sich, bis sie Kogorô und Shinichi erblickte, lächelte.

„You may enter now.“
 

Ran saß auf der Liege, zitterte immer noch ein bisschen, ihr Gesicht war blass und sorgenvoll. Das wunderschöne Kleid hing ihr nass und schwer um ihren Leib, ihr Maskara klebte ihr in dunklen Ringen unter den Augen; sie war gerade dabei, sich das Gesicht zu säubern.

Er blieb stehen, wie angewurzelt, merkte, wie sein Blutdruck wieder hochrauschte, gerade, als er sich etwas beruhigt hatte.

Das hier war unbeschreiblich knapp gewesen. In seinen Ohren hallte ihr Klopfen wieder, mischte sich mit seinem eigenen Herzschlag.

Ran hob den Kopf, als sie ihn nach Luft schnappen hörte. Ihr Gesicht verzog sich, als ihr die ersten Tränen über die Wangen liefen.
 

„Shinichi.“
 

Sie wollte aufstehen – und scheiterte. Er schüttelte den Kopf, überbrückte die letzten paar Meter, blieb kurz vor ihr stehen. Und sie sah ihn an.

Ihre Augen glänzten, Tränen hatten sich ihn ihnen gesammelt, ihr Gesicht war kalkweiß, ihre Lippen bläulich verfärbt.

Ihr Atem ging immer noch schleppend, und der Schock schüttelte ihren schmalen Körper so sehr durch, dass das Zittern ihre Zähne aufeinander klappern ließ.
 

Sie wäre fast ertrunken. Wegen mir.
 

Der Gedanke zog ihm erneut fast den Boden unter den Füßen weg. Ran schluckte, schaute ihn an, konnte seine Gedanken in seinem Gesicht lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch.

„Nein, Shinichi, denk nicht mal dran…“

Er starrte sie an, sprachlos – dann brach es aus ihm hervor.

„Aber es ist so! Ich – wenn ich –…“

Seine Stimme brach. Eine Träne rann ihm aus dem Augenwinkel. Rans Lippen verzogen sich unglücklich, fühlte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals breitmachte, ihr auf ganz andere Art und Weise das Atmen schwer machte.

„Ich hätte dich zum Flughafen bringen sollen, es ist meine Schuld, ich…“
 

Sie fixierte ihn mit ihren kornblumenblauen Augen, fing an den Kopf zu schütteln – und streckte die Arme aus, packte ihn am Handgelenk, fest. Sah ihn an mit diesem Blick, zog ihn neben sich auf die Liege, schmiegte sich an ihn, grub ihre Hände in sein Hemd, atmete tief ein. Spürte die Wärme seines Körpers, fühlte sein Herz schlagen, seinen Atem auf ihrer Haut. Langsam schloss sie die Augen.

Shinichi strich ihr vorsichtig eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, schälte sich dann aus seinem Sakko, legte es ihr um die Schultern und drückte sie an sich. Ihre Haut fühlte sich kühl an.
 

Aber sie lebt.
 

Sie presste ihm einen Kuss auf die Lippen, um dann ihr Gesicht wieder an seiner Schulter zu vergraben.

„Halt die Klappe, Shinichi…“, wisperte sie.

Er sagte nichts, strich ihr über die Arme. Drückte sie dann etwas von sich, als er ein leises Räuspern hörte und vor ihren Gesichtern eine Tasse Tee auftauchte. Kogorô blickte sie aus Halbmondaugen an.
 

„Du bist verletzt.“

Er nickte in Richtung der Wunde, die sich über seinen linken Oberarm zog.

Shinichi blinzelte, schaute dann etwas verwirrt auf seine Hand, betastete den Schnitt an seinem linken Oberarm. Ran, die gerade an ihrem Tee genippt hatte, warf ihm einen besorgten Blick zu, hob die Hand um den Stoff des Hemdes ein wenig von der Wunde zu ziehen.

„Ist nicht schlimm.“, wiegelte Shinichi ab, verzog aber dennoch das Gesicht, als Ran die Haut neben der Wunde berührte.

„Sollte trotzdem desinfiziert und genäht werden.“, murrte Kogorô.

Shinichi verdrehte die Augen, warf dann einen schrägen Blick auf das Katana, das neben ihm an der Wand lehnte.

„Zuerst muss ich das Ding in die Asservatenkammer bringen.“
 

In dem Moment ging die Tür auf, und Heiji, Jenna und Akai betraten den Raum.

Shinichi hob fragend die Augenbraue.

„Chianti sieht schlimm aus.“

Shinichi lächelte zynisch.

„Nicht meine Schuld. Nur die Platzwunde am Hinterkopf geht auf mein Konto.“

„Hm.“

Akai verzog seine Lippen zu einem ebenso sarkastischen Grinsen.

„Man bringt sie derzeit ins Krankenhaus. Gin wird von Scotland Yard aufs Revier in U-Haft gebracht. James fährt mit ihm, zusammen mit Jodie.“

Shinichi nickte. Dann blickte er zu Jenna, die an ihrer Tasche nestelte. Er sah ihr an, dass sie sich unsicher fühlte.

„Guess you want to tell me that we’ve got to head back, too.”

Jenna seufzte, nickte unglücklich.

“I hate to disturb you. But yes; I just had a chat with ACC Montgomery. He wants to see you in Scotland Yard, making your report and lock that thing up in our evidence room. After that you’re free to take an extended holiday, as he calls it.”

Sie lächelte kurz.

“He’s quite impressed.”

“I am, too.”, grinste Shinichi, als er aufstand, langsam.

„You’ve done marvellous, Watson.“

Sie errötete bis unter die Haarwurzeln, begann zu stottern.

„I – he means – your work, you know.”

Shinichi lächelte sanft, schüttelte den Kopf.

„And I mean your work, Jenna. I owe you something. More than that. I… Thank you.

Er seufzte, blickte zu Ran, hielt ihr die Hand hin.

„Sollst du noch ins Krankenhaus? Vielleicht…?“

„Nein.“

Ran schüttelte den Kopf, griff die Hand, die er ihr reichte, zog sich hoch.

„Ich begleite dich. Und dann fahren wir zusammen nach Hause.“

Shinichi starrte sie an, schluckte hart.
 

Nach Hause.
 

„Willst du das Ding nicht mal loswerden?“

Er gestikulierte an sie herab, zog eine Augenbraue hoch. Sie lächelte müde.

„Ich kann solange warten, glaub mir. Ein, zwei Stunden länger halt ich aus in dem Fetzen.“
 

Aber nicht eine Sekunde mehr ohne dich.
 

Shinichi schaute von ihr zu Kogorô, der hilflos mit den Schultern zuckte.

„Also schön. Aber versuch, dich aufzuwärmen, Ran.“
 

Sie nickte nur, schlang ihre Finger durch seine, hielt seine Hand fest.

Kapitel 54: Schwarz

Kapitel 54: Schwarz
 

Die Fahrt war ereignislos verlaufen; Shinichi hatte kurz seine Mutter angerufen, um Entwarnung zu geben – das hieß, er hatte sie kurz anrufen wollen. Fakt war, sie hielt sich immer noch hartnäckig in der Leitung und klebte ihm die sprichwörtliche Kassette ans Ohr; und er konnte es ihr nicht einmal wirklich übelnehmen, auch wenn es ihn zunehmend anstrengte, ihrem Redeschwall zu folgen.

Sein Hirn fühlte sich zerkocht und matschig an, Worte und Gedanken schienen darin so schwerfällig umher zu waten wie Naturforscher im Hochmoormorast.

Sie hatten es sich nicht nehmen lassen wollen, sich sofort auf den Weg ins Yard zu machen, ohne jedoch das Telefonat mit ihm dafür zu unterbrechen. Im Hintergrund hörte er Sonoko, Kazuha und Shiho reden, als sie sich ins Taxi quetschten.

Shinichi lehnte sich zurück, fühlte, wie Ran ihren Kopf auf seine Schulter bettete. Sie durchnässte sein Sakko mit ihren immer noch feuchten Haaren, merkte es und wollte hochfahren, als er sie davon abhielt. Sie ließ ihren Kopf wieder sinken, fühlte, wie seiner gegen ihren nickte, seufzte leise, sackte spürbar gegen ihn und die Rückenlehne.

Das Telefon immer noch am Ohr drückte er ihr einen Kuss auf die Schläfe, warf ihr einen besorgten Blick zu.
 

„…und mal abgesehen davon, solltet ihr nicht noch ins Krankenhaus, Shinichi? Ich weiß, du hörst das nicht gern, aber ich fürchte fast, du…“
 

Er gähnte kurz, blinzelte träge. In seinem Kopf hatte das leise Trommeln unruhiger Finger mittlerweile aufgehört, war abgelöst worden durch den hektischen und überaus nervenzerfetzenden Beat einer Snaredrum. Er hob seine freie linke Hand, strich sich über die Augen, dann über seine Stirn, in der Hoffnung, zumindest die Müdigkeit etwas vertreiben zu können.

Die Kopfschmerzen, das ahnte er, würde er aussitzen müssen. Insgeheim fragte er sich, wie schlimm der Entzug diesmal ausfallen würde. Er hoffte, zu diesem Zeitpunkt sicher in seinem eigenen, absperrbaren Schlafzimmer zu sein.

So sehr er sie liebte, er wollte Ran nicht bei sich haben, wenn er sich durch diese Stunden quälte, die sich so zäh in die Länge zogen wie alter Kaugummi, der einem unter der Schuhsohle klebte.

Fakt war, er hatte keine Ahnung, ob seine Mutter mit seiner implizierten Befürchtung nicht Recht hatte, und er nicht doch eigentlich wieder ein Fall wäre, für…
 

Nein. Das versuchen wir zuerst mal anders…
 

„Ach – ich weiß nicht, warum ich mir Gedanken mache, aber hast du eine Ahnung, wo sie ist?“
 

Shinichi hörte gar nicht hin. Er verzog das Gesicht bei dem Gedanken, dass er keine Ahnung hatte, was eigentlich genau passiert war mit ihm.
 

Wie konnte mir das eigentlich nicht auffallen…?
 

Wie er Ran das beibringen sollte, dass er sich für die nächsten Stunden, eventuell Tage, von ihr verabschieden würde, bis er wieder einigermaßen sicher war, dass auch der letzte Rest des Nervengifts abgebaut war, wusste er noch nicht so recht. Er fing sich einen forschenden Blick seines Vaters ein, und ahnte, dass der Mann genau wusste, was in seinem Kopf gerade vorging.
 

„Shinichi!?“
 

Er zuckte zusammen, als die Stimme seiner Mutter lauter als gerade eben noch an sein Ohr drang. Er hielt das Telefon, so weit es ging, von sich weg, schnaufte. Offenbar hatte sie bereits mehrmals versucht, ihn anzusprechen.
 

„Ja, Mama?“, hakte er nach, verzog das Gesicht. Sein ohnehin lädiertes Hirn nahm ihm die Lautstärke an seinem Ohr gerade sehr übel – es fühlte sich an, als wolle ihm einer mit einer Stricknadel in den Schädel bohren.
 

Ungefähr so müssen sich die alten Ägypter bei der Mumifizierung gefühlt haben. Nur, dass die bei der Prozedur wenigstens tot waren.
 

„Ich bin müde, Mama, ich habe gerade nicht aufgepasst. Was willst du wissen?“

Er hörte sie seufzen, konnte die Nachdenklichkeit in ihrer Stimme fast sehen – die krausgezogene Stirn, der Blick, der nach oben in Richtung ihrer typischen Stirnlocke schweifte, der Zeigefinger am Kinn…
 

„Weißt du – kannst du… sagen, ob Sharon bei euch ist?“

Shinichis Augenbrauen wanderten nach oben, legten seine Stirn kurz in Falten, als er nachdachte.

„Ich… habe keine Ahnung, Mama. Hier laufen viel zu viele Leute rum, und du kennst sie, sie ist unfassbar gut. Wenn sie nicht gefunden werden will, wird sie nicht gefunden. Ist sie nicht in ihrer Wohnung?“

„Nein.“

Yukiko seufzte. „Ich war vorhin unten. Die Tür war offen, von ihr keine Spur. Ich dachte mir, vielleicht ist sie euch hinterher. Irgendwie… ich weiß nicht…“

Shinichi atmete tief ein und aus.

„Irgendwo wird sie schon sein. Mach dir keine Sorgen, Mama. Du kennst sie. Und mal ganz ehrlich - wenn die Frau nicht auf sich aufpassen kann, kann‘s keiner. Bis gleich.“
 

Damit hatte er das Gespräch beendet, hatte sich endgültig zurücksinken lassen und war kurz davor, einzunicken.

Er war so unglaublich müde. Ran neben ihm sagte nichts, atmete leise und ruhig vor sich hin, strich ihm über die Finger.

Und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit empfand er so etwas wie Ruhe.
 

Bis sie im Yard angekommen waren.
 

Sie hatten es nicht einmal bis ins Gebäude geschafft. Der Menschenauflauf vor dem Eingang schien wie eine wohldosierte Mischung der Menschenansammlung eines Ausverkaufs von TopShop in der Oxford Street mit der Presseoffensive beim ersten offiziellen Foto eines neuen Royal Babies.
 

Shinichi schluckte, stieg langsam aus. Heiji neben ihm pfiff leise durch die Zähne.

„Kommen wir da irgendwie vorbei?“, murmelte er leise.

„Ich nicht. Ihr vielleicht schon.“

Shinichi kniff die Lippen zusammen, drehte sich zu Kogorô und seinem Vater um.
 

„Ihr, Heiji und Ran versucht es durch den Seiteneingang. Jenna und ich gehen vorn rein. So wie es aussieht, machen Akai und Jodie dasselbe.“

Er lächelte schief, wandte sich seinem Vater und Kogorô zu.

„Glaubt mir, so geht’s am schnellsten. Einmal völlig abgewrackt aussehend und höflich lächelnd an der Meute vorbei damit sie alle ihr Foto kriegen, und hinterher ist weitgehend Ruhe. Aber ihr müsst euch das nicht antun. Ich nehme an, am Besten wartet ihr ohnehin in der Nähe des Eingangs, um Mama und die Mädels abzufangen, bevor sie die Presse in die Krallen bekommt und sie mit Haut und Haar auffrisst."

Yusaku grinste.

"Was wohl für deine Mutter kein allzu großes Problem darstellen würde..."

Shinichi lachte auf, winkte dann ab.

"Lieber nicht."
 

Damit drehte er sich zu Jenna um.

„Sergeant Watson, off we go. Try to smile.”
 

Unwillkürlich straffte er die Schultern, marschierte los; Jenna beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten.
 

Shinichi versuchte, ein diplomatisches Gesicht aufzusetzen. Jenna tat sich damit deutlich schwerer, bemerkte er. Er nickte ihr aufmunternd zu, schritt zügig aus und erreichte das Haupttor einigermaßen ungeschoren, nicht zuletzt dank der Officers, die nach Kräften versuchten, die Leute von der Presse im Zaum zu halten. Als er schließlich die Tür erreicht hatte, halb taub vom Geschrei der Journalisten und Reporter und mit ein paar deutlichen Nachlichtern der Fotoblitze vor Augen, musste er an sich halten, nicht tief aufzuseufzen. Vor der Tür hatten sich einige Mitarbeiter, unter ihnen auch Lady McDermitt und DI Richardson versammelt. Von Agent Black fehlte im Moment noch jede Spur, allerdings war das bei der Flut an Menschen, die sich drängten und zu ihnen wollten, kein Wunder.

Zusammen bahnten sie sich einen Weg bis in die Lobby, wo es zumindest ein wenig ruhiger wurde. Ein Trupp Polizeibeamter nahm sie in Empfang, übernahm Gin, der ihn mit einem letzten, frostigen Blick bedachte. Jenna ließ es sich nicht nehmen, sie zu begleiten, nachdem sie sich noch einmal kurz zu Shinichi umgedreht hatte und ihm zunickte. Vom anderen Ende der Halle näherten sich Ran und Heiji; offenbar hatten sie es ohne nennenswerte Hindernisse durch den Seiteneingang geschafft.
 

Jackson Montgomery wischte sich mit einem mitgenommen aussehenden Taschentuch übers Gesicht, dann drehte er sich um, fand, wen er suchte. Er atmete aus, langsam, trat näher, ließ seinen Blick über seinen Mitarbeiter schweifen, kniff die Lippen zusammen. In seinen Augen stand Reue wie Erleichterung gleichermaßen.
 

„Well, SI Kudô. I am sorry.”

Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Sir?“

„I am sorry. You’ve been right all the time. I could have spared you and her so much trouble, worries and… pain.”

Sein Blick blieb an Shinichis rechten Arm hängen.

„That cut’s not looking too good. I guess you should go to hospital, before we start the questioning of that evil-looking man and take your report, Sherlock.”

„To hospital?“

Die Stimme McCoys erschallte aus der Menge, als er sich langsam seinen Weg zu Shinichi und Montgomery bahnte.

„Take him to hospital, because of that cut? By no means.“

Er schaute seinem jungen Mitarbeiter sorgenvoll ins Gesicht.

„Did you forget I’m a physician, too? I will at least provide first aid. I wonder why nobody has cared about that till now.“

„But doctor...“

Montgomery lächelte nachsichtig.

„With due respect, doctor, but your latest patients were rather, uhm… more of the unfeeling kind …“

Er brach ab, als er den extrem unterkühlten Blick des Pathologen auf sich spürte.

„I have had the pleasure of obtaining the same medical education as my colleagues, assistant commissioner.“

Damit griff er Shinichi am Arm.

„I’ll do the first aid now. If you feel better with that, you can call an ambulance that’s bringing him to hospital to get stitched up there, if you think they can do better than me. But our dear SI is going to pass out any time soon. Just have a closer look at him.“
 

Er warf einen bezeichnenden Blick auf Shinichi, der, in der Tat ziemlich blass im Gesicht und verschwitzt, seine freie Hand auf die Wunde an seinem Arm presste.

Montgomery seufzte leise, nickte schließlich.

„Maybe… you’re right. I guess, something to boost his circulation, some antiseptic and a bandage can’t hurt. But please – do leave the stitches to the surgeons at the hospital.“

Er lächelte entschuldigend.
 

McCoy nickte, griff Shinichis Arm fester und zog ihn mit sich. Der warf seinem Vorgesetzten noch einen Blick über die Schulter zu; irgendwie war ihm das hier nicht wirklich recht, ohne den Finger darauf legen zu können, warum eigentlich nicht - aber offensichtlich interessierte seine Meinung gerade eh keinen.
 

„Wartet!“
 

Rans Stimme ließ sie innehalten. Sie eilte heran, warf Shinichi einen besorgten Blick zu, ergriff seinen Arm, berührte mit ihrer Hand seine Stirn, fühlte kalten Schweiß unter ihren Fingerkuppen.

„Ich komme mit, wenn ich darf.“

Der Autopsiearzt zog die Augenbrauen hoch, doch ehe er etwas erwidern konnte, erklang Shinichis Stimme.
 

„Ach, wozu denn, Ran.“
 

Er lächelte sanft, legte eine leicht spöttelnde, aber nicht verletzende Note in seine Worte, als er weitersprach.
 

„Für ein Stück Traubenzucker und ein Pflaster? Wesentlich länger würde es dauern, dich vom Boden aufzusammeln und aus deiner Ohnmacht wieder aufzuwecken, nachdem dich der Anblick des Schnitts in meinem Arm aus den Socken gehauen hat.“

Ehe sie, die gerade beleidigt die Lippen geschürzt hatte, zu einer zweifelsohne resoluten Antwort ansetzen konnte, zog er sie zu sich, drückte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen, löste sich nur langsam, fast zögernd von ihr. Sie schaute ihm intensiv in die Augen, ließ ihn nicht los. Irgendetwas an seinem Verhalten, so scheinbar typisch es war für ihn, behagte ihr nicht. Sein Blick huschte von McCoy zu Ran. Der Mann lächelte ihn wohlwollend an, nickte freundlich. Shinichi wandte sich ihr wieder zu.

„Es ist besser, du wartest hier auf mich. Lass dir einen Tee und eine Decke bringen, vielleicht gibt’s hier auch einen Fön, damit du dir die Haare trocknen kannst. Es wird nicht lange dauern.“

Ein weiteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sie schloss die Augen, atmete langsam aus, als er sie auf die Stirn küsste, sacht.
 

„Versprochen?“
 

Ran blickte ihn wieder an, ein forschender Ausdruck auf ihrem Gesicht. Shinichi schluckte hart, und das entging ihr nicht.

„Versprochen.“, bestätigte er dann mit leiser Stimme.

Damit drehte er sich um, ließ sie alle hinter sich und folgte dem Doktor in die Autopsie, ging wie ein Schlafwandler scheinbar willenlos durch Türen, stieg in den Aufzug und fuhr nach unten. Das Schwert wog ungewöhnlich schwer in seiner Hand; unwillig blickte er auf das Katana, an dessen Schneide immer noch sein eigenes Blut klebte. Eigentlich hätte er es schon längst in der Beweismittelkammer abgeben müssen.
 

Er seufzte lautlos; seine Gedanken waren ganz woanders.
 

Der Blutverlust machte ihn ein wenig schwummrig im Kopf, schien sein Hirn in einen vollgesogenen Schwamm zu verwandeln, der die Informationen, die auf ihn einströmten, nicht mehr festhalten konnte.
 

„Almost there. Everything okay?“

Er schreckte hoch, als er die Stimme des Pathologen hörte. Überrascht blickte er ihn an. Der alte Mann war vor ihm stehen geblieben, schaute ihn musternd an. Shinichi hob unwillkürlich die Hand von seiner Schnittwunde an seinem Oberarm, betrachtete seine Finger, an denen Blut klebte. Der Schmerz, den das Adrenalin in den letzten Minuten einfach überspielt hatte, kehrte langsam mit Macht zurück, ließ ihn fast ein wenig schwindeln. Dennoch nickte er, fragte sich, warum ihm der alte Pathologe auf einmal so anders vorkam.

Und zwar so eklatant anders, dass ihn vorhin fast Panik ergriffen hatte, als Ran sich angeboten hatte, ihn zu begleiten.

Er war erleichtert, dass sie jetzt nicht hier war. Und ihm kam es vor, als hätte ihm der alte Mann vorhin ohne Worte klar gemacht, dass er hier unten nur ihn allein haben wollte.
 

„Yeah. Sure.“

McCoy nickte nur, öffnete die Glastür und ließ ihn eintreten. Er griff ihn am Arm, führte ihn zu einem Stuhl, ließ ihn sich setzen, ging dann los, um zu holen, was er für seinen Patienten brauchte.

Shinichi hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen.

Irgendwie beunruhigte ihn dieses Geräusch zutiefst. Überhaupt – alles hier drin, seine pure Anwesenheit hier, erschien ihm mit einem Mal falsch.
 

Er wusste nur nicht, wieso.

Noch nicht.
 

In der Autopsie, allein, nur mit dem Pathologen…

Kein Mensch weit und breit.

Wenn er mich loswerden wollen würde…
 

Ach, was denkst du, Kudô. Du spinnst doch, der Mann hat dir nie was getan.

Im Gegenteil.
 

Das liegt bestimmt am Adrenalin. Am Blutverlust.

An…

Ach, was weiß ich. War ja genug los in den letzten Stunden.
 

McCoy trat näher, ließ ihn seinen Arm auf den Tisch legen, der neben dem Stuhl stand und schnitt den Ärmel seines Hemds bis zur Schulter hoch auf und dann ab, betrachtete die Wunde.

„That looks nasty. It must hurt quite a lot, especially now, as the adrenaline wears off. I’m going to give you a pain killer…“

Shinichi war auf den Stuhl gesunken, hielt sich den Kopf. Er konnte nicht abstreiten, dass sein Kreislauf grad irgendwo im tief im Tal dümpelte.

Nur am Rande bekam er mit, wie der Mann mit einer Injektion auf einem Tablett zurückkehrte, ließ es zu, dass der Pathologe seine Hand ergriff. Shinichi blickte in sein Gesicht, sah dieses Lächeln auf seinen Lippen, als er fast zärtlich den Verschluss öffnete, ihm die Uhr abnahm und sorgfältig auf den Tisch daneben legte.
 

McCoy schaute ihm lange ins Gesicht, intensiv, beobachtete die ruhigen Gesichtszüge des leicht weggetretenen Detektivs und spürte sie in sich emporsteigen wie Magma in einem Vulkanschlot – Macht.

Grenzenlose Macht über das Leben eines anderen. Er hob die Hand, hielt sie ihm an die Stirn.
 

„Don't worry, just one more moment and you'll be better…“, meinte er gelassen, säuberte ein kleines Fleckchen Haut mit einem Alkoholtupfer.

Und als er die Spritze setzte, sie fast genussvoll in die Vene seines Patienten tauchen ließ, der nur kurz zusammenzuckte, den Kolben langsam durchdrückte und dadurch diese raffiniert wirkende Substanz auf ihren Weg schickte, lächelte er.
 

Endlich war es vollendet.
 

Routiniert legte er die Spritze zurück aufs Tablett, hob Shinichis Kopf kurz an.
 

„You’ll feel the effect in no time.“
 

Dann griff er nach einem Zellstofftuch, tränkte es mit Desinfektionsmittel und begann, die Schnittwunde abzutupfen. Shinichi verzog das Gesicht kurz, als das Brennen ihn aus seinem Dahindämmern riss, ihm der scharfe Geruch des Mittels in die Nase stieg.
 

„Tja. Ich muss sagen, dieses Schwert hat schon schönere Schnittwunden verursacht. Da hat jemand nicht gut darauf aufgepasst – und es ist eine Schande, handelt es sich doch um Honjo Masamune… dem wahrscheinlich...“

Er trat vom Tisch zurück, drehte sich kurz um, um etwas von der Platte zu holen, mit der er an den Tisch gekommen war.

Seine Worte sanken in Shinichis Kopf ein, langsam.

Als er jedoch ihren Sinn verstand, riss er die Augen auf, stand so heftig auf, dass der Stuhl umfiel. Er stieß gegen den Tisch, klammerte sich an die Tischplatte, als ihm kurz schwindelte.
 

„… besten und schärfsten je geschmiedeten Katana der Welt. Es gilt als verschollen. Wo- woher…?“
 

„Das weißt du doch.“
 

McCoy hatte sich wieder umgedreht, lächelte ihn nachsichtig an, in seiner Stimme klang fast ein bisschen Spott. Shinichi starrte ihn an - der Tonfall, die ganze Stimmlage des Pathologen hatte sich verändert – und ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren.
 

Am meisten jedoch erschreckte ihn eine andere Tatsache.
 

Er spricht Japanisch!

Wieso – wieso spricht er…

Seit wann…

Wer…?
 

Seine Augen weiteten sich, als er den alten Mann ansah, dieses vertraute Gesicht – aus dem ihn nun zwei eiskalt funkelnde Augen anstarrten, mit kalkulierendem, stechend scharfem Blick.

Dann spürte er den scharfen Schmerz in seinem Kopf, der kurz sogar das Pochen der Schnittwunde übertönte, sog keuchend die Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen ein, kniff die Augen für einen Moment zusammen. Übelkeit stieg in ihm hoch, unterstützt von dem Dämpfen des Desinfektionsmittels, ließ ihn kurz die Situation vergessen. Das Klimpern und helle Splittern der zerbrechenden Spritze, die auf den Boden fiel, als er schwankte und gegen den Tisch prallte, rissen ihn aus seiner Starre, holten ihn in die Realität zurück. McCoy lächelte wissend, als er sah, wie sein Patient blass wurde, ihm zusehends alle Farbe aus dem Gesicht wich und er gegen die drohende Ohnmacht kämpfte.
 

„Du hättest sitzen bleiben sollen, dummer Junge.“
 

Er griff nach dem Schwert, ehe Shinichis Beine nachgaben. Der schnappte seinerseits nach Luft, war wieder gegen die Tischkante gesunken, merkte, wie sich alles drehte, als er weiter gegen die Bewusstlosigkeit anfocht, die seine Welt langsam in Watte zu packen schien. Leise Panik kroch in ihm hoch, als er das Gefühl in seinen Beinen verlor, die Taubheit in seine Knie wanderte, ihm nicht mehr erlaubte, gerade zu stehen.

Schwarze Kreise tanzten vor seinen Augen, seine Glieder wurden schwer und entzogen sich seiner Kontrolle. Er hörte sich selbst laut atmen, wie als ob er neben sich stünde und sich selbst ins Ohr schnaufte, spürte Hitze in seinen Kopf steigen, griff sich an die Stirn, oder wollte es zumindest – auch sein Arm gehorchte ihm nicht mehr, schien ihm nicht mal mehr zu gehören. Nur am Rande bekam er mit, wie er zu Boden fiel, sich den Kopf anstieß, was die dumpfen Kopfschmerzen, die ihn heimsuchten, zum Explodieren brachte und er kurz, aber laut aufschrie.

Mühsam atmete er ein und aus, versuchte, wieder Herr über seine Muskeln zu werden.
 

„Aber…“, murmelte er tonlos.

Er blinzelte träge, sah das weiße Autopsielicht grell durch seine getrübte Sicht blitzen.

„Erinnerst du dich nicht?“, fragte McCoy, in seiner Stimme lag fast schon Enttäuschung.

„Du hast mich nie gesehen, aber gehört. Und eigentlich dachte ich, dass sich diese Stimme einbrennt in dein Gedächtnis… auf alle Ewigkeit.“

Und er lachte.

Leise, eindringlich, triumphierend.

Shinichi starrte ihn an, seine Sicht flimmerte immer mehr.

Er sah eine dunkle, schemenhafte Gestalt, mit einem Katana in der Hand, umgeben von einem Kranz aus Licht – und die Erkenntnis, als sie dann endlich kam, verpasste ihm eine saftige Ohrfeige.
 

„Anokata…“, wisperte er kraftlos, kniff die Augen zusammen, nicht willens, der drohenden Ohnmacht klein bei zu geben.
 

„Ganz Recht.“
 

Er lachte leise, fast vergnügt, in sich hinein.

„Und dafür, dass man dich hier Sherlock Holmes nennt, Kudô… hast du ganz schön lange gebraucht, um zu erkennen, dass es Moriarty ist, mit dem du die ganze Zeit arbeitest…!“
 

Er lachte lauter, bemerkte Shinichis Blick, der auf ihm haftete, unfähig eine Antwort zu geben, weil ihm die Zunge am Gaumen klebte. Er schluckte trocken, starrte ihn an wie die Maus die Katze und wurde sich bewusst, dass er schon wieder ein Versprechen gegeben hatte, das er nicht würde halten können.
 

„Du hast mir wortwörtlich aus der Hand gefressen… großer Detektiv…!“

Er grinste höhnisch, beugte sich zu ihm hin, so nahe, dass Shinichi seinen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.
 

„Du warst völlig blind…“
 


 

Rei Furuya – oder Samuel Gallagher, wie man ihn hier nannte - rannte wie vom Teufel gejagt über den Hof. Er hatte McCoy und Kudô in den Keller gehen sehen, und musste nicht lange raten, was dort passieren würde.
 

Er wird ihn töten!
 

Dann erblickte er Jenna, die zusammen mit Ran, Heiji und Shuichi Akai beisammenstand, blieb schwer atmend vor ihnen stehen.

Jenna drehte sich um, lächele ihn strahlend an.

„We solved and closed the case, Samuel! Isn’t that awesome?!”

„Are they alone down there in the basement?!“, unterbrach er sie harsch, blickte sie starr an, in seinen Augen ein drängender Ausdruck, der seine ohnehin sehr dunklen, braunen Augen fast schwarz erscheinen ließ. Ran schaute ihn eingehend an, musterte das Gesicht, den Schwung seiner Nase, seine Mimik, die Bewegungen, die er mit den Händen machte, als er sprach.

„Come on, Jenna, are they alone?! SI Kudô and the doc, are they alone down there?!“

Ran zog die Augenbrauen zusammen, betrachtete den aufgebrachten Officer nachdenklich. Irgendwoher kam er ihr bekannt vor. Sie warf einen Blick auf Akai, der neben sie getreten war und sich ein wenig bewegte – ihr schien, als war eine gewisse Spannung in seinen Körper getreten. Seine Augen waren auf den jungen Constable gerichtet, ohne zu blinzeln.
 

„Yeaaah…“, begann Jenna träge, „so what? The man is just going to coddle him up a bit, it’s not as if he’s going to kill him, even if, admittedly, our dear doc is indeed more accustomed to treating dead than alive patients…“
 

Gallagher schwankte, schloss die Augen, stöhnte frustriert auf.

Akai hingegen, der ihn mit starrem Blick angesehen hatte, wartete nicht auf eine Antwort. Er drehte um, begann mit langen Schritten Richtung Eingang des Polizeihauptquartiers zu laufen. Heiji folgte ihm, konnte sich denken, dass irgendetwas im Busch war.

„Was…?“, keuchte er, als er endlich aufgeholt hatte.

„Anokata.“, murrte Akai leise, schaute ihn nicht an, hämmerte auf den Aufzugschalter und begann dann doch die Treppe runterzulaufen, weil der Lift ihm nicht schnell genug war. Er hörte es hinter sich rascheln und sah Ran, die sich in ihrem wallenden Outfit die Treppe runterquälte, um nicht auf den Rock zu treten und zu stürzen.

„Bleib oben!“, blaffte er unfreundlich.

„Dich können wir hier nicht brauchen, warum denkst du, hat er dich nicht mitgehen lassen?!“

Ran starrte ihn an, blieb stehen.

„Was ist los?“, fragte sie leise.

„Wir haben jetzt keine Zeit, das zu erklären.“, murrte Akai, aber Ran trat vor ihn, baute sich vor ihm auf.

„Was ist los?! Wer ist Anokata?!“
 

Heiji schluckte, strich sich über die Augen.

„Anokata… nannte er den Boss.“

Heiji wandte sich um, bemerkte Jenna, die ihn ob ihrer mangelnden Japanischkenntnisse ratlos anschaute.

„Anokata is the name of the boss of the Black Organization. We’ve got to get down there, immediately. It seems that your doctor is -“

Jenna starrte ihn an.

“What…?”
 

Ran stand da, starrte von Heiji zu Akai, in ihren Augen kämpften pures Entsetzen und nackte Angst um die Herrschaft. Jenna schaute sie an, ihr Mund stand leicht offen, ihre Hände ballten sich krampfhaft.

„McCoy is one of them? And he has – he has… Fuck, did he know?!“

„Very likely so. I just don’t know if he was aware of with whom he went down there. He must have smelled that there’s something fishy, that would explain his reaction just now – prohibiting that Ran went down with him.“
 

Damit drehte Akai sich wortlos um, eilte die Treppen weiter nach unten. Ran raffte ihre Röcke, zog die Schuhe aus und ließ sie stehen, eilte an ihm vorbei in die weiße Hölle der Autopsie, den unterkühlten Blick, den er ihr zuwarf, ignorierend. Jenna stand da, ließ den Anblick kurz auf sich wirken – eine Prinzessin im weißen Kleid, die ohne Schuhe in den Abgrund rannte, um ihren Helden zu retten.
 

Aufreizend langsam kroch ihr der Schauer über den Rücken, als ihr Puls sich immer weiter in die Höhe hetzte. Sie übersprang die nächsten drei Stufen zum nächsten Treppenabsatz, hetzte wie vom Teufel gejagt hinterher, dicht gefolgt von Heiji.
 

How did he know, by the way…?
 


 

McCoy lächelte still in sich hinein, schlenderte gemächlich zu seinem Gefangenen und griff ihn am Kinn. Ein Grinsen umspielte seine Lippen, als er das Gesicht des bewegungsunfähigen jungen Mannes betrachtete.
 

„Endlich bringen wir es zu Ende, Kudô… es wurde auch Zeit.“
 

Er seufzte theatralisch.

„Allerdings, für dich habe ich mir noch etwas Besonderes ausgedacht… das sollte dir deinen Übergang ins Jenseits etwas erleichtern.“

Ein fast wohlwollendes Grinsen schlich sich auf seine Lippen, als er sich einen Stuhl heranzog, ihn vor seinem Opfer abstellte, in einigem Abstand, um eine gute Sicht auf ihn zu haben, und sich niederließ. Kein Mensch würde sie hier stören, durch den Einsatz waren die meisten oben – und hier hinten arbeitete außer ihm ohnehin keiner.

Er würde sich vom Acker machen, wenn alles vorbei war.

Solange sollte sie hier keiner stören.

Und wenn es dann geschehen war, würde er verschwunden sein, und mit ihm jeder Beweis für seine Existenz. Dafür hatte er gesorgt.
 

Ein Grinsen umspielte seine Lippen.
 

„Genießt du ihn schon…? Deinen letzten Höhenflug, ehe dein eigener Albtraum dein Herz zur Kapitulation zwingt, Kudô?“
 

Shinichi stöhnte leise auf, verstand kaum, was er sagte, blinzelte ihn an. Er schlitterte immer noch mit Mühe an einer Ohnmacht vorbei.
 

Ihm brummte der Schädel, wie als ob ihn jemand mit einem Presslufthammer bearbeitete.
 

Und wer auch immer gerade das Ding da in der Hand hat, liebt seinen Job…
 

„Du bist ja noch wach…“
 

McCoy lächelte.
 

„Sieh mal einer an, du bist ein zäher Brocken, aber gut, das wusste ich. Noch dazu hast du ja in den letzten Tagen etwas üben dürfen. Ein kleines warm-up, sozusagen.“

Sein sanftes, spöttelndes Lachen erfüllte den Raum.

„Weißt du, es tut mir fast ein wenig leid… wie gutgläubig du mir folgtest, wie brav du stillgehalten hast, als ich dir die Injektion verabreichte…

So folgsam warst du früher nicht… wärst du’s gewesen, hätten wir das hier vielleicht schon viel schneller beenden können…“
 

Shinichi blinzelte angestrengt, bis sich sein Blick fokussierte und der Arzt in sein Blickfeld rückte. Und hätte kotzen können, als er den Spott in dessen Stimme hörte.
 

Bastard. Warum zum Henker hab ich das nicht bemerkt? Ein schöner Sherlock Holmes bist du, Kudô… siehst Moriarty nicht, wenn er dir tagelang unter der Nase herumtanzt.

Aber was…
 

Er räusperte sich, schluckte hart.
 

„Was haben Sie mit dem echten McCoy gemacht?“

Der junge Detektiv zwang sich, sich aufzusetzen, kämpfte sich mit Mühe auf die Beine, als das Gefühl in ihnen langsam zurückkehrte, blieb schwankend stehen, hielt sich an einem Regal fest, während McCoy nachsichtig lächelte.

„Keine Sorge. Der gute Doktor genießt gerade die Annehmlichkeiten seines eigenen Kellers. Wenn jemand von euch schlau genug ist, kombiniert er das selber, wenn ich weg bin – und holt ihn da raus, bevor er verdurstet. Du wirst das allerdings nicht sein.“

McCoy lächelte immer noch, als er aufstand und ein wenig zur Seite trat, damit Shinichi die Bombe sehen konnte. Der verdrehte die Augen, hielt sich immer noch am Regal fest. Irgendwie wollten seine Gliedmaßen gerade so gar nicht so wie er.

„Was suchten Sie eigentlich hier? Sie scheinen ja nicht mit Gin…“

Seine Stimme klang bissig.

„Nein, da hast du Recht.“

Der Pathologe, legte sich nachdenklich einen Finger ans Kinn.

„Ich steckte nicht mit Gin unter einer Decke. Auch wenn ich ihn beobachtet habe, so offen kann ich sein. Und es hat mich sehr amüsiert, ja wirklich. So gut unterhalten hat mich die letzten Jahre kaum etwas. Er dachte ja nicht, dass ich deinen letzten Sturm auf meine Festung überstanden habe. Deshalb hat er es ja auch gewagt, mir meinen Schatz hier zu stehlen.“

Er strich mit einem Finger über die Klinge seines Schwerts.

„Fand es zweifelsohne reizvoll, dein Mädchen damit umzubringen, und dann dich. Weder das eine noch das andere hat er ja geschafft. Wie... überaus enttäuschend.“
 

Ein Stirnrunzeln furchte seine Gesichtshaut.

„Er ist bestimmt an die Decke gegangen, als er das herausfand, er kann mit Niederlagen so gar nicht umgehen, musst du wissen.

Nun, zumindest sie hast du diesmal retten können. Ein erhebendes Gefühl, was?“

Shinichi schluckte. Ein bitterer Geschmack hatte sich in seinem Mund bei dem Gedanken an Ran ausgebreitet.
 

„Falsch.“, murmelte er leise.

„Das war nicht ich. Das war Jenna. Ich…“

„Du hast ihn gejagt.“

McCoy nickte scheinbar verständnisvoll.

„Klar, dass du ihn nicht gehen lassen konntest. Und seien wir ehrlich, welche Wahl hattest du – die kleine Polizistin mit Gin konfrontieren? Er hätte Hackfleisch aus ihr gemacht. Hätte er aus dir ja schließlich auch fast fabriziert.“

Seine Zähne blitzten, als er lachte. Geisterhaft hallte das Geräusch in den Räumen der Autopsie wider.

„Du hast ihn überlistet. Am Ende hast du richtig gehandelt – wenn du dich auch wieder gegen sie entschieden hast.“

Shinichi schluckte, merkte, wie das schlechte Gewissen in ihm wühlte.
 

Dieses Gespräch ist doch absurd. Was soll das?
 

Unwillig schüttelte er den Kopf.

„Das geht Sie nichts an. Und ich glaube auch, uns beschäftigt hier ein anderes Problem.“

Er nickte in die Richtung der Bombe.

„Tja. Da muss ich dir wiedersprechen. Das ist allein dein Problem.“

Shinichi schaute ihn verwirrt an, schluckte. Spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, seine Finger taub wurden, in seinen Beinen das Gefühl schwand, ganz, als ob sie sich von einem Moment in den Anderen in Gelee verwandelten.
 

Er blickte auf das blitzende Schwert in McCoys Hand, der im Gegenlicht stand, griff sich auf einmal an den Hals, als ihm das Atmen schlagartig unmöglich schien, weil irgendetwas ihm die Luft einfach abdrückte.
 

Und er ahnte, was passiert war. Woher die Taubheit in seinen Extremitäten kam.
 

Atemlos starrte er McCoy mit kaum verhehlter Angst in den Augen an, als er sich erinnerte – an das letzte Mal.
 

Er stand da, im Gegenlicht, hielt das Katana in seiner rechten Hand, ließ es locker auf- und abwippen.
 

„Also, noch einmal Kudô, und langsam dürftest du doch verstanden haben, was wir von dir wollen… großer Detektiv des Ostens.“
 

Ein hämisches Lachen ertönte, als Gin langsam nähertrat. Shinichi schaute ihn stur an – seine Glieder schmerzten, sein Kopf fühlte sich seltsam hohl an. Vor seinen Augen tauchten immer noch Fetzen der letzten Privatvorstellung auf, die ihm das Halluzinogen beschert hatte – Ran, die ihn weinend anstarrte, Worte sprach, die er nicht verstand. Die sich umdrehte und ging, einfach im Nebel verschwand, nichts weiter zurückließ als das Gefühl unbeschreiblicher Leere und der Gewissheit, dass es sein Fehler war, dass sie weg war – und dass sie nicht wiederkam. Er hatte sie schreien sehen, weinen sehen, trauern und sterben sehen, immer und immer wieder. Die Droge ließ ihn ihren Schmerz, ihr Leid, viel intensiver spüren, als er es in der Realität als Conan ohnehin schon getan hatte, wenn sie wieder einmal Tränen vergoss, wegen ihm.

Er wusste nicht, wie lang er das noch aushielt, zuzusehen, was mit ihr geschah, wenn er versagte. Und er hielt den Gedanken nicht aus, was mit ihnen allen passierte, wenn er versagte – mit Ai, mit Heiji, mit seinen Eltern, dem Professor. Und er hatte keine Ahnung, wo das hinführte.

Er schloss die Augen, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, sich einzureden, dass das Verlustgefühl, das ihn jedes Mal mit scharfen Klauen packte, nicht echt war.

Ran ging es gut. Und allen anderen auch noch. Das FBI war schließlich auch noch da draußen.

Sonst würden die sich hier schon ganz anders aufführen.
 

„Ich muss gestehen, langsam wird es lästig, dich jeden Tag aufs Neue bitten zu müssen.“

Er lächelte verschlagen.

„Andererseits bietest du einem auch jeden Tag eine unvergleichliche Show… aber ehrlich, mal unter uns, Kudô… wie lange willst du das Spiel noch spielen?“
 

Er trat näher, so nahe, dass Shinichi seinen beißend nach Rauch stinkenden Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Der junge Detektiv zwang sich, die Augen zu öffnen.
 

„Sieh dich doch mal an, Kudô…“

Gin griff ihm am Kragen, näherte sich seinem Kontrahenten noch weiter, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

„Du liegst am Boden und hast nicht die Kraft, alleine aufzustehen! Fahle Haut, eingefallene, rotgeäderte Augen, strähnige Haare, dieses Zittern, das du nicht mehr loswirst, weil dein Körper danach schreit, dein Kreislauf ohne diese Droge nicht mehr funktionieren will…“

Er lachte auf, als er das leise Stöhnen hörte, das über Shinichis Lippen kroch, als er einen Aufschrei unterdrückte.

„Du willst es nicht, du hast panische Angst davor, aber dennoch sehnst du dich danach, denn es stellt dieses Bild in deinem Kopf ab, die Vorstellung vom Leid deiner Freundin, von ihrem Tod, den du fürchtest, seit Tagen, seit dem ersten Mal…“
 

Er lachte laut auf, griff in Shinichis Haare, zerrte seinen Kopf zurück, als er sich an seine Wange lehnte, um ihm die nächsten Worte wohldosiert in sein Ohr zu wispern.
 

„Oder irre ich mich…?“
 

Shinichi schrie auf, als Gin noch weiter zog, spürte, wie sein Kopf explodieren wollte, als sich der pochende Kopfschmerz in seinem Schädel durch den Ruck vertausendfachte. Er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis der Entzug ihn niederwarf, er schreiend und um Atem ringend am Boden liegen würde, und sich wünschte, einfach tot zu sein.
 

So lange schienen sie heute jedoch nicht warten zu wollen.
 

Eisig klang seine Stimme, kaum lauter als ein Flüstern, an sein Ohr.
 

„Lass ihn los...“
 

Shinichi schluckte hart, fiel fast zu Boden, als Vodka und Gin von ihm abließen. Er kniff kurz die Augen zusammen, als seine Sicht verschwamm, schluckte erneut, erfolglos, merkte, wie trocken sein Mund war. Seine Zunge klebte ihm buchstäblich am Gaumen, und er hatte keine Ahnung, ob er auch nur ein Wort artikulieren könnte, falls er das wollte.

Er wusste, was Gin sagte, stimmte. Er fühlte den körperlichen Verfall… er wusste, er schlief wenig, brachte kaum einen Bissen des ohnehin spärlichen Essens runter, das man ihm anbot. Sein Kopf kam nicht zur Ruhe, jagte ihn von einer Wahnvorstellung in die nächste, trieb seine Puls- und Atemfrequenz in die Höhe, bescherte ihm Schweißausbrüche und Schüttelfrost abwechselnd, Krämpfe und Phasen völliger Unbeweglichkeit.
 

Er hatte keine Kontrolle über sich.
 

Und dennoch, das ahnte er langsam, war der Zeitpunkt längst gekommen.
 

Wenn sie ihm das Zeug verabreicht hatten, dann schlief er einfach ein. Fand ein paar Momente Ruhe, in denen er einfach nur träumte, von ihr. Von ihrem Glück.

Er hatte keine Ahnung, wieviel er preisgab, wenn er im Schlaf phantasierte.

Allerdings, das konnte er nicht abstreiten, war dieser Zustand süchtigmachend… es fühlte sich nicht wie Schlaf an, für ihn, schien viel realer. Er konnte sie spüren, sie fast riechen, sah die Freude in ihren Augen, hörte ihr Lachen, und merkte, wie all die Sorgen, die ihn quälten, von ihm abfielen. Er dachte einfach nicht mehr an alles andere, das da war…

Kein Schmerz, kein Alptraum, nichts weiter als traumhafte Glückseligkeit.
 

Mühsam atmete er ein und aus.

Was dem folgte, war jedesmal die Hölle. Ran, die ihm entrissen wurde, Ran, die vor Angst und Panik schrie, er selbst, der vor Schmerzen hochfuhr, der umsonst nach ihr greifen wollte, sie nicht zu fassen bekam, sie beschützen wollte, und sie nie vor ihrem Unheil bewahren konnte.
 

Und auch das… schien unwahrscheinlich real.
 

Und wenn er dann aufwachte, schweißgebadet und mit den Nerven am Ende, heiser, ohne die Kraft, sich zu bewegen oder sich zu wehren, dann wünschte er sich seinen Traum zurück.
 

Er war süchtig.
 

„Wenn er den Mund nicht aufkriegt, probiert heute doch mal ein bisschen mehr… vielleicht macht ihn das ein wenig auskunftsfreudiger.“

Shinichi merkte, wie ihn das Entsetzen packte.

„Nein!“

Er schrie atemlos auf, seine Stimme überschlug sich, brach, klang ungewohnt heiser in seinen Ohren, als er sich in Wodkas Griff wand, der ihn auf einen Wink des Bosses wieder auf die Beine gezerrt hatte.
 

„Ach, komm schon…“
 

Er versuchte, sich aus Wodkas Gewalt zu befreien, der ihn wieder gepackt hatte, damit er nicht entkam, trat um sich mit einer Kraft, die ihn selbst erstaunte, wand sich, als sie näher kam, die Spritze in ihrer einen Hand, das alkoholgetränkte Tüchlein in der anderen. Er kniff die Lippen zusammen, wandte den Kopf ab, drehte ihn immer wieder aus den Händen, die ihn festhalten wollten, bis sie ihn zu dritt griffen, ihm die Kehle fast abdrückten, solange, bis er fast ohnmächtig geworden war, weil er sich weigerte, stillzuhalten, wusste er doch, was ihn erwartete… aber der Sauerstoffmangel tat seine Pflicht.

Seine Bewegungen wurden matter, seine Gegenwehr erstarb. Den Stich am Handgelenk spürte er kaum.
 

Als man ihn losließ, fiel er zu Boden wie ein gefällter Baum, seine Augen blicklos und unfokussiert, sein Atem flach und schnell… und sein Kopf voller Bilder.
 

„Nein! Nicht das, nicht…!“
 

Er rang nach Atem, rieb und kratzte an dem kleinen roten Punkt, wo die Injektionsnadel das Gift in seinen Organismus geimpft hatte, und wusste doch, wie zwecklos das alles war. Es war längst zu spät.

McCoy sah ihm dabei zu und lachte nur.
 


 

Ran blieb abrupt stehen, wie auch alle anderen, die gerade noch gelaufen waren. Sie befanden sich bereits in den unteren Geschossen, als sie es fühlte.

Sie spürte, wie ihr Herz gegen ihre Brust schlug, wie ihre Beine unter ihr nachgeben wollten. Ran sank gegen eine Wand, konnte kaum mehr stehen, zitterte am ganzen Körper. Jenna schaute sie beunruhigt an.

„Are you okay?“, fragte sie überflüssigerweise, erwartete keine Antwort – und bekam auch keine. Stattdessen blickte sich Heiji suchend um.

„Where the heck are we?“
 

Der junge Sergeant seufzte, fuhr sich mit zitternden Fingern durch die wirren Locken.

„Two stories above the autopsy halls. They are down, at the very bottom.“

Sie seufzte leise.

„You really believe, McCoy is the boss? But he’s working for Scotland Yard for decades now, as far as I know. How could he possibly…?“

„Maybe it’s not him. Maybe someone is disguising himself as Dr. McCoy, your cherished pathologist.“

Akais leise Stimme ließ sie herumfahren.

„But – that’s impossible. That man there knows these premises just too well, knew about every room, every machine, the whereabouts of everything and everyone. He acts too perfect! He knows things only the real McCoy could know. He never even gave the slightest impression of not being Dr. Constantine McCoy…“

Jenna schaute ihn fragend an.

„How would he be able to achieve this…“

„Maybe he had an assistant. A scout. Someone, who prepared everything, briefed him, provided him with every bit of information he needed.“

Heiji schaute nachdenklich auf den Boden, kratzte sich am Kinn.

„And if he hasn’t killed the real McCoy, but rather held him captive, he can go and dig for insider-knowledge anytime…“

Jenna schluckte.

„But how could he – all the names, all the stuff…!“

Akai lächelte schmal.

„I’m sure he had an insider here. That scout must’ve been here for quite a while now, a person especially skilled in masking, acting and gathering intelligence.“

Heiji fuhr ruckartig herum, starrte ihn an.

„Vermouth?“

„No.“

Akai schüttelte den Kopf.

„Someone adept with police work. Someone who could blend in here flawlessly and easily, because it’s where he’s at home. All he needed was a disguise, which he might have learned from Vermouth; but it wasn’t her.“

Sein schmales Lächeln verbreiterte sich.
 

„Bourbon.“
 

Er wandte sich um, schaute die Treppe hoch.
 

„And he seems to owe Kudô something, otherwise I wouldn’t know why he sent us down there.”

Jenna starrte ihn an, merkte, wie ihr ihre Fassung buchstäblich aus dem Gesicht fiel.
 

„Gallagher?!?“

Ihre Kinnlade streifte fast den Boden.

„Samuel Gallagher – one of THESE guys? You must be kidding…!“

„Well. Bourbon was not what you’d call a typical member of that organization. “
 

Ran sah von einem zum anderen, schluckte. Sie wollte etwas einwerfen, doch keiner schien sie so recht wahrzunehmen; offenbar lösten sie gerade die Eckpunkte ihres Falls – sie allerdings konnte kaum mehr atmen, weil ihr die Sorge um ihn die Luft abschnitt, mit kalten, starken Fingern die Kehle zudrückte, noch mehr, als es die enge Korsage des Kleides je gekonnt hätte.

Sie kniff die Lippen zusammen, hob sie ihre Röcke an, tappte allein die Treppe hinab.
 

Shinichi.
 


 

„Das ist dafür, dass du meine Organisation zerstört hast.“
 

Eiskalt dröhnte McCoys Stimme von den Wänden wieder, klang schmerzhaft in sein Ohr. Shinichi hielt sich krampfhaft am Regal fest – warum er noch stand, war ihm ein Rätsel. Sein dröhnender Kopfschmerz ließ ihn kaum einen klaren Gedanken fassen und er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bevor er apathisch und zu keiner Regung mehr fähig am Boden liegen würde. Aber noch weigerte er sich, klein beizugeben, kniff die Augen angestrengt zusammen, um die Ohnmacht zu verscheuchen, die ihm sein Hirn bereits als leichtes Flimmern in seinem Gesichtsfeld ankündigte. Er schüttelte den Kopf, massierte sich die Nasenwurzel.
 

Nein…
 

Der Pathologe sah ihn interessiert an.
 

„Hast du nicht Lust auf einen Trip? Ein paar ekstatische Minuten mit deiner kleinen Freundin, ehe du draufgehst… je länger du dich sinnlos wehrst, desto kürzer wird der Spaß an der Sache.“
 

Der Boss lachte.

„Es war so rührend von dir, wie du dich verabschiedet hast… du Genie, du wusstest doch, dass du auch dieses Versprechen nicht halten kannst. Ich hab‘s dir angesehen, auch wenn du nicht ahntest, wer ich war, so ahntest du doch, dass du keinesfalls für ein Pflaster und ein Stückchen Traubenzucker hier mit mir runtergehen würdest…“
 

Shinichi lehnte seine Stirn gegen die Wand, sah den Mann nicht an, versuchte, durch kontrolliertes Ein- und Ausatmen den Moment des totalen Kontrollverlustes hinauszuzögern.

„Warum…?“, murmelte er schließlich fragend, schnappte nach Luft, sammelte sich erneut.

„Warum das? Sie könnten mich umbringen und verschwinden, warum…“

„… ich noch bleibe, willst du wissen?“
 

McCoy trat näher, beugte sich vor, so nahe, dass Shinichi seinen heißen Atem an seinem Ohr spüren konnte, als er sprach – und es ekelte ihn an.
 

„Ich will das noch einmal sehen… niemals hat jemand so auf diese Droge reagiert wie du. Immer auf die gleiche Weise, immer so authentisch… zu sehen und zu hören, wie sehr du sie liebst…“

Shinichi warf ihm einen angewiderten Blick zu.

„Hah. Ich wusst’s doch. Sie wollen also unterhalten werden, nicht wahr?“

Ein zynisches Lachen entfloh ihm.

„Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie auf Schnulzen stehen.“
 

Langsam lehnte er sich zurück, versuchte, tief ein und auszuatmen, ruhig zu werden.
 

Ruhig.
 

Du willst ihm den Gefallen nicht tun, das zu sehen… zu hören…
 


 

Ran war mittlerweile im Gang angekommen, in dem die Autopsiesäle lagen.
 

Und sie hörte eine Stimme, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte, blieb stehen, um zu verstehen, was sie sagte, lauschte angestrengt über ihren eigenen keuchenden Atem hinweg.

Und sie fühlte, wie ihr die Worte, die an ihre Ohren drangen, den Boden unter den Füßen wegrissen, Stück für Stück, eins ums andere.
 

Langsam wurde ihr klar, dass sie zu spät kam.
 

Nein!
 


 

McCoys Stimme schwappte über ihn hinweg.
 

„Ich will dich sterben sehen. Auf die grausamste Weise, die ich mir denken kann… und nach reiflicher Überlegung fand ich, dass es diese Weise ist. Dein Herz, das stehen bleibt, wenn du von ihrem Tod träumst, Schmerz, Leid und Angst spürst, Verzweiflung und Trauer, angetrieben und in seiner Intensität vertausendfacht von dieser Droge. Dein letztes Bild, dass das du siehst, bevor du abtrittst, wird das deiner toten Freundin sein, das scheint mir nur fair.

Damit sind wir dann quitt, denke ich. Und siehs positiv, bevor du aus dieser schönen Welt scheidest, kommt der Rausch. Genieß ihn, es wird dein Letzter sein.“
 

Er schmunzelte, dann schüttelte er den Kopf.

„Aber wie unhöflich von mir. Jetzt reden wir hier schon so lange und ich habe mich noch gar nicht vorgestellt… mein wahres Ich, meine ich. Du wolltest mir immer die Maske vom Gesicht ziehen – bitte – diesen einen Wunsch will ich dir gerne noch erfüllen. Allerdings… um deine Ehre zu retten, nachdem dein detektivischer Spürsinn gerade eben schon so versagt hat, gebe ich dir einen Hinweis.“

McCoy sah, wie er schluckte, fühlte seinen musternden Blick auf sich.

„Ein Spiel? Jetzt noch?“

„Ein Rätsel, vielleicht.“

McCoy lachte.
 

„Du magst doch Rätsel. Du liebst es, sie zu lösen, sonst wärst du nicht hier, Holmes. Also hier der erste Hinweis.“

Er machte eine kleine Kunstpause, starrte Shinichi, der ihn interessiert und ablehnend gleichermaßen anblickte, triumphierend an.

„Du erinnerst dich sicher, als du… mein Gast warst. Ich habe es dir angesehen, dir kam die Stimme immer seltsam vor, nicht wahr?“
 

Shinichi blinzelte, schaute ihn an.

„Ja. Seltsam körperlos schien sie. Als ob sie nicht ihre eigene wäre. Ich schob… es auf die Maske.“

„Und damit hattest du Recht.“

McCoy schaute ihn milde lächelnd an.

„Du kennst dich doch aus mit solchen Sachen…“

Shinichi verzog das Gesicht, kurz, als ihn die Erkenntnis traf.

„Ein Stimmentransposer.“

Ein sanftes Nicken bestätigte seine Antwort.

„Nun, das… überrascht mich nicht. Sie wollten ja nicht, dass jemand Sie erkennt, also warum nicht gleich auch die Stimme verstellen. Scheint konsequent - und unter Anbetracht dessen, das einige Mitglieder ja auch Personen des öffentlichen Lebens waren und vielleicht Ihre Stimme wiedererkannt hätten, hätten sie auch Sie im „normalen“ Leben unter ihrer eigentlichen Identität…“, fing er an – und brach ab, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel.

Und obgleich seine Stirn vor Fieber bereits glühlte, wurde ihm auf einmal irrsinnig kalt.

„…erkennen können.“, vollendete er seinen Satz dennoch, seine Stimme kaum lauter als ein Wispern.
 

„Ich kenne Sie auch…?“
 

„Ist das eine Frage oder deine Antwort…?“

McCoy lächelte süffisant.
 

Shinichi merkte, wie seine Gedanken zu rasen anfingen, die Erkenntnis seine kleinen grauen Zellen an den Rand eines Systemcrashes trieb.
 

Jemand, den ich kenne.

Er ist jemand, den ich kenne…
 

„Nun, wen hast du in deiner engeren Auswahl, Sherlock?“
 

Höhnisch klang McCoys Stimme an sein Ohr.
 

Shinichi biss sich auf die Lippen, versuchte, seine Gedanken zu sortieren.

Viele Optionen blieben eigentlich nicht.
 

„Es… muss jemand sein, der Einfluss hat - eine gehobene Position in der Gesellschaft, eine Führungskraft. Von denen, die ich besser kenne… bleiben eigentlich nur zwei, drei… die dieses Kriterium erfüllen.“

„Was macht dich glauben, dass es jemand mit Einfluss ist?“

Shinichi seufzte leise.

„So eine Organisation führt jemand mit Unternehmergeist, Führungsqualitäten, Durchsetzungsvermögen und Charisma. Sonst bricht einem der Laden auseinander – und wer diese Fähigkeiten in sich vereint, der… wird wohl auch im echten Leben damit Erfolg haben. Also… Ein Vorstandsmitglied, ein Manager einer großen Firma oder Organisation.“
 

Shinichi merkte, wie ihn das Gefühl in den Fingern verließ, als sein Blick sich trübte. Er schluckte hart.

„Es bleiben nur zwei, denen ich es zutraue und beide… kenne ich nicht besonders gut. Hauptkommissar Kiyonaga Matsumoto der Tokioter Kriminalpolizei und… Special Agent James Black vom FBI.“
 

Er ließ den Kopf in den Nacken sinken, merkte, wie sein Puls aussetzte, sein Kreislauf einmal in den Keller ging, als sich die Antwort vor seinen Augen abzeichnete.
 

Nie, niemals hätte er das geahnt.

Niemals.
 

„Mr. Black.“
 

Shinichis Stimme war kaum lauter als ein Wispern, als er den Namen nannte. Er konnte fast nicht hinsehen, als McCoy sich die Brille abnahm, ein Stück Haut an seiner Wange unter seinem rechten Ohr ergriff und daran zu ziehen begann.

Shinichi starrte ihn wortlos an, unfähig zu einer Reaktion, als das ihm so bekannte Gesicht sich unter der Zug von McCoys Hand dehnte, verzerrte, sich die ersten Klebestellen lösten und die Maske sich von seiner Haut pellte. Er kannte das Prozedere, hatte seine Mutter sich oft genug irgendeine Verkleidung vom Kopf reißen sehen, und es hatte ihn immer irgendwie schaudern lassen, so abgebrüht er auch war – er hatte eigentlich schon viel Schlimmeres gesehen.

Aber eine Maske, eine Täuschung, fallen zu sehen, das fast gewaltsame Hervorzerren des eigentlichen Menschen, der wahren Identität, zeigte ihm jedes Mal aufs Neue, wie blind die Menschen sein konnten, wie leicht zu täuschen, wie mühelos zu manipulieren.
 

Diese Tatsache erschreckte ihn jedes Mal.
 

Aber warum eigentlich… ich bin doch nicht anders. So leicht ich getäuscht werde, tische ich auch anderen eine Lüge auf. Eigentlich bin ich mittlerweile ein wahrer Meister der Selbstverleumdung.
 

Das seltsam schmatzende Geräusch kam zu seinem Höhepunkt, ließ ihn aus seinen Gedanken zurückkehren in die Realität. Es klatschte matschig, als die Maske aus der Hand des Arztes zu Boden fiel und auf den harten Fliesen auftraf. Zum Vorschein kam James Blacks Gesicht, die stechend blauen Augen allerdings fixierten ihn immer noch. Ruhig setzte sich der Mann seine Brille wieder auf, fing an, den Mantel auszuziehen, unter dem die Polsterung lag, die ihn als McCoy hatte durchgehen lassen.
 

„Willst du nicht endlich reden…?“

Seine Stimme klang einschmeichelnd an sein Ohr.

„Du weißt, was auf dem Spiel steht. Gin ist bereits unterwegs, um sie zu holen.“
 

Shinichi blinzelte in die Lampe über seinem Kopf. Das Licht blendete ihn, und genau so sollte es auch sein, das wusste er. Er sollte ihn nicht sehen.
 

Und wieder dieses Aftershave in seiner Nase, als er Mann sich näherte.
 

„Warum tust du dir das an… warum sagst du uns nicht einfach, was wir wissen wollen…

Zwei, drei Sätze und alles ist vorbei. Dein jämmerliches Dasein hier… und deine Sorge um deine Freundin. Ich habe kein Interesse an ihr, das weißt du, sie ist nur Mittel zum Zweck - und als solches werde ich sie zu nutzen wissen, das muss dir klar sein, nach dieser Woche… Shinichi.“
 

Er zuckte merklich zusammen bei der Nennung seines Vornamens.
 

„Du bist ein richtig harter Brocken, und es erfüllt mich mit Respekt, wie du dich widersetzt; deine Willensstärke und deine Leidensfähigkeit imponieren mir durchaus.

Gleichwohl kann ich nicht dulden, dass du diesen Kampf gewinnst. Keiner besiegt mich.

Auch nicht du.“
 

Die Stimme entfernte sich, ließ ihn allein mit dem Geräusch seines keuchenden Atems.
 

„Es liegt an dir, wie viel dir ihr Leben wert ist.“
 

Shinichi blinzelte, als die Erinnerung an dieses Gespräch, besser diesen Monolog, verblasste. Er hob den Kopf, fokussierte seinen Blick wieder auf den Mann, der vor ihm stand, ihn milde interessiert musterte und seine Augenbraue hob, als er merkte, dass er wieder Objekt der Aufmerksamkeit seines Gefangenen war.
 

„James Black.“
 

Langsam trat der Angesprochene näher, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, blieb vor seinem Gegenspieler sehen, der ihn immer noch starr anschaute – allerdings, immerhin seine Fassung hatte Shinichi langsam wiedererlangt.

„James, wie in James Moriarty, Black wie in Black Organization.“, murmelte Shinichi leise.

„Richtig.“

Shinichi lachte hohl, auf seinen Lippen ein zynisches Grinsen, als er den Kopf schüttelte.

„Das ist so absurd offensichtlich, dass man es schon wieder für Zufall hält. Genial, das muss ich zugeben…“

Er keuchte, holte Luft.
 

„Aber nun, Mr. Black - wie heißen Sie wirklich?“

„Tut das etwas zur Sache, Sherlock? Oder Conan? Shinichi?“

Er lächelte breit.

"Welchen Namen bevorzugst du?“

Black lächelte, blieb kurz vor Shinichi stehen, der die Augen geschlossen hatte, sich mit beiden Händen am Rohr festhielt, seine Stirn dagegen gelehnt hatte. Er fühlte eine Hand an seinem Hals, zuckte zurück. Der Boss hatte seine Hand gehoben, schaute ihn abwartend an.
 

„Nicht schlecht.“, murmelte er.

„Du hältst ganz schön was aus, liegt vielleicht aber auch daran, dass du ein bisschen üben durftest, die letzten Tage… aber lange sollte ich nicht mehr warten müssen.“

Shinichi berührte unwillkürlich die Stelle, an der Black ihn angefasst hatte; er hatte seinen Puls spüren wollen, und er wusste, dass er raste. Sein Atem ging keuchend, Schweiß war ihm aus allen Poren gebrochen.
 

Und dann hörte er sie rufen.
 

Ran.
 

„Shinichi!?“
 


 

Seine Augen weiteten sich ungläubig, ähnlich wie die Blacks, der auf die Tür blickte, deren große Scheibe den Blick auf den Gang freigab. Noch war ihre Stimme nur leise gewesen, und von drinnen fiel kaum Licht auf den Gang.
 

„Well.“, murmelte er leise. Ein leiser nervöser Unterton schwang in seiner Stimme mit.

„Dann kann ich es eben nicht mitansehen. Das ist schade, aber nicht zu vermeiden.“

Er trat zur Bombe, schaltete sie an – gefährlich und drohend leuchteten die roten Zahlen des Timers auf, fingen an, herunterzuzählen. Shinichi schluckte.
 

Er wollte sich umdrehen, hatte den Schlüssel für die Hintertür bereits in der Hand.

„Wenn du mich nun entschuldigst – ich gestatte mir, durch den Hinterausgang zu verschwinden. Das gebührt einem Mann von Stellung wie mir zwar nicht…“, er grinste kurz, Spott lag in seiner Stimme, „aber ich wähle dann doch lieber den Hinterausgang als ein Zimmer in einem Etablissement, das einem Mann meiner Stellung noch viel weniger gebührt.“
 

Black betrachtete ihn kurz.

„Sieh‘s positiv. Du darfst in den Armen deiner Liebsten sterben. Das ist doch was! Mit Sicherheit doch sehr viel angenehmer, als von mir dabei ausgelacht zu werden.“

Er lächelte höhnisch – und stutzte, als er die Reaktion seines Gegenübers bemerkte.
 

Shinichi sah ihn an – dann fing er an zu lachen.
 

„Nein.“, brachte er schließlich hervor, als er sich wieder gefangen hatte.

„Was, nein?“, schnarrte James Black, die Augen verärgert zusammengekniffen, einen harten Zug um die Mundwinkel.

Shinichi fing sich, keuchte, schnappte nach Luft, als er langsam abzugleiten drohte in den Fiebertraum.

„Ich entschuldige Sie nicht. Und wir sind auch nicht quitt. Und auf gar keinen Fall lasse ich Sie hier raus.“
 

Black legte den Kopf in den Nacken, lachte leise.

„Mein lieber Sherlock, du amüsierst mich. Du bist wohl kaum in der Position…“

Shinichi, der seine Stirn gegen das Heizungsrohr gelehnt hatte, straffte die Schultern. Ein bitteres Lächeln war auf seine Lippen getreten, in seinen Augen funkelte Entschlossenheit. Der falsche Pathologe stutzte.
 

„Ich gebe gern zu, ich hatte gehofft… mir würde ein glücklicheres Ende zuteil. Allerdings… Ran wurde gerettet, Gin ist gefasst, Chianti ist fast tot. Die Organisation ist zerstört, mir ist der Weg gerade recht. Und weil es gar so gut passt…“

Shinichi schluckte, lächelte jedoch immer noch, „…möchte ich an dieser Stelle hier sehr gerne meinen Namenspatron zitieren, Doctor Moriarty.”
 

Er atmete schwer, sammelte sich.
 

„If I were assured of your eventual destruction, I would, in the interest of the public, cheerfully accept my own.”
 


 

Ran hielt nichts mehr.
 

Seine Worte waren kaum verklungen, als sie losrannte, zur letzten Tür am Gang hetzte, nach der Tür griff, um sie aufzuziehen, als wortwörtlich die Hölle losbrach.
 

Er hatte mit Wucht mit seiner freien Hand auf den Quarantäneschalter geschlagen, der sich eben so in seiner Reichweite befunden hatte – in dem Moment, als Rans Gesicht in der Glastür auftauchte, sie gegen die Tür prallte, an dem Griff zerrte und zog, und ihn dabei nicht aus den Augen ließ, nicht einmal blinzelte.

Sie wusste, was er getan hatte.

Und sie wusste auch, was das bedeutete.
 

Er sah sie nur an, in ihrem weißen Kleid, ihr Gesicht voller Angst, als sie gegen die Scheibe drückte, umsonst den Türknauf betätigte. Und er konnte ihre Worte in seinen Gedanken klingen hören, auch wenn nicht ein Laut an seine Ohren drang, weil ihnen allen die Sirene des Seuchenalarms fast das Trommelfell zerriss.
 

Shinichi, nein…!

Nein, nein, nein…
 

Nicht das, bitte.

Bitte!
 

Sie rüttelte an der Tür, gab auf, als sie in seinen Augen las, dass es keinen Zweck hatte.
 

Du hast es versprochen…!
 

Shinichi schluckte mühsam, schaffte es kaum, ihrem Blick standzuhalten. Er tastete sich an der Wand entlang, und sie sah, wie schwer es ihm fiel – dennoch quälte er sich weiter, bis er bei ihr angekommen war, seine Hand an die Stelle der Scheibe legen konnte, wo ihre Finger sie von der anderen Seite berührten.
 

Und was sie vorher geahnt hatte, lachte ihr nun mit aller Grausamkeit ins Gesicht. Sein Hemd klebte bereits stellenweise an seinem Körper, weil er es fast durchgeschwitzt hatte, seine Haut war fahl und blutleer, das rote Licht der Sirene, das über die Szene zuckte, ließ ihn, zusammen mit der blutigen Schnittwunde an seinem Arm, fast aussehen wie einen Zombie.

Seine Augen glänzten fiebrig, als er sie ansah, seine Stirn gegen das Glas lehnte.

Sie konnte die einzelnen Schweißperlen auf seiner Haut glitzern sehen, sah, wie seine Lippen bebten, wie unregelmäßig seine Atmung war.
 

Shinichi…
 

Lautlos flüsterte sie seinen Namen, merkte, wie es sie langsam in Stücke riss, ihn so zu sehen und ihm nicht helfen zu können – ihn nicht einmal berühren zu können. Sie presste sich gegen das Glas als würde sie hoffen, sie würde einfach hindurchfallen, hindurchgleiten… absorbiert und wieder ausgespuckt zu werden, um bei ihm sein zu können.
 

Er wusste, dass es vorbei war, als das Zittern einsetzte, in einem Maß, das er so kaum kannte. Schweiß brach ihm schier aus allen Poren, ließ seine Atmung schleppend werden, seinen Mund trocken. Er klammerte sich mit aller Macht an die Tür und spürte doch, wie sein Organismus in die Knie ging, als sein Blutdruck schlagartig abfiel.

Als er das Gefühl in den Fingern, den Beinen verlor, sackte er einfach zu Boden. Und sah in ihren Augen so viel Angst, dass er es nicht ertrug. Sie war auf der anderen Seite auf die Knie gesunken, lehnte ihre Stirn gegen die Scheibe, schaute ihn an, mit einer Intensität, als wolle sie mit ihm telepathisch kommunizieren.
 

„Geh.“, flüsterte er heiser, wusste, sie konnte seine Stimme nicht hören, seine Worte bestenfalls von seinen Lippen anlesen.

„Ich flehe dich an, tu dir das nicht an, Ran, du kannst mir nicht helfen. Geh! Er hat eine…“
 

Er spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug, als er sie ihren Kopf schütteln sah. Verzweifelt sah er sie an – dann wandte er sich ab, versuchte, ihr zumindest sein Gesicht zu verbergen – und sah geradewegs in seins. Er stand über ihm, hatte sich ihnen lautlos genähert.
 

Erstaunen zeigte sich auf Rans Zügen. Der Mann war ihr bisher nicht aufgefallen, viel zu fokussiert war sie auf Shinichi gewesen.

„Mr. Black! Was ist passiert? Sie müssen ihm helfen, wir…“
 

Dann stutzte sie – in seinen Augen lag ein Ausdruck, der mit dem Agent Black, den sie kennengelernt hatte, nichts mehr zu tun hatte.
 

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er ihn musterte, ihn dabei beobachtete, wie er um sein Bewusstsein kämpfte und diesen Kampf fürs erste verlor.

Ran klebte an der Tür, merkte, wie ihr Atem aussetzte. Hilflos hatte sie mitansehen müssen, als er ohnmächtig wurde, er einfach nicht mehr fähig war, sich zu wehren, nicht einmal eine Hand zu heben – ihn nun bewusstlos und wehrlos liegen zu sehen, war ein Anblick, der sie erschreckte wie nichts zuvor in ihrem Leben.
 

„Shinichi…“

Sie presste ihre Handflächen, ihre Stirn, gegen das Glas, merkte, wie die Verzweiflung sie übermannte.

Die Angst um ihn.

„Warum helfen Sie ihm nicht!? Sie müssen ihm helfen, wer weiß, wo der Boss…“

Ihre Anklage blieb ungehört, ihre Worte einfach niedergetrampelt von der ohrenbetäubenden Sirene – Black sah sie trotzdem, sah die Anklage, die Verzweiflung in ihren Augen, lächelte bitter. Dann drückte er auf den Schalter, der die Gegensprechanlage aktivierte, damit sie ihn hören konnte.
 

„Why don’t you help him!?“
 

Ihre Stimme hallte laut wider im Autopsiesaal.

„Ah, well.“

Er lächelte milde, spöttisch.

„Ich hab ihm schon genug geholfen, indem ich ihm zu diesem Zustand verholfen habe…“
 

Rans Atem setzte aus, als sie begriff, was dieser Satz bedeutete.

„Sie…?“, wisperte sie leise.

„Allerdings.“

Sie sank zurück, starrte auf Shinichi, der auf dem Boden lag, die Augen halb geschlossen.

„Wusste er es…?“

Unsicher schaute sie auf, begenete James‘ Blick.

„Wusste er, wer Sie sind?“

„Nein.“

James Black lächelte kurz, bösartig und kalt.

„Ich bin ein ebenso exzellenter Schauspieler wie er es war, das darf ich wohl behaupten. Er fand es auch gerade eben erst heraus. Es hat ihn schlichtweg umgehauen, wie du siehst. Die Erkenntnis um meine Identität und… nunja, das Halluzinogen, das ich ihm injiziert habe, wohl auch. Aber keine Bange, er kennt das schon… vielleicht hat es ihm sogar ein bisschen gefehlt, wer weiß...“
 

Er wandte sich um, trat zur Seite. Ran starrte Shinichi an, merkte, wie eine Starre in ihre Glieder fuhr, die sie nie gekannt hatte, als sie sein Gesicht sah.

Shinichi hatte die Augen fast geschlossen… und lächelte.

Black lachte.
 

„Er hat sich mit mir angelegt und dafür wird er jetzt bezahlen, mit seinem Leben… aber sei dir versichert, in jeder seiner letzten Minuten wirst du ihn begleiten, so wie du ihn immer begleitet hast. Sieh’s dir an… sieh dir an, was du aus ihm gemacht hast…“

Er lachte höhnisch.
 

Sie schloss die Augen langsam, als sie langsam den wirklichen Ernst der Situation begriff. Shinichi hatte sich mit Black eingeschlossen und würde an der Wirkung des Gifts sterben. Und solange sie nicht reinkamen, konnten sie ihm nicht helfen- wenn sie dazu überhaupt in der Lage waren.

Sie zitterte, versuchte, sich zu konzentrieren, sich eine Lösung zu überlegen, als Blacks Stimme wieder an ihr Ohr schlich.
 

„Did you know? Did he tell you? Ich bezweifle fast, dass er es je irgendwem erzählt hat, was er sah, in diesen Träumen.“

Der Mann sah sie nicht an, als er sprach, betrachtete sein Opfer, das schutzlos vor ihm auf dem Boden lag.

„Er träumt von dir. Das tat er immer. Träumte… von einer Zukunft, auf die er kaum zu hoffen wagte, wusste er doch, was er wiedergutmachen musste...“

Er lachte leise, als er die Qual auf ihren Zügen sah, und redete weiter, mit schmeichelnder Stimme.

„Und als ich dich kennenlernen durfte, Ran, konnte ich ihn fast verstehen. Du bist ein bezauberndes Wesen, ja wirklich. Heute mehr denn je.“
 

Ran schloss die Augen, fühlte, wie Wut in ihr emporkroch, als sie diesen Mann so reden hörte; schwer atmete sie ein und aus, versuchte immer noch, sich zu beruhigen, denn kopflos half sie niemandem.
 

„Er träumte, von eurem Glück, von eurer Liebe. Es war herzzerreißend, ihm dabei zuzusehen, Tag für Tag. Ihn immer und immer wieder zu hören, wie er dir seine Liebe gestand – du, die doch nicht da warst, aber so real in seinen Träumen. Und er redete und redete… anscheinend lag ihm etwas ziemlich schwer auf dem Herzen und zwar schon eine ganze Weile lang, so drängend, so… echt… wie seine Worte klangen, jedes Mal. Die Enttäuschung in seinen Augen, als er aufwachte, nach diesen Minuten der Euphorie, gepaart mit dieser Scham, weil er so viel von sich preisgab, so viel verriet, was nur für dich bestimmt war, weil man ihn so leicht manipulieren konnte, mit der bloßen Vorstellung von dir, war immer wieder ein Highlight. Er redete wie ein Buch in diesen Minuten, und im selben Maße schwieg er, wenn er wach war. Aus ihm war nie eine Silbe herauszuholen… bis… bis er uns eines Tages in seinem Rausch etwas verriet.“
 

Sein Lachen wurde lauter, als er die Qual auf Rans Gesicht sah.
 

„Deinen Namen. Ran.“
 

Er sah mit Genugtuung wie sie bei der Nennung ihres Vornamens zusammenzuckte.
 

„So lange ich ihn auch kannte, ich wusste nichts von dir! Das erschien mir selber fast absurd. Aber als er ihn uns endlich nannte, deinen Namen - ab diesem Moment wussten wir, dass wir ihn hatten.

So sehr, wie er dich liebte, würde er alles tun, um dich zu schützen, das war uns sonnenklar – und wurde nur noch klarer, als wir ihn mit der Tatsache, dass wir nun wussten, wer du warst, konfrontierten. Es war eine Qual für ihn, nichts tun zu können, nur warten zu können, von Rausch zu Entzug und wieder Rausch. Ran… in Wirklichkeit hatte er wohl doch nur ein einziges Suchtmittel. Und der Entzug dieser Droge war es, der ihn fast den Verstand und sein Leben kostete. Der Entzug von dir.“
 

Er kniff die Augen zusammen, schaute sie starr an, mit einem Blick, so kalt und eisig, dass er sie fast körperlich frieren ließ. Sie fröstelte, zitterte, schlang aber nicht die Arme um sich, hatte ihre Finger immer noch gegen die Scheibe gepresst.
 

„Und auch das wirst du erleben, wenn du hierbleibst, heute… wenn er von deinem Tod fantasiert, seinem Versagen, immer wieder und immer wieder, und es ihn jedes Mal in Stücke reißt, weil er ihn kaum ertragen kann, den bloßen Gedanken an deinen Tod, durch seine Schuld!“
 

Er war laut geworden, schlug mit dem Schwert gegen die Scheibe. Ran kreischte auf, kurz, erschrocken, wich zurück und verhedderte sich in den Lagen ihres Kleids, starrte ihn angsterfüllt an, atmete hektisch.

Das Klingen von Glas auf Metall vibrierte in ihrem Kopf immer noch nach.
 

Er jedoch lachte. Laut, grausam und voller Hohn.
 

„Du bist es, die ihn zugrunde richtet… kein anderer Gedanke kann ihn so verletzen, seinen Lebenswillen zum Erlöschen bringen, als der, dass du sterben musst… wegen seiner Unfähigkeit, dich zu beschützen.“
 

Black drehte sich um betrachtete seinen Widersacher nachdenklich.

Ran stand auf, langsam, schluckte hart.

Was sie gehört hatte, traf sie zutiefst – denn sie fürchtete, jedes seiner Worte war wahr.
 

Shinichi…
 

Angewidert blickte sie ihn an. Ran presste ihre Stirn gegen die Scheibe, schaute zu Shinichi, sah, wie seine Lider zuckten, seine Lippen sich sachte bewegten, ohne einen Laut an die Luft kommen zu lassen.
 

„Er hatte Recht, als er in den Krieg zog, gegen Sie und Ihre Organisation. Und Sie irren sich, Mr. Black, ich… mag eine hervorragende Achillesferse abgeben, aber ich bin nicht nur das, ich… habe auch eine andere Seite. Ich werde ihn retten, Sie werden ihn nicht kriegen. Diesmal nicht.“
 

Ihre Stimme klang leise, ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, als sie ihn ansah, mochte kaum darüber nachdenken, wie es damals für ihn gewesen war, jedes Mal wieder, ein ums andere Mal.
 

Und obwohl sie ihn bis auf die Knochen ausgezogen hatten, alles getan hatten, um ihn zu demütigen, seine Gefühle durch den Schmutz zu ziehen, ihm seine Verletzlichkeit hatten spüren lassen auf jede erdenkliche Art und Weise, hatte er nie aufgehört, sie zu lieben.

Mit allem, was er hatte.
 

Der Gedanke überwältigte sie fast. Und sie wusste, sie würde alles tun, wirklich alles, um ihm zurückzugeben, was er für sie opferte.
 

Sie spürte Blacks Blick auf sich, tat alles, um ihn zu ignorieren.
 

„Halte durch…“
 


 

Shinichi seufzte, drehte sich um die eigene Achse. Er wusste, all diese Träume begannen auf diese Weise – er befand sich irgendwo.

Irgendwo war diesmal London, wie er schnell erkannte.

Noch genauer war es die Brücke vor dem Big Ben.
 

Wie so oft war es diese Stelle.

Und wie immer, wenn er hier war, war sie nicht weit.
 

Vor ihm stand Ran.
 

Er blinzelte, schluckte, streckte langsam seine Hand nach ihr aus, sah ihr zu, wie sie sich langsam zu ihm umdrehte. Sie trug dieses herrliche, weiße Kleid, sah fast aus wie eine Braut an ihrem Hochzeitstag – nur dass sie barfuß war, störte das Bild. Oder auch nicht.
 

Sie griff seine Finger, ließ sich von ihm heranziehen, nahm seinen Kopf in beide Hände, schaute ihm in die Augen, strich ihm über die Schläfe, immer und immer wieder. Er atmete tief ein, glaubte, Jasmin zu riechen, legte seine Arme um ihre Taille, zog sie an sich, spürte ihre Wärme an seinem Körper - ihr Leben, so dicht bei sich.
 

Und er vergaß alles um sich herum, ließ sich einfach fallen in dieses Gefühl.
 

Er merkte, wie Ran ihre Finger in sein Sakko grub, sich an ihn schmiegte, ihre Wange an sein Gesicht drückte, tief einatmete.
 

Ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er zart über ihre Arme strich, spürte, wie sich unter seiner Berührung ihre Härchen alle einzeln aufstellten. Ein wohliger Schauer rieselte ihm über den Rücken, als er seinen Kopf ein wenig von ihr löste, ihre Augenbraue küsste. Sie atmete aus, langsam, ließ ihren Atem über sein Gesicht streifen, sah ihm an, wie sehr er es genoss, diesen Moment mit ihr zu teilen, ein irres Glücksgefühl, kaum in Worte zu fassen, schien ihn fast bis zum Platzen zu füllen. Er lächelte, und es tat so gut, ihn lächeln zu sehen – es war eine Ewigkeit her...

Sie näherte sich ihm, gab ihm den zartesten aller Küsse auf die Lippen, merkte, wie er ihren Kuss erwiderte, sie weiter an sich zog. Sie ließ sich fallen, atmete langsam aus, schob ihn dann sacht etwas von sich, ohne ihn loszulassen. Sah ihn lächeln und lächelte zurück – dann nahm sie sein Gesicht in beide Hände, schaute ihn ernst an. Das Lächeln war von ihrem Antlitz gewichen, als sie über seine Wangen streichelte.
 

Und sie begann zu reden.

Lautlos.
 

Er stutzte – die Wärme wich, die Euphorie auch. Sein Herz schlug auf einmal schmerzhaft schnell, als er versuchte, von ihren Lippen abzulesen, was sie ihm sagen wollte. Kälte kroch ihm in alle Glieder, ließ seine Finger steif werden – es tat weh, als er sie festhalten wollte, und dennoch hörte er nicht auf damit. Er fühlte, wie er langsam ins Leere griff, sah ihren angsterfüllten Blick, als sie merkte, wie zwecklos seine Versuche waren, sie zu halten.

Dunkelheit türmte sich hinter ihr auf, kontrastierte hart zu ihrem weißen Kleid, schien sie in sich aufzusaugen.
 

>Nein, Ran! Nein…! Was…<
 

Ihre Lippen formten Worte, aber er hörte sie nicht.

Und auf einmal griff er ins Leere, verlor das Gleichgewicht, stürzte vornüber in die Finsternis, als sich die Brücke unter ihren Füßen auflöste, Steine immer weiter abbröckelten und in die Tiefe fielen, verlor sie aus den Augen – und spürte nichts mehr.
 

Ran hörte hektische Stimmen hinter sich, Schritte, die sich ihr näherten.

„Ran!“
 

Jenna blieb neben ihr stehen, atemlos, blickte durch die verschlossene Panzerglastür, und biss sich ihre Lippen blutig. Rotes Licht flammte immer noch durch das Treppenhaus, reflektiert von den Wänden, und die ohrenbetäubende Alarmsirene der Quarantäne schallte an ihre Ohren.

Shinichi lag auf der Seite, sah mittlerweile mit leerem Blick aus halbgeschlossenen Augen in eine Welt jenseits der ihnen zugänglichen und regte sich nicht. Einzig und allein sein Brustkorb hob und senkte sich schnell, zeigte, dass er noch lebte.
 

Dann hörten sie jemanden scharf einatmen – und drehten sich um. Hinter ihnen stand Agent Shuichi Akai, blickte seinem Vorgesetzten ins Gesicht. Black hatte sich ihnen zugewandt, verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ah. Sieh einer an.“

Shuichi redete nicht, sagte nicht ein Wort. Heiji stand neben ihm, begriff nur langsam, was das bedeutete.

Dann allerdings, als endlich der Groschen fiel -
 

„SIE?! Sie sin‘ Anokata?!“

Er starrte ihn an.

„Wusst‘ er’s?!“

„Kaum.“, murmelte Akai.

„Er hätte es mir wohl erzählt.“

Seine Augen hatte er nicht einmal von seinem Vorgesetzten gewandt.

„Und Sie?“

Heiji schaute ihn an.

„Sie wolln mir doch nicht erzählen, dass se keine Ahnung hatten? Sie hab’n jahrelang unter ihm gearbeitet, Sie…“
 

Dann hörten sie ihn lachen – und ihre Diskussion wurde sofort unterbrochen.

„Glaubst du, ich stünde hier und hätte deinem geschätzten Freund eine Überdosis HLZG verabreichen können, hätte er’s gewusst? No…“

Ein triumphierendes Lächeln war auf James Black’s Lippen gekrochen.

„Nein, das ahnte niemand. Auch der zugegebenermaßen sehr scharfsinnige Agent Akai nicht…“

Er verschränkte die Arme vor der Brust, betrachtete seinen Gefangenen zufrieden, als ihre Stimme an ihre Ohren drang.
 

„Shinichi…“

Rans Finger gruben sich gegen das Glas, ohne der glatten, harten Oberfläche etwas anhaben zu können.

„Warum geht diese verdammte Tür nicht auf!?“

„Er hat den Seuchenalarm ausgelöst.“

Jenna hatte ihre Stimme endlich wiedergefunden, trat vor, zog die Augenbrauen hoch.

„Mich wundert allerdings, warum.“
 

Akai war es, der es als erstes bemerkte – und damit die Antwort auf Jennas Frage geben konnte.

Das kleine, schwarze Kästchen auf dem Autopsietisch mit der roten Ziffernanzeige, die langsam runtertickte.
 

Du wolltest verhindern, dass er entkommt…

Und dass wir uns mit dir abmühen, wo doch für dich keine Hoffnung mehr besteht.
 

Akai schluckte hart, zog innerlich seinen Hut vor so viel Mut und Selbstlosigkeit, sein Blick immer noch auf die Zahlen gerichtet, die langsam schrumpften. Viel Zeit blieb ihnen nicht, aber es würde reichen.
 

Es hätte nie gereicht, hätten sie versucht, Black zu überwältigen und ihn in seinem Zustand mitzunehmen.
 

Heiji folgte seinem Blick.
 

„Verdammt, NEIN!!!“

Er begann gegen die Scheibe zu schlagen, scheuchte damit Ran und Jenna auf, die ihn verständnislos anblickten – Ran sah die Bombe zuerst.

Entsetzen packte sie, als ihr bewusst wurde, was das bedeutete – nämlich noch weniger Zeit für ihn. Noch weniger Zeit, um ihn irgendwie hier rauszubringen, ihm irgendwie zu helfen, bevor…

Aber sie standen hier draußen… und er lag dort drinnen, bewusstlos, gefangen in seiner Traumwelt, nicht in der Lage, sich zu retten.

Und sie kamen nicht rein.

Da drin tickte eine Bombe, und sie konnten nicht rein!
 

Jenna wollte gerade etwas sagen, als Heiji neben ihr mit seinen Fäusten auf die Scheibe eindrosch.

„Schaltense se ab!“, brüllte er, schien wie von Sinnen. Black hielt inne, lächelte bitter.
 

Die Stimme, die ihm antwortete, war jedoch nicht die seine.
 

„Das kann er nicht. Nicht wahr?“
 

Shinichi war aufgewacht. Er lag immer noch am Boden, hatte die Augen geschlossen, versuchte, langsam und kontrolliert zu atmen, ehe er sie ansah.

„Mr. Black?“

Er stemmte sich mühsam hoch, bekam kaum Luft dafür – zu sehen, wie ihn diese simple Bewegung erschöpfte, zeigte ihnen, wie ernst sein Zustand jetzt schon war.

Shinichi spürte den blanken Fliesenboden unter seinen Fingern, fühlte, wie seine Haare nass und kalt in seiner Stirn klebten, wie ein einzelner Schweißtropfen über seine Stirn an der Augenbraue entlang auf den Boden tropfte. Unwirsch strich er sich die Strähnen aus dem Gesicht, riss sich zusammen.
 

„Er hatte nicht vor, noch hier zu sein, wenn die Bombe hochgeht, die er hier deponiert hat, um Beweise seiner Anwesenheit zu vernichten… und den Mord an mir zu vertuschen.“

Er schloss die Augen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Scheibe.

„Und bestimmt wollte er sicher gehen, dass keiner sie entschärfen kann. Tja.“

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er seinem Gegenspieler einen müden Blick zu warf.

„Blöd nur, dass ich sicher gehen wollte, dass Sie diesen Raum hier nicht verlassen. Ich habe dazu gelernt seit dem letzten Mal.“
 

Shinichi schloss die Augen kurz, atmete gepresst aus. Er merkte, wie das Gift ihn langsam fast wieder ohnmächtig werden ließ, spürte, wie irrsinnig schnell sein Herz schlug, weil sein Blutdruck im Keller dümpelte, bekam kaum Luft, weil er viel zu flach atmete. Er versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen und hatte doch kaum Macht darüber.
 

Als er sich zur Seite drehte, sah er Ran, die immer noch draußen an der Tür hing, ihn mit tränennassem Gesicht anschaute. Er presste die Lippen zusammen, merkte, wie die Wut und die Trauer darüber, dass es nun so enden musste, ihn innerlich in Stücke rissen.
 

Mühsam sammelte er sich.
 

„Die Quarantäne kann nur der Seuchenschutz aufheben. Ihr müsst gehen, bevor die Bombe explodiert.“

Heiji schloss die Augen, als er seine Stimme hörte. Man hörte, wie viel Mühe es ihn kostete.

„Gebt euch keine Schuld, dass ihr zu spät kamt…“

Er hustete, starrte seine Finger an, rieb sich die Hand an der Hose ab, schüttelte dann den Kopf.

„Mir hättet ihr nicht mehr helfen können, und er hier…“

Unwirsch ballte er seine Finger zur Faust, als seine Sicht zu flimmern begann.

„Er hier hat sich das selber eingebrockt. Schließlich hat er das Ding hier runtergebracht und eingeschaltet, als er euch kommen hörte.“

Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich seinen Lippen.

Black starrte ihn an. Sein Gesicht war bleich, seine Augen eisiger denn je.

„Fahr doch zur Hölle, Kudô.“

Shinichi lächelte spöttisch.

„Aber Sie mit mir.“
 

Heiji starrte ihn immer noch fassungslos an.

„Und was…?“

Shinichi warf Black ein spöttisches Lächeln zu.

„Ihr rettet jemanden, den ihr noch retten könnt. Doctor McCoy nämlich, er ist in seinem Keller eingesperrt, Mr. Black hier war so freundlich, mir das zu verraten.“

Er schluckte hart.

„Geht jetzt.“

Shinichis Stimme war völlig ruhig.

„Ihr hättet schon längst fort sein sollen. Also beeilt euch bitte. Ich schwör dir, ich such dich heim, wenn ich merke, ich lande nicht allein dort oben.“

Ein mattes Grinsen malte sich auf seine Lippen.

Heiji schüttelte den Kopf, während Ran ihn einfach nur entgeistert ansah. Shinichi hingegen sank langsam gegen die Tür, als das Pochen in seinem Kopf schier unerträglich schien. Er hob die Hand, als er sein Herz hämmern spürte, merkte, wie es langsam weh tat, schmerzhaft wurde, und er ahnte, dass der Moment nicht weit war, wo es einfach kapitulieren würde – wo es stehenbleiben würde, erschöpft von der Arbeit, oder aber eine Ader platzte vorher noch und ließ ihn verbluten.

Er wusste nicht, was er sich wünschte.
 

Der Osakaner schluckte hart, griff nach Rans Fingern, drückte sie fest. Dann blickte er zu Jenna – sie schaute ihn an, in ihren Augen das pure Entsetzen.

Sie wusste, er würde sterben. Sie alle wussten es, er hatte es ihnen eben selbst gesagt.

Und doch war es so irreal.
 

Er wird’s nicht schaffen.

Egal, was wir tun, wir werden zu spät sein.
 

Jenna griff nach Rans anderer Hand, wollte sie hochzerren. In Ran kam Bewegung – sie fing an sich zu wehren, schrie und wand sich - und hörte sofort auf, als ihr Blick seinen traf. Er schaute sie an, und in seinen Augen lag nur Reue. Ran sank gegen das Glas, ihre Handflächen gegen die kühle Scheibe gepresst, ihre Stirn sacht daran gelehnt. Dort, wo ihr Atem das Glas traf, beschlug es sich kurz.
 

„Geh.“, flüsterte er heiser. Sie las das Wort mehr von seinen Lippen ab, als dass sie es hörte.

„Bitte, geh doch…“

„Nein…“

Ran jammerte leise, kniff die Augen zu.

„Shinichi, es tut mir leid, ich wollte nicht, ich…“

Sie sah, wie kurz das Entsetzen in seinen Augen flackerte, als er erkannte, dass sie es nun wusste. Dann lächelte er. So liebevoll, wie er es zustande bringen konnte – sie sah ihn an, sah diese offene Zuneigung und das Verständnis in seinen Augen und wollte einfach nur noch schreien.
 

„Ich weiß das doch, Ran…“
 

Sie schloss die Augen, kurz, dachte fieberhaft nach, suchte einen Ausweg, eine Lösung.

Und fand sie nicht – bis ein letzter Funken Hoffnung ihren Puls rasen ließ.

„Du darfst dich nicht unterkriegen lassen…“, wisperte sie dann leise. Ein Ernst war in ihre Stimme gekrochen, der sie alle aufhorchen ließ.

„Shinichi, du weißt, dass ich jetzt… dass ich in Sicherheit bin. Ich… ich werde mit nach oben gehen, ich versprechs. Aber wenn die Bombe hochgegangen ist, dann werde ich kommen und dich suchen, und dann bist du, bitte, bitte…“

Das Flehen in ihrer Stimme wurde drängender.

„…bitte noch am Leben! Du musst dir klar machen, dass das nicht echt ist! Was auch immer du siehst, und egal wie real es dir scheint, du musst dir bewusst sein, dass es nicht wirklich ist! Dass du das halluzinierst. Du hast mich gerettet, hörst du! Hörst du!?“

Er sah sie an, blinzelte.
 

„Verstehst du mich…!?“
 

Tränen rannen über ihre Wangen, immer mehr. Sie schniefte.

„Der bloße Gedanke darf keine Kontrolle über dich haben, Shinichi, weil er eine Lüge ist…“

Ihre Stimme verlor sich in ein Flüstern.

Er hielt inne, hielt die Luft an, schluckte hart – dann lächelte er müde.

„Du hast Recht.“

Sie zog ihre Unterlippe kurz zwischen die Zähne, als sie sah, wie er um jedes Wort rang.

„Du hast Recht, die Zeit, in der… Lügen unser Leben bestimmten, muss endlich ein Ende haben. Und ich verspreche, ich… versuch‘s. Aber jetzt geh! Du musst…!“

Ruckartig wandte er sich ab, kniff die Augen zusammen, seine Hand fest in sein Hemd gekrallt, als ihm der Schmerz die Luft zum Atmen raubte, er nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrückte.
 

„Haut. Endlich. Ab!“
 

Heiji starrte ihn an, sagte nichts mehr. Er zerrte Ran hoch, fing gemeinsam mit Jenna, die Ran am anderen Arm gepackt hatte, an zu laufen, und gemeinsam zogen sie sie die Gänge entlang. Ran sah nicht nach vorn - Tränen liefen ihr über die Wangen, ihr Schluchzen raubte ihr fast die Luft zum Atmen und so stolperte sie fast mehr, als sie lief, fühlte, wie ihr Herz in Stücke zerspringen wollte.
 

Shinichi…
 


 

Im Autopsiesaal war es wieder ruhig geworden – das Heulen der Sirene hatte aufgehört.

James Black schaute ihn ausdruckslos an, eine Abscheu sprach aus seiner Stimme, die Shinichi dort nie vermutet hätte.
 

„I should have killed you when I had the opportunity to do it.“
 

Shinichi schloss die Augen, rieb sich mit der Hand über sein Brustbein, stöhnte kurz auf.

„Ja, das nicht zu tun war ein großer Fehler. Aber es ist beruhigend zu wissen für mich, dass nicht nur ich Fehler mache.“
 

Shinichi schluckte, eine einzelne Träne rann ihm über Wange, als er an die Stelle blickte, wo sie gerade noch die Glasscheibe berührt hatte.
 

„Es tut mir so leid, Ran…“, flüsterte er.
 

Ich hab‘s schon wieder vergeigt.
 

Dann schloss er die Augen, ließ Black, die Bombe, die weiße Unendlichkeit der Autopsie hinter sich.
 

Vor seinen Augen sah er ihr Gesicht.

Sie sah zauberhaft aus, ließ ihn fast das Atmen vergessen.

Er schaute sie nur an, hatte für nichts anderes Augen – sah ihr fröhliches Lächeln, das er so sehr liebte, spürte ihre zarten Finger auf seiner Haut, als sie nach seiner Hand griff.
 

Diese kleine Geste schien ihm den Himmel auf Erden versprechen zu wollen.

Er wusste, dass es ein leeres Versprechen war.
 

Shinichi kniff die Augen zusammen, ahnte er doch, was jetzt kam.
 

>Nein, nein, nein… wehr dich. Wehr dich! Du kannst das. Du musst! Du hast es ihr versprochen, du weißt doch…<
 

Shinichi fühlte, wie Hitze sich über ihn legte wie ein nasses Tuch, ihn von Kopf bis Fuß bedeckte, ihm die Luft zum Atmen raubte. Die Atmosphäre schien zu brennen, seine Sicht flirrte – Ran vor ihm streckte beide Arme raus, versuchte, näher zu kommen, und schaffte es doch nicht.

Er spürte ihren drängenden Blick fast körperlich.

Fühlte ihre Angst, als wäre sie die seine.
 

Er schrie gequält auf, als ihn Schmerz durchzuckte wie ein Blitz, vom Scheitel bis zur Sohle, griff sich an die Brust. Er schnappte nach Luft, seine Lungen schrien nach Sauerstoff und gleichzeitig wollte er die Luft anhalten, merkte er doch, wie es seine Luftröhre hinab zu brennen anfing, als die ersten Atemzüge seine Lungen füllten.
 

Es war so heiß…
 

Und sie stand vor ihm, umkreist von Flammen, die an ihr leckten, ihr weißes Kleid versengten, es mit ihren feurigen Fingern schwarz färbten. Asche umwehte sie wie ein feiner Schleier, aufgetrieben vom glutheißen Wind, der das Feuer auch in seine Richtung trieb, es anfeuerte auf der Suche nach mehr Futter, auf dass es auch ihn verzehrte.
 

Dann brach die Hölle über ihn herein und die Welt stürzte in Trümmer.

Kapitel 55: Reichenbachfall

Kapitel 55: Reichenbachfall
 

Die Druckwelle schleuderte ihn gegen die Scheibe, ließ die mit medizinischem Gerät vollgestellten Regale umstürzen – mit einer solchen Wucht, dass das Glas brach, sich in einem Scherbenregen über ihn ergoss. Sein Schrei ging im Prasseln und Krachen der brennend herabstürzenden Decke unter, ein Schauer aus glimmenden Flocken, herausgerissen aus der Deckenisolierung, schneite fast malerisch herab; nun war alles still.

Vielleicht war er aber auch einfach nur taub, weil die Explosion ihm das Trommelfell zerrissen haben könnte; schließlich hatte er sich die Ohren nicht zugehalten. Dann hörte er es - pfeifend, durchdringend, bis ins Mark dringend, kitzelnd – und mit einem Schlag kehrten die Geräusche zurück.

Shinichi spürte die Hitze des Feuers, das schmatzend und prasselnd alles verzehrte, das als Fressen taugte, nur am Rande – er ließ alles über sich ergehen wie eine Marionette, immer noch völlig gefangen in seinem Fiebertraum.
 

Es war eine Frage der Zeit, bis es auch ihn gefunden haben würde.
 

Er hustete, schmeckte Rauch – als er schluckte, meinte er tausend kleine Stecknadeln verschluckt zu haben, als es seinen Hals hinab bis in seine Lunge zu pieken und stechen begann. Schmerz vertrieb jeden Gedanken von Leben und Tod aus seinem Kopf; Schmerz, dessen Quelle er nicht lokalisieren konnte, weil er sich in seinem Körper ausbreitete wie ein Lauffeuer.

Hektisch wandte er sich um, verstärkte damit das dumpfe Pochen, das seinen Schädel schier zum Platzen zu bringen schien – es war ihm egal. Er konnte Ran nicht mehr sehen, die Flammen und der Rauch versperrten ihm die Sicht. Shinichi schluckte trocken; er konnte kaum Arme und Beine bewegen, und irgendetwas sagte ihm auch, dass es keine gute Idee war, weiter ins Feuer zu gehen – aber dort war Ran.
 

>Sie ist nicht hier, Schlaumeier. Du hast sie weggeschickt, und sie ist gegangen. Werd‘ wach, werd‘ endlich wach! Du musst hier weg, sonst…<
 

Er hustete, als immer mehr Rauchpartikel in seine Nase, seine Lunge drangen, sich kratzend darin fortbewegten und sich zu kleinen Klümpchen zusammenrotteten. Seine Sicht verschwamm, als er angestrengt blinzelte, weil der Rauch auch in seine Augen biss, fühlte, wie sein Denken träge wurde – wenn man überhaupt noch von denken reden konnte, was sein weichgekochtes Hirn da tat - bis endlich wohlig samtene Schwärze ihn umarmte, ihm jeden Gedanken über Traum und Realität, Sein und Nichtsein raubte, seine Schmerzen vertrieb.
 

„Ran, wo bist du? Ran? RAN!“
 

>Nein! Wach auf, verdammt!<
 

Und er wachte tatsächlich wieder auf, zumindest soweit es ihm sein Drogenrausch erlaubte. Einigermaßen desorientiert blickte er um sich, stellte fest, dass er immer noch in der Autopsie war, auch wenn die als solche kaum wiederzuerkennen war. Er hustete, um das Kratzen in seinem Hals loszuwerden, schmeckte Qualm auf seiner Zunge. Die Bombe hatte Teile der Decke einstürzen lassen, die Glastür nach draußen war zerstört, wo die Regale sie getroffen hatten. Feuer züngelte von den Aktenordnern, Kartons und Schachteln, leckte an seinem Bein, das er schnell wegzog. Dann zog er unter Aufbietung seines ganzen Willens sich selbst darunter hervor. Es klemmte ihn zwar kaum ein, dennoch brauchte er seine ganze Kraft und Konzentration dafür, sich hochzuziehen und verteufelte dabei den körperlichen Verfall, der fast im Zeitraffer voranzuschreiten schien.
 

Ja, es stimmt schon. Hände weg von Drogen, Kids.
 

Er brüllte auf vor Schmerz, als er in eine Glasscherbe griff, seine Hand zu bluten begann – aber dann war er frei. Wankend stand er auf, griff sich an die Brust, spürte wie sein Herz schlug, so ungeheuer schnell, wie ein kleiner Vogel, der aus seinem zu engen Käfig ausbrechen wollte.
 

Das hältst du nicht mehr lange durch, Kudô.
 

Dann sah er sich um, schaute, wo sein Widersacher abgeblieben war – und erkannte ein paar Meter weiter an der gegenüberliegenden Wand in dem Suchbild, das all das Gerümpel abgab, eine Hand. Er merkte, wie sich seine Nackenhärchen sträubten, wankte dennoch hinüber, taumelte und fing sich an einem Tisch ab, griff nach Blacks Hand, versuchte, den Puls zu fühlen. Chemikaliendämpfe schwängerten die Luft, ließen Punkte vor seinen Augen tanzen – durch die ungeheure Hitze und die Explosion waren die gläsernen Behälter wie Seifenblasen geplatzt, Scheiben gesprungen, Fliesen zerborsten.
 

Dann spürte er ihn.

Den Schlag seines Herzens.
 

In seinem Kopf schwirrte es. Sollte er versuchen, sich zu retten? Ein Blick auf die Glastür hatte gezeigt, dass auch sie in Mitleidenschaft gezogen worden war. Ran kam ihm vielleicht sogar entgegen, sobald ihnen oben klar geworden war, dass die Luft rein war.

So sie es bis nach oben geschafft hatten.
 

Quatsch, Kudô. Natürlich sind sie in Sicherheit. Wenn du das nicht glaubst, kannst du dich gleich in eine Ecke legen und auf den Tod warten. Dass er kommt, weißt du.
 

Der Weg war also frei, nur über die Trümmer im Gang müsste er klettern.
 

Sollte er ihn mitnehmen?

Oder hierlassen, ihn seinem Schicksal übergeben, und damit seinem sicheren Tod?
 

Er fuhr sich durch die Haare.

Dann bückte er sich, griff die Kante des Regals und stemmte es hoch. Er schrie auf vor Anstrengung, fühlte, wie ihm schwindelig wurde, meinte, sein Kopf müsse zerbersten, hielt schnaufend inne. Dann setzte er noch einmal an – vergebens.
 

Suchend blickte er um sich, fand, was er brauchte. Er holte den Laborbesen mit Metallschaft und den stählernen Mülleimer, baute sich einen Hebel – setzte an, und diesmal schaffte er es. James Black kam langsam zu sich – als er ihn erkannte, starrte er ihn ungläubig an. Shinichi biss sich auf die Lippen.

„Schaffen Sie’s allein?“

„Ist es nicht lästig, dieses Moralaposteltum nicht ablegen zu können?“

Shinichi verdrehte die Augen, legte sich auf seinen Hebel, als ihn die Kraft langsam verlassen wollte.

„Tun Sie’s oder lassen Sie’s, ich zähle bis drei…“

Black lachte spöttisch, zog sich dann jedoch mühsam hervor, während Shinichi das Regal hochstemmte – und ließ es aufstöhnend fallen, als der Mann endlich darunter hervorgekrochen war.
 

„Warum tust du das?“, fragte Black sachlich, als sie sich an der Labortür zur schaffen machten.

Shinichi warf ihm nur einen Blick aus den Augenwinkeln zu, schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippen.

„Interessant, dass Sie diese Frage stellen. Das Gleiche wollte ich Sie nämlich auch noch fragen, was Ihre Frage hiermit beantwortet.“

Er lächelte bitter, hielt inne.

„Ich will wissen, warum Sie mir nicht schon längst den Garaus gemacht haben. Sie wussten, wo ich bin. Sie selbst haben mir die Empfehlung geschrieben...“
 

Shinichi kniff die Augen zusammen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er näher an die Tür trat, um den Schaden zu begutachten.
 

„Neugier.“
 

Shinichi keuchte, schaute ihn überrascht an.
 

„Come on. Don’t act so surprised…“, fing Black an, fuhr sich über seinen Bart, massierte sich die Bartspitzen.

„Du bist und warst ein außergewöhnlicher junger Mann. Du hast das Apoptoxin überlebt, du warst bereit, dein Leben zu riskieren für Sherry… Ich hätte dich in die Organisation geholt, ob mit oder ohne deinem Video, aber die Art und Weise, wie du den Kampf gegen uns aufnahmst, flößte mir Respekt ein, und machte mich ungeheuer… neugierig.“

Er ließ seine Hand sinken, verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dann schafftest du mit der Hilfe des FBIs diesen Coup, den ich nicht für möglich gehalten hätte – du hattest es nur mit Akai besprochen, ich hatte keine Ahnung, wie ihr den Virus noch modifiziert hattet. Das war schlau, zugegebenermaßen, den doppelten Effekt da einzubauen. Der Trojaner im Trojaner....“

Black schaute ihn mit erhobenem Haupt an, abschätzig.

„Dass du überlebt hast, allerdings, war Glück.“

Shinichi stieß das letzte Trümmerteil beiseite.

„Tja. Wie bei Ihnen.“

Er lächelte ihn bitter an.

„Aber warum haben Sie fünf Jahre gewartet? Warum…“
 

Black, der sich gerade nach draußen gezwängt hatte, schaute ihn an.
 

„I wanted to destroy you at the height of your career; and when there was hope again in your heart.”
 

Shinichi schaute ihn abwartend an, atmete mühsam ein und aus.
 

“Du hattest meine Organisation zerstört, als sie am größten war. Ich wollte dich zertreten, wenn du dich erholt hattest. Es macht keinen Spaß, auf jemandem herumzutrampeln, der auf dem Boden liegt. That’s not amusing at all. Gins Stil, ich weiß – aber nicht meiner. Außerdem dauerte es etwas, meinen Plan mit Gin einzufädeln, ohne Gin bemerken zu lassen, dass es jemand anderen gibt, der da einen Plan einfädelt, außer ihm selbst.“

Er lachte leise.

„Ich wollte dich in Sicherheit wiegen, um dich dann in diese Krise zu stürzen. Ich wollte dich diese Angst noch einmal spüren lassen, diese nackte Panik, sie noch einmal zu verlieren. Ich bin ein geduldiger Mann, Shinichi Kudô. Ich wollte nicht einfach schnelle Rache, mir war klar, dass mir das nicht reichen würde, um das zu vergelten, was du mir angetan hattest.“
 

Er hielt inne, wandte sich um, schaute Shinichi starr ins Gesicht. Der rote Schein der Flammen tauchte seine Züge in ein dramatisches Licht-und Schattenspiel. Shinichi schluckte, unterdrückte ein Schaudern – diese Szene hier war der vor fünf Jahren, kurz vor seiner Flucht, frappierend ähnlich.

Dann riss ihn Blacks harte Stimme aus seinen Gedanken, zurück in die Gegenwart.
 

„I wanted revenge. I wanted to watch all of you – your love, your feelings, your thoughts, your whole being – drown in black fear. Drown in unsurmountable hopelessness.“
 

Und er lachte.
 

„Ich wollte dich ruinieren, gesellschaftlich, körperlich, seelisch. Und sag nicht, dass ich das nicht geschafft habe. You’re shattered, on the end of your rope. Your body, your health is damaged beyond repair, you know that – you’ve got a few more moments, then your miserable life will be once and for all over. Your reputation is ruined. You’re the junkie of New Scotland Yard, you are the liar of the British Police Forces, you’re the fallen star, the outcast, nobody believes you anymore… and when you will have died in less than an hour, all that you leave behind is loss, is pain, are disappointed hopes and lies… alles, was von dir übrig bleibt im Gedächtnis der Menschen, sind deine Fehler, der Schmerz, den dein Verlust hinterlässt, all die Hoffnungen, die in dich gesetzt wurden und die du enttäuscht hast. Du bist der falsche Holmes, du bist der Betrüger, der Verräter, der Lügner. Du bist fertig mit der Welt, und die Welt ist fertig mit dir, sieh’s endlich ein…“
 

Shinichi starrte ihn an, schluckte, folgte ihm dann nach, den Gang entlang zu den Aufzügen. Auch hier brannte es, waren Teile der Decke eingestürzt.

Die Worte Blacks hatten einen sehr empfindlichen Nerv getroffen, das wusste er; sie richteten Chaos und Zerstörung an, in seinem Kopf, in seinem Herzen, und nur mit Mühe schaffte er es, unter ihrer Wucht nicht zusammenzubrechen.
 

Und gleichzeitig sah und hörte er die anderen. Sah Ran, hörte ihre letzten Worte von vorhin, sah den Blick in ihren Augen so deutlich, als würde sie jetzt vor ihm stehen. Jenna tauchte vor seinen Augen auf, die ihn nie hatte fallen lassen, Heiji, seine Eltern und Kogorô, Shiho, Sonoko und Kazuha, die ihm beigestanden hatten.

Selbst Montgomery, der seinen Fehler eingesehen hatte.
 

Ein schiefes Lächeln schlich sich auf Shinichis Lippen.
 

Es scheint, als wollten Sie nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Seele vergiften, Mr. Black.

So läuft das aber nicht.
 

Er spürte sein Herz schlagen bis zum Hals, räusperte sich mühevoll, als er endlich seine Courage und damit auch seine Stimme wiedergefunden hatte.
 

„You are wrong, Mr. Black.”

“Hm?”

James Black wandte sich um, blickte von oben auf ihn herab.

“There are people who know that I have not lied at all. People who know, that I am not the usual drug addict. And there are people who think of love and friendship when they think about me, you have seen… them. And only those people matter.”

Er hustete, stolperte dem Mann hinterher.

“Besides, I’m not a dead man yet.”

Die Spitzen seines Schnurrbarts zogen sich nach oben, als der FBI-Chef spöttisch grinste, der Ausdruck in seinen Augen immer noch frostig wie das Polarmeer.

„If this makes dying easier for you, keep on believing this sentimental tattle.“
 

Damit drehte er sich um, stieg weiter die Stufen hinauf. Shinichi griff den Handlauf, folgte ihm; in seinen Kopf arbeitete es. Er wusste, irgendwie musste er ihn dingfest machen, schließlich sollte er nicht entkommen… er hatte ihn nicht sterben lassen wollen, aber fliehen lassen wollte er ihn auch nicht.

Mühsam schnappte er nach Luft, keuchte - in seiner Nase brannte der beißende Gestank von verbrannten Chemikalien und Plastik, schien seine ganze Lunge entlang zu ätzen. Der Mann vor ihm drehte sich um, beobachtete ihn mit einem milden Lächeln, fast etwas mitleidig.
 

„Die finale Vorstellung kommt wohl noch.“

Shinichi griff sich an die Stirn, als ihm schlagartig schwindlig wurde. Er taumelte unsicher, stützte sich an der Wand ab, fühlte unter seinen Händen die Fliesen, lauwarm. Unwillig schüttelte er den Kopf.

„Nicht… jetzt. Ich kann das jetzt nicht brauchen.“

Er tastete sich an der Wand entlang, schloss zu ihm auf, der einen Blick nach hinten warf. Das Feuer leckte bereits durch die Tür am Linoleum des Gangs.
 

„Du wirst das nicht schaffen.“

Shinichi hielt inne, starrte ihn verblüfft an. Und bemerkte erst jetzt das Katana in seiner Hand.
 

Wann hat er das denn mitgenommen?
 

„Die Aufzüge funktionieren nicht im Brandfall. Wir müssen drei Stockwerke hoch. In deiner Kondition schaffst du nicht mal eins. Auch nicht, wenn sie ihr Versprechen wahr macht.“

Langsam trat er näher, sah ihn seltsam ernst an.
 

„Da… ich dir mein Leben verdanke, darfst du auswählen. Entweder, du probierst es, und stirbst dabei den qualvollen Tod, den ich für dich ausgesucht habe… fühlst, wie dein Herz aufgeben muss, wenn der letzte Fiebertraum dich mit sich reißt, und du weißt, er wird kommen, und er wird gnadenlos sein. Oder aber du… entscheidest dich für die schnellere, und wohl auch schmerzlosere Variante.“

Er hob sein Samuraischwert, ließ das Feuer als Reflexion über seine Klinge tanzen.
 

Shinichi beobachtete das Lichterspiel wie hypnotisiert – dann riss er sich los, schenkte dem Mann einen fassungslosen Blick – und begann zu lachen.

„Werden Sie jetzt etwa sentimental?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Das hätten Sie wohl gern. Sie sitzen das jetzt genauso aus wie ich.“

Damit trat er an ihm vorbei, ging auf das Treppenhaus zu – und ahnte doch, dass der Mann Recht hatte.

Das Tageslicht würde er nicht mehr sehen.

Und er fühlte, wie er hinter ihm herschlich, lautlos, gefährlich, tödlich – der schwarze Mann folgte ihm auf dem Fuße, der lauernde Tod in Persona.
 


 

Vor dem Eingang standen Heiji, Shuichi Akai, Ran und Jenna. Sie hatten die Explosion gehört, hörten auch den Feueralarm, der nun durch das Gebäude hallte.

In der Ferne ertönten schon die Sirenen der ersten Feuerwehrfahrzeuge.
 

Ran schluckte, starrte in das Haus. Offenbar war die Explosion vorbei – nun schien alles ruhig zu sein. Sie warf einen Blick zu Jenna neben sich, die den Hof mit ihren Augen absuchte, offenbar hielt sie die Augen nach Gallagher offen. Akai und Heiji diskutierten miteinander – von ihrem Vater und den anderen fehlte noch jede Spur.

Sie merkte, wie ihr Herz raste, ihr Adrenalinspiegel schier durch die Decke schoss.
 

Sie warf einen kalkulierenden Blick vorbei an der Menschenmasse, die sich gerade aus dem Gebäude wälzte. Die Evakuation ging erstaunlich schnell und glatt von dannen, die Diszipliniertheit der Briten machte sich hier bezahlt.
 

„Seems, the fire is only in the basement. Should be under control soon enough.”, hörte sie eine tiefe Männerstimme zu einer gut angezogenen Angestellten sagen. Sie kniff die Augen zusammen.
 

Zumindest die Treppe könnte ich runtergehen und nachsehen, soweit ich eben komme.

Aber ich kann nicht hier stehen und warten!

Ich kann nicht…

Ich hab‘s ihm versprochen. Allein schafft er es nicht.
 

Ran wartete nicht weiter. Mit ernstem Gesicht und Tunnelblick presste sie sich an den herausdrängenden Menschen vorbei, die ihr, sie offenbar für lebensmüde und verrückt haltend, verständnislos nachblickten.
 

Das kleine Nebentreppenhaus in den Keller war völlig leer; offensichtlich hatten sich alle Laboranden schon in Sicherheit gebracht, als der Seuchenalarm ausgelöst worden war.
 

Sie hatte gerade das erste Halbgeschoss hinter sich, als es auf einmal still wurde. Der Alarm war ausgegangen, offenbar war die Evakuierung abgeschlossen.

Gleich würde die Feuerwehr hier sein.
 

Ran hielt inne, lauschte in die Stille.

Hörte nur ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschen, schnell pulsierend im unregelmäßigen Rhythmus ihres gehetzten Herzens. Unsicher knetete sie ihre Finger in ihr Kleid, hob die Röcke wieder hoch und trippelte mit eiskalten und immer noch nackten Füßen weiter.
 


 

Shinichi kniete auf den Stufen, die ins zweite Untergeschoss führten. Sein Atem klang fast schmerzhaft laut in seinen Ohren, und schmerzhaft an sich war sein Atmen ohnehin. Er hatte seine Faust in sein Hemd gekrallt, presste sie auf seinen Brustkorb, als wolle er mit seinen bloßen Händen sein Herz unter Kontrolle halten, das mit Mühe sein Blut durch seinen Organismus trieb.

Es tat unsäglich weh.
 

Er wollte sich die nächsten Stufen hochziehen, merkte, wie ihm der kalte Stein unter seinen tauben Fingern entglitt, rutschte ab, knallte mit der Wange gegen die Kante, fühlte, wie sich die Stufen seinen Körper entlangschrubbten, als es nach unten ging.
 

Oben stand der Boss, blickte mit kalten Augen ausdruckslos auf ihn herab, stieg die letzten Stufen wieder hinunter, packte Shinichi am Kragen und zerrte ihn die Stufen wieder mit sich hoch, ließ ihn dann einfach los. Shinichi fiel zu Boden wie ein nasser Sack, kraftlos, unfähig zu irgendeiner Gegenwehr. Anokata stand über ihn, drehte ihm mit seinem Fuß auf den Rücken, starrte seinem Feind ins Gesicht.
 

Shinichi keuchte, bekam kaum noch Luft, versuchte, sich zu wehren, als er registrierte, was jetzt kam.

Black kniete sich neben ihn, griff nach seinem Kinn, fing seinen Blick ein und hielt ihn eisern fest.
 

„Ein Wort, Sherlock, und es ist vorbei.“
 

Shinichi kniff die Augen zusammen, stöhnte auf.

„Nein.“

Er zwang sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen.

„Sie wollten es so, also… tun… Sie sich… das jetzt auch… verdammt nochmal an.“, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Schweiß perlte von seiner Stirn, klebte seine Haare an seinen Kopf, ließ ihn blinzeln, als er ihm in die Augen rann.
 

Als es dann anfing, hatte er nichts mehr, was er der Droge entgegnen konnte. Shinichi schrie auf, als der Fiebertraum ihn mitriss, in mit scharfen Klauen packte, die seinen ganzen Körper zu durchbohren schienen, und ihn in dieses endlos schwarze Loch schleuderte, aus dem er, wie er befürchtete, nie wieder hervorkommen würde.
 

Und James Black erschauderte, als er ihn vor Qual brüllen hörte, sah zu, wie er sich krümmte, seine Finger sich in seine eigene Haut bohrten, als der Schmerz ihn wie eine Welle überrollte und er ihm nichts, rein gar nichts, entgegenzusetzen hatte.
 

RAN!
 

So schnell wie es gekommen war, war es vorbei – ganz still lag er da, still, sein Atem so flach, dass man ihn kaum sah, seine Augen blicklos ins Leere starrend.
 

Und Anokata wusste, dass es nun begonnen hatte.
 

Shinichi Kudô starb jetzt.
 

Mit ernster Miene lehnte er sich gegen die Wand, betrachtete seinen Widersacher, der, völlig gefangen in seiner eigenen Welt, völlig wehrlos vor ihm auf dem Boden lag – und zum ersten Mal machte sich in ihm so etwas wie Reue breit.
 


 

Rans Augen waren weit aufgerissen, sie hatte ihren Atem angehalten, als der Schrei in ihren Ohren verhallte.
 

Dann begann sie loszulaufen, fühlte, wie ihr Herz ihr bis zum Hals schlug, sämtliche Wärme und damit das Gefühl aus ihren Händen und Beinen wich, sich zurückzog an einen Fleck, einen Ort in ihrem Brustkorb, der der Belastung, all ihr Leben zu beherbergen, fast nicht gewachsen schien.
 

Shinichi.
 

Der Anblick, der sich ihr bot, als sie die Treppen hinter sich gelassen hatte und auf der Ebene des zweiten Untergeschosses angekommen war, war schlicht und ergreifend grotesk.
 

Grotesk.
 

Sie blieb stehen, so plötzlich, dass sie fast über ihr Kleid gestolpert wäre, starrte auf das Bild, das sich ihr bot.
 

Shinichi lag auf dem Boden, regungslos, seine Augen halb geschlossen und unfokussiert. Neben ihm saß Anokata, wie sie ihn nannten.

Und hielt seine Hand.
 

Das Katana lag neben ihm auf dem Boden.
 

Nein! Shinichi…!
 

Black schaute auf, schaute sie ruhig an, als sie sich ihnen näherte, atemlos.
 

Also bist du gekommen, wie du versprochen hattest.
 

Fast wie in Trance schritt sie in ihrem Kleid die letzten Meter zu ihm, langsam, feierlich, wie eine Braut zum Altar, vor dem ihr Bräutigam auf sie wartete. Angekommen glitt sie auf die Knie, streckte ihre Hände aus. Mit zitternden Händen berührte sie sein Gesicht, versuchte, irgendwie zu ihm durchzudringen, sah sie doch, wie sehr er litt. Sein schneller Atem stockte, immer wieder, synchron mit dem Zucken seiner Finger, und das leiseste aller Stöhnen kroch über seine Lippen, gab nur ein vages Bild von der Qual ab, die er litt.
 

Er kämpfte. Immer noch.
 

Du gibst nicht auf, Shinichi…

Jetzt bin ich hier.

Ich bin bei dir.

Du bist nicht mehr allein, du musst das nicht länger allein ertragen, ich bin hier…
 

Vor seinen Augen war ein Gesicht aufgetaucht, und er würde nur zu gerne wissen, ob es real war, oder ob er es träumte.
 

Rans Gesicht.

Er lächelte sanft.
 

Ran.
 

Lautlos formten seine Lippen ihren Namen. Ran merkte, wie ihr die ersten Tränen über die Wangen liefen, als sie seine Finger drückte.

Sanft berührte sie mit ihren Lippen seine Stirn.
 

„Ich bin hier.“
 

Sie lächelte ihn tapfer an, strich ihm über die Stirn, immer wieder, drückte mit der anderen Hand die seine, spürte, wie er kämpfte und doch langsam aufgab, weil ihn ihm fast nichts mehr war, was noch kämpfen konnte. Ran beugte sich vor, gab ihm einen zarten Kuss auf die Lippen, kurz. Es war ihr egal, dass der Boss der Organisation immer noch da war.

Sie würde ihn nicht mehr allein lassen.
 

„Ich bin hier. Ich geh nicht weg, ich versprech‘s.“
 

Als er sie endlich fand, in dieser schwarzen Wüste, die das Feuer übriggelassen hatte, schien alles Leben aus ihr gewichen zu sein. Er fiel auf die Knie, als ihn sämtliche Kraft und jeglicher Wille, noch zu stehen, verließen – eine schwarze Wolke wallte auf, als er auf dem Boden auftraf, die letzten Zentimeter auf allen Vieren zu ihr kroch.
 

„Ran, nein…“
 

Sie hörte ihn die Worte wispern, und es brach ihr das Herz. Sie hatte sich neben ihn auf den Boden gelegt, hatte seinen Kopf in beide Hände genommen, redete mit Engelszungen auf ihn ein und wusste doch, er hörte sie nicht.

Er sah sie an, und sah sie doch nicht, mit blauen Augen, aus denen die Qual sie förmlich anschrie. Unablässig streichelte sie ihm über die Haare.

„Ich bin hier, ich bin hier, mir geht es gut, hörst du mich nicht? Shinichi, bitte? Bitte?!“

Sie fühlte seinen rasenden Atem auf ihrer Haut, konnte nur erahnen, wie schnell sein Puls ging. Zitternd fanden ihre Finger ihren Weg auf seine Brust – gepresst atmete sie aus, als sie es unter ihren Fingerkuppen spürte – sein Herz, dass sich zusammenzog und wieder ausdehnte, unter größten Mühen Blut durch seinen Organismus pumpte, viel zu schnell und unregelmäßig wie ein Motor mit Fehlzündungen.

Und jeder einzelne dieser Schläge schien unendlich weh zu tun.
 

Das Kleid hing in Fetzen von ihrem Körper, dort, wo es nicht an ihrer Haut klebte. Rot und wund, übersät mit Brandblasen waren ihre Arme und Beine, an manchen Stellen schälte sich die Haut bereits.

Er bekam kaum noch Luft, als ihn dieser penetrante Geruch in die Nase stieg - der charakteristische Geruch von verbranntem Fleisch, gemischt mit angesengten Textilien, kniff die Augen zu, und sah das Bild dennoch vor sich.

Unendlich langsam beugte er sich über sie, griff mit einer Hand nach ihrem Gesicht, drehte es zu sich, als er zusammenschrak.

Sie hatte leise gestöhnt.

„Ran?“

Er kroch noch näher, nahm vorsichtig ihren Oberkörper in seine Arme, lehnte ihren Kopf an seine Brust. Müde öffnete sie die Augen, sah ihn an.

Lächelte, als sie ihn erkannte.
 

„Shinichi…“

Sie flüsterte den Namen nur, kaum hörbar verhallte er auf dem Weg zu seinem Ohr. Er lächelte zurück, versuchte, dabei nicht verzweifelt auszusehen, merkte er doch, wie sich in seinen Augenwinkeln Tränen sammelten.
 

Er sah ihr ihre Schmerzen an.

Und er wusste, sie würde sterben.
 

Er hatte die Augen zusammengekniffen, hörte und sah nichts von außen, war völlig gefangen in seiner eigenen Welt, die gerade im Untergehen begriffen war. Ran presste seine Stirn gegen ihre, hielt ihn fest, versuchte, ihn zu wecken, ihn aus seinem Alptraum rauszuholen, und ahnte doch, sie hatte keine Chance gegen diese Droge.

Nicht allein.
 

„Hey…“

Er schluckte, strich ihr mit zitternden Fingern über ihre Haare. Sie schmiegte sich an ihn, atmete langsam aus.

„Du bist doch gekommen…“

„Natürlich.“

Er schluckte hart.

„Du musst durchhalten, hörst du, alles wird wieder gut, du musst nur durchhalten…“

Sie griff nach seinen Fingern, schaute sie an – rot und verquollen, von Brandblasen übersät.
 

„Du und ich wissen, dass das nicht stimmt…“

Traurig lächelte sie ihn an. Er starrte sie an, in seinem Blick die pure Panik.

„Ran, ich…“

„Wehr dich nicht… lass dich einfach fallen, Shinichi… gib einfach auf…“
 

Er schaute sie an – dann schloss er die Augen.

Und wollte, dass es aufhörte.

Wollte, dass er starb.

Wenn sie nicht leben durfte, wollte er es auch nicht.
 

Er hielt es nicht aus, den Schmerz, er ertrug den trauernden Ausdruck in ihrem Gesicht nicht länger, wenn das die Welt war, wenn das sein Leben war, dann wollte er es nicht…

Wollte es nicht.
 

Und dennoch ließ es ihn nicht los.

Noch nicht.
 

„Ran…“
 

Sie hörte ihn nur leise seufzen, ein losgelöster Laut, fast erleichtert klingend – und ließ sie dennoch alarmiert aufhorchen.
 

„Shinichi?“

Sie wisperte seinen Namen nur, Tränen strömten über ihr Gesicht.

„Shinichi, bitte, ich bin hier, gib nicht auf, du träumst nur, das ist nicht wahr, das ist nicht echt…“
 

„Angel.“
 

Ruhig klang die Stimme an ihre Ohren. Sie fuhr zusammen, als sie spürte, wie er sie an der Schulter berührte.

Als sie ihn neben sich sitzen merkte, erschrak sie fast zu Tode, schaute ihn angsterfüllt an.

„So nannte sie dich. Vermouth. Oder Sharon, wie ihr sie nanntet. Und es stimmt.“

Er lächelte.

„Das bist du. Sein Engel… ein Wesen, nicht von dieser Welt, überirdisch, ohne Makel, rein und gut. Du lässt ihn an das Gute glauben, du lässt ihn hoffen, du beschützt ihn – und doch bist du für ihn so unerreichbar wie es ein wirklicher Himmelsbote ist…“

Ran schaute auf, warf dem FBI-Agenten einen wütenden Blick zu, schluckte ihren Zorn aber runter; sie war nicht wegen Black hier.

Und dennoch bannte der Blick aus seinen graublauen Augen sie, ließ sie schaudern.
 

„Nur für dich hält er an diesem kläglichen Funken Leben noch fest, obwohl das Loslassen so viel leichter wäre. Nur für seinen Engel kämpft er noch, auch wenn sein Kampf aussichtslos ist, und das weiß er. Du bist sein Untergang und seine letzte Hoffnung zugleich. Wie faszinierend.“

Anokata nickte in Shinichis Richtung.

Sie stutzte, ließ zitternd ein wenig locker, näherte ihr Ohr seiner Nase, wartete. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, was sie erleichtert aufatmen ließ. Er hatte seine Augen halb offen, seine Finger fühlten sich kühl in ihren Händen an.
 

Dann sah sie seine Lider flattern, konnte die Erleichterung in seinen Augen lesen, ihr Gesicht zu sehen.

Im nächsten Moment spürte er die Hitze, die vom Keller bereits nach oben stieg.
 

Langsam und zitternd stemmte er sich hoch, unterdrückte einen Aufschrei und kniff die Augen zusammen.
 

„Ran…“, presste er hervor.

„Du solltest nicht allein hier…“

Er versuchte, sich vor sie zu schieben, zwischen sie und Anokata seinen eigenen Körper zu bringen.
 

„Hör auf, sie wegzuschicken oder zu tadeln, Dummkopf.“
 

Sein Kopf fuhr herum, was er umgehend bereute, da es seinen Kopfschmerz schier zum Explodieren brachte – er keuchte, presste die Luft langsam, scharf, zwischen seinen Lippen hervor, hob seine Hand fast in Zeitlupe an seine Stirn.

Er sah eine Frau im Treppenaufgang erscheinen, und glaubte für einen Moment, seine Augen spielten ihm einen Streich.
 

Im Gegenlicht des Treppenaufgangs stand Sharon.
 

„As our dearest Mr. Black just pointed out so eloquently, she’s your guardian angel.”

Das Lächeln auf ihren Lippen, mit dem sie Ran bedachte, war bestenfalls zu erahnen.
 

„Ohne sie wärst du längst Geschichte.“
 

Sie trat zu ihnen, packte ihn am Arm und half ihm hoch, wobei sie und Ran ihn hochziehen mussten. Kurz, nur für Sekundenbruchteile flatterten das Entsetzen und die Sorge über seinen Zustand über ihr Gesicht, kurz wie das Flackern einer Glühbirne mit Wackelkontakt, und genauso schnell vergessen.

Shinichi stützte sich schwer an der Wand ab, hatte Mühe, aufrecht stehen zu bleiben, schluckte trocken und versuchte, ruhig zu atmen. Ran schaute ihn besorgt an.
 

„Geht. Verschwindet. I’ll take care of him.“
 

Sharon hielt dem Blick stand, den er ihr zuwarf – und der sie eine Närrin schalt, eine Utopistin, zu glauben, er würde es noch irgendwohin schaffen. Sie lächelte bitter, trat zu ihm, berührte mit den Zeigefingern ihrer rechten Hand seinen Hals, spürte den schnellen Rhythmus seines Pulses an ihre Fingerkuppen trommeln, fühlte die Hitze, die das Fieber über seinen Körper brachte, sah den Schweiß glitzern auf seiner Haut – und Kapitulation in seinen Augen.
 

„No, you won’t, silver bullet.“
 

Sie hatte ihre Lippen nahe an sein Ohr geführt, berührte es fast. Er schloss die Augen, schauderte, als der Luftzug ihrer wispernden Stimme seine Haare streifte.
 

„You’ll not die here. I know, you’ve flown straight and hit them all… du hast gezielt, getroffen, das Ziel durchschlagen, und zahlst nun den Preis, Shinichi. Aber hier unten findest du dein Ende nicht…“

Sie ließ ihre Hand über seinen Hals gleiten, blieb mit ihren Fingern auf seiner Brust liegen, spürte, wie er zusammenzuckte bei der bloßen Berührung, wie ein heiseres Stöhnen über seine Lippen kroch, sah, wie er die Augen zusammenkniff, als sein Herz ins Stolpern geriet, sich mühsam, unkontrolliert kontrahierte – und aussetzte.

Ran sah ihn angsterfüllt an, sah, wie seine Knie auf einmal wackelig wurden, seine Finger, die bis jetzt krampfhaft das Geländer umklammert hatten, abglitten. Sie trat vor ihn, schnell, fing ihn mit ihrem eigenen Körper ab, fühlte erst jetzt, wie er glühte. Sharon drückte ihn ruckartig gegen die Wand, spürte, wie die Luft aus seinen Lungen wich, spürte, wie sein Puls zurückkam, presste die Lippen fest aufeinander, so fest, dass sie trotz des Lippenstifts, den aufgetragen hatte, kaum mehr zu sehen waren.
 

„Take him. Get him out of here…

Leave the boss to me. Don’t worry.“
 

Ran trat auf ihm zu, griff nach Shinichis Hand, als er sie fahrig abwehrte. Ein unwilliger Ausdruck war auf sein Gesicht getreten.

„Sharon, I didn’t save him for you to kill him here –“

Sharon Vineyard drehte sich langsam um, starrte ihn an; eine frostige Kälte war in ihren Blick getreten, ihre Lippen zusammengepresst, bis sie nur noch eine dünne Linie bildeten.
 

„Oh yes, you did. I value your sense of justice, Shinichi, but that’s not your battle now. Never forget what he and his organization did to me… and my family.”
 

Und zum ersten Mal sah er ihn – den Schmerz in ihren Augen.
 

„I am willing to spare Sherry, because I believe you when you say she’s a victim, too. I saw how she helped you. But I won’t spare him. Thanks for giving me the honors to finish him off, though.”

Sie ignorierte Shinichis Blick, fixierte stattdessen Ran.
 

„This is none of your business any longer, silver bullet. Now, make haste and go!“
 

Ihre letzten Worte waren an Ran gerichtet; die junge Frau nickte fahrig, trat auf Shinichi und ließ ihn sich auf sie stützen, zog sich seinen Arm um ihren Hals und hielt ihn dort fest. Sharon half ihr, mit ihrem anderen Arm seine Taille zu umfangen und merkte, wie ihr ihrerseits der Atem stockte, als sie spürte, wie feucht sein Hemd war, wie fliegend seine Atmung. Sie warf ihm einen Blick zu, den er wohlweislich ignorierte. Er schaute stur zu Boden, biss sich die Lippen blutig um nicht zu schreien und fing an, nach einem letzten Blick auf Sharon, mit ihr die Treppen hochzugehen.

Ran schauderte, als sie merkte, wie viel Kraft es ihn kostete. Er zog sich mühsam am Geländer hoch, die andere Hand in ihre Schulter gekrallt, Stufe für Stufe, unendlich langsam.

Immer wieder blieben sie stehen, weil er kaum noch Luft bekam, sein Bewusstsein sich zunehmend verabschieden wollte, seine Beine unter seinem Zittern einknicken wollten.

Er wurde immer langsamer, bis er schließlich anhielt, sich mit beiden Händen am Geländer festhielt, auf die Stufen sinken wollte. Ran ging in die Knie, nahm sein Gesicht mit beiden Händen, schaute ihn fest an.

„Shinichi…“

Er hörte ihre Stimme wispernd an seinem Ohr.

„Shinichi, du musst durchhalten. Du warst so tapfer, so stark bisher, bitte…“
 

Sie merkte, wie er anhielt, sie anstarrte, um Luft rang.

„Ich versuchs ja.“

Seine Stimme war kaum verständlich, sein Tonfall heiser.

„Ich versuchs, Ran, glaub mir, aber ich kann… kann nicht mehr lange…“
 

Sie hingegen schaute ihn nur an, hob die Hand, legte sie an seine Wange, sacht.

„Doch. Kannst du.“

Ran fixierte ihn mit ihrem Blick, blinzelte nicht, ließ ihn nicht wegsehen.

„Und das wirst du. Das ist nur eine Droge. Du darfst nicht zulassen, dass sie so viel Macht über dich bekommt. Du musst dir immer klar sein…“

„Denkst du ich weiß…“
 

Er wandte sich ab, hustete, während er immer noch um Atem rang wie ein Ertrinkender, wischte sich dann mit dem Handrücken über den Mund; ein leicht feuchter Film blieb kurz auf seiner Haut zurück, ehe er der Schweiß auf seiner heißen Haut verdampfte. Hitze wallte von unten herauf, und er fragte sich, was Sharon und Black dort unten machten.
 

Die letzte epische Schlacht, wohl.
 

Dann wandte er sich ihr wieder zu, griff nach dem Geländer, hielt sich mit beiden Händen fest, um nicht umzufallen. Er sammelte sich, holte Luft, um die paar Sätze, die er äußern wollte, einigermaßen zusammenhängend hinzukriegen.

„… denkst du, ich weiß das nicht? Ran, du hast ihn gehört. Ich hab… hab eine Überdosis intus, das mischt die Karten nochmal neu, und teilt mir eine viel schlechtere Hand aus. Sicher, die Wahnvorstellungen sind psychisch, und beeinflussen die körperlichen Symptome. Andere sind aber einfach nur… rein physisch. Ich hab‘ Brady daran zugrunde gehen sehen, und ich kann dir sagen, das hier hat keinen…“

„Sags nicht.“
 

…Sinn…
 

Sie schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen.

„Und wenn ich dich hier raustragen muss. Ich geh nicht ohne dich.“

Er sah die Tränen in ihren Augen glänzen und wagte nicht, ihr zu widersprechen.

Er wusste, auch das hatte keinen Sinn.

Sie schluckte, schaute ihn immer noch an.

„Ich weiß, ich kann leicht reden. Ich mache nicht durch, was du durchmachst, und ich weiß, das Zeug soll dich umbringen, jetzt und hier. Aber ich lass das nicht zu.“

Sie schüttelte den Kopf, auf ihrer Miene ein Ausdruck von Sturheit, den er nie dort gesehen hatte.
 

„Ich werde dich nicht gehen lassen. Nicht deswegen. Ganz sicher nicht.“
 

Er sah sie nicht an, als sie seinen Arm um ihre Schulter zog, seine Finger fast aufbiegen musste, und sich sein Gewicht auf ihren Rücken lud. Sie fühlte, wie er schwankte, wie unsicher er auftrat. Fühlte seinen heißen Atem an ihrem Hals, spürte die Konzentration, die er aufbringen musste, um nicht zu stolpern, als er sich Schritt für Schritt mit ihr weiter hochquälte.

Und hörte, wie er versuchte, nicht vor Schmerz zu schreien.
 

Sein Organismus ging in die Knie, begann abzuschalten, weil der Schaden zu groß war.

Er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, und er wusste auch, dass sie das sehr wohl sah.

Aber noch war es nicht zu Ende.
 


 

„Another face I thought to never lay my eyes upon again. Vermouth.“
 

Er lächelte sanft, hob den Blick, warf der Blondine einen fast anerkennenden Blick zu.

„Lange nicht mehr gesehen. Du siehst gut aus.“

Sie lachte schnippisch, tat geschmeichelt.

„Danke. Du nicht.“

„Hah.“
 

James Black war aufgestanden, hatte sich gegen die Wand gelehnt. Der Schein des Feuers tanzte gespenstisch über sein Gesicht, ließ ihn geisterhaft und gleichzeitig unfassbar lebendig aussehen. Sie starrte ihn feindselig an, kniff ihre Lippen zusammen, bis sie dünn wie ein Strich geworden waren, atmete gepresst.
 

„You’ve brought enough slaughter over that sword, Anokata. You’ve brought enough death over this world, enough pain over the innocent…”
 

“Wirst du etwa pathetisch auf deine alten Tage, Sharon?”

Er sah sie gelassen an, ließ das Schwert in seiner Hand wippen, locker, sanft – eine Bewegung, die bezeugte, dass er sehr wohl wusste, wie man diese Waffe führte.

Sie hingegen – griff genauso lässig in die Innentasche ihrer Lederjacke, beförderte eine handliche, kleine Pistole daraus hervor. Er schaute sie an, Missbilligung in seinen Zügen.

„Ist das nicht unfair?“

„Nicht unfairer als einem wehrlosen Detektiv eine Überdosis deines Ungeheuers zu spritzen, in der Verkleidung eines Lamms, Werwolf.“

„Ich wollte Rache.“

„Ach. Die will ich auch. Und anscheinend heiligt der Zweck ja die Mittel, also wo ist dein Problem?“
 

Anokata stieß sich von der Wand ab.

„Er wird sterben, so oder so.“

Ruhig klang seine Stimme, immer noch.

„Das weißt du. Die Dosis war recht hoch und du weißt auch, das Halluzinogen ist zwar eine größtenteils psychosomatisch wirkende Substanz, aber dennoch zum Töten gemacht. Es wird seinen Zweck erfüllen.“

„Nicht, wenn man es überlistet.“
 

Seine Lippen kräuselten sich amüsiert.

„Wie willst du es überlisten, Vermouth? Er ist so gut wie am Ende. Er kann kaum mehr selber gehen… sich kaum auf den Beinen halten…“
 

„Sie ist bei ihm.“

Entschlossen sah sie ihn an.
 

„Er ließ es nur so weit kommen, weil er dachte, sie wäre tot. Weil er aufgab, sich nicht wehrte. Das Gift kann nur angreifen, wo ein Wille schwach wird… wenn er aber genau das nicht ist…

Wenn er es weiß, dass es nur ein Traum ist, dass es nicht wahr ist, wenn er den Beweis vor sich sitzen hat, ihre Hand in seiner, dann wird es ihn nicht umbringen können.

Weil er kämpfen wird, für sie.

Weil sie ihn beschützen wird.“
 

Sie hob die Waffe.
 

„She’s his angel, I always knew that.“
 

Ein gewinnendes Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie ihn ansah, ihren Kopf hoch erhoben, fast auf ihn herabblickend.
 

„You’re mad, Sharon.“

Zum ersten Mal klang etwas wie Angst in seiner Stimme. Und sie hörte es.

Ein zufriedenes Lächeln kräuselte ihre Lippen, ließ ihre weißen Zähne blitzen.
 

Ein Finger krümmte sich um den Abzug.
 

„Not at all.“
 

Langsam trat sie einen Schritt näher, ihre Augen starr auf ihn gerichtet, in ihrem Kopf all der Schmerz, all das Leid, das sie durch diesen Mann hatte erfahren müssen.
 

Es würde ein Ende haben.
 

Jetzt.
 

„Und damit du keine Gefahr mehr für jemanden sein kannst, erst recht nicht für ihn, never again… I’ll do that little favour for him and wipe you dirty bastard off the face of that beautiful world. Say goodbye, Anokata.

Fare well… to hell.”
 


 

Wie sie es dennoch hochgeschafft hatten, war ihm schleierhaft – sobald sie jedoch aus dem Gebäude traten, war es vorbei.

Ran erschrak, griff ihn fester, als sie merkte, wie er ihr entglitt, zu Boden stürzte, als ihm das Gefühl schlicht und ergreifend aus den Extremitäten wich, er die Kontrolle über seinen Körper verlor, als das Taubheitsgefühl einsetzte.

Und sie sah erst jetzt, dass sein Gesicht gespenstisch weiß geworden war.
 

Er sank zu Boden, fast lautlos. Ihm fehlte sogar die Kraft, um zu schreien, und so seufzte er nur leise, beinahe unhörbar auf, als ihn sein Leben Stück für Stück im Stich ließ. Ran sank zu ihm auf den Boden, fühlte, wie namenlose Panik sie ergriff. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, starrte ihn an, lehnte ihre Stirn gegen seine, fühlte seinen Atem auf ihrer Haut, stockend, heiß und trocken wie der Wüstenwind.
 

Sein ganzer Körper schien zu glühen vor dieser kaum zu beschreibenden Hitze, eine seltsame Form von Fieber, die ihn dennoch nicht zu wärmen schien – er zitterte wie Espenlaub, wie gepackt und geschüttelt von einer riesigen, unsichtbaren Hand, die ihn wie vor Kälte schlottern ließ.

Ran merkte, wie ungeheuerliche Furcht sie übermannte, als sie ihn so vor sich liegen sah – so hilflos und so unendlich schwach.

Und sie ahnte, dass es stimmte, was er ihr die ganze Zeit hatte begreiflich machen wollte.
 

Er starb.
 

Sie fühlte, wie sie ihre Luft anhielt, als sie ihm über die heiße Stirn strich, Feuchtigkeit unter ihren Fingern spürte, und bettete seinen Kopf in ihrem Schoß, streichelte ihm über die Wangen.

„Nicht einschlafen, Shinichi… nicht…“

Sie merkte, wie ihr die Tränen, die sie bis eben so tapfer zurückgehalten hatte, sich erneut ihre Bahn suchten.

„Du warst so stark… Shinichi.“

Sie beugte sich über ihn, wisperte ihm die Worte ins Ohr.

„Bitte… bitte, für mich, Shinichi… gib jetzt nicht auf, wir sind fast am Ziel…“
 

Sie hörte Schritte hinter sich, musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es ihr Vater war. Sie kannte den Klang, den Rhythmus seiner Schritte seit ihrer Kindheit.

Er hatte sie gesucht, und war erleichtert, sie hier zu finden – und Shinichi war bei ihr, also noch keine verkohlte Leiche in der Autopsie.
 

Na, das ist doch mehr, als wir erwarten konnten.

Gut, das wars dann wohl, Kudô. Jetzt musst du nur wieder auf die Beine…
 

„Der Krankenwagen kommt schon, wie sieht’s…“

Er sprach nicht weiter.
 

Guter Gott.
 

Er hatte Ran erreicht, starrte den jungen Superintendent mit fassungslosem Blick an, sein Hirn wie leer gefegt. Shinichi hatte die Augen fast geschlossen, sein Haar klebte ihm blutig an der Schläfe, die er sich aufgeschürft hatte.
 

Er sah aus wie eine Wachsfigur aus Madame Toussaud’s. Lebensecht, aber tot.
 

„Ran, sag mal, spinnst du, haust allein einfach ab, was haste…“

Sie hörte Heijis aufgebrachte Stimme – die genauso schnell absoff wie sein Blick auf seinen besten Freund fiel.
 

„Kudô.“, murmelte er leise, ging in die Knie, griff nach Shinichis Handgelenk, verzog das Gesicht. Sein Puls war kaum spürbar.

„Durchhalten, mein Freund. Du hast es fast geschafft. Auf den letzten Metern wirste jetzt doch nicht schlapp machen…“

Dann hörte er, wie Ran erschrocken die Luft einsog, als Shinichi die Augen öffnete, nur einen Spalt, unendlich langsam.

Er schluckte hart, als ihn sein müder Blick traf. Shinichi konnte ihn kaum verstanden haben.
 

„Sei doch… einmal im Leben realistisch, Hattori…“
 

Seine Stimme machte ihn schaudern. Er schaute zu Ran, sah die nackte Angst in ihren Augen. Er hingegen sah sie nur an, mit so viel Zuneigung in seinem Blick, dass es Kogorô, der immer noch hinter ihnen stand, fast den Magen umdrehte. Sie strich ihm über die Schläfe, zart – Shinichi spürte, wie sehr ihre Finger dabei zitterten und lächelte traurig – dennoch war ihr Anblick nie so erleichternd gewesen für ihn.

Sie waren draußen.

Sie war in Sicherheit.
 

„Es tut mir so Leid, Ran, ich… ich hätte…“

„Schhht.“

Der Zug um ihre Mundwinkel verkrampfte sich schmerzhaft, als sie merkte, wie angestrengt sein Lächeln wurde.

„Ich liebe dich…“

Sie las es mehr von seinen Lippen, als dass sie die Worte tatsächlich hörte. Er schluckte mühsam.
 

„Ich wünschte, ich könnte… dir deinen Wunsch erfüllen, mein Versprechen halten.

Aber ich fürchte, mehr… mehr war einfach nicht drin für… uns.“
 

Stockend atmete er aus, schloss die Augen, seine Gesichtszüge entspannten sich, als er merkte, wie die Müdigkeit ihn in ihre weichen Arme nahm, ihn sanft mit sich zog.

Loszulassen, sich einfach fallen zu lassen, tat so gut. Es nahm den Schmerz ein wenig, der in seiner Brust tobte; er spürte, wie die Welt auf einmal wattiger wurde, irgendwie; weicher, gedämpfter, die Töne leiser, das Licht weniger grell, seine Sinne matter.

Es war angenehm.

Ran beugte sich über ihn, hielt ihn fest, dicht schwebte ihr Kopf an seinem, ihre Nase dicht an seiner, so nah, dass sie jeden seiner stockenden Atemzüge spürte, dieselbe Luft wie er atmete.

Kaum merkte sie, wie Tränen haltlos über ihr Gesicht liefen, in ihrer staubigen Haut ihre Bahn zogen.
 

Sie hatten verloren.
 

Sie sah ihn an, als er zurücksank, sah diesen abwesenden Ausdruck in seinen Augen, die großen Pupillen, die seine Augen so seltsam dunkel machten, und etwas zu sehen schienen, das weit jenseits dieser Realität war, in diesem leichenblassen Gesicht, dass so stark dazu kontrastierte. Sein Mund war einen Spalt geöffnet, wie zu einem lautlosen Seufzen, oder wie als ob er etwas sagen wollte – aber nicht ein Laut schaffte es aus seiner Kehle über seine Lippen.
 

Zum letzten Mal verlor er den Sinn für Realität und Traum, und sie konnte fast sehen, wie seine zwei Welten ineinander liefen wie flüssige Farbe auf einer Palette, sie sich mischten, bis er nicht mehr unterscheiden konnte, was wirklich geschah und was er halluzinierte.
 

Ein müdes Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
 

Wen interessieren solche Spitzfindigkeiten wie Wirklichkeit und Wahnvorstellung noch…

Allerdings, fürchte ich, ist das jetzt auch schon egal… es dürfte einerlei sein, zu träumen, dass ich sterbe, und dabei sterbe, oder es real erlebe – und sterbe.
 

Er sah Rans Gesicht, tränennass, konnte nicht sagen, ob es real war oder nicht.

Seine Sicht war verschwommen, er sah die Welt wie durch Nebel, der sich ständig bewegte und ihn nicht auf etwas fokussieren ließ – wohl aber spürte er ihre Furcht – und auf einmal wurde das Bild klar.
 

Er lag vor ihr auf dem Boden, das Bild auf einmal völlig verdreht. Eigentlich hatte doch noch gerade er erleben müssen, wie sie starb, so sah er jetzt in ihren Augen nun den warmen Glanz der Lebenden – und konnte die Angst sehen, mit der diese Augen ihn nun musterten.

Jede seiner Regungen registrierten, jeden Atemzug erwarteten, nach Anzeichen in seinem Gesicht suchten…
 

Er atmete aus, stockend.

Es fiel schwer, das fiel ihm auf. Er hatte keine Schmerzen, und er fühlte keine Angst, aber er wusste, dass es zu Ende ging mit ihm – er hatte die Ziellinie fast erreicht, wandelte auf den letzten Metern.

Sie griff seine Hand, brachte seine abschweifenden Gedanken dazu, sich wieder ihr zuzuwenden. Etwas, das mühsam war für ihn, auch wenn er es gerne tat – er sah sie gerne an, prägte sich ihr Gesicht ein, ihre Lippen, warm und weich und von diesem Erdbeerrot, ganz ohne Lippenstift, ihre Augen, groß, blau und doch voller Wärme, immer dann, wenn sie ihn ansah.

Seine Augen folgten träge ihrer Hand, die sie hob, um ihm über die Schläfe zu streicheln, so zart, dass er die Berührung fast nicht spürte, was er beinahe bedauerte – er genoss es dennoch. Lange würde er das nicht mehr haben.
 

Sie hatte ihr Gesicht so nahe an seines geschoben, dass er den Hauch ihres Atems auf seinen Wangen spüren konnte. Erschöpft schloss er die Augen, ließ sich fallen, langsam.

Atmete aus, und ein, mühevoll und immer mühevoller, langsam und immer langsamer…
 

Wurde aufgerüttelt, als er gerade abgleiten wollte, weil sich eine Hand in sein Hemd krallte, ein Gewicht sich gegen seinen Brustkorb presste. Ran hatte ihren Kopf, ihr Ohr an seinen Oberkörper gedrückt, lauschte angestrengt, konnte es kaum schlagen hören – aber noch pochte sein Herz.
 

„Du wirst verdammt nochmal weiter machen.“, flüsterte sie leise.

„Du wagst es nicht, einfach aufzuhören, wenn ich zuhöre, wenn ich dabei bin, hörst du?“
 

Eine Träne quoll aus ihrem Augenwinkel, ihr Gesicht vor Anstrengung verzerrt, als sie lauschte, immer weiter lauschte, auf einen immer neuen Schlag wartete.
 

Shinichi bekam davon kaum etwas mit. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen nicht einmal mehr blau – sie waren fast weiß, absolut blutleer. Heiji fühlte seine Finger, schloss die Augen, schüttelte den Kopf, als er spürte, wie kalt sie bereits waren.
 

Es is nur noch ne Frage der Zeit, Ran…

So sehr du‘s dir auch wünscht… und so gern er wohl deiner Bitte… nein, deinem Befehl gehorch‘n will…
 

Diesen Kampf wird er verlieren.
 

Verdammt…
 

Heiji bekam kaum mit, wie die Sanitäter an ihm vorbeiliefen, sich an Shinichis Sakko, an seinem Hemd zu schaffen machten – nie würde er den Ton vergessen, der entstand, als sie ihm den Pulsmesser an den Zeigefinger klemmten, um seinen Herzschlag sicht- und hörbar zu machen.
 

Der Pulsmesser konnte ihn kaum erfassen. Unregelmäßig schlug die Linie Wellen, zeigte den Kampf, den er um sein Leben austrug, anschaulich auf.

Auf und Ab.
 

Rasend schnell.
 

Dann kam Shiho.

Sie schrie nicht. Weinte nicht. Sank neben ihm in die Knie, griff nach seiner Hand, und spürte es. Fühlte Rans Blick auf sich und schaute auf, rang nach Luft und Worten gleichermaßen, weil sie nicht wusste, wie sie es ihr sagen sollte.
 

„Ran, das schafft er nicht…“, wisperte sie schließlich leise.
 

Mehr jedoch als die Worte war es die einzelne Träne, die über ihre Wange rann, die Ran erschreckte.

„Du irrst dich. Er…“

Shiho schüttelte den Kopf, immer noch die Hand anstarrend, beobachtete seinen Puls. Ihre Miene verzog sich schmerzvoll, als sie die Augen zusammenkniff.

„Was…?“, flüsterte Ran leise.

„Was ist…?“

Shiho schluckte, strich ihm über sein nassgeschwitztes Haar.

„Sein Blutdruck ist viel zu hoch, sein Puls zu schnell, zu unregelmäßig, das halten die Kapillargefäße nicht aus, sie platzen. In der Lunge fängt es an, sieh doch hin, er... hustet Blut. Nicht viel, aber..., es ist nur eine Frage der Zeit, bis… auch in anderen Organen zuerst die kleinsten Gefäße platzen, dann… die größeren… er…“
 

Rans Augen wurden groß. Sie starrte Shiho an – dann wanderten ihre Augen wieder zu Shinichi, dessen Augen fast geschlossen waren.

„Nein, Shinichi. Nein, bitte… bitte…“
 

Er schluckte hart, schmeckte Blut und verzog das Gesicht.

„Ich kann aber nicht mehr, Ran.“

Nur mit Mühe brachte er die Worte hervor.

„Ich will ja. Für dich. Für uns. Ich will dir nicht noch mehr wehtun, ich will… leben, für dich, aber ich… ich...“

Ran hielt den Atem an, sah die Qual in seinen Augen, sah den Willen und gleichzeitig diese ungeheure Müdigkeit.

Es stimmte, was er sagte.

Er war am Ende.
 

Sie schluckte, beugte sich vor, gab ihn einen zarten Kuss auf die Lippen, streichelte ihm über die Wangen. Zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.

Eine Träne perlte aus ihrem Auge. Shiho starrte sie an, geschockt.

Ran hingegen griff seine Hände, hielt sie fest, lehnte seine Stirn gegen seine.

„Nur noch ein bisschen, Shinichi… ich weiß, ich verlange Übermenschliches von dir, aber bitte… bitte…“

Sie schluchzte kurz, immer mehr Tränen rannen über ihre Wangen, ertränkten fast ihre Stimme.

„Nur noch ein klein wenig, Shinichi… du musst nur noch ein wenig aushalten…

Ich bin bei dir, du schaffst das…“

„Ran!“

Shiho schaute sie eindringlich an.

„Ran. Lass ihn gehen. Es fällt ihm schon schwer genug, mach es nicht noch…“
 

Aber all diese Worte prallten von ihr ab wie Regentropfen von einem Regenschirm.
 

Ran schniefte, suchte den Blick seiner blauen Augen, fand ihn nicht – dennoch schenkte sie ihm ein Lächeln, strich ihm über die Schläfe.

„Halt durch. Halt bitte, bitte durch. Shinichi…“
 

„Ich bin bei dir. Hörst du…“

Er sah sie an, unfähig, noch ein Wort zu sagen. In seinem Kopf schien sich alles in Wohlgefallen aufzulösen, verdrängte Schmerz und Angst, ließ nur noch ein einziges Gefühl zu.
 

Wärme.
 

Er liebte sie.
 

Sie erahnte sein Lächeln mehr, als dass sie es sah, als der Druck seiner Hand nachließ, langsam. Sie kniete vor ihm, versuchte mit allen Mitteln, ihn festzuhalten.
 

Und nie würde er das Bild vergessen, als sie es gespürt hatte.
 

Vor sich sah er Rans Gesicht, Rans blaue Augen, die vor Schreck groß wurden, der Ausdruck in ihnen, der sich änderte, Angst, Schmerz und Entsetzen sich in ihnen mischten, und er wusste, dass es passiert war. Er sah, wie ihre Haltung auf einmal kraftlos wurde, ihr Körper seine Spannung verlor, sich nicht mehr mühte, sie aufrecht zu lassen.
 

Ran keuchte, wollte nicht glauben, was gerade geschehen war. Sie sackte zusammen, starrte in sein Gesicht, blicklos, ohne ihn anzusehen - hörte kein Wort, das man zu ihr sprach, spürte keine Berührung. In ihrem Kopf fuhren ihre Gedanken Karussell.
 

Nein, das kann nicht sein. Das ist nicht wahr! Sicher ist da – sicher ist da noch was, bestimmt, er kann nicht, er darf nicht…
 

… tot sein…
 

Etwas abseits stand Heiji, der sich über die Augen wischte, wohl in der Hoffnung, die Welt möge danach anders aussehen, allerdings ohne nennenswertes Resultat – die Welt war immer noch genauso beschissen wie davor.
 

In seinen Ohren hallte immer noch der monotone Summton der Nulllinie.
 

Dann hörte er Schritte, die auf ihn zuliefen. Er drehte sich um, und dachte im ersten Moment, einer Fata Morgana gegenüberzustehen – dann erkannte er, dass es Yusaku war, der auf ihn zurannte, sein Gesicht fast so weiß wie frisch gefallener Schnee.
 

Vor Heiji und Kogorô blieb er stehen, in seinen Augen die unausgesprochene Frage.

Er schien die Antwort zu ahnen, als er Ran sah, die in Tränen aufgelöst stumm auf dem Boden saß.

Schließlich war es Heiji, der sprach.
 

Er schluckte, würgte, versuchte, in seine raue Stimme mehr Tonfall zu bekommen.

Yusaku fühlte, wie seine Hände kalt wurden.

„McCoy – Mr Black - war der Boss der Organisation. Er hatte da unten eine… eine Bombe. Nachdem er Shinichi runtergelockt hatte, wollte er abhauen, aber Shinichi hat… ihn daran gehindert, zu gehen, und dabei aber auch sich selbst… jeder Chance auf Rettung beraubt.“

Er massierte sich die Schläfen.

„Wir könnens nicht genau sagen. Er hat ihm eine Überdosis dieses Teufelszeugs gegeben. Ran hat ihn… gefunden, ist mit ihm geflohen, aber er… gerade eben…“
 

Er brachte es nicht fertig.

Kogorô schluckte, fasste sich, bedachte den jungen Mann neben sich mit einem traurigen Blick. Er griff ihn an der Schulter, brachte ihn so zum Schweigen.
 

„Holmes ist mit Moriarty den Reichenbachfall hinabgestürzt.“
 

Yusaku schloss die Augen, atmete scharf ein.
 

„Nein…“

Unendlich leise, unendlich fassungslos kroch das Wort über seine Lippen.
 

Dann drängte er sich an Kogorô vorbei, rannte zu seinem Sohn, der immer noch auf dem Boden lag, wo Sanitäter ihn hektisch auf eine Trage packen wollten, um ihn in den Krankenwagen zu schieben.
 

Vor ihm ging er in die Knie, packte ihn an den Schultern, beugte sich über ihn.
 

„Nein, Shinichi, hörst du! Nein!

Er griff seinen Kopf, lehnte seine Stirn gegen die seines Sohnes.
 

„Verdammt, du hast es versprochen…! Du weißt, Sherlock Holmes hat den Reichenbachfall überlebt, Shinichi. Wenn du ihm wirklich so ähnlich bist, wie alle sagen, dann tu es ihm auch diesmal gleich… für mich.

Einmal sei noch so wie er…

Einmal noch…

Nur noch ein einziges Mal…

Er schluckte hart, seine gewisperten Worte waren im Stimmengewirr fast untergangen.
 

Er hatte nicht mehr viel Kontrolle über sich und seine Wahrnehmung. Er hatte die Worte wohl gehört, sein Gehirn allerdings schien die Informationen, die sie enthielten, in Zeitlupe zu verarbeiten. Ein untrügerisches Zeichen, eigentlich.

Neben sich erkannte er immer noch Ran, die in eine Art Schockstarre gefallen zu sein schien- ihre Augen seltsam leer, nichts bewegte sich an ihr, außer der Tränen, die immer und immer weiter lautlos ihr Rennen über ihre Wangen liefen.
 

Er sah Hattori, der langsam auf seine Fersen sackte, den Kopf in den Nacken fallen ließ, die Augen zukniff, bis schwarze Kreise vor seinem Gesicht tanzten – und sich den Mund zuhielt, als er einfach schreien wollte.
 

Das alles ließ eigentlich keinen Zweifel übrig – genauso wie dieses unendlich tiefe, vollkommene Schwarz, wohlig, samten, warm, das ihn nun einhüllte, ihn sanft umarmte, ihm die Sorgen nahm, jeden Gedanken löschte…
 


 


 

Sie stand in der Tür, schaute ihn nur an, ruhig. In ihrer Hand lag immer noch die Waffe, locker griffen ihre Finger um das kühle Metall.

Sie sah Yusaku, der neben seinem Sohn kniete, der sonst so toughe, ruhige Schriftsteller am Ende seiner Nerven.

Sah diesen lauten Detektiven aus Osaka, auf einmal ganz still.

Sah Shiho, die zusammengesunken war, ihre Augen auf ihn gerichtet, und weinte.
 

Und sie sah Ran, die sich über ihn beugte, immer noch seine Hand hielt.

Ruhig, sanft über sein Gesicht strich, ihn anschaute, durchdringend, fest, starr, als sie sich ihm immer weiter näherte.
 

Und sie sah diesen Kuss, der ihr den Atem stocken ließ.
 

And now…

Fly, angel…
 

Don’t let him fall.

Kapitel 56: Weiß

Kapitel 56: Weiß
 


 

Jenna hatte nicht selbst gesehen, wie Ran und Shinichi aus dem Gebäude gekommen waren. Sehr wohl aber hatte sie die Sirene des Krankenwagens gehört. Sie war zurückgelaufen um Hilfe zu holen, nachdem der Feueralarm endlich verhallt war, und hatte danach keinen Weg mehr zurück gefunden durch die Ansammlung von Menschen, die sich dicht an dicht, eng wie einer Sardinendose, halbkreisfrömig um den Eingang aufgestellt hatten und ihr den Blick verstellten, geschweige denn ihr einen Durchgang gelassen hätten.

Unruhe hatte sie erfasst. Sie musst keine Detektivin zu sein um zu wissen, für wen man den Krankenwagen gerufen hatte.
 

Die Sirene war mittlerweile schon lange verstummt, nur das Licht der Warnbeleuchtung zuckte blau über den Hof und die Glasfront von Scotland Yard, wo sie durch die Menge zwei Sanitäter erspähen konnten, die unschlüssig auf die Szene zu ihren Füßen blickten – ein dritter redete in ein Handy und schlug die Fahrertür des Krankenwagens zu.

Jenna ahnte, dass das nichts Gutes bedeutete. Wenn es die Sanitäter nicht mehr eilig hatten, bedeutete das selten etwas Gutes.
 

Mühsam schob sie sich durch die Menge, drückte sich zwischen Körpern durch, die ihr keinen Platz machen wollten, war fast vorderster Front angekommen, als hinter ihr Jackson Montgomerys Stimme laut wurde. Keuchend kam er angehechelt, winkte ihr zu, bedeutete ihr, zu warten; offenbar hatte man ihm, dem deutliche höheren Tier als sie selbst eins war, bereitwilliger den Weg geebnet.

Jenna hob die Hand zum Zeichen, dass sie ihn gesehen hatte, schob sich nun deutlich langsamer durch die Menge, hörte bald ein lautes Schnaufen neben sich, sah ihren Vorgesetzten im Augenwinkel.

„Detective Sergeant Watson…“, schnaufte er atemlos.

„What has happened there in the basement? Was there a bomb? We were just arresting that man when the fire alert started. Why was the ambulance…“
 

Er verstummte schlagartig, als er denselben Anblick vor Augen hatte wie sie. Seine Frage beantwortete sich schlagartig von selbst.
 

Jenna stand wie versteinert da, hatte den Atem angehalten – und um sie herum stand die Zeit still. Sie hatten sich gerade ihren Weg durch die vordersten Reihen gebahnt, ihr Blick fiel nun frei auf den Bereich vor dem Eingang zum Gebäude. Es schien fast surreal – so viele Menschen waren auf dem Platz versammelt, und kaum ein Laut drang an ihre Ohren, bis auf diesen einen, hell pfeifenden Ton der Nulllinie, die das EKG immer noch zeigte, ihnen optisch und akustisch um die Ohren schlug, dass sie verloren hatten.
 

Dass er verloren hatte.
 

Und wie sie starrten alle nur hin auf diese eine Szene vor ihren Augen.
 

Er lag da, rücklings auf dem Pflaster im Innenhof des Yards.

Sherlock Holmes, ihr Held, bleich wie der Tod selbst.
 

Neben ihm kauerte Ran, in ihrem weißen Kleid, schlanke Finger in den dunklen Stoff seines Sakkos gekrallt, auf ihrem Gesicht Schmerz in einer Intensität, die Jenna niemals in ihrem Leben vorher gesehen hatte.
 

Und nie hatte sehen wollen.
 

Sie sah, wie die Sanitäter sich von ihm abwandten, den Koffer mit dem Notfallset schlossen, den Defibrilator wieder wegpackten. Sie nahm wahr, wie Ran nach Luft schnappte und kaum welche bekam. Sie weinte nur leise, war seltsam still, strich ihm mit einer Hand immer wieder durch die Haare, die ihm wirr im Gesicht klebten.

Dann zogen sie ihm den Pulsmesser vom Finger – und die Stille war vollkommen.
 

Jenna japste, schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende, unwillkürlich, hielt sich die Hand vor den Mund, um ihren Schrei zu unterdrücken, spürte, wie ihre Finger zitterten.
 

No!
 

Langsam trat sie näher, ihre Beine wackelig wie die eines jungen Fohlens, blieb ein paar Meter vor ihm stehen. Sie betrachtete Ran, die seinen Kopf hielt, ihm immer noch die Haare aus dem Gesicht streichelte und so beunruhigend ruhig war. Ihre Lippen schienen ein lautloses Mantra zu beten, wisperten Worte in sein Ohr, die er nicht hörte.

Nie mehr hören würde.
 

Er lag da bleich, regungslos, ohne Atmung und ohne Puls.

Tot.
 

Diese Wahrheit erschlug sie fast.
 

That can’t be…

He can’t be… dead.

Sherlock…
 

Ran schien, wenn überhaupt, nur am Rande mitzubekommen, dass die Sanitäter ihre Bemühungen eingestellt hatten. Niemand sagte etwas, niemand wagte, sie anzusprechen, als sie ihn festhielt und immer neue Versprechen in sein Ohr flüsterte, die sie wahrmachen wollte, wenn er selbst nur eines hielt…
 

Das, bei ihr zu bleiben.

Nie mehr wieder fortzugehen.
 

Dabei hatte Ran sehr wohl bemerkt, was passiert war. Sie spürte, so sehr sie es sich auch wünschte, keinen Atemzug Shinichis auf ihrer Haut, und egal wie geduldig sie wartete, unter den Fingern, die sie auf seine Brust gelegt hatte, als die Sanitäter von ihm abgelassen hatte, schwieg sein Herz.

Es riss sie auseinander, wenn sie daran dachte, was das hieß – und es löschte jeden Funken Vernunft in ihrem Kopf, wenn sie Wärme unter ihren Fingerspitzen fühlte, aber keinen Herzschlag.

Kein Leben.
 

Sie kniff die Augen zusammen, als das Gefühl von Machtlosigkeit sie übermannen wollte, wehrte sich dagegen, einfach aufzugeben, schlug unwirsch die Hand eines Santitäters beiseite, der sie wegziehen wollte, um ihn auf die Trage zu heben, hielt die Handfläche von sich gestreckt, um deutlich zu machen, dass man gefälligst weder sie noch ihn anfassen sollte. Dann legte sie die Hand zurück auf seinen Kopf, streichelte seine Wange.
 

„Du hast es doch versprochen, Shinichi...“

Ihre Worte tröpfelten unendlich langsam von ihren Lippen, tonlos.
 

Yusaku, der immer noch auf dem Boden kniete, in seinen Kopf immer noch der Ausnahmezustand, als ihn diese Worte aus seiner Lethargie rissen. Heiji neben ihm schien es ähnlich zu gehen. Er sah sie an, sah, wie eine Träne über ihre Wange rollte, sich ihre Lippen zu einem traurigen Lächeln krampften.

„Du hast es versprochen, erinnerst du dich? Mehrmals… Shinichi… heute, vor ein paar Stunden erst.“
 

Sie atmete stockend ein und aus, ihre Finger ballten eine Faust in den Stoff seines Hemds.

„Weißt du, ich… ich kann verstehen, dass es schwer ist für dich, und schmerzhaft. Ich hab‘ gesehen, wie müde du warst… wie weh das tat. Wie furchtbar…“

Sie schluckte hart.

„Ich kann verstehen, dass du eine Pause brauchst. Dass du Ruhe willst und Stille, aber nicht das, Shinichi, nicht… so.“

Ihre Nase berührte fast die seine.

„Du hast so mutig gekämpft bisher, du warst so unendlich stark, so unglaublich tapfer… gibt jetzt nicht auf…“

Ihre Stimme verlor sich, als sie die Augen zusammenkniff.
 

Gib nicht auf…
 

Jenna starrte sie an, verstand keins ihrer Worte, und fühlte doch die Macht, die von ihrer Stimme ausging, fühlte, wie sich ihr eigener Puls beschleunigte.

„Du hast es mir versprochen. Und du wolltest es doch halten, dieses Versprechen, du wolltest nie wieder eins brechen, du…“

Sie hatte in die Innentasche seines Sakkos gegriffen, das Flugticket herausgezogen, dass dort immer noch steckte – zerknittert, aber immer noch da.
 

„Zeig mir, dass du kein Lügner bist… halt nur dieses eine Versprechen…

Nur dieses eine…!“
 

Nur dieses eine…
 

Ihre Stimme verebbte zu einem kaum mehr hörbaren Wispern, ihre Finger zerknüllten das Ticket fast, als sie ihn mit festem Blick anschaute, fordernd und flehend gleichermaßen, kaum mehr als ein paar Zentimeter trennten ihr Gesicht von seinem.
 

„Komm zurück zu mir…!“
 

Komm zurück, komm zurück, komm zurück…
 

Jenna schluckte hart, als sie sah, wie Ran sich ihm weiter näherte, bis einfach keine Luft mehr zwischen sie passte. Sie sah diesen Kuss, und es schnitt ihr die Luft ab, brachte ihren Puls ins Stolpern, als sich vor ihr ausbreitete, mehr als zuvor, was diese beiden Menschen miteinander verband.
 

You’ve been waiting for this so long… it can’t be over before it has begun…

It mustn‘t…
 

Ein Kuss, so zart, dass ihre Lippen die seinen kaum zu berühren schienen, und doch so intensiv, dass das Gefühl, das diese junge Frau in diesem weißen, vom Dreck der Straße beschmutzten Kleid, das ihr nass am Körper klebte, für den Mann in ihren Armen empfand, jeder spürte.
 

Liebe.
 

Ran zitterte vor Verzweiflung, Angst und Kälte, und doch war es das, was sie verbreitete – dieses eine, übermenschlich mächtige Gefühl. Sie hatte ihre Stirn auf seine gelegt, fühlte, wie die Anstrengung der letzten Stunden, die Angst und Verzweiflung sie müde machten, versuchte, ihre gepresste Atmung unter Kontrolle zu bringen, da sie die Verzweiflung kaum noch Luft holen ließ.

Vermouths Worte von gerade eben gingen ihr nicht aus dem Sinn.

Was, wenn sie nicht stimmten…?
 

Angel.
 

Sie konnte ihre Stimme fast neben sich hören, kniff die Augen zusammen, schüttelte heftig den Kopf.
 

Sharon… was, wenn ich nicht genug bin…?

Was, wenn diese Ruhe so viel schöner ist als dieses Versprechen eines Lebens mit mir… nach diesem Leben, das er führen musste, bisher, mit so viel Schmerz, so viel Leid, so viel Angst und Hass und…
 

Aber das war doch nicht alles, Shinichi. Dein Leben war nicht immer so.

Erinnerst du dich… an die Zeit davor?

Und an diesen einen Abend, diese eine Nacht…
 

Reicht das, um dich zu überzeugen…?

Ist das Beweis genug…?
 

Sie schluckte hart.
 

Was, wenn ich nur seine Achillesferse bin…

Just devil… and no goddess at all…

No angel…
 

Eine weitere Träne lief ihr über ihre blasse Wange.
 

Im nächsten Moment schien alles an ihr zu Stein zu erstarren. Sie riss die Augen auf, hielt den Atem an, wagte kaum der Meldung glauben zu schenken, die ihre Fingerspitzen, die wieder unter sein geöffnetes Hemd auf seine Brust gewandert waren, an ihr Gehirn sendeten.

Und so wartete sie, blendete die fragenden Blicke Jennas, Yusakus und Heijis aus.

Schnappte nach Luft, wimmerte unterdrückt, als sie es wieder fühlte.

Fein, müde und zögernd, aber spürbar.
 

Sein Herz.
 

Sie fuhr auf, starrte forschend in sein Gesicht, strich ihm mit vor Nervosität und Aufregung fliegenden Fingern über die Haut, merkte nicht, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen, haltlos nunmehr.
 


 

Woran er sich erinnerte, war dieses seltsam warme Gewicht auf seiner Brust, das ihm das Atmen schwer machte. Waren diese fast spinnenbeinartig gespreizten Finger, die sich in den Stoff seines Hemds und seines Sakkos krallten, und nicht zu lösen waren.

Und da war noch… dieses unheimlich beruhigende Geräusch, begleitet von dieser Bewegung. Regelmäßig, ein und aus, auf und ab.

Rans Atem, ihr Oberkörper, der sich in dessen Rhythmus bewegte, und seinen dazu animierte, sich ihm anzupassen, es ihm gleichzutun.
 

Er fühlte sich wie erschlagen, als er die Augen öffnete.
 

Ihre Finger kitzelten die Haut an seinem Hals, als sie sich bewegte, sich ein wenig näher zog und schob, ihm dabei ein ersticktes Aufstöhnen entlockte, als sie ihren Ellenbogen in seinen Bauch stützte. Sie merkte es, korrigierte ihre Haltung, indem sie sich nach vorne beugte – und ihm auf ganz andere Weise den Atem raubte.
 

Shinichi schnappte nach Luft, als sie langsam ihre Lippen von seinen löste, nicht, ohne noch einmal kurz nachzusetzen, ehe sie seinen Kopf in beide Hände nahm, ihre Stirn auf seine sinken ließ.
 

„Danke.“, wisperte sie heiser. Ihr heißer Atem strich ihm übers Gesicht, und er konnte die Tränen in ihrer Stimme bereits hören, ehe sie sich ihre Bahn über ihr Gesicht suchten. Er hob eine Hand, unendlich langsam, strich ihr übers Haar, ihren Arm, ehe er wieder kraftlos an seine Seite sank.
 

„Danke, dass du nicht aufgegeben hast …“
 

Ran…
 

Als er etwas sagen wollte, legte sie ihm den Finger auf die Lippen, schüttelte lächelnd den Kopf.

„Nein. Lass… lass nur. Ruh… ruh dich jetzt aus, Shinichi. Wenn… wenn du wieder aufwachst, werde ich da sein.“

Sie sah das erschöpfteste aller Lächeln über seine Lippen huschen, erwiderte es, strich ihm dann zart eine verschwitzte Strähne aus der Stirn, bemerkte, wie er wegdämmerte in ihren Armen und gestattete es erst dann den Sanitätern, ihn transportfertig zu machen, als er sicher wieder schlief.

Kapitel 57: A rotten apple's tale

Kapitel 57: A rotten apple’s tale
 

Er hatte die Hände locker in die Hosentaschen geschoben, fühlte, wie sich ein wirklich massives Gewicht von seinen Schultern, seiner Brust liftete; von dem Trubel der Menschen um ihn herum bekam er nicht wirklich viel mit. Erleichterung wehte wie eine warme Brise durch die Menschenansammlung, das kollektive Seufzen war fast zu hören.
 

Die Sonne brach durch die Wolken, legte ihre in diesen Breitengraden eher gemäßigt wärmenden Strahlen auf seine Haut – dennoch reichte es für ihn um zu merken, wie durchgefroren er gewesen war.

Bis zum Kern zu Eis erstarrt bei dem Gedanken, dem Gefühl…

…dass sein Sohn tot sein könnte.
 

Er wandte sich zu Heiji um, der neben ihn getreten war, in dieselbe Richtung blickte wie er – nämlich dem Krankenwagen nach, der langsam vom Hof rollte, in den Verkehr einfädelte.

Gerade eben war die Tür des Krankenwagens hinter Ran und seinem Sohn zugeschlagen; er hatte ihr den Vortritt gelassen, ihn ins Krankenhaus zu begleiten.

Sie hatte das verdient.
 

Ganz abgesehen davon, dass sie wohl auch nicht mehr von ihm zu trennen gewesen wäre. Außerdem können die im Krankenhaus auch gleich mal nach ihr sehen, fast zu ertrinken kann auch nicht gesund sein.
 

Seine Züge verhärteten sich kurz; dann nickte er Kogorô zu, der gerade in ein Taxi stieg, um dem Krankenwagen hinterherzufahren – wohl genau aus diesem Grund.

Sie hätten heute fast beide ihre Kinder verloren.
 

Der Gedanke war ernüchternd und goss ihm den metaphorischen Kübel Eiswasser über den Schädel. Er blinzelte, seine Schultern strafften sich, als seine Augen zu jenem Gebäude wanderten, in dem sein Sohn fast sein Ende gefunden hätte.
 

Beinahe.
 

Er konnte nicht leugnen, dass ihn immer noch eine gewisse Restsorge plagte – er ahnte, wusste, dass Shinichis Weg zur Genesung noch nicht zu Ende war. Noch eine ganze Weile nicht.

Und leicht würde er auch nicht werden.
 

Das sah eng aus, Shinichi.

Enger, als es je hätte sein dürfen.
 

Er seufzte, runzelte die Stirn.

Das Gift lief immer noch Amok in seinem Körper, auch wenn Ran es wohl geschafft hatte, zumindest den Schalter in Shinichis Hirn umzulegen; es schien, als habe er zum ersten Mal die Chance, ein wenig Kontrolle zu behalten, wenn diese perfide Substanz seinen Körper davon überzeugen wollte, dass er keinen Sinn mehr hatte, zu leben.

Als habe er die Chance, eine kleine Ecke in seinem Bewusstsein zu besetzen, wenn es losging. Eine kleine Stimme der Vernunft zu bewahren, die ihn am Leben hielt, wenn seine Welt um ihn her in Trümmer stürzte.
 

Ein einzelner Stern in finstrer Nacht.

Das war Ran.
 

Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
 

Den Rest schaffst du auch noch, Shinichi. Das Schlimmste hast du hinter dir.
 

„Yusaku!“
 

Er wandte sich um, als er Yukikos Stimme hinter sich hörte; Angst und Panik schwang in ihr mit. So wie es aussah, hatte sie es deutlich langsamer als Shiho geschafft, sich durch die Menge zu kämpfen.
 

„YUSAKU!“
 

Atemlos kam sie vor ihm zum Stehen, kippte fast vornüber, starrte zu dem Punkt, an dem der Krankenwagen verschwunden war.

„Yusaku, was… war das Shinichi? Ich hab – sie haben gesagt, er wäre –…“

Ihre Augen schimmerten glasig.

„Was ist denn mit ihm? Was ist passiert? Und wo -…“

Sie schaute sich hektisch um.

„Wo ist Ran?!“
 

Yusaku Kudô seufzte, nahm seine Frau in die Arme.

„Er lebt, das ist das Wichtigste, Yukiko. Ran ist bei ihm. Alles…“

„Dann stimmt es…?“

Sie hauchte die Worte fast, schluckte hart.
 

„Er war der Boss? Black? Und er war mit ihm im Keller und hat eine Bombe…“
 

„James Black war Anokata, ja.“
 

Yukiko fuhr hoch, als sie Akais Stimme hinter sich hörte. Unbemerkt waren die beiden Agents nähergetreten; der schwarzhaarige Japaner nickte kurz.

„Und er wollte ihn umbringen. Er hat ihn in die Autopsie gelockt, ihm eine Überdosis dieser Droge gespritzt und wollte ihn sterben stehen.“
 

Die ehemalige Schauspielerin starrte ihn an, krallte ihre Finger in das Sakko ihres Mannes – merkte, wie ihr Blutdruck schlagartig abfiel, sie fast ohnmächtig wurde. Bilder tauchten in ihrem Kopf auf, Bilder von damals, von ihrem Sohn, zu der Zeit als der Entzug von diesem Gift ihn durch die Hölle schickte, wieder, und wieder, und wieder.

Der Vorstellung, wie es ihm ergangen war, als er in den Fängen der Organisation war, andauernd unter der Wirkung dieser Substanz… hatte sie sich einmal hingegeben, und dann nie wieder.

Eine Überdosis von diesem Zeug, heute…
 

Sie wandte sich um, ruckartig, schnappte nach Luft. Dann hob sie den Kopf, schaute ihrem Mann ins Gesicht, suchend. Und fand, was sie sich erhoffte. Ruhe, Zuversicht.
 

„Er wird’s überleben, Yukiko, auch wenn… auch es wohl genauso schlimm ist, wie es sich anhört. Ich fürchte auch, er wird wohl doch noch etwas länger in London bleiben müssen, als er wahrscheinlich will. Ran ist mit ihm ins Krankenhaus gefahren. Wir sollten auch…“

Sie nickte heftig, schluckte. Langsam ließ sie von ihrem Mann ab, verarbeitete die Information, holte tief Luft.
 

Es ist okay, Shinichi. Solange du lebst, ist alles gut. Und wir sind alle da.

Du wirst nicht allein sein.

Diesmal wirst du jeden Grund haben, dich da durchzubeißen.
 

Ein kämpferisches Lächeln kräuselte ihre Lippen. Dann bemerkte sie den abwesenden Blick auf dem Gesicht des FBI-Agents, stutzte. Sie wandte sich zu Jodie, und auch sie schien etwas – oder vielmehr, jemanden – zu suchen.
 

„Ist was?“
 

Shuichi runzelte die Stirn.

„Er fehlt.“
 

Heiji, der sich gerade eben noch mit Jenna unterhalten hatte, die ihrerseits losgeeilt war, um endlich den Suchtrupp zu McCoys Haus zu schicken, wandte sich um. Akais Lippen formten einen dünnen Strich.

„James Black. Hat ihn jemand gesehen, als sie raufkamen? Ihr Sohn und Ran? Ich muss gestehen, ich würde ihn ungern noch einmal entwischen lassen…“
 

Heiji legte sich nachdenklich einen Finger ans Kinn, neigte den Kopf, starrte seine Fußspitzen an, grübelte.

„Ich glaub‘, nich‘ so wirklich. Sie warn recht plötzlich da, und als sie da warn, zogen sie eh alle Aufmerksamkeit auf sich. Keine Ahnung, wo er abgebliebn‘ is. Vielleicht kam er auch gar nich‘ rauf. Abgesehen davon – ist auch jemand anders immer noch wie vom Erdboden verschluckt, von dem ich auch angenommen hätt‘, sie hätte ein gesteigertes Interesse, hier heute anwesend zu sein…“
 

Jodie nickte. Sie warf ihrem Partner neben sich einen Blick zu – er scannte die Szene ebenfalls, sein Gesicht ausdruckslos, aber sie kannte ihn lange genug, um im Blick seiner eisblauen Augen die gleiche Frage zu lesen, wie sie sie selber beschäftigte.
 

Is he hiding somewhere?

Is he hurt?
 

Was he… killed?
 

And where are you, the devil’s daughter… Vermouth?
 

Shuichi fing ihren Blick auf, nickte ihr dann kurz zu, setzte sich in Bewegung. Sie beeilte sich, ihm zu folgen, ließ ihren Blick weiter durch die Menge der Leute wandern.
 

Heiji warf Yusaku einen kurzen Blick zu – dann fing er an, Richtung Autopsie zu gehen.

„Hey, was machst du?“

„Na“, rief Heiji, „mal auf den Gedanken gekommen, dass, nachdem Shinichi die Explosion ja überhebt hat, ihr Mann auch noch da unten sein könnt‘? Eingeklemmt vielleicht, oder er versteckt sich. Ob tot oder lebendig, wird rauszufinden sein… Kudô können wir vorerst nicht fragen, und Ran hat auch kein Handy mit. Wir müss’n also selber ran.“
 

Shuichi nickte kurz; wortlos drückten sich die vier an den Feuerwehrleuten vorbei, machten sich an den Abstieg in die Autopsie.
 


 

Vermouth sah sie kommen, lächelte verhalten. Anscheinend war ihnen endlich aufgegangen, dass der, den sie suchten, eventuell noch da sein könnte, wo sie ihn zuletzt gesehen hatten. Sie hatte nicht vor, ihnen allen über den Weg zu laufen.

Allerdings, ein Gespräch würde sie schon gerne führen.
 

Miss Starling… I guess, you would appreciate a little chat with me too, wouldn’t you?
 


 

Es war gespenstisch still.
 

Und auch sonst tat das Treppenhaus nichts, um in irgendeiner Weise nicht wie eine Todesfalle zu wirken.

Heiji merkte, wie ihm ein Schauer nach dem anderen aufreizend langsam und eiskalt den Rücken hinunter rieselte, als er sie sah – verwischte Blutflecke hier und da am Geländer, Tropfen auf dem Boden, blutige Schuhabdrücke. Wie die sprichwörtlichen Krümel, die einem den Weg wiesen – nur so ungleich gespenstischer waren diese Wegmarken.
 

Yusaku neben ihm sog scharf die Luft ein, hielt sie an. Sie kamen an eine Stelle, wo er wohl stehen geblieben war – mehr Blut klebte hier am Geländer, ein voller Abdruck seiner Hand zierte die Wand, ein anderer klammerte sich um das Geländer. Yusaku wankte, stützte sich selbst an der Wand ab, konnte seine Augen kaum davon abwenden, blieb daran kleben, merkte nicht, wie sein ganzer Körper ein Standbild seines Entsetzens wurde.
 

Shinichi.
 

Er konnte ihn fast keuchen hören. Kämpfen mit der drohenden Ohnmacht, irgendwie die Schmerzen zu ertragen, die sich durch seinen Körper fraßen wie ein Feuer durch eine trockene Sommerwiese.

Er sah die Hand fast vor Augen, die sich da um das Geländer gekrallt hatte – die Haut blass, an den Knöcheln durchscheinend und fast weiß, verkrampft, zitternd.
 

Der Abdruck von Fingern, die sich um das Metallgeländer schmiegten, rot und organisch, lebendig auf sterilem, kaltem Silber, größtenteils verschmiert, verwischt, sprachen eine beredtere Sprache als er es je mit Worten vermocht hätte – und er war immerhin Schriftsteller.
 

Es warf ihn fast um.
 

Akai blickte ihn ruhig an, sagte nichts. Jodie jedoch, die selber ein Schaudern nicht unterdrücken konnte, erhob ihre Stimme.
 

„Sie müssen sich das nicht antun, you know.“

Ihre Worte waren kaum lauter als ein Flüstern.

„Gehen Sie zurück zu Ihrer Frau, fahren Sie ins Krankenhaus, das… das hier…“

Sie schaute auf, riss ihre Augen von dem Handabdruck los, musterte den Kriminalschriftsteller.

„… das hier ist nicht nötig.“
 

„Doch.“
 

Yusaku schluckte.

„Für mich ist es das.“
 

Weil es zeigt, wie sehr du gekämpft hast, Shinichi.
 

Er riss sich los, drehte um die Ecke, um die nächste Treppenflucht hinabzusteigen, als er innehielt. Der Rauch wurde hier langsam merklich dichter, auch wenn die Wassersprinkleranlage unten im Keller schon gute Arbeit geleistet hatte, um die Brandherde zu löschen.

Das war es allerdings nicht, was ihn hatte innehalten lassen.
 

Blut, glänzend und fast schwarz im Zwielicht des Treppenhauses.

Ein paar Füße in schwarzen Lederschuhen.
 

Shuichi Akai trat neben ihn, ließ den Anblick auf sich wirken. Dann winkte er Jodie, und die beiden stiegen, mit der Waffe im Anschlag, so leise wie möglich die Treppen hinab, bedeuteten Heiji und Yusaku, oben zu warten. Heiji schluckte, blickte den beiden Agents hinterher. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten, und auch er hatte seine Dienstwaffe gezogen.
 

Jodie sah ihn als erste.

Schloss die Augen und ließ die Waffe sinken, zitterte am ganzen Körper.

James Black lag, ihnen zu Füßen, rücklings ausgestreckt auf dem Boden und starrte die Decke an – sein Mund war leicht geöffnet, in seinen Augen Wut und Überraschung gleichermaßen; er war tot, seine Gesichtszüge ansonsten erschlafft, allzu genau ließ sich das nicht mehr feststellen.
 

In seiner rechten Hand hielt er immer noch das berühmte, verschollene Katana.
 

„Er ist wohl schon seit einigen Minuten tot. Das muss… Vermouth gewesen sein.“, begann sie leise murmelnd, wurde von Shuichi unterbrochen, als ihre Stimme ohnehin mehr und mehr absoff.

„Sie hat sein Herz getroffen. Er hat immerhin nicht lange leiden müssen.“

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.

„Fast ein Akt der Gnade, bedenkt man, was für ein ungleich qualvolleres Ende er Kudô bescheren wollte. Noch mehr, wenn man weiß, wie sehr dieser verdorbene Apfel ihn und Ran verehrt hat.“

Er warf Jodie, die leichenblass geworden war, einen kalkulierenden Blick zu.

„Kommst du klar?“

Jodie nickte – dann schüttelte sie den Kopf.

„I – I really don’t know, Shu...“

Sie zitterte, kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, verständnislos.

„Ich kann das nicht glauben, Shuichi. Stimmt es denn? Gibt es ganz sicher gar keinen Zweifel? Was ist, wenn… wenn wir uns alle geirrt haben…“

Shuichi seufzte, dann ließ er seine Waffe sinken, wandte sich ihr zu – und tat etwas, das er noch nie getan hatte.

Er hob zuerst mit seiner Hand ihr Kinn vorsichtig an, dann legte er ihr seinen Arm auf die Schulter.

„Er hat es zugegeben, Jodie. Es gibt keinen Zweifel. Kudô wird es dir ebenfalls bestätigen können, sobald er aufwacht. Ran auch. Ich weiß… ich kann mir vorstellen, dass das seltsam surreal ist, für dich. Aber ich habe ihn gesehen. Ich habe den Hass in seinen Augen gesehen, als er Kudô am Boden liegen sah. Und auch wenn es für mich schwer fällt, das zu sagen…“

Shuichi nahm seine Hand von ihrer Schulter, nickte ihr mit festem Blick zu.

„Dieses Ende ist milder, als er es verdient hat.“

Er brach ab, seufzte.

„Dennoch kann ich dich verstehen. Auch ich verdanke James viel – und habe mindestens genauso viel durch ihn verloren. Du bist nicht allein.“

Damit schenkte er ihr ein seltenes, schmales Lächeln und wandte sich ab, kniete neben James nieder um sicherheitshalber den Puls zu fühlen und ihm das Schwert abzunehmen. Jodie blickte ihn an, dankbar. Dann ging sie um die Ecke, blickte in die Gesichter der beiden Japaner.

„Sie können runterkommen, wenn Sie wollen. Black ist hier, er ist tot; von Vermouth keine Spur.“
 

Sie hatte sie beobachtet, wie sie wieder aus dem Nebengebäude, in dem die Autopsie untergebracht war, herausgekommen waren.

Yusaku und Heiji hatten sich von den beiden Agents verabschiedet; der Schriftsteller wirkte erschüttert, aber gefasst, soweit. Sie hatten sich ein Taxi gerufen, zu dritt – er, Heiji und Yukiko – und waren aufgebrochen. Ins Krankenhaus, zweifelsohne.

Shuichi war mit einigen Officers von Scotland Yard wieder nach unten gestiegen, um die Leiche Blacks zu bergen und die Tatorte zu sichern.

Das war also ihre Chance.

Vermouth beobachtete Jodie, wie diese das Gelände etwas verließ, über die Begrenzung in den Grünstreifen stieg, der neben dem Hauptquartier angelegt worden war, sich gegen eine Laterne lehnte, durchatmete. Sie zündete sich selbst eine Zigarette an, zog ihr Outfit, dass sie sich in den letzten Minuten „ausgeliehen“ hatte, zurecht, und trat neben die Blondine mit der auffälligen Brille.

Wortlos streckte ihr die Zigarettenschachtel hin. Jodie merkte, wie sie sich versteifte, ihre Augen sich weiteten, als sie die Blondine neben sich betrachtete; sie trug eine Politessenuniform, hatte sich die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und die Kappe aufgesetzt, trug eine Sonnenbrille und ging damit auf den ersten Blick ohne Probleme als solche durch.

Auf den zweiten wohl auch.

Jodie schluckte, dann griff sie nach den Zigaretten, zog das Feuerzeug aus der Schachtel, zusammen mit einer Kippe und zündete sie an, paffte ein wenig vor sich hin.
 

„Didn’t know you where a smoker.”, bemerkte die Blondine trocken, als sie die Zigarettenschachtel wieder entgegennahm und in einer Jackentasche verstaute.

„I’m usually not, you‘re right.”

Jodies Stimme zitterte nur noch ein ganz kleines Bisschen; sie räusperte sich.

„In the light of today’s events, though…”

Sharons Lippen kräuselten sich zu einem wissenden Lächeln.

„Quite an exciting day, that’s right.”, bestätigte sie mit leiser Stimme, klang dabei aber durchaus amüsiert – und da war es auch, das kleine, feine Lächeln auf ihren roten Lippen.

Jodie verschluckte sich, hustete mit Tränen in den Augen, nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette.

„If that’s what you’d call a day where you discover that you were working for the boss of one of the biggest crime organizations this planet has ever seen –“
 

Sie blies den Rauch aus ihrem Mund, hustete erneut, fing sich einen spöttischen Blick Vermouths.
 

„So, that’s basically making us to colleagues, isn’t it?”

Jodie fiel fast die Kippe aus den Fingern, von der sie gerade ziehen hatte wollen, und war froh, es nicht getan zu haben – an dem Hustenanfall wäre sie wohl erstickt. Sie ächzte, wandte sich mit offener Kinnlade Vermouth zu, deren Augen hinter ihrer Sonnenbrille vergnügt glitzerten.

„Oh, how utterly rude you are, Miss Starling. Don’t look so offended. I’ve been working more for your kind of business than for mine those last years and days, anyway.”

Damit zog sie an ihrer Zigarette, zog genussvoll und ließ den Rauch langsam aus ihrem Mund entweichen, die Augen geschlossen – alles in allem ein Bild puren Seelenfriedens.

Jodie starrte sie wortlos an, wandte sich ihrer Zigarette wieder zu, zog vorsichtig daran, diesmal.
 

And that after having killed a man a couple of minutes ago. The nerve…
 

„So, why did you seek me out, of all people? You surely know that I am after you since…”, begann sie schließlich, nachdem sie ihren Mut – und auch ihre Stimme – wiedergefunden hatte. Letztere krächzte zwar noch ein bisschen, aber damit würde sie leben müssen.

“Since I killed your father. That’s why I am here. I know who picked you up afterwards. And I take it, you’ve got… a few questions, now.”
 

Sharon wandte ihr schönes Haupt, blickte Jodie offen ins Gesicht.
 

„That’s why. And I’m willing to give you the time we need to smoke these cigarettes to ask me all of your questions. After that, I’m gone. Forever.“

Sie drehte ihren Kopf wieder weg, ließ ihren Blick über die Skyline Londons schweifen, lächelte.

„My job is done. I’ll retire.“ Ein leises Lachen drang an Jodies Ohr.

„So better ask your questions quick.”

Jodie blinzelte, dann sammelte sie sich; als sie sprach, hatte sie ihren Blick fest auf die zehn Quadratzentimeter Gras unmittelbar vor ihren Schuhspitzen geheftet.

„Why did you kill my father?”

“Because I was told to do that. It was an order.”

“And who ordered you?”

“You know that. The very man whose leftovers are carried away this very moment. It was nothing personal; your father found out too much about me, therefore he had to be annihilated. I told you he fell asleep and sent you away to buy some juice, remember? I spared your life, then. I could’ve killed you, too. I burnt the house down to ashes afterwards, anyway. It would not have mattered. Actually, it really didn’t matter much to me back then. In hindsight, it would have been wiser to just kill you back then, too. Would have spared me much trouble.”

Sie lächelte; in ihrer Stimme schwang nichts entschuldigendes mit sich; auch kein Triumph. Sie erzählte die Fakten, nichts weiter. Ein kalter Schauer rieselte der FBI-Agentin über den Rücken. Die Erzählung von den Lippen dieser Frau hatten auf sie einen ganz und gar ungewollten Effekt; Jodie fand sich, ob sie es wollte oder nicht, gefangen in den Bildern jener Nacht.
 

>Why are you awake, little darling?

>My father wanted to read a bedtime story to me. I waited… and waited, and he didn’t come, so I wanted to check that he didn’t forget…

>Oh dear. I’m sorry, but I guess, you won’t hear a bedtime story tonight. It seems he fell asleep… but do you know what you could do?

>No? What?

>I bet he’s thirsty when he wakes up again. Why don’t you go and buy some of his favourite juice?
 

Jodie blinzelte, versuchte, die Nachbilder dieses Abends zu vertreiben.

Als sie wiedergekommen war, hatte das Haus in Flammen gestanden. Kurz darauf waren diese Männer angerückt – unter ihnen er.
 

James Black.
 

Er war wie eine Vaterfigur für sie geworden, hatte sie in all den Jahren im Zeugenschutzprogramm nicht aus den Augen verloren. Wegen ihm stieg sie ein beim FBI. War sie am Ende nichts weiter als eine Marionette gewesen? Von Anfang an verdammt dazu, keine Chance zu haben?

Sie schüttelte sich, zog ein weiteres Mal an ihrer Zigarette, klopfte die Asche ab.
 

„Why didn’t you kill me?”

“I wanted to. You know that. Just not back then. You were a kid.” Sharon lachte.

“Don’t laugh, even I cannot just headshot a kid. I assumed you’d get burned when you would seek for your father. I could not imagine that the FBI got there so fast. And afterwards – as you for sure recall vividly – I tried very hard to kill you, Miss Starling.”

“Well then. Why didn’t you kill him, Shinichi? Or Ran, at the harbour? Why did you help them today?”

Sharon wandte sich um, langsam, ihre blauen Augen glühten von einem seltsamen, intensiven Feuer, nahmen Jodie gefangen.

„Because I own him my life in more ways than one. And so I’ve sworn, that I’ll protect him and those he wants to protect.”
 

Sie verdrehte die Augen, als sie merkte, dass sie genauer werden musste.
 

„When he was fifteen, he saved my life. And he did that, despite I tried to kill Ran a few seconds before. Despite he knew that I was a serial killer the police was after.

Just because he could.

Just because he deemed every life worthy to be saved.

Just because he was of the opinion, that justice had to decide over my fate, my deeds, my life.

That made me think. I started to observe him; and I tell you no news, when I say that he was freaking brilliant. He still is. I was looking for someone like that for ages… to destroy that rotten apple that was the organization. To revenge what they had done to me.”
 

Sie lachte leise, als sie Jodies verblüffte Miene bemerkte.

„What’s so surprising? That I considered a teenager capable of destroying the Black Organiszation, or that I wanted to destroy it at all?”

Jodie hustete heiser.
 

“Both, to be frank.”
 

Sie betrachtete nachdenklich die Glut an der Spitze ihrer Zigarette.

„Though, knowing that teenager, or rather that young man these days, this fact isn’t so surprising anymore.”

Dann schloss sie die Augen, schluckte hart.

„You guys did unforgivable things to him. I can hardly image the hell he went through, not only back then, but even five years later.”

Sharon zog an ihrer Zigarette, nickte gedankenverloren.

„A lesser man than him would have caved in.”

“Is that why you chose him? Did you see that potential, that strength? Were you willing to sacrifice his health, his happiness, his life, even…?”

Jodies Stimme war gegen Ende immer lauter geworden.

“No.”

Sharon’s Stimme klang kalt und schneidend.

“I knew he would not remain unblemished by those plans I laid out for him. I’m no fool. Just like a bullet that hits its target collects its scratches and bruises. But I never wanted him to suffer like that.”

Sie warf Jodie einen Blick zu, der sie zusammenzucken ließ. Sharon wandte sich nicht ab, als sie weitersprach; ihre Stimme verlor nur nach und nach an Schärfe.

„And I am glad, that the outcome now is a different one from the lie he believed in for five long years. I didn’t know she had survived, just like him. I could not forgive myself my inability to protect her. That’s why I took care of him. I’ve actually been his landlady; he found out only some days ago. But that way I could keep an eye on him - and send that black devil into the hell he belongs. He’s not going to harm anyone ever again. He paid for what he did to Shinichi… and to Ran. And to me, for that matter.”

Sharons Stimme klang bitter.

“I guess, that’s what you want to know, your last question. I guess, you figured out that I am Sharon Vineyard, not Chris. Chris is fiction, I invented her. Do you know, why?”

Jodie schüttelte ihren Kopf.

“My husband was a member of the Black Organization.”

Sie hielt inne; und zum ersten Mal in dieser Konversation zeigte sich in ihren Zügen Schmerz.

Schmerz, der ihre Augen dunkel färbte, ihre Mundwinkel nach unten zog, ihre Lippen zu einem feinen Strich werden ließ.

Schmerz, der sie auf einmal wie die alte Frau aussehen ließ, die sie war.

Jodie schwieg, schluckte. Fast unwillig bemerkte sie, wie so etwas wie Mitgefühl sich in ihr breitmachen wollte. Sie schüttelte es ab, trampelte es nieder, versuchte, sich wieder auf die Worte Sharons zu konzentrieren, die mit gezwungen teilnahmsloser, fester Stimme weitersprach.

„I didn’t know that; I found out months after he had deceased. When I found the strength to sort through his things, I found his secret diaries. He wrote about his jobs, and that he wanted to leave. He told about his fears; he was afraid that James already suspected that he wanted to leave. That he could hurt me. He knew that the Black Organization never lets someone leave its talons. He dreaded his death, and sure enough, his fears became true. When he was on his way home, his car crashed. It looked perfectly like a tragic accident, but I knew better.”

Sie fauchte die Worte fast.
 

„I went to the police. They turned me down; I didn’t dare to show them my husband’s diaries, so I … so I… made my own investigations. They didn’t go unnoticed. And Mr Black… Anokata… made me an offer.”
 

Sie lächelte verführerisch.
 

“You know, I’ve had some very useful talents. And I’ve been a stunning creature, always. And Mr. Black was a young man, back then, not oblivious towards the pleasures of a female body.”

Jodie warf ihr einen angewiderten Blick zu. Sharon lachte.

„There, there. No need to look so shocked. After what he did to Shinichi, can you still think so highly of him? You know what he did to him. Make him a drug addict, let him spill out all of his most intimate thoughts and feelings about Ran, record them, let him hear his own fever dreams… kill her… then follow him, observe him, just to give him another overdose to let him drown in his own blood, this-“

“Stop it!”
 

Jodie hielt die Hände hoch, hatte sich fast erneut an ihrer Zigarette verschluckt, hustete qualvoll.

„I know. I…“
 

Sie rang um Atem, fing sich langsam wieder.

„It’s just… it’s hard. Hard to realize, hard to believe. I knew him as the grandfatherly man he acted towards me. Caring, thoughtful, understanding. It’s… hard to believe that you are the good one, actually. Or at least… less bad. Not as bad as I wanted to believe all those years.”

Sie seufzte tief, ließ die Zigarette vor sich hin brennen, beobachtete, wie sich die Glut immer näher an den Filter fraß.

„So you…“

„So I acted as one of them for years, tried to figure out how they work, and looked for someone to help me destroy them. My life was forfeited anyway, I didn’t care anymore. It took me years to find one; first, I thought your dear Shuichi would be the appropriate man for that. Then I met Shinichi in New York when he was fifteen, and… saw so much more potential…”

“You used him!”

“As did you.” Sharon warf ihr einen kalkulierenden Blick zu.

„Don’t judge me for a crime that you committed, too.”

Jodie lächelte traurig.

“Touché.”
 

Sharon zog ein weiteres Mal an ihrer Zigarette, tief, blies dann den Rauch in einem langen, kontrollierten Atemzug aus, starrte dabei in den Himmel.

„Let’s hope he faces a more peaceful and pleasant future from now on.”

Jodie nickte zustimmend, betrachtete dann die Frau neben sich nachdenklich. Sie sah auch in einer Politessenuniform noch umwerfend aus. Ein wenig Neid keimte in Jodie auf, den sie allerdings schnell niederwalzte. Sie räusperte sich geräuschvoll, um sich der Aufmerksamkeit Vermouths zu versichern.
 

„Your age, though…“
 

„A secret makes a woman woman.”, grinste sie, ließ ihre perfekten Zähne im Sonnenlicht blitzen, lachte dann, als sie Jodies genervtes Gesicht bemerkte.
 

„Come on. You know the stuff that did that. Prototype of the stuff that created Conan.”

Sie lächelte breit.
 

“Just didn’t take the antidote. Didn’t see any use in that.”

Jodie grinste säuerlich.

“Yeah. What a waste would that be…”

Sie seufzte leise, ließ ihren Blick über die Menge schweifen, blieb dann wieder an der umwerfend schönen Frau neben sich hängen.

„I guess it’s unwise to try to capture you now, to imprison you.”

“Very much so.”

Sharon hob kurz ihre Hand, ließ Jodie einen Blick auf die Walther PPK werfen, die im Bund ihres Rocks steckte. Damit warf sie ihre fertig gerauchte Zigarette auf den Boden.

„I’ll leave now. And one advice between us - I wish not to be tracked down, Miss Jodie. Don’t bother me, and I won’t bother you.”

Sie lächelte, zeigte ihre makellos weißen Zähne zwischen bordeauxrot gemalten Lippen.

„Tell him my thanks – and my best wishes for his future. And greet my blessed angel.”
 

Damit drehte sie sich um, stöckelte davon; zog sich im Gehen die Kappe vom Kopf und warf sie in den nächsten Mülleimer, schälte sich aus ihrer Jacke, öffnete mit Schwung ihren Pferdeschwanz und winkte sich ein Taxi heran.
 

Jodie starrte ihr nach, seufzte tief. Neben sie trat Shuichi, blickte dem Taxi nach, als es davonfuhr.

„Ich kann sie nicht ausstehen.“

Jodie grinste kurz.

„Me neither. Case closed?“

„Case closed.“

Er nickte.

„Die anderen sind schon los in seine Wohnung, dann ins Krankenhaus. Jenna und ein paar Jungs von Scotland Yard befreien wohl gerade den echten Doc McCoy. Ich würde vorschlagen, wir…“

„… fahren auch ins Krankenhaus.“

Kapitel 58: Rot

Kapitel 58: Rot
 

Pudding.
 

Ja, so in etwa fühlt es sich an.
 

Er hatte keine Ahnung, wie lange dieser Zustand, den er mental als „Pudding“ klassifiziert hatte, schon andauerte; er dämmerte vor sich hin, unfähig mehr als einen Sinneseindruck auf einmal zu verarbeiten, schob seine Gedanken von einer Seite auf die andere, wälzte sie um und drehte sie mehrmals, bis er endlich einmal einen von ihnen auch nur ansatzweise verstehen konnte.

Er befand sich in einem inkonsistenten Zustand von nicht-ganz-Schlafen aber auch-nicht-vollkommen-Wachsein, und das seit einiger Zeit, seit er… seit er diesem Ozean bleierner Schwärze entstiegen war, diesen schweren Umhang nachtschwarzen Samtes abgeworfen hatte, aus der vollkommenen Finsternis hinausgestolpert war in graues, nebliges Zwielicht.
 

Zäh war das, wackelig und undurchsichtig. Wie Kuchenteig, wie Kaugummi, ein bisschen wie Honig, wie… Pudding, eben.

Wie eine bizarre Mischung von allem.
 

Momentan schien der Pudding allerdings die Konsistenz von Wackelpeter zu bekommen, ein wenig klarer, ein wenig fester zu werden, denn irgendetwas schien anders, diesmal.

Etwas veränderte sich
 

Er hörte etwas. Irgendjemand ging neben ihm umher, vorsichtig, langsam. Mit Schuhen, die kaum einen Laut verursachen; ganz so als ob derjenige darauf bedacht wäre, ihn nicht zu wecken, nicht zu stören. Und er fühlte etwas – irgendetwas Textiles umhüllte ihn, inklusive einem seiner Arme. An seiner anderen Hand spürte er einen leisen Luftzug, als dieser jemand nahe an ihm vorbeischlich.

Und anstatt grau oder schwarz schimmerte es hinter seinen Lidern rot.
 

Langsam schnappte er nach Luft, fühlte, wie seine Lungen sich mit Sauerstoff füllten, roch Desinfektionsmittel, Putzmittel und ein Aftershave.
 

Und wusste, dass das der erste, bewusste Atemzug seit einiger Zeit war, den er getan hatte.
 

Okay, das ist gut, oder?

Das funktioniert.

Dann müsste… eigentlich auch das funktionieren.
 

Shinichi versuchte, die Augen zu öffnen. Fühlte, dass es ihm schwerfiel, seine Lider klebten ein wenig zusammen und generell schienen sie bleischwer zu sein.

Er kämpfte verbissen weiter.
 

Und zwang sie auf.

Einen Spalt zumindest – er bereute es umgehend, als das helle Tageslicht an seine Netzhäute drang, sie fast zu versengen schienen.
 

Er stöhnte auf, kniff seine Augen wieder zu.
 

„Oh, finally! You’re awake!“
 

Die Stimme, die er hörte, ließ ihn jeglichen Schmerz sofort vergessen.

Er fuhr hoch, als sein Gehirn als Reaktion auf plötzlichen Stress Adrenalin en masse ausschüttete, starrte den Mann an, der da neben seinem Bett stand, atmete heftig.
 

Dr. Constantine McCoy schaute ihn an – hob dann beschwichtigend die Arme. Auf seinem gerade noch erfreut dreinblickenden, gutmütigen Gesicht zeichnete sich ehrliche Betroffenheit ab.
 

„Oh.“
 

Der ältere Mann schluckte, fuhr sich über den Hals, räusperte sich. Er sah die nackte Panik in den Augen seines Gegenübers und konnte sie ihm nicht verhehlen. Ehe er jedoch etwas entgegnen konnte, änderte sich etwas in Shinichis Gesicht.
 

Langsam schaltete sein Hirn sich wieder ein.
 

„Dr. McCoy.“, murmelte er heiser, ließ sich zurück in die Kissen sinken, starrte die Decke an, strich sich über die Augen, massierte sich kurz die Nasenwurzel.

„You gave me quite the shock.”
 

McCoy atmete auf, lächelte erleichtert. Dann zog er sich einen Stuhl heran, nahm neben Shinichi Platz, fischte ein Glas und eine Flasche Wasser vom Beistelltisch und schenkte ein Glas ein, welches er Shinichi reichte, der es dankbar entgegennahm. Bedächtig und konzentriert setzte er es an die Lippen, fühlte, wie seine Hände zitterten, resginierte.

Er konnte es jetzt nicht ändern, also hatte es keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Dann nahm er einen Schluck, merkte, wie gut die klare Flüssigkeit seinem Hals tat, leerte das Glas. Langsam setzte er es ab, seufzte tief.
 

„So… Jenna got you out of your basement?”
 

Mit nicht mehr ganz so wüstentrockenem Hals hörte sich seine Stimme gleich viel besser an.

“Yes.”

McCoy nickte langsam.

“Yes, she did. She told me I had to thank you for that, though.”

Shinichi wandte sich ihm zu, fixierte ihn mit seinen klaren, blauen Augen, nahm jedes Detail an seinem Gesicht auf; auch wenn es nicht viel war, ein bisschen schien es abzuweichen von dem Gesicht des Pathologen in seiner Erinnerung. Die Schatten unter den Augen ein wenig dunkler, die Falten ein wenig tiefer – und unübersehbar das verblassende Veilchen unter seinem rechten Auge, die immer noch leicht schorfige Wunde an seiner Schläfe. Immerhin schien der Mann aber ansonsten heil aus der Sache rausgekommen zu sein.
 

Shinichi kniff die Lippen zusammen, schüttelte ernst den Kopf.
 

„No. Most certainly not, Doctor. I am the reason you got into that trouble in the first place. He was hunting me. He used you to get to me. I need to apologize, by no means do you have to thank me.”
 

Er ließ seinen Kopf zurücksinken, schloss die Augen. Hinter seiner Stirn pochte es unangenehm. Dann fuhr er fort.
 

„You`re wearing a white lab coat. Are you acting as a physician here? I suppose I’m in hospital?”

Shinichi atmete ein und aus, seufzte dann.

„I hope, I’m not dead, am I?”

Er versuchte, witzig zu klingen, und McCoy tat ihm den Gefallen, leise und amüsiert aufzulachen.

„No, you’re not, but I guess I don’t have to tell you that you’ve been standing on death’s doorstep, with your fingers reaching for the doorbell, Sherlock. You’re a tough nut as I’ve not seen any other in my whole career as a doctor.”

Er seufzte, studierte das blasse Gesicht seines jungen Kollegen, schüttelte den Kopf.

Es war verdammt eng gewesen. Mit Schaudern erinnerte er sich daran, als man ihn in sein Zimmer geführt hatte, vor ein paar Tagen.

Erinnerte sich an den Menschen, der in diesem Bett gelegen hatte, bleicher fast, als diese Krankenhausbettwäsche war, wehrlos, gezeichnet von den Qualen, die er in so kurzer Zeit aushalten hatte müssen.

Ein Mensch, dessen Körper keine andere Option zur Rettung seines Systems gesehen hatte, als es fast ganz abzuschalten.

So nahe am Systemcrash.

Und dennoch kämpfte er.

Er schüttelte den Gedanken ab.
 

„You’re quite right, you’re in hospital. I still have an approbation and an office in this institute, so I am allowed access in here.”

Ein feines, wenngleich wehmütiges Lächeln.

„The only one, who is allowed access here, to be honest, Sherlock. You must not have visitors right now. Your latest treatment…”

Er seufzte, als er Shinichis betroffenen Blick bemerkte, schüttelte den Kopf, traurig.

„It affected your lungs, they suffered considerably; you might have noticed, you coughed blood.”

Shinichi nickte langsam.

“It would be unwise to expose you to the threat of as much as a simple cold regarding the state you’re in. You’re lucky, though. No other organs are affected, and believe me, kidneys with burst arteries, small as they might be, are no joke.”

Er versuchte, ihn aufmunternd anzulächeln.

„Just a few more days, you’re making good progress. Amazing progress, to be frank.”

Shinichi blinzelte ihn an, schluckte.

„For how long… have I been… sleeping…?”

Der Doktor stand auf, drehte sich um und betrachtete den Tropf, der in Shinichis Venenzugang endete.

„You’ve been in coma, Shinichi. For about two weeks.“

Er hörte ihn ächzen, schüttelte den Kopf, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

„No! That’s good, actually. Your body went into energy-saving mode itself after it had to endure that overdose and all the strain you put on it with your escape. You were extremely lucky – I don’t have to tell you that no painkiller or anything else would’ve worked on that drug. Your girlfriend helped you to step away from the brink of death, and your body made the best decision when shutting down itself to a minimum. You’re doing just fine, Shinichi. Just allow yourself a few more days to recover.”
 

Shinichi, der kraftlos in seine Kissen zurückgesunken war, schluckte hart.
 

Zwei Wochen im Koma.
 

Er sog scharf die Luft ein, als ein anderer Gedanke durch seinen Kopf kreuzte.
 

Ran! Die anderen…!
 

„Do you… have you heard of…”, begann er heiser, wurde jedoch fast augenblicklich von seinem Kollegen unterbrochen.
 

“Your parents? Your detective friend from Osaka, that guy Heiji and his girlfriend? From Shiho, and this other girl, Sonoko? From the police officer from Tokyo, Môri?”
 

Mc Coy machte eine kleine Kunstpause, sah ihn starr an, ehe ein Lächeln auf seine Lippen schlich, bevor er die nächsten Worte sprach.
 

„…from your beloved one, Ran…?”
 

Shinichi sah nicht auf, merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

„Not to mention these two agents from the FBI.”

Er lachte.

“Of course I have. Quite a shock that was for me – realizing that you’ve got a whole bunch of friends and family caring for you – and deeply so. And you’ve left them all behind, five years ago. Still, they’re here.”

Er presste seine Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich, schaute Shinichi ernst an. Der wandte seinen Kopf, blickte langsam auf.

„Please do me a favour and spare me that lecture, Dr. McCoy. I’ve gotten that message by now…”

“I take it you have.”

McCoy seufzte ebenfalls, strich sich übers Gesicht mit beiden Händen, rubbelte seine Wangen, schüttelte den Kopf.
 

„They are here, every day, Sherlock. Every single day. Waiting in the waiting room, have lunch at the canteen, waiting again, hearing about you, leaving, just to return again the next morning. I’ve had chats with all of them by now, and I… have no words left to describe what I’ve experienced. They’re remarkable, each one of them. And I am – I am seriously happy, that when you leave these premises, you have them to return to, after what you went through. And to stand by your side to help you face what’s still lying in front of you.”

“A rather stony way.”

“I am afraid, I have to admit it, but yes – you’re right. A quite stony way…”
 

McCoy seufzte, wischte sich mit einer Hand übers Gesicht, setzte sich wieder.

„She’s extraordinary, your Ran. I hope, you know what you’ve got to do once-“, fing er an, in seiner Stimme gespielter Tadel.

“I do.”

Shinichi lächelte sanft. Dann verzog er das Gesicht, hob die Hände, presste sie gegen seine Stirn, hielt sich die Augen zu.

„Headache?“

„Yeah.“

Shinichi seufzte.

„Feeling a little cold cold, too. And…”

“I guess it’s time, anyway.”
 

McCoy seufzte tief, schaute mit zusammengezogenen Augenbrauen auf das EKG, dass deutlich den sich langsam, aber stetig schneller und unruhiger werdenden Herzschlag Shinichis illustrierte.
 

“I guess, you know what we’ve started once the drug’s effects had worn off.”

Shinichi nickte langsam, schluckte hart.

„We should send you sleeping before the cramps start. You need not to suffer more than necessary.”

Der junge Japaner sah auf, blickte in das großväterlich lächelnde Gesicht, verzog die Mundwinkel.

„Guess there’s no choice, is it?”

“No. Not one we would let you make, that is.”

Er drehte sich um, verließ kurz das Zimmer, kam mit einem weiteren, etwas jüngeren Arzt zurück, der eine Injektion auf einem Tablett mit sich trug.

„Don’t worry.”

McCoy sah ihn beruhigend an.

„We keep this as short as possible.”

Der andere Arzt setzte die Spritze an Shinichis Venenzugang an, leerte ihren Inhalt langsam.

Shinichi, der seine Hand unwillkürlich zu einer Faust geballt, die andere Hand unter der Decke ins Bettlaken gekrallt hatte, verfolgte ihn widerwillig.

Jeder Muskel in seinem Körper schien zum Zerreißen gespannt, und erst als die Spritze entfernt wurde, entließ er den Atem, von dem er nicht mitbekommen hatte, dass er ihn angehalten hatte.

Er schluckte trocken, räusperte sich, verfolgte die beiden Ärzte, wie sie sich anschickten, sein Zimmer zu verlassen.
 

„Dr. Mc Coy.”, hielt er den Autopsiearzt Scotland Yards zurück. Der Mann drehte sich um, trat zur Seite, damit sein Kollege neben ihm den Raum verlassen konnte.

„Sherlock?“

“So, when you go and tell them about my state today, will you tell them that I’m fine, looking forward to meet them asap and not to worry?”

McCoy wandte sich ihm zu.

„Of course, I will.“
 

Er lächelte – dann schloss er die Tür hinter sich.
 

Shinichi lehnte sich zurück, holte tief Luft. Er konnte nicht abstreiten, dass er gerade eben ein wenig panisch war. Er hatte es vor fünf Jahren so verabscheut, sich dieser Therapie unterziehen zu müssen, er hatte Angst vor diesen Substanzen, Angst vor dem, was sie mit ihm machten, ohne dass er einen Einfluss darauf hatte.

Er schloss die Augen, versuchte, das penetrante Rauschen in seinen Ohren zu überhören, sich selbst durch tiefes Ein- und Ausatmen zu beruhigen.
 

Er wusste, es war seine einzige Chance und er wusste auch, dass es funktionierte.

So versuchte er also, sich zu beruhigen, als er darauf wartete, dass die Wirkung endlich einsetzte, ihn wieder schlafen legte, für ein paar Stunden vergessen ließ.
 

Bald bin ich wieder bei dir, Ran.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit…
 


 

„Er war wach?“
 

Ran war hochgefahren, stand nun vor dem richtigen Autopsiearzt – sie konnte nicht abstreiten, dass sein Gesicht ihr immer noch Schauer über den Rücken rieseln lies – und starrte ihn mit großen, flehenden Augen an.

„Dürfen wir zu ihm? Hat er etwas gesagt? Wie geht es ihm?!“
 

Im nächsten Moment merkte sie, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, als ihr bewusst wurde, dass sie den armen Mann gerade mit einem Redeschwall auf Japanisch überflutet hatte.

Er lächelte sie jedoch nur verständnisvoll an.
 

„He’s well enough, regarding what he’s been through. I guess, that’s what –“

Ran lächelte, seufzte.

“Yes. I… I am sorry. Yes, I wanted to know how he’s doing. And if we can visit him…”

McCoy schüttelte entschuldigend den Kopf, entlockte damit nicht nur Ran ein enttäuschtes Seufzen.

„He woke up, got quite the shock when he saw me, but drew the right conclusion quick enough.”

Er grinste kurz, wobei sich sein Schnurrbart, der dem eines Walrosses Konkurrenz machte, in die Breite zog, sich die Fältchen um seine Augenwinkel vertieften.
 

„He’s fine, but he’s not allowed to have visitors just yet. I am to greet you, tell you not to worry and that he’s looking forward to the day he’ll meet you again. Then we had to put him back to sleep again. You know…”

Ran zog sich die Unterlippe zwischen die Zähne, nickte langsam.

„Don’t worry.“

Sie spürte die Hand des Pathologen auf der Schulter, blickte auf.

„He’s craving as much as you to be with you. But it would be foolish to put all the recovery he’s already made at risk.”
 

Ran schaute den Pathologen lange an, ihre Lippe zwischen die Zähne gezogen.
 

„I know he disguised as me, Ran. I know he wanted to kill him. But I’m not – “

“I know –“, fiel sie ihm hastig ins Wort, als er den Kopf schüttelte, lächelte.

„I’m not him, Ran. I know Sherlock – Shinichi - since his first day here. I was, before our dear Jenna came, of course”, er lächelte wohlwollend die junge Polizistin an, die sich etwas im Hintergrund hielt, „the man closest to a friend to him in the yard, if not even in the city. I was worried that he would get consumed by his job. Be eaten alive by his profession. Now I see what he has to return to, Ran… who he has to return to… who he so desperately wants to return to -”

Ran schluckte, merkte, wie ihr Herz fast stehen blieb, als sie den Ausdruck ehrlicher Freude und Güte auf dem Gesicht des alten Mannes sah, „I would rather cut my own hand off than let him down. But he’s not ready yet. You dragged him up there, you’ve saved him, you know it’s close to a miracle that he survived at all. Give him a few more days. Be patient. I know, it’s hard. I’ve seen the same expression in his eyes just now, but for the time being, he has surrendered. He’s not going to take any more risks. He wants that life. He. Wants. It. And it’s the first time, believe me, that I’ve seen him wanting to live his own life, ever.”

Ran verknotete ihre Finger, schaute zu Boden – dann auf, suchte den Blick des Pathologen.

„And so will I. Be patient, I mean. Thank you for your help, Dr. McCoy. It is… relieving to know that you can care about him while we can’t.”
 


 

Seit diesem Tag waren sechs weitere vergangen; immer wieder mit neuen Nachrichten von Shinichi, dem wohl mehr und mehr seine Krankenzimmerdecke auf den Kopf fiel, aber dem die Ärzte immer noch keinen Besuch erlauben wollten. Tag für Tag wurden sie vertröstet, und es zehrte zunehmend an ihren Nerven.

Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie sehr es an seinen zehrte.
 

Ran lächelte traurig, öffnete ein Fenster, ließ frische Luft ins Wohnzimmer seiner kleinen Wohnung.

Sie war nach ihrem heutigen Besuch in seine Wohnung zurückgekehrt; sie war mittlerweile hierhin gezogen, und hatte angefangen, sie aufzuräumen.

Gut, viel zu räumen gab es nicht – und das merkte auch Sonoko an, die mit in die Hüfte gestemmten Händen mitten im Raum stand und Ran beim Abstauben seiner Bücher zuschaute. Kazuha war mit Shiho auf Rans Bitte hin einkaufen gegangen, nachdem der Kühlschrank fast so neu und jungfräulich aussah, wie am ersten Tag, und auch die Vorratsschränkchen nicht viel vorzuweisen hatten.
 

„Man könnte meinen, ihr wärt schon verheiratet.“, ätzte sie gerade, ließ sich dann neben Heiji auf’s Sofa fallen.

Ran warf ihr einen schrägen Blick zu.

„Sonoko.“

Sie seufzte, putzte eine Ecke des Regals aus, das sie sich gerade vorgenommen hatte, wandte sich dann um.

„Ich will nur nicht, dass er heimkommt, und hier herrscht Chaos. Auch wenn er… das hier überlebt hat, und wenn sie ihn nach Hause lassen, wird er noch…“

Sie brach ab, biss sich auf die Lippen. Yusaku hatte sie zwei Tage nach diesem ereignisreichen Tag beiseite genommen und ihr erklärt, wie Shinichis Genesungsweg aussehen würde. Zögernd, und widerwillig, das hatte sie gesehen, und sie ahnte, dass das eine Geschichte war, die Shinichi ihr wohl tatsächlich verschwiegen hätte, hätte es in seiner Hand gelegen.
 

„Nachdem du… wahrscheinlich an seiner Seite bleiben wollen wirst, Ran, solltest du zumindest wissen, was dich erwartet. Ein wenig vorbereitet sein auf das, was kommt.“
 

Sie hörte seine Stimme immer noch in ihrem Kopf. Yukiko war neben ihm gesessen, hatte während der Erzählung geschwiegen, gegen Ende hin nur seine Hand genommen und sie sacht gedrückt. Sie selbst war auf dem Stuhl gesessen und fühlte sich wie vom Zug überrollt.
 

„Nachdem du das jetzt weißt, Ran… bist du sicher, dass du hierbleiben willst? Bei ihm? Das… wird kein Spaziergang werden, gerade am Anfang und gegen Ende nicht. Ich bin mir sicher, er könnte verstehen, wenn du… wenn ihr das erst fortsetzt, wenn er aus dem Gröbsten raus ist.“

Rans Kopf war hochgefahren, fast so etwas wie Wut war in ihr hochgekocht, sicher aber Empörung.

„Ich werde ihn nicht allein lassen!“

Sie hob den Kopf, in ihren Augen funkelte Entschlossenheit.

„Endlich habe ich ihn wieder… und ich… ich hab mir geschworen, dass ich ihn nie wieder alleine lassen werde…“

Sie schluckte, atmete tief ein und aus.

„Aber danke. Ich verstehe, warum… warum Sie mich das fragen.“

Yukiko lächelte schwach.

„Du, Ran. Wir waren doch schon beim Du. Also gut – dann lass uns das zusammen durchstehen. Ich habe die vage Hoffnung, dass es zumindest nicht ganz so schwierig sein dürfte, ihn dieses Mal davon zu überzeugen, mitzumachen.“

Ran nickte, griff dann nach ihrer Hand.
 

Dieses Gespräch war immerhin nun auch schon vier Tage her. Sie hatte daraufhin ihre Mutter angerufen um sie zu informieren, dass sich ihre Rückkehr nach Tokyo auf unbestimmte Zeit verschieben würde, und sie solange Fälle nur aus der Ferne bearbeiten könne. Ihre Mutter hatte ihr allerdings soweit gar nicht zugehört.

Tatsächlich war sie gerade am Packen gewesen. Offenbar hatte ihr Vater gestern schon mit ihr telefoniert und sie ins Bild gesetzt, und beide hatten entschlossen, dass es wohl an der Zeit wäre, dass sie und auch Professor Agasa nach London kämen.
 

Sie würden morgen früh ankommen, rechnete Ran nach. Wahrscheinlich saßen sie jetzt im Flieger.
 

„Er wird sich ausruhen müssen, Sonoko.“

Ihre Stimme war leise, ihre Augen unfokussiert, starrten auf das Buch in ihren Händen, ihre Augen auf den Titel geheftet, ohne ihn zu lesen.
 

„Na, als chaotisch würde ich diese Bude trotzdem nicht eben klassifizieren.“, murrte Sonoko.

„Mal ehrlich Ran, der Typ lebte in absoluter Askese. Das hier würde jeden Klosterbruder vor Neid erblassen lassen…“

Ran seufzte, lächelte traurig, doch ehe sie antworten konnte, fuhr Heiji dazwischen.
 

„Sie braucht was zu tun, während sie wartet, Suzuki. Peilste das nich‘?“
 

Sonoko wandte sich ihm zu, der nun an seiner Tasse Kaffee schlürfte, die er sich in der Küche geholt hatte.

Ran wischte sich mit dem Unterarm über die Augen, merkte, wie dieses Gefühl erneut in ihrer Brust wühlte – Angst. Unsicherheit.

Das Buch in ihrer Hand zitterte.
 

Sie hatte so gehofft, ihn heute endlich sehen zu können.

Stattdessen hatten sie mit der Information wieder nach Hause gehen müssen, dass die Ärzte noch nicht entschieden hatten, ob er heute Besuch haben dürfe oder nicht.

Ihre Augen brannten. Sonoko schaute sie betroffen an.
 

„Ran, Süße…“
 

Sie stand auf, zog sie in die Arme.
 

„Du weißt doch, es geht ihm gut. Also… den Umständen entsprechend. Nicht mehr lange –…“

„Aber das sagen sie jeden Tag.“

Ran schluchzte trocken, schüttelte dann missmutig den Kopf.

„Jeden Tag. Und telefonieren will er wohl nicht.“

„Weiß auch nich‘, ob das besser wär‘.“, murrte Heiji, stellte seine Kaffeetasse ab.

„Ich glaub, es is jetzt schon nicht leicht für ihn. Dich am Telefon zu hören, wie de weinst, war noch nie etwas, das er gut ertragen konnte oder locker wegsteckte, selbst wenn er jetzt weiß, dass es kein dauerhafter Zustand is.“
 

Er stand auf, nahm ihr das Buch aus der Hand, stellte es zurück ins Regal.
 

„Na komm, gib mir den, ich mach hier weiter. Kümmer du dich lieber um’s Schlafzimmer, da geh ich nich‘ rein.“
 

Damit nahm er Ran den Lappen ab und fing an, das nächste Regal zu entstauben, während Ran ins Schlafzimmer ging, Sonoko im Schlepp.
 


 

„Visitors?“

Shinichi blinzelte.

„It’s almost seven pm now. Nobody is going to visit me today any longer, visitors aren’t allowed that late. My parents and friends are here every day. Wasn’t it possible for you to decice on that earlier, while they were still waiting? You sent them home! And now you tell me that I can have visitors?–…“
 

Er hatte sich aufgesetzt, starrte die beiden Ärzte vor ihm konsterniert an.

„The nerve –…”, setzte er erneut an, sein Unmut spiegelte sich sowohl in seinem Gesicht als auch seiner Stimme.
 

„We’re very sorry. Today was extremely busy.“
 

„Ahh. Sure. That explains everything.“, ächzte Shinichi, schüttelte dann den Kopf; stoppte abrupt, als ihm ein Gedanke in den Sinn kam.
 

„Okay, so… I’m well enough to have visitors, so my lungs are fine with the average amount of stress on them. I guess, I am well enough to be able to leave, then.”

„Leave?“, echote der jüngere Arzt, während McCoy’s Augenbrauen nach oben wanderten.
 

„Leave the hospital, yes. Go. End my stay here. You said, my lungs are well enough recovered to face all the “threats”,” er setzte das Wort “threats” mit einer entsprechenden Geste seiner Hände in Szene, “out there, so I just may as well leave here. It’s not my first substitution therapy. I am well informed of what I have got to do. And I would assume, that…”
 

Er holte Luft, schaute seine beiden Ärzte stur an.

„… being reunited with my family and friends that will take best care of me, will definitely improve my recovery, especially regarding the mental aspects accompanying the therapy.”

Die beiden Ärzte glotzten ihn immer noch sprachlos an.

Shinichi kniff die Lippen zusammen, blinzelte nicht.

„I demand to go home. Now.”

Der jüngere der beiden Ärzte seufzte.

„I’ll go and consult Dr. Payne. I can’t decide that.”

“Please do so.”

Shinichi sah ihm zu, wie er den Raum verließ. McCoy seufzte, schüttelte den Kopf.

„Don’t you think it’s a bit too early for you, Sherlock?”
 

“No.”

Shinichi schälte sich aus seiner Bettdecke, schwang die Beine aus dem Bett, stand langsam auf. Den Fehler, zu schnell aufstehen zu wollen, hatte er vor ein paar Tagen schon begangen und mit einem unabsichtlichen Kniefall bezahlt.
 

Er ging langsam zum Schrank, griff sich seine Sachen und wanderte ins Bad.

„What are you thinking you’re doing?”, fragte McCoy überflüssigerweise.

“Change my clothes, obviously.”

Shinichi steckte den Kopf aus der Tür.

„I’m not going to walk outside in my pyjamas.”

Damit schloss er die Tür wieder, zog sich um. Als er wieder nach draußen trat, stand Dr. Payne schon im Zimmer, schaute ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen tadelnd an, bedeutete ihm, sich aufs Bett zu setzen.
 

„Dr. Lester informed me that you want to leave us, Mr. Kudo.”

Shinichi nickte.

“Obviously.”

“I don’t have to tell you that I think it’s an unwise idea – stupid would’ve been my preferred expression, to be frank. You’ve been in coma for two weeks, with an injured lung, a drug overdose, a serious cut on your arm, several bruises –“

“And I’ve been here for three weeks to recover.”

Shinichi schluckte.

“Three weeks. That cut’s healed, the bruises also. My lungs have, as you told me, recovered well enough as to be able to deal with all the germs and pollution that’s not exceeding a certain amount – I promise, I won’t start smoking, and I am sure, all of my friends and family will understand that they can’t smoke in front of me right now. I also swear I won’t run into a burning building.”

Er schluckte.

“As for the substitution therapy – that will take several weeks more, as you and me are perfectly aware of. And I am sorry to surprise you now, but I won’t stay in hospital for that long – I didn’t the last time, and I most certainly will not do so right now. Give me the instructions, I will take that stuff precisely as you order me to. I will be here for every examination you wish to perform. I won’t leave the citiy. But I won’t stay here longer than necessary. As is – I will leave now.”
 

Er schaute dem Arzt stur ins Gesicht. Der starrte zurück, verdrehte die Augen.

„By all respect, you are a stubborn idiot, Mr. Holmes. But well.”

Er kritzelte etwas auf einen Block, riss das Blatt heraus.

„As I am sure, you won’t stop pestering us before you got your will anyway, so please. Your recipe. Get the substance in the apothecary in the basement. I want you here in two days for a check-up. No exercises, no work, nothing that’s going to put strain on you in any way. And your release here is on your own responsibility entirely of course, so I will need your sign here.”

Der ergraute Arzt schaute ihn lange an. Shinichi nickte ernst – dann schlich sich ein dankbares Lächeln auf seine Lippen.
 

„Thank you very much.“
 

Damit stand er auf, griff nach dem Kugelschreiber, den der Arzt ihm hinhielt und unterschrieb schwungvoll seine Entlassungspapiere, steckte das Rezept für das Medikament in seine Sakkotasche, um es einzulösen, bevor sie das Krankenhaus verließen.
 

Draußen vor der Klinik blieben sie stehen.

Shinichi schluckte, atmete tief ein und aus, fuhr sich mit den Händen über sein Gesicht, seufzte. McCoy schaute ihn abwartend an, zog eine Augebraue tadelnd in die Höhe. Shinichi zuckte mit den Schultern, setzte ein unschuldiges Lächeln auf. Tatsache, er fühlte sehr wohl, dass er noch nicht wieder auf der Höhe war.

Dableiben wollte er aber auf gar keinem Fall.

Nicht einen Tag länger.

McCoy fischte nach seinen Autoschlüsseln, seufzte widerwillig.

„Okay, so – as I am to babysit you for a while, what do you plan to do now? Shall I drive you home into your flat, straight away? I am informed that’s where your girlfriend lives at the moment.”

Shinichi drehte sich um, grinste.

“No. Actually, I would love to make a small detour.”

“A small… what?”

Der Arzt, der gerade einen Schritt in Richtung seines Wagens gemacht hatte, drehte sich um.

„Didn’t you listen to –…“

„Just a short shopping trip, doctor.”

Shinichi klopfte ihm mit einer Hand auf die Schulter.

„Shopping?” Shinichi grinste, hörte an der Stimme und dem Tonfall des Pathologen, dass er den Braten roch.

“Shopping, yeah. I thought about a short stop at Harrod’s before we drive to my flat?”

McCoy’s Augenbrauen rutschten nach oben – dann fingen seine Augen an zu leuchten.

„Very well, my friend. As they open until 9pm, we’ve got still one and a half hour left.”

Shinichi nickte.

“That’s enough for me.”
 

Die Fahrt dauerte nicht lange; ihr Aufenthalt dort auch nicht. Schon nach ein paar Minuten traten die beiden Männer wieder hinaus auf die Brompton Road, falteten sich wieder in McCoys altertümlichen Mini, der Shinichi immer wieder an das kleine Wägelchen der Kultfigur Mr. Bean erinnerte. Er hatte den Arzt schon lange mal fragen wollen, warum er an der kleinen Rostlaube festhielt, wo er sich doch sicher ein anderes Modell hätte leisten können, hatte es bisher aber immer versäumt – und gerade eben hatte er dazu nicht wirklich den Nerv. Tatsächlich hatte er wohl gerade eben für überhaupt nichts einen Nerv, denn die schienen alle während der letzten Minuten das große Flattern bekommen zu haben.

Shinichi griff mit seiner Hand in seine Jackentasche, ertastete mit klammen Fingern ein kleines, mit Kunstleder überzogenes Kästchen, merkte, wie sein Puls zu rasen anfing, diesmal jedoch aus einem ganz anderen Grund. Er zog die Hand wieder heraus, klopfte kurz auf seine Tasche, um sicher zu gehen, dass es nicht herausfiel. McCoy neben ihm grinste, klopfte ihm auf die Schulter.

„It’s a beautiful ring. She’ll be delighted. Though I think, you could have gotten her one out of a chewing gum machine, and she’d still marry you.”

Er lachte, wartete, bis Shinichi, der ebenfalls zu lachen begonnen hatte, eingestiegen war.

Die Fahrt zu seiner Wohnung verlief schweigend; erst als sie anhielten, räusperte sich der alte Pathologe, ergriff erneut das Wort.
 

“Good luck then.”

Er seufzte.

“I will drop by tomorrow to check-“

“That’s not necessary, doctor.”

Shinichi schüttelte den Kopf, als der zu einer Erwiderung ansetzte.

„I’ll see you at work – no, stop.”

Der Arzt hatte den Mund erneut aufgerissen, wohl um ihm entgegenzusetzten, ob er denn bitteschön seinen Arzt im Krankenhaus nicht verstanden habe, hielt inne, als ihm Shinichi mit einer Geste seiner Hand das Wort abschnitt.

„I’m not going to work, actually. I only planned to pay a visit to Montgomery.”

Er schluckte hart.

„I guess it won’t surprise you too much when I tell you that I am going to quit my work here. I will leave Scotland Yard.”

Ein trauriges Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er den betroffenen, aber nicht überraschten Ausdruck auf McCoys Gesicht bemerkte.

„As you mentioned it… I have a life to return to. A life to live. It’s just not taking place in London, so I have to…”

Er seufzte leise, schluckte.

“So, I’m coming to work tomorrow, you can check on me there. I promise, I won’t take on a new case.”

McCoy kniff die Lippen zusammen – dann lächelte er, kurz.

„You’re doing the right thing. But I will miss you. As will many more…”

Shinichi nickte, grinste dann kurz.

“Yeah… but I’m confident that we’ll stay in touch.”

Er schloss die Augen, atmete tief durch.

„Dr. McCoy?“

„Hm?“

„Thank you.“

Er wandte sich dem alten Arzt zu, schenkte ihm ein ehrliches Lächeln

„Not only for the last hours or days, but…”

Der alte Mann schüttelte den Kopf, klopfte ihm auf die Schulter.

„No need to. Now go up there and get your girl.”
 


 

Er hatte gewartet, bis die Rücklichter von McCoys Wagen verschwunden waren, erst dann hatte er sich umgedreht. Langsam war er den Weg entlang zur Haustür hochgewandert, hatte mit dem Ersatzschlüssel aufgesperrt und war die Treppe hochgestiegen. Vor Sharons Wohnung war er stehengeblieben.

Stumm fragte sich, wo sie abgeblieben war, und ob er von ihr irgendwann einmal etwas hören würde. Die Holztür schien ihm nicht wirklich eine Antwort darauf geben zu wollen, und öffnen ließ sie sich auch nicht.

Er presste die Lippen zusammen, bis von ihnen nur noch ein blutleerer Strich zu sehen war.
 

Wie war das, Sharon?

A secret makes a woman a woman.
 

Dann griff er in seine Jacke, holte eine alte Kreditkarte aus seinem Portemonnaie und schob sie zwischen Türspalt und Tür; er hatte Glück, die Tür war zwar zu, aber nicht abgeschlossen.

Leise öffnete er die Tür, trat ein, ließ die Atmosphäre der Wohnung auf sich wirken, ehe er weiter vordrang. Es schien tatsächlich niemand zu Hause zu sein; der feine Staubfilm auf den Möbeln zeigte ihm, dass dem auch schon länger so war.
 

Wo bist du, Sharon?

Schon längst außer Landes, wahrscheinlich… hm?
 

Seine Augen waren an einem Brief hängen geblieben, der auf dem Wohnzimmertisch gegen eine Vase gelehnt stand.

Auf dem Umschlag stand, in schwungvoller Schrift geschrieben:
 

Silver bullet
 

Shinichi trat näher, griff sich den Umschlag und ließ sich in den Sessel sinken, in dem er so oft während der letzten fünf Jahre gesessen hatte, schluckte.

Dann riss er mit fem Daumen den Umschlag an der oberen Kante entlang auf, zog einen Bogen Papier heraus.
 

Dear Shinichi,
 

Er schluckte hart, atmete gezwungen langsam aus, starrte kurz auf den leeren Platz ihm gegenüber. Und setzte erneut an.
 

Dear Shinichi,
 

when you read this, I am probably dead by now.
 

Er runzelte die Augenbrauen, las weiter, während ihm ein ironisches Lächeln auf die Lippen kroch.
 

Or so thay say in those pathetic letters on the end of a grand story, right?

Oh dear, no. I’m not dead. And when you’ve got that letter in your hands, you’re not dead either, right? So far, so good.
 

You know, I am an actress, a mistress of words, drama and fake faces, but I want to keep this one very short and very true today:
 

I guess, we will never meet again. My mission is completed, as is yours. Now, I am still a criminal the police is after, unlike you. So I have decided to put a mask on my face for on last time – and this one is built to last forever.
 

But I would have hated to leave without having told you my thanks; you never decided to take part in my play voluntarily, I just dragged you in, but your role was vital – and you exceeded my expectations in you by far.
 

I was, like you, devastated by the thought that we had lost her in the wakes of their destruction.

I am, like you, thoroughly relieved to know that that angel still hovers at your side now – and I am very sure you’re intelligent enough now to never let her go again.
 

So, there’s only one thing left for me – to wish you and Ran a merry and peaceful life.
 

The two of you will always have a special place in that black heart of mine, rendering it a little less rotten.
 

Farewell, Shinichi,

Bide your mother my regards.

She was the best friend I’ve ever had.
 

A secret makes a woman a woman.
 

Sharon XXX
 

Ein paar Minuten vergingen, in denen er bewegungslos im Sessel verharrte, den Inhalt des Briefs sacken ließ; dann lachte er kurz, schüttelte den Kopf.

„War ja auch nicht anders zu erwarten, nicht wahr, Sharon?“

Er faltete den Brief zusammen, schob ihn zurück in den Umschlag, steckte ihn in seine andere Jackentasche, verließ die Wohnung, zog hinter sich die Tür wieder ins Schloss.

Shinichi seufzte, dann schob er den Gedanken an sie beiseite, stieg die letzten Stufen hinauf und hielt inne.
 

Aus seiner Wohnung drang Stimmengewirr. So wie es aussah, war nicht nur Ran hier.
 

Er schluckte, straffte die Schultern, streckte dann die Hand mit dem Schlüssel aus, stopfte ihn ungelenk ins Schloss, drehte ihn mit zitternden Fingern zu.
 

Langsam schwang die Tür auf.

Die Stimmen wurden lauter.

Und es roch nach Essen.
 

So leise wie möglich trat er in seinen kleinen Flur, drückte die Tür hinter sich lautlos ins Schloss, streifte sich mit den Füßen die Schuhe ab.
 

Schlich langsam weiter, spähte um die Ecke – und sah sie alle um seinen kleinen Tisch gepfercht vor Pizza und Spaghetti, wild diskutierend.
 

„Das is‘ jetzt sechs Tage her. Kann doch nich‘ sein-…“

Heijis Stimme klang genervt.

„Ich mein‘, jeden Tag untersuchense ihn und alles, da werdense doch mal sagen können, wann man ihn besuchen kann…“

Sein Wortschwall ging unter, als er sich eine Gabel voll Spaghetti in den Mund stopfte und sich so selber die Luft zum Sprechen abschnitt.

„Ich habe nachgelesen… es gibt leider keine genauen Angaben dafür, wie lange so eine Lunge braucht, um sich zu regenererieren, und wir wissen nicht, wie groß der Schaden ist…“

Yukiko seufzte. Sie wandte ihren Kopf zu Yusaku, der ebenso ratlos aussah.

„Sie sagen, da das Gift ja kein gewöhnliches ist, wäre es schwer zu sagen, wie der Schaden aussieht und wie schnell die Heilung verläuft. Sie sagen, es wird zwar besser, aber…“
 

„Dennoch – es muss doch möglich sein, ihn zumindest kurz zu besuchen. Die können uns doch auch so einen komischen Astronautenanzug geben. Desinfizieren. Generell, sie könnten doch wenigstens einen mal reinlassen, offenbar ist er doch jeden Tag wach und ansprechbar…“
 

Shinichi schluckte trocken – dann hustete er, unabsichtlich.
 

Und neun Köpfe wandten sich um wie einer, starrten ihn an.
 

Shinichi merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

„Also ich… denke, das mit dem Besuch hat sich erledigt…“, murmelte er leise, als er vollends ins Zimmer trat.
 

Dann fiel ein Stuhl um. Ran war aufgesprungen, umrundete den Tisch, fiel ihm ohne ein Wort um den Hals, fing an zu schluchzen.

Er konnte sich gerade noch abfangen, legte seine Arme um sie, drückte sie an sich.
 

Und lange sagte niemand ein Wort.

Erst als Ran sich allmählich beruhigt hatte, und sie mit hochrotem Kopf abgezogen war, um ihm einen Stuhl zu holen, erst als er tatsächlich Platz genommen hatte, mit einem Teller dampfender Nudeln und einem Glas Saft vor seiner Nase, erst dann – brach die Hölle los.

Er ließ den ersten Schwall an Fragen über sich schwappen wie eine Welle, die sich an einem Fels in der Brandung brach, schob sich eine Portion Pasta in den Mund und kaute, wartete ab. Als schließlich wieder Ruhe eingekehrt war, seufzte er, legte Gabel und Löffel beiseite.
 

„Also schön, die Quintessenz: Nachdem meine Ärzte heute Abend beschlossen haben, dass ich Besuch erhalten dürfe, habe ich beschlossen, dass ich genauso gut entlassen werden könnte.“
 

Er lehnte sich zurück, sich der Blicke seiner Freunde voll bewusst; er war immer noch blass um die Nase, das wusste er. Zwar waren die meisten oberflächlichen Verletzungen verheilt, aber dennoch waren ihm die Strapazen der vergangenen Wochen immer noch deutlich ins Gesicht geschrieben.
 

„Und du denkst, das ist eine gute Idee, Shinichi? So sehr ich dich verstehen kann, aber wäre es nicht besser gewesen, du bliebst noch ein paar Tage…“, fing sein Vater an.

„Nein.“

Shinichi schüttelte den Kopf.

„Ich war da jetzt drei Wochen, das reicht. Die oberflächlichen Verletzungen sind längst verheilt. Gut, ich soll nicht zu Rauchen anfangen und in kein brennendes Gebäude laufen.“

Er grinste schief.

„Und wir alle wissen…“

Ein Schatten huschte kurz über sein Gesicht.

„Dass diese andere Sache ohnehin Wochen braucht, also…“
 

Er wandte sich Ran zu.

„Deshalb muss ich dir leider sagen, dass ich mein Versprechen, mit dir nach Japan zu gehen, so bald noch nicht wahr machen kann. Zumindest für die Dauer…“

Sie schüttelte nur den Kopf.

„Solange du nicht verlangst, dass ich morgen ohne dich heimfliege…“ Sie lächelte, in ihren Augen glitzerten immer noch Tränen.

Er schüttelte nur stumm den Kopf, seufzte dann.

„Auch wenn ich es dir nicht verübeln könnte, um ehrlich zu sein.“

„Halt bloß die Klappe.“, murmelte sie leise, ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken. Er strich ihr über den Arm.

„Aber sag mal, wartet nicht Arbeit auf dich in Tokyo?“

Ran, die die Augen geschlossen hatte, sich darauf konzentrierte, seinem Atem zu lauschen, seufzte.

„Mhm. Meine Mutter kommt morgen. Ich denke, ich übernehme momentan einfach den Papierkram und sie die Kundenbesuche – dafür ist es egal, wo auf der Welt ich gerade bin.“

„Aha.“

Er holte tief Luft, roch den Duft ihres Parfums – und erinnerte sich an das kleine Kästchen, das da noch in seiner Jackentasche darauf wartete, ausgepackt zu werden.
 

„Weißt du.“, murmelte er.

„Ich hab‘ da noch was für dich.“

Seine Stimme war leise und klang ein wenig nervös. Ran setzte sich auf, schaute ihn überrascht an. Mit klammen Fingern griff er in die Tasche seines Sakkos, das er zwischenzeitlich über die Lehne seines Stuhls geworfen hatte.
 

Seine Finger schlossen sich um das kleine Kästchen; er zog es heraus, setzte es vor ihr auf den Tisch. Ran starrte es an – dann ihn. Alle anderen schwiegen, starrten die beiden gebannt an. Shinichi seufzte tief, wandte sich ihr dann zu, schaute ihr fest in die Augen.
 

„Ich muss dir nicht sagen, dass ich das alles ganz anders wollte. Nicht hier, nicht jetzt, nicht unter diesen Umständen – ich weiß nicht wie, aber… anders eben. Nun, besondere Situationen bedürfen besonderer Maßnahmen, und nun… ich dachte, das lässt du vielleicht zwischenzeitlich gelten als Ersatz für ein Flugticket nach Japan für uns zwei…“, begann er, sah ihr zu, wie sie mit zitternden Fingern nach dem Etui griff, den Deckel aufklappte.

Eine Träne rollte ihr über die Wange.

Vorsichtig griff er nach ihrem Kinn, drehte ihren Kopf zu sich.
 

„Ich will ehrlich sein, Ran, ich… bin ein ziemliches Stück Arbeit, momentan, und auch die nächsten Wochen, das wird nicht immer leicht werden, du… kennst das ja, aber wenn du… wenn du – also wenn du immer noch willst, dann…“
 

Er schluckte, lächelte ein wenig hilflos.
 

„Wenn du also nach der 0 und der 1 noch sehen willst, was uns die 2 und die 3 bringen, und was da auch immer nachfolgen wird…“
 

Sie starrte ihn an, schniefte.

„Idiot.“

Er verdrehte die Augen, grinste.

„Ist das ein Ja?“

Sie schniefte erneut, lachte dann, nickte.

„Ja!“

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, drückte ihn an sich, grub ihre Finger in seine Haare und den Stoff seines Hemds.

„Mir egal, wie viel Arbeit das wird, solange wir sie zusammen bewältigen…“, flüsterte sie in sein Ohr. Er schluckte hart, presste sie an sich.
 

„Ich liebe dich, Ran.“
 

Damit griff er nach dem Ring, schob ihn ihr über den Ringfinger, gab ihr einen Kuss auf die Schläfe.

„Danke, dass du mich nicht aufgegeben hast – und damit meine ich nicht nur das da unten in der Autopsie und alles, was danach kam – sondern vor allem das davor.“, wisperte er so leise, dass nur sie es hörte, lächelte sie an – und Ran lächelte zurück, wischte sich die letzten Tränen aus den Augen, strich ihm über die Wange, schüttelte den Kopf, lehnte ihre Stirn gegen seine.
 

„Dich aufzugeben hätte ich mir nie verziehen.“
 

„Na dann.“, räusperte sich Kogorô vernehmlich, streckte seine Hand über den Tisch aus.

„Willkommen in der Familie, Shinichi.“

Shinichi blinzelte, starrte ihn an, schluckte. Dann hob er seine Hand, langsam, griff die Kogorôs, drückte seine Finger, fest.

„Danke.“, seine Stimme klang rau, und Kogorô wusste, was in ihm vorging. Er kniff die Lippen zusammen.

„Nein.“

Er seufzte, als er Shinichis Hand losließ, registrierte den verdutzten Blick des jungen Mannes, schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich muss mich bedanken. Nicht jeder hätte die Größe, mir zu vergeben und die Hand zu reichen, so wie du es tust, nach allem, was ich dir angetan habe. Es tut mir Leid. Und ich danke dir. Und ich meine es ernst, und ich bin sicher, ich spreche auch für Eri – willkommen.“
 


 

Als Ran am nächsten Morgen aufwachte, schlief Shinichi noch.

Sie seufzte leise, mummelte sich lautlos tiefer in die Decke, drehte sich zu ihm und betrachtete sein Gesicht. Es erschreckte sie immer noch zu sehen, wie erschöpft er aussah, selbst wenn er, wie jetzt, friedlich schlief. Dennoch konnte sie das Gefühl kaum fassen, das seine pure Anwesenheit auslöste, und die Bedeutung für ihre Zukunft, die sie mit sich brachte. Sie spürte seine Wärme, den sanften Hauch seines Atems auf ihrem Gesicht, roch seinen Duft, der immer noch ein wenig gemischt war mit den Gerüchen des Krankenhauses. Spürte das warme Metall des Rings an ihrem Finger und ihr Herz begann zu klopfen, ihr ganzer Körper zu kribbeln, wenn sie an das Versprechen dachte, das dieses Schmuckstück symbolisierte.
 

Zusammen.

Mit dir.

Für immer.
 

Sie blinzelte, versuchte, sich wieder zu beruhigen, als es in ihr zu wühlen begann, schnappte leise nach Luft.

Und er wachte auf.

Sah sie nur an, streckte einen Arm aus, zog sie an sich, fühlte, wie sie sich festklammerte und leise zu weinen anfing.

„Was ist los, Ran?“, wisperte er leise.

„Nichts.“

„Ah.“

Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Nichts sieht meiner Erfahrung nach aber anders aus.“, murmelte er in ihr Haar.

Sie schluckte, ließ ihre Finger über seine Brust wandern, bewegte den Kopf, so dass sie in seine Augen blicken konnte.
 

„Weißt du noch, das letzte Mal, als wir…“

Er zog die Augenbrauen hoch.

„Klar. Ist erst ein paar Wochen her, Ran. Ich bin noch nicht senil, und meine kleinen grauen Zellen wurden noch nicht gegrillt. Immerhin.“

Sie lachte leise, wurde aber sofort wieder ernst.

„Weißt du noch, was du sagtest?“

Er nickte nur.

„Hast du… hast du daran geglaubt, in dem Moment?“

Shinichi seufzte, schaute kurz an die Decke.

„Ich hab… gehofft.“

Sie nickte ebenfalls.

„Ich auch. Aber… es… es schien mir ziemlich unmöglich, um ehrlich zu sein. Ich hab so sehr gehofft… und ich wusste, du würdest alles in deiner Macht stehende tun… aber dennoch, ich… habe nicht zu träumen gewagt.“

Shinichi schwieg, strich ihr die Haare aus dem Gesicht, gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
 

„Nun, einmal musste ich ja auch mal Glück haben.“, grinste er dann.

„Aber du hast Recht, es ist… unfassbar zu glauben, dass es endlich vorbei ist. Und dass…“
 

Ran atmete aus.

„Dass uns dieser schwarze Schatten nicht mehr verfolgt. Dass du endlich frei bist. Wir endlich frei sind.“

Eine weitere Träne rollte ihr aus dem Augenwinkel.
 

„Na, dann wird’s Zeit, uns daran zu gewöhnen.“, meinte er dann gelassen, gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.

„Komm, lass uns aufstehen. Deine Mum kommt heute, und ich wollte vorher noch zu Scotland Yard, was erledigen.“

Shinichi setzte sich auf, schaute auf sie herab.

„Was erledigen? Hast du nicht Urlaub?“

„Doch, schon.“

Sein Lächeln verzog sich.

„Ich… werde Montgomery mitteilen, dass ich meinen Job dort kündige, Ran.“
 

Sie setzte sich nun ebenfalls auf, sah ihn mit einem schwer zu deutenden Blick in den Augen an.

Er schüttelte milde lächelnd den Kopf.

„Was dachtest du, Ran? Wir gehen zurück nach Japan, wenn auch noch nicht gleich, so in ein paar Wochen. Ich werde mir dort eine Arbeit suchen müssen.“

Er schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und griff nach der Bettdecke.

„Ich will’s hinter mich bringen.“

Damit zog er ihr die Decke weg, was ihr einen empörten Aufschrei entlockte, flüchtete aus dem Zimmer, als er sah, wie sie die Verfolgung aufnahm.
 


 

Nach dem Frühstück und knapp eine knappe Dreiviertelstunde später saßen sie mit Heiji in einem Taxi auf dem Weg zum Yard; er hatte unbedingt mitkommen wollen. Yusaku war zusammen mit Kogorô zum Flughafen aufgebrochen um den Professor und Eri willkommen zu heißen und Yukiko war mit Shiho, Kazuha und Sonoko einkaufen gefahren, um Klamotten zu kaufen; für den Abend war eine ordentliche Verlobungsfeier geplant, und dafür galt es, schicke Klamotten auszusuchen. Ran überließ ihnen dabei die verantwortungsvolle Aufgabe, für sie ein Outfit zu suchen, hatte nur eine Bedingung gestellt.
 

„Kauft mir bitte nichts Weißes.“
 

Shinichi, der bis gerade eben nach draußen gesehen hatte, die allmorgendliche Londoner Hektik in sich aufgesogen hatte, warf Ran einen Blick zu. Sie merkte, dass er sie ansah, lächelte.
 

„Mach dir keine Gedanken. Ich… es ist in Ordnung.“

Shinichi zog die Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf.

„Wir haben wirklich ausufernd über mich gesprochen Ran, aber fast gar nicht über dich. Dabei… bist du entführt worden, und verletzt. Gedemütigt. Und du wärst fast ertrunken. Ich…“

Sie schluckte, seufzte, schüttelte den Kopf.

„Du brauchst reden. Ich will nicht wissen, wie das für dich war, damals, als du dort warst. Als sie… dir dieses Zeug verabreicht haben und du…“
 

Shinichi merkte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinablief. Heiji, der sich bisher aus der Konversation rausgehalten hatte, drehte sich im Beifahrersitz um, beobachtete die Interaktion der beiden. Ran knetete ihre Finger nervös, sah ihren Verlobten nicht an, als sie sprach, ihre Stimme leise, kaum lauter als ein Wispern, aber eindringlich. Sie ging ihm durch Mark und Bein.
 

„Du hast nie aufgegeben. Nie aufgehört, so zu empfinden, für mich, das weiß ich jetzt, er hat’s mir gesagt, Black, in den Minuten, als du… bewusstlos warst.“

Shinichi nickte beklommen. Das wusste er.

„Obwohl sie dich lächerlich gemacht haben. Sie haben sich amüsiert, Shinichi, über das, was du für mich empfunden hast. Und nicht nur das – sie haben diese -deine- Schwäche bis zum Exzess ausgenutzt, bis hin zu dem Moment, mich zu holen, um dich zu erpressen. Du weißt genau, dass ich dein wunder Punkt bin. Aber du… du hattest nicht einmal aufgehört, mich zu lieben, fünf Jahre nach dem Augenblick, seitdem du dachtest, ich wäre tot. Und ich habe… ich hab‘ gesehen, wie dich das kaputt gemacht hat. Wie es an dir gerissen und gezerrt hat. Wie es dich auseinandergenommen hat, Stück für Stück.“

Sie griff seine Hand.

„Es war keinesfalls immer gut für dich, mich zu lieben. In der Beziehung hattest du an jenem Tag auf der Brücke Recht, auch wenn ich’s nicht zugeben wollte…“
 

Er drückte sie, hielt sie fest.

„Aber es hat mich immer stark gemacht. Ich würde nicht unbedingt sagen, dass du nur meine Schwäche bist, Ran.“

Shinichi sah sie an – sie hatte ihre Augen immer noch gesenkt.

„Du hast Sharon gehört. Wir beide wissen, sie hatte Recht. Wir alle wissen, dass ich nicht hier säße, ohne dich, und das aus vielerlei Gründen.“

Ran schluckte hart, blickte auf, schaute in sein Gesicht und der Blick in seine Augen raubte ihr fast den Atem.

Er liebte sie. Ihre Lippen zitterten.
 

„Dir kam nie in den Sinn, dass…“
 

Shinichi schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück, atmete tief ein und aus.
 

„Nein. Ich gebe zu, es war… hart. Die ersten Male kaum zu ertragen.“

Seine Stimme war leise.

„Als sie’s mir auf Tonband vorspielten, ehrlich, ich…“

Er ballte seine andere Hand zu einer Faust, spürte, wie sich seine Fingernägel in seinen Handballen bohrten.

„Aber ich… begriff - es war nichts Falsches daran, was ich da sagte oder fühlte. Nichts, wofür man sich schämen müsste. Es war nur nicht für ihre Ohren bestimmt, klar… aber dennoch.“

Shinichi wandte seinen Kopf, schaute sie an.

„Und als ich dachte, du wärst tot, war dieses Gefühl meine Rückversicherung für mich, zu wissen, dass ich noch am Leben war. Noch imstande, überhaupt etwas zu fühlen. Es gibt nichts, was ich in der Hinsicht bereue, Ran.“
 

Er entkrampfte seine Hand, hob sie stattdessen, strich ihr über die Wange, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ran schloss die Augen, atmete aus.

„Abgesehen davon, liegt das jetzt hinter uns, es wird Zeit, nach vorn zu sehen. Und wie’s aussieht, sind wir da.“
 

Shinichi zog eine Augenbraue hoch, schaute aus dem Fenster; Ran und Heiji folgten seinem Blick – und, wie erwartet, breitete sich vor ihnen der Vorplatz des Hauptquartiers von Scotland Yard aus.

Shinichi schluckte, seine Augen fest auf das sich drehende Schild geheftet, das blitzend das Sonnenlicht reflektierte.
 

„Sherlock!“
 

Sie waren kaum aus dem Taxi gestiegen, und er fragte sich, ob sie wohl an der Tür gewartet hatte – und warum.

Jenna lief ihnen stolpernd entgegen – sie trug für ihre Verhältnisse außergewöhnlich hohe Schuhe und ein mit etwas mehr Sorgfalt gewähltes Outfit, fiel ihm auf. Shinichi runzelte die Stirn, merkte, wie Ran ihre Finger mit seinen verknotete, drückte sie.
 

Jennas Stimme kreischte über den Platz, kippte – ein Laut, wie ihn Shinichi noch nie bei ihr gehört hatte. Dann war sie da, fiel ihm ohne Vorwarnung um den Hals, schniefte kurz – besann sich aber fast augenblicklich wieder, löste sich von ihm und starrte zu Boden.

Sie holte tief Luft, atmete heftig, ihre Schultern hoben und senkten sich entsprechen schnell. Shinichi starrte sie an, perplex; so aufgewühlt hatte er sie selten erlebt. Dann streckte er seinerseits die Arme aus, drückte sie kurz an sich, lächelte sie amüsiert an.
 

„So good to see you, Jenna.”
 

Sie hob den Kopf, starrte ihn an. In ihren Augen schimmerte es glasig.

„Same here. But - you still look tired. You‘re sure you should be out and about already, Si-“

Sie bemerkte seine Augenbraue, die hochgerutscht war.

„-Shinichi.“, sprach sie seinen Namen vorsichtig aus.
 

„I’m fine enough, Jenna. And I’ve got plenty of people taking care that I’m not overexerting myself.”
 

Er stopfte seine freie Hand in seine Hosentasche, drückte Rans Finger erneut, die sich sacht an ihn lehnte.

„Actually, I just wanted to pop in and have a quick chat with our high-esteemed ACC. To be frank, right now I think I should’ve called first, but…”

Shinichi unterbrach sich selber, warf ihr einen durchdringenden Blick zu.

„Why are you here, by the way? Shouldn’t you be in your bureau? It doesn’t have a window facing this place, so you could not have seen us arrive, and even if so, you would’ve never been fast enough to arrive here when we just exit the cab. Have you been waiting for us?”

Jenna merkte, wie sie unter seinem fragenden Blick zusammenschrumpfte, und er war sich sicher, er hörte sie ein leises „fuck“ murmeln.

Schließlich straffte sie ihre Schultern.
 

„Okay, yes, I see your brain works fast as ever…”, murmelte sie leise.

“I think it’s futile to try to deceive you. Yes – guilty as charched. I’ve been assigned to stand watch. Wait for you and catch you here.”

Shinichi zog die Augenbrauen zusammen, merkte, wie Heiji neben ihn trat.

„Huh.“

Er grinste.

„Let me have a guess. McCoy spilled the news that I was going to visit today and quit my services here, additionally to the fact that I planned on proposing to Ran.”

Jennas Gesicht begann ab der zweiten Satzhälfte zu leuchten – sie wandte sich Ran zu, in ihren Augen die pure Neugierde.

„And? Has he? Has he?!”

Ran hob ihre Hand, zeigte den Ring her.

„Yes, he has – and obviously, I said yes.”

Sie lächelte, strahlte geradezu – Shinichi wandte sich ihr zu, gab ihr einen Kuss auf die Schläfe, in seinen Augen das gleiche Leuchten. Jenna fühlte, wie sich ihre Lippen zu einem Grinsen verzogen. In ihrer Brust flatterte ihr Herz wie ein kleiner Vogel.
 

Sie konnte es kaum fassen, dass diese Geschichte nun doch endlich ein gutes Ende genommen hatte, und sie platzte fast vor Glück, wischte sich verlegen eine Träne aus dem Augenwinkel.

Shinichi lächelte sie an.

„You’ll get an invite for the wedding, Jenna, but don’t expect it too soon – we can’t leave London right now.”

Er kniff die Lippen kurz zusammen, schluckte.

„But – now, tell us – how long are you supposed to distract us before I can enter and feel very embarrassed about being fretted and fussed over by half of Scotland Yard?”

“All of Scotland Yard.”, korrigierte Jenna ihn.

“But I guess, we can go join them, now.”
 

Er wusste nicht, was er erwartet hatte, als er eintrat – Tatsache war, die Lobby barst fast vor Menschen, die sich versammelt hatten, um ihn zu sehen.

Er war kaum durch die Tür gegangen, als ihm ein gefühlt hundertfaches „SHERLOCK!“ das Trommelfell zu zerreißen drohte und ohrenbetäubender Applaus losdonnerte.

Shinichi blieb abrupt stehen, errötete bis unter die Haarwurzeln, setzte dann ein Lächeln auf und hob die Hand zum Gruß. Ran stand neben ihm, fühlte in ihrer Hand wie seine Finger kalt und feucht geworden waren. Sie streckte sich, gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Nervös? Warst du doch früher auch nicht…“

Sie kicherte, quietschte dann, als er ihr seine Hand kurz entzog um sie mit dem Finger in die Rippen zu stupsen.

„Es gibt Dinge, die sich ändern…“, murmelte er – viel Gelegenheit, sich weiter unwohl zu fühlen, gab man ihm allerdings nicht. Ein paar Sekundenbruchteile später fand er sich mit einem Teller Kuchen in der Hand wieder, schüttelte Hände, nickte, sprach ein paar kurze Worte mit dem einen und dem anderen.

Menschen strömten an ihm vorbei, drückten ihm die Schulter, nickten ihm zu, lösten sich in Grüppchen auf, aßen Kuchen und Sandwiches, stießen an.

Feierten.

Shinichi wandte sich zu Ran, die ihn stolz angrinste. Heiji stand neben ihm, stopfte sich ein Sandwich in den Mund.

„Respekt, Kudô.“

Shinichi warf ihm einen kurzen Blick zu, atmete langsam aus. Sein Puls beruhigte sich gerade wieder ein wenig, als er eine Gestalt sah, die auf sie zutrat.
 

Jillian McDermit hatte sich aus dem Pulk gelöst, trat auf ihn zu, fast ein wenig schüchtern – um dann seine Hand mit beiden Händen zu ergreifen und sie fest drückte, Tränen in den Augen.

„You gave us such a shock, Shinichi.”

Er blinzelte, starrte sie erstaunt an.

„Yes, we all learned how to pronounce your name properly now, but I guess, you’ll always be Sherlock for us.”

Sie lächelte, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„We’re all so glad. So relieved… those seconds while we thought you’d be gone…”

Sie schluckte hart, dann lächelte sie tapfer.

“You’ve really honoured that name. Climbing back up your very own Reichenbachfall.”
 

Shinichi kniff die Lippen zusammen, dann nickte er, versuchte, sich ein wenig zu entspannen, zu lächeln.

„But it ended well, eventually.”

Sie nickte.

“Yes. Actually, we hoped you’d be back with us, but there’s no one here who wouldn’t understand. You deserve a happy life.”

Sie wandte sich Ran zu.

„You better take good care of him.”

Sie lächelte warm.

“My cordial congratulations, Miss Môri.”

Sie ließ Shinichis Hand los, griff Rans, drückte sie sacht.

Hinter ihr tauchten McCoy und Montgomery auf, letzterer räusperte sich vernehmlich.
 

„Well, SI Kudô, I guess, you came to see me?”

Shinichi nickte kurz.

“Yes – I…”

“Let’s talk about that in private, shall we?”

Er lächelte.

“Miss Môri, inspector Hattori, would you mind to join us?”
 

Shinichi warf Ran und Heiji einen verwirrten Blick zu – Heiji seinerseits zuckte nur mit den Schultern, zog die Augenbrauen hoch.

Shinichi stellte seinen fast leeren Teller auf einem Tisch ab, auf dem sich das Geschirr bereits stapelte, leistete der Putzkolonne, die sich über die Hinterlassenschaften dieser kleinen Feier kümmern würde müssen, stumm Abbitte, ehe er den beiden Männern folgte, die bereits vorausgegangen waren und am Lift auf ihn warteten.

Der Gang ins Büro verlief schweigend; drin angekommen, bedeutete der Assistant Chief Commissioner mit einer entsprechenden Handbewegung den drei Japanern, sich zu setzen.

„Take a seat, please. Make yourself comfortable.”

Er lächelte, nahm dann hinter seinem Schreibtisch Platz, McCoy blieb an der Tür stehen.

Shinichi schluckte; diese Konstellation erinnerte ihn frappierend an ein weniger amüsant verlaufenes Gespräch von vor ein paar Wochen. Allerdings…

Er warf einen Blick neben sich. Ran war in den bequemen Freischwinger gesunken, hatte ihre schlanken Beine überschlagen, die Hände locker auf ihren Knien verschränkt, ein feines Lächeln auf ihren Lippen.
 

Shinichi runzelte die Stirn.
 

Eh… weiß sie mehr als ich?
 

Er drehte sich zu seiner anderen Seite und fand Heiji, ebenfalls scheinbar tiefenentspannt, ein lockeres Grinsen zog seine Mundwinkel nach oben.
 

Was geht hier ab?
 

Zeit, sich weiter zu wundern, blieb ihm allerdings nicht.
 

„SI Kudô.“

Shinichi wandte sich seinem Chef zu, in seinem Gesicht gespannte Aufmerksamkeit.

„Well, I guess, I am rightly assuming that your visit here today was not just to say hello and eat a slice of cake…”

Shinichi schüttelte den Kopf, räusperte sich.

„No, Sir. Actually, that little celebration took me by surprise, though I can imagine who cared to arrange it…”

Er wandte sich kurz um, zog eine Augenbraue hoch.

“Can’t be blamed for that, can I? And everyone here was happy to join in and help to make it happen. It’s not as if we didn’t have every reason to celebrate…”

Shinichi verdrehte die Augen, wandte sich wieder um.
 

„To answer your question, Sir; no, I didn’t come here to party. Actually, as I announced to Dr. McCoy yesterday, I was planning to visit you to inform you about my resignation. I – as you might have noticed, my life has changed a lot in these few weeks and I… I will go back to Japan. Therefore I have to resign.”

Er schluckte.

“I am sorry. I want you to know that I am very proud of having been a part of this team for the past five years.”

“And we were proud of having you here. You did extraordinary things, Shinichi.”

Montgomery lächelte freundlich, stützte seine Ellenbogen auf der Glastischplatte des Konferenztisches ab, an dem sie saßen, legte seine Fingerspitzen sacht aneinander, langsam, Finger für Finger.

„Actually, I think, Scotland Yard won’t be the same without Sherlock Holmes. That’s why I can’t accept your resignation.”
 

Shinichi starrte ihn an, seine Kinnlade schien fast den Boden zu streifen.
 

„I don’t think you can‘t…”

“Oh, I do. You signed a ten-year contract, and you’re bound by it. But before starting to yell at me, please hear me out.”

Er hatte die Hand gehoben, Shinichi, der gerade drauf und dran gewesen war, mit ihm in eine Debatte einzusteigen welches RECHT sein Arbeitgeber tatsächlich über sein Leben hatte, schloss den Mund.
 

„Fine.“

„Thank you.“

Er blickte zu Dr. McCoy auf, der immer noch hinter Shinichi an der Wand lehnte.

„Please, Dr. McCoy, would you care to go and fetch my guest?”

“Happily so.”

McCoy wandte sich um, ging zur Tür hinaus und ließ sie offen. Shinichi, der sich ebenfalls umgedreht hatte, wandte sich seinem Chef zu.

„I am afraid I don‘t understand, Sir.”

“Oh, you will. Just wait a few more moments.”

Der Mann grinste unverschämt. Shinichis Verwirrung wuchs – doch als er zu Heiji blickte, sah er, dass auf dessen Zügen immer noch dieses breite Lächeln lag – wenn es sich nicht sogar noch verbreitert hatte. Heiji bemerkte Shinichis fragenden Blick, klopfte ihm auf sein Knie.

„Wart’s mal ab.“

„Sag mal, weißt du was?!“, zische Shinichi genervt.

„Was wird hier eigentlich gespielt, ich meine…“

„Beruhig dich, Shinichi.“

Ran griff seine Hand.

„Keiner will dir was Böses.“

Sie warf ihm ein warmes Lächeln zu. Er schaute sie an, schluckte. Dann seufzte er, schüttelte den Kopf.

„Das ist gemein, wisst ihr. Da gibt man fast den Löffel ab und dann…“
 

Was er eigentlich hatte sagen wollen, blieb ihm im nächsten Moment im Hals stecken, als er sich, nachdem er draußen am Gang gedämpfte Stimmen vernommen hatte, sich der Tür zugewandt hatte.
 

Den Mann, der das Zimmer nun betrat, kannte er nur zu gut.

Er erhob sich langsam, ein Ausdruck puren Erstaunens auf seinem Gesicht.
 

„Inspektor Meguré.“, murmelte er leise.
 

Inspektor Jûzô Meguré war in der Tür stehengeblieben wie angewurzelt – dann griff er sich an den Kopf, nahm seinen Hut ab knetete ihn nervös.
 

„Kudô.“
 

Er schüttelte den Kopf, schluckte hart, betrachtete den Sohn eines seiner besten Freunde eingehend.

„Was machst du für Sachen.“

Ein sorgenvoller Ausdruck huschte ihm übers Gesicht, wurde ersetzt durch ein erleichtertes Lächeln.
 

Langsam setzte er seinen Hut wieder auf, trat einen Schritt auf seinen alten Freund zu, griff ihn an der Schulter. Shinichi streckte die Hand aus, drückte Megurés Finger, schüttelte dann den Kopf, ein leichtes Grinsen auf den Lippen.
 

„Es tut gut, Sie zu sehen – aber was zum Henker machen Sie hier?“
 

„He got a call.“

Montgomery, der augenscheinlich den Sinn des Satzes aus dem Kontext erschlossen hatte, bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. Shinichi kam der Bitte nach, während Meguré den Tisch umrundete, neben Montgomery Stellung bezog.
 

„And a cordial invitation.“, fügte der japanische Polizist jovial hinzu.

„That’s right.“

Er und Meguré setzten sich ebenfalls.
 

„Listen, after what happened that day in the autopsy, and while you were recovering in hospital, Dr. McCoy here, Jenna and me sat together and discussed how you would decide to continue with your life; I mean, it was pretty clear to everyone here that you are very much attached to that brave, beautiful and clever girl next to you.

That’s why we… decided to talk to her. And to your obviously best friend, Mr. Hattori, to find out and predict what you might want to do.”
 

Shinichi starrte ihn sprachlos an.
 

„You did – what?“
 

„Well, Miss Môri told us, that she would very much like to bring you back with her to Japan, and we all were quite convinced that you would agree. After all, everything that kept you away from your friends and family over the past five years was that terrible lie you believed was the truth.”

Er unterbrach sich kurz, nahm einen Schluck Wasser.

„She and Mr. Hattori gave us information about whom you used to work with in the past, and whom you would most likely contact in order to… find new employment.”

Er zog die Augenbraue hoch.

„Of course I considered the FBI, too, and Agent Akai left no doubt that he would happily have you join their ranks, but he also doubted you would consider that option.”

Shinichi nickte.

“That’s true. I would not.”

“Hm.”

Montgomery nickte.

“So, what’s left was to contact Inspector Meguré, as you called him, by now Commissioner Meguré, and ask him if he would agree to my plan.”
 

Shinichi, der Meguré ein anerkennendes Nicken zugeworfen hatte, zog die Stirn kraus.

„Your plan, Sir?“

„Well, now, our plan.“

Montgomery nickte.
 

„Listen… Shinichi. I don’t want to mess with your plans for your future. No one has deserved happiness, peace and a family more than you. I don’t want to deprive you of that. On the other hand, no one can argue against the fact, that you’re an insanely popular person, a gifted detective like no other, a sort of hero to London’s citizens. No one else has given them the reassurance that there’s actually some good work done in Scotland Yard. They believe in their Sherlock, now more than ever, to be frank. You haven’t seen the news of the past three weeks. They were full of praise.”

Er verdrehte die Augen.

“Some were clearly exaggerated, and very pathetic, but the message is clear.”
 

Er seufzte.

“So, what we wanted to offer you, and Agent Akai, too, by the way – he just can’t join us today, as there’s a lot of clean-up to do within the FBI as it has turned out that one of their leading agents was the boss of a major crime organization – is the offer to actually fire you. And not employ you as an official detective again.”
 

Shinichi starrte ihn an, wie vom Donner gerührt.

„What, now? You just told me you can’t let me leave, and now you’re telling me, I am just not going to be employed at Scotland Yard, but-…”
 

Dann blinzelte er.

“No official detective…?”, murmelte er, starrte auf die Tischplatte, die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen. Langsam formte sich in seinem Kopf eine Idee davon, was dieser Plan sein könnte, von dem Montgomery da sprach.

„Wait...“

Er blickte auf.

„You want to –…“

Montgomery grinste breit, genauso wie Meguré, dessen mittlerweile leicht graumelierter Oberlippenbart sich gewaltig in die Breite zog.

„Yes – we want to share you, actually. We want you to be Sherlock Holmes – Shinichi Kudô - the consulting detective. We just make sure you’ll not run out of cases. So you’ll have a contract with Commissioner Meguré, and one with us, and with the FBI, giving you the freedom where to life and accept private cases, too, if you want. If you ever should feel bored, that is.”
 

Shinichis Mund war trocken geworden.
 

„And of course we all accept and encourage you to take an extended leave for holidays before returning to work, Kudô.”, fügte Meguré an.
 

Shinichi starrte ihn an, griff nach dem Wasserglas, das Montgomery vor ihm abstellte, leerte es in einem Zug.
 

„So – will you accept?“, fragte er gutgelaunt, als Shinichi das Glas zurück auf den Tisch gestellt hatte.
 

„Happily.“

Shinichi grinste ihn breit an, ergriff zuerst Montgomerys, dann Megurés Hand, schüttelte sie.

„Honestly, thanks so much. This is – beyond my wildest dreams.”
 


 

Es war Nachmittag geworden, bis sie mit Jenna im Schlepp, die ebenfalls zur Verlobungsparty am Abend eingeladen worden war, Scotland Yard verließen; sie hatte sich den Rest des Tages frei genommen, war verboten gut drauf. Man hatte sie kurzfristig in die Pläne ihres Chefs eingeweiht, und sie war mehr als glücklich, dass dieser Abschied kein Lebwohl für immer sein würde.
 

Shinichi, das sah man ihm an, war ein großer Stein vom Herzen gefallen.

Er hatte sich im Anschluss noch brav von McCoy unter die Lupe nehmen lassen, und war dann mit den anderen zurück in seine Wohnung gefahren; vor der er nun stand, und die Tür aufschloss.

Drinnen wartete der Rest der Mannschaft, mittlerweile komplettiert durch Eri und Agasa, die darauf brannten, die Ereignisse der letzten Stunden zu erfahren, bevor sie im Anschluss ins Restaurant aufbrachen, um ausgelassen zu feiern.
 

Die Stunden waren im Flug vergangen.

Shinichi stand am Geländer der Dachterasse des kleinen Lokals, in dem sie gegessen hatten, genoss die kühle Brise, die ihm um die Nase wehte. Er erinnerte sich an die Ereignisse ein paar Stunden zuvor; der Professor hatte an sich halten müssen, nicht loszuheulen wie ein Schlosshund, als er ihn gesehen hatte. Und er konnte sich lebhaft an das Gespräch erinnern, das Eri mit ihm geführt hatte, kurz vor dem Essen.
 

Ich… Shinichi, ich kann dir kaum sagen, wie leid es mir tut. Ich habe so oft darüber nachgedacht – was wir ihr antun – was wir dir antun. Und nie – nie hatte ich die Courage, ihr oder dir die Wahrheit zu erzählen. Was bin ich… für ein Mensch. Das war- unfassbar schäbig, kaltherzig und verantwortungslos von uns und ich kann dir nicht sagen, wie unendlich dankbar ich dir bin, dass du… dass du das verzeihen kannst. Dass du uns Ran nicht wegnimmst.

Dass du…
 

Er hatte den Kopf geschüttelt. Sein Mund war trocken geworden, ein Kloß in seinem Hals.
 

„Lass es uns vergessen, Eri.“
 

Sie hatte ihn wortlos umarmt.
 

Nun war es dunkel, draußen.

Die Nacht war hereingebrochen über London, die Sonne vor etwas mehr als zwei Stunden untergegangen, die Luft des überhitzten Tages aber immer noch angenehm warm; der Duft von gegrilltem Gemüse, Fisch und mediterranen Kräutern stieg in seine Nase.

Das Leben in der Großstadt war immer noch nicht im Geringsten zur Ruhe gekommen; und er würde es auch nicht wirklich – selbst in den ganz frühen Morgenstunden, wenn die meisten Einwohner schliefen, rührte sich in irgendwelchen Ecken und Winkeln noch Leben, blinkte das eine oder andere Licht einer Reklame oder eines Nachtclubs. Und dann, wenn die Sperrstunde auch diese Etablissements zur Ruhe zwang, dann standen die Ersten bereits wieder auf und machten sich auf den Weg zur Arbeit.

Wie jeden Tag.
 

Doch anders, als all die anderen Tage zuvor, ging das alles nicht an ihm vorbei.
 

Hinter ihm hörte er Shiho den Professor tadeln, der ihn ihren Augen wohl wieder das Falsche oder zuviel aß; er hörte Kogorô grölen und lachen, der eindeutig einen in der Krone hatte, mittlerweile, und dann verstummte, weil er seiner Frau einen Schmatz auf die Wange drückte, wie er aus dem Augenwinkel bemerkte. Shinichi grinste, seufzte leise.

Akai und Jodie hatten es doch noch geschafft; beide sahen etwas geschlaucht aus, was zuindest aber Jodie nicht davon abhielt, gutgelaunt den Abend zu genießen; Akai war wie immer ein eher stilles Wasser.

Er war, wie Shinichi nun wusste, befördert worden, hatte James‘ Platz eingenommen.
 

Da liegt ein hartes Stück Arbeit vor dir, mein Freund.
 

Shuichi bemerkte seinen Blick, hob sein Glas, nickte. Shinichi hob seins ebenfalls, prostete ihm über die Entfernung hin zu.
 

Seine Eltern saßen am Tisch, unterhielten sich mit Jenna, Kazuha und Sonoko, warfen ihm immer mal wieder einen Blick zu, das wusste er.

Es würde wohl dauern, bis sie ihm glaubten, dass alles in Ordnung war.

Dass er es im Griff hatte.

Und dass er darauf vertraute, dass jemand auf ihn aufpasste, das auch zuließ.
 

Ran.
 

Er schluckte; es war etwas mehr als anderthalb Monate her, als er an jenem Abend nach Hause gekommen war, mit dem Bild von Ayakos Leiche im Kopf, das diese ohnehin schlecht verheilte Wunde von Rans Tod, dieser Lüge, an die er so lange geglaubt hatte, wieder aufgerissen hatte.
 

Ran trat neben ihm, verschlang seine Finger in seinen, lehnte sich an ihn. Er ließ seinen Kopf auf ihren sinken, atmete den Duft ihrer Haare ein.

Sie sah zauberhaft aus; sie trug ein duftig-leichtes, bordeauxrotes Sommerkleid.
 

Rot wie Blut… wie die Liebe, wie das Leben.
 

Die Farbe passte. Und sie stand ihr ausgezeichnet – sie schien zu strahlen, von Innen heraus zu leuchten. Sie stand neben ihm, so unfassbar lebendig, so nah, dass er ihre Wärme spürte, den Hauch ihres Atems an seinem Hals. Ihre Haut unter seinen Fingern, ihren Herzschlag, so nah an seinem. Kurz spürte er ihn noch einmal, diesen unbegreiflichen Schmerz.

Sein Atem stockte.

Ran blinzelte, spürte, wie er abdriftete - drückte sich an ihn, schlang ihre Arme um seine Mitte, lehnte ihren Kopf an seine Brust, atmete aus. Hoffte, das würde reichen. Fühlte, wie er sie an sich presste.

Er seufzte, drückte ihr einen Kuss aufs Haar.

„Woran denkst du?“, flüsterte sie leise.

„Daran, wie sehr sich die Welt ändern kann, wenn sich die eigene Perspektive auch nur ein kleines Bisschen verschiebt. Und wie rasant das passieren kann.“

Er lächelte, gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Ran schloss die Augen, hörte seine leise Stimme, spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht, als er redete.

„Irre ist das…“

Sie lachte, schlang ihre Arme um seinen Hals, küsste ihn stürmisch, raubte ihm den Atem.
 

„Noch Platz für ein Dessert?“, fragte sie dann neckend.

„Na, für Dessert ist doch immer Platz.“, grinste er, ließ sich von ihr zurück an den Tisch zu den anderen ziehen, die sie mit johlendem Gelächter empfingen.
 

Er warf einen Blick zurück in die Nacht.
 

In der Ferne drehte sich das London Eye, leuchtete wie ein Feuerwerk vor dem blauschwarzen, mit Sternen übersäten Firmament.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo Leute!

Zuerst einmal möchte ich mich bedanken für die Regelmäßigkeit und hohe Qualität der Kommentare, die sich eingestellt hat. Ich freu mich unglaublich darüber, ihr ahnt nicht, wie sehr!

Zum Laderhythmus - ja, in der Tat schaut es immer eher nach Samstag aus. Wahrscheinlich ist es also sinnvoller, es nun öffentlich zu sagen - momentan schaffe ich den upload eines neuen Kapitels nicht am Freitag, also stellt euch auf Samstag ein!

Zu Ran's Reaktion - ich muss gestehen, ich wurde immer beunruhigter, ob ich diesmal total ooc war bei ihr, bis ich Punikas Kommentar las - denn so wie hier formuliert war es auch von mir intendiert. Klar, sie bleibt sehr ruhig. Aber Leute... ich dachte, erstens, sind die beiden keine Teenies mehr, es kann also durchaus sein, dass Ran etwas von ihrer ungestümen Art abgelegt hat. Zweitens - warum sollte sie ihm die Hölle heiß machen dafür, dass er sie beschützen will? Sie kennt seine Gründe, und er legt sie ihr sogar noch offen da. Ich glaube kaum, dass sie von selber in der Zeitung über ihre Beziehung geplaudert hätte, weil sie weiß, was er fürchtet, er hatte es ihr offen gesagt, und ich denke, eine Absprache ist nicht schlecht, auch wenn es sie natürlich treffen muss, dass er es dann doch so formuliert. Aber würde sie, in meinen Augen, ihm auch nicht den Kopf abreißen, eher für sich gekehrt traurig sein. Er hat sie sterben sehen, wegen ihm, das weiß sie. Warum sollte sie ihn, der momentan ohnehin unter großem Druck steht, also noch weiter Druck machen - wenn sie mit ihm doch eigentlich ein Leben anstrebt? Da erschien es mir für sinnvoller, sie mit Entgegenkommen und Verständnis reagieren zu lassen. Das Wort auf diese Szene wird aber noch einmal kommen, ganz durch ist das noch nicht. Aber das nur dazu.

Ach ja... und Kogorô und Shinichi... nun, ich sah es einfach als Geste in die richtige Richtung, Kogorô Shinichi jetzt endlich mal anzuerkennen, als das, was er ist, und dazu gehört auch, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Warum also nicht jetzt gleich? Best buddies sind sie damit noch lange nicht ;)

Nun denn ;)

Beste Grüße und bis zum nächsten Mal!

Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wow, es ist schon wieder Wochenende!!!

Die Zeit fliegt geradezu vorbei. Herzlichen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel; wie ihr wohl erkannt habt, neigt sich der Tag dem Ende zu. Noch aber ist er nicht vorbei ;) Ein Umschlag wartet darauf, geöffnet zu werden... und auch zu Ran kommen wir noch einmal, aber alles zu seiner Zeit.

Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen!

Beste Grüße,
Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Joa, Leute…

Diese Kapitel momentan haben’s echt in sich. Bitte sagt mir unbedingt, wenn euch etwas befremdlich vorkommt, das ist ganz und gar nicht leicht hier.
Ansonsten hoffe ich, dass es euch weiterhin gefällt – und möchte mich ganz herzlich für eure Kommentare bedanken!

Bis nächste Woche!

Eure Leira :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Joa.
Ich finde, das musste jetzt mal kommen - diese Lanze wollt ich für Ran schon lange mal brechen, aber ich fand, dazu braucht es einen guten Grund und den richtigen Zeitpunkt.
Jetzt schien er mir gekommen... und nun sehen wir mal zu, wie sie damit klarkommen.

Es bleibt spannend!!!

Dankeschön für eure Kommentare!!! ^________________^

Bis nächste Woche, eure Leira :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Bitte entschuldigt die kurze, unangekündigte Pause.
Danke für die Kommentare zum letzten Kapitel - es freut mich auch zu sehen, dass ihr bereits ein wenig diskutiert! Weiter so :) Ihr werden bestimmt bald merken, ob ihr richtig mit eurer Vermutung liegt ;)

Viel Vergnügen hiermit!

Beste Grüße, eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Bitte entschuldigt die Pause. Momentan ist wieder recht viel los - ihr müsst aber keine größere Unterbrechung fürchten, die Geschichte ist in weiten Teilen fertig, und die letzten Lücken schließe ich gerade. Die kommen auch noch nicht in den nächsten Kapiteln.

Auf alle, die auf ein wenig Romantik warten ;) Der Tag ist nahe!!!
Nächstes Kapitel nächste Woche!

Beste Grüße und Danke (!!!!!) an die tapferen Kommentarschreiber. Ehrlich - ich danke euch sehr!

Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es hat lange genug gedauert, nicht wahr? ;)

Nächstes Kapitel nächste Woche, Kommentare wie immer sehr willkommen!!!

Liebe Grüße,
eure Leira

PS: Romantik - ich sagte, der "Tag ist nahe" - nicht im nächsten Kapitel. Ganz ehrlich, die Freude euch damit zu überraschen würd ich mir nicht nehmen, so genau werde ich in meinen Ankündigungen also nicht. In den kommenden Kapiteln wird's so weit sein - allerdings, das muss angebahnt werden, denn einen plötzlichen Sinneswandel kauft man Shinichi und auch Ran in der Situation wohl kaum mehr ab.
Ich hoffe, ihr könnt euch so lange noch gedulden! Vorerst wird's erst noch etwas unangenehm für unseren Detektiven... ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Frohe Ostern, euch allen!

Danke für mittlerweile über 300 Kommentare - vielen, vielen DANK!
Allerdings möchte ich euch im gleichen Zug auch ernsthaft darum bitten, damit nicht aufzuhören... in den letzten Kapiteln wurden es beängstigend wenig. Gibt es etwas, das euch stört - die sehnlichst erwünschte Romantik mal außen vorgelassen (in drei Kapiteln isses soweit!)?

Lasst es mich wissen. Auch wenn's euch gefällt so wie es ist, tut es gut, das mal auch zu hören.

Beste Grüße,
Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben!

So - langsam fangen wir an, zumindest eine Baustelle mal anzugehen ;) Romance is getting closer ;)
Nächstes Mal gibt's aber erst wieder etwas mehr Fallarbeit!

Ich wünsch euch viel Spaß beim lesen,
vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel - wirklich, ich schätze sehr, wenn ihr euch die Mühe macht.

Liebes Grüßchen,
Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Weils mal wieder etwas länger dauerte... gibt's das heißersehnte Kapitel dann gleich noch hinterher.
Ich möchte allerdings wirklich nochmal sagen - über Kommentare würd ich mich irre freuen.
Ganz ehrlich.

Beste Grüße,
Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Joa. Dieses Kapitel kocht hier schon ewig auf kleiner Flamme vor sich hin, ich hoff, ich habs einigermaßen geschafft, die Lücken jetzt zu schließen und die Beziehung der beiden nun mal sinnvoll und nachvollziehbar endlich in anderes Fahrwasser zu bringen - eure Gedanken dazu würden mich wirklich interessieren!

Beste Grüße,
Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh ja.

Das dauerte lang, jetzt. Ich möchte mich für die überraschende Pause in aller Form entschuldigen - zuerst wurde ich mal krank (ja, das gibt's) und dann brach die Arbeit über mich herein. Ich hoffe, die nächsten Kapitel etwas zügiger laden zu können!

Beste Grüße,
eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Zur Belohnung eurer Geduld :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen ;)

Viel Vergnügen damit, und wie immer - Kommentare wären super!

Beste Grüße,
Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben! Bitte entschuldigt die lange Wartezeit... momentan ist mal wieder viel los hier (was ja prinzipiell nicht schlecht ist)... deshalb kann es sein, dass die Kapitel ein wenig dauern. Seid aber versichert, dass ich sicherlich nicht abbreche – ich mach keine halben Sachen. Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen, bis zum nächsten Mal! Über Kommentare freue ich mich immer, auch über konstruktive Kritik.

Beste Grüße,

Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Aloha!

Wir sind YUAL, meine Lieben!!! Ich freu mich so - und danke euch so, so sehr! Auch alle neuen Leser, die über diese Gelegenheit auf meine Geschichte aufmerksam geworden sind, heiße ich hiermit herzlich willkommen! :)

Leider wird der Laderhythmus unregelmäßig bleiben, ich hab einfach viel zu tun - aber ich hoffe dennoch, euch jetzt in der spannenden Phase der Story nicht so lange schmoren lassen zu müssen.

Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen und würde mich wie immer wahnsinnig über Kommentare freuen!

Alles Liebe ;)
Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jaaa… lang ist's her. Ich muss gestehen, ich bin wohl genau die Sorte Autor, die ich selber als Leser am meisten verabscheue - eine Geschichte beginnen, brav schreiben, dann auf einmal abbrechen, dann und wann ein sehr sporadisches Update.

Nun, trotz der vielen Versprechungen fertig zu schreiben, die ich schon nicht gehalten habe, versuche ich jetzt wirklich, das hier mal zu beenden - und die kleinen Fehlerchen auszumerzen, die in den vorangegangenen Kapiteln zu finden sind.
Ich bin gespannt, ob das hier überhaupt noch jemand liest - der eine oder anderen Kommentar wäre sehr willkommen!

Alles Liebe,
eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo, verehrte Leserschaft :)

Damit ihr seht, dass ich es diesmal wirklich ernst meine mit dem Abschließen dieser Geschichte, poste ich brav das nächste Kapitel. Es ist wohl nicht ganz so spannend wie das letzte, aber stellt den Auftakt zum Grande Finale dar - freut euch also auf nächste Woche!

Ein ganz, ganz herzliches Dankeschön möchte ich auch für die Kommentare aussprechen - ich freu mich irre, dass nach so langer Zeit noch jemand diese Geschichte liest (sogar weiterliest, nach so langer Pause), und hoffe, ihr habt nicht umsonst gewartet. Meine Bosstheorie ist nun eine andere als die, die Gosho uns bringt (das kommt davon, wenn man seine Story jahrelang nicht updatet...), aber nichtsdestotrotz spannend, hoffe ich.

Alles Liebe,
bis nächste Woche!

Eure Leira :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das... war Runde eins. Wir sind noch nicht fertig XD

PS: Vielen Dank für die Kommentare! :) Keep them coming :) Gerade, weil diese Geschichte so lange schon "kocht", würde mich interessieren, wie diese finalen Kapitel nun ankommen...

Beste Grüße,
Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo, ihr Lieben -

hier also meine mittlerweile verjährte Bosstheorie; mittlerweile ist sie ja schon widerlegt, aber mir gefällt sie immer noch, also ließ ich es so. Ich hoffe, ihr findet die Geschichte trotzdem noch spannend ;)

Ich danke den beiden Kommentarschreibern vom letzten Kapitel sehr; allerdings möchte ich an der Stelle auch die anderen Leser (die's hoffentlich gibt ;) darauf hinweisen: tut euch keinen Zwang an! Lasst mir bitte gerne eure Meinung in verschriftlichter Form hier :) Ich freu mich drauf, zu hören, was ihr über die Geschichte denkt!

Ansonsten hoffe ich, ihr seid gut durch die 13000 Wörter gekommen XD

Beste Grüße,
Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo, liebe Leser!

Zunächst, vielen Dank für die Kommentare zum letzten Kapitel! Eure Meinung zu lesen ist toll und hilft mir wirklich sehr - also Danke an jeden, der sich ein paar Minuten Zeit dafür nimmt!

Nun - Damit ihr nicht ganz solange warten müsst... gibt's diese Woche ein Bonuskapitel!

Ich kann nachvollziehen, wenn das Kapitel etwas verwirrend zu lesen war; die Gedanken all der Leute unterzubringen, Shinichis Träume, daneben noch die Handlung, war nicht ganz leicht; daneben sollte das ganze auch recht dicht sein, schließlich passiert das alles innerhalb von ein paar Minuten. Ich hoffe, es hat euch gefallen.

Und lass euch mal bis Sonntag schmoren und brüten über die Frage, ob ich unseren Detektiven seinen persönlichen Reichenbachfall, anders als Holmes, endgültig hinuntergestoßen habe - oder nicht... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe lange überlegt, wie ich das Kapitel posten soll; es ist nicht besonders lang, aber letztendlich fand ich, an diese Szene darf sonst nichts anknüpfen. Daher gibt's die ganzen Szenarien um den Rest der Truppe, auch das Gespräch zwischen Vermouth und Jodie, im nächsten Kapitel; so lange müsst ihr euch gedulden. Ich versuch, die Reaktionen der anderen bis Sonntag fertig zu haben; im Wesentlichen steht das Kapitel, aber ich finde, es ist noch nicht ganz rund.

Ansonsten hoffe ich, dass ihr jetzt alle mal durchschnaufen könnt ;) in zwei bis drei Kapiteln ist dieses Teilchen dann vorüber ;)

Beste Grüße,
Über Kommentare würde ich mich wie immer außerordentlich freuen!!!

Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Uuuund - wir nähern uns dem Ende. Ich schätze, zwei Kapitelchen werden's noch. Das hier war... wohl vorhersehbar und verriet nicht viel Neues, allerdings fand ich's nötig, um auch diesen letzten Faden wieder aufzunehmen und Jodie ein wenig closure zu gewähren. Abgesehen davon müssen ja alle Personen wieder an die richtigen Orte geschickt werden...

Eine Anmerkung am Rande - war das letzte Kapitel irgendwie falsch? Ich wundere mich schon ein bisschen; gut, es war kurz... aber nur zwei Kommentare für das Kapitel, in dem das Drama endlich sein Ende findet und Holmes den Reichenbachfall wieder hochklettert...?
Also - vielen Dank an die zwei Kommentarschreiber :) und ich würde mich über eure Meinung im Generellen echt freuen ^^;

Sayonara, bis nächste Woche!
Eure Leira Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
YASSSSS!!! Endlich fertig. Kaum zu glauben.
Seit 2015 sitz ich an diesem Monster, und ehrlich – grad eben fehlen mir die Worte.
Danke an alle, die bis hierher durchgehalten haben. Ich hoffe, es hat sich gelohnt.
Ich kann momentan nicht sagen, ob ich noch einmal eine Fic anfange; der Manga hat diese Geschichte ja irgendwann überholt, die Identität des Bosses ist raus, und ich glaube, irgendwann gehen einem die guten Ideen für Ranichis aus XD Ich dachte aber darüber nach, mal meine Erstlingswerke zu überarbeiten. Vielleicht findet sich hier ja irgendwann dann mal ne Zweitversion von Junischnee oder so. Mal sehen. Falls es jemand überhaupt lesen will.

Ansonsten – gomen nasai für's Warten und arigatou für's Lesen, ihr Lieben!
Ich wünsch euch alles Gute, ich würd mich IRRE über Kommentare freuen, wie immer!
Beste Grüße,
eure Leira Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (533)
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Von:  Irischka25
2023-11-15T14:43:18+00:00 15.11.2023 15:43
Das war eins den besten Geschichte was ich hier gelesen habe. Total geil sag ich nur.

Mir hat nur das englische sehr gestört, da ich immer kopieren mußte um zu übersetzen, sehr mühselig.

Ansonsten total geil. Bitte mach weiter so😇
Von:  chococo
2023-08-06T21:11:45+00:00 06.08.2023 23:11
Ich habe die Geschichte verschlungen, sie hat mir sehr sehr gut gefallen. Ich bin froh das schon alles draußen war. Es war wirklich sehr spannend und ich bin sehr froh das es ein Happy End war. Habe ja schon nicht mehr dran geglaubt.
Die Atmosphäre mit dem Wechsel zwischen deutsch und englisch war auch toll.
Dein Schreibstil ist klasse!
Von:  Reshin
2020-12-27T15:19:42+00:00 27.12.2020 16:19
Es ist geschafft 💓💓
Kann mir gar nicht vorstellen, was das für eine Leistung war! Hut ab!
Bei diesem Kapitel hab ich wieder gemerkt, wie gut mir dein Schreibstil gefällt. So wunderbar flüssig zu lesen und nur gaanz ganz wenige Fehler, die man leicht überliest ;) und Klasse Ideen, so viel Kreativität! 'The Artist' war ein wunderbarer Fall, so schön und grausam... Respekt! Auch die Flashbacks und die Droge, es hat einfach alles super gepasst.

Auch das Ende ist ganz nach meinem Geschmack. Happy Shiny mit leichten Nachteil (da sie ja doch noch einiges zu verarbeiten haben) aber positiven Blick in die Zukunft.

Danke Dir für alles 🥰
Von:  Reshin
2020-12-26T13:53:09+00:00 26.12.2020 14:53
Uiuiui!

Ich mein, ich weiß, warum alles so passiert wies passiert - aber ein bisschen ärgert es mich schon! Normal ist Shinichi immer zwei Schritte voraus, und jetzt soll er zwei hinten nach sein? Das sein Supergenie unter Drogen nicht optimal funktioniert ist eh klar - aber ein bisschen hättest ihm schon lassen können. Das ist was, was mir an ihm so gefällt - er checkt immer alles und hat immer eine Lösung! Auch wenns manchmal echt knapp wird ;)

Das James Anokata ist find ich nen wahnsinnigen Plottwist, aber genial! Da wär niemand drauf gekommen ;) ich bin leider in der Serie nicht up to date - daher glaub ich auch alles ggg

Was ich richtig doof finde sind Akai, Jenna und Heiji, die Ran jn ihrem Zustand mit zum Oberboss rennen lassen und dann auch noch oben stehen bleiben zum Quatschen. Akai hat Burboun erkannt, das passt - aber seine Reaktion danach hätte anders sein müssen. Immerhin ist er vom FBI und ein Profi! Aber naja. Ich bin echt gespannt, wie sie das noch rumreisen wollen ;)
Von:  Reshin
2020-12-26T13:13:25+00:00 26.12.2020 14:13
Leider fehlt noch jemand... Will ich überhaupt wissen, wie es weiter geht..? Ich hoffe, sie finden McCoy 😱
Ich hab mir eingebildet, ich würde mich dran erinnern, dass Shinichi draufgekommen ist, von wem er den Kaffee ständig bekommen hat... Aber vll hab ichs beim zweiten Mal einfach nur überlesen :) bin gespannt!
Von:  Reshin
2020-12-01T22:25:54+00:00 01.12.2020 23:25
Arg... Ich find Meredith und Eddy so lieb. Sie haben das nicht verdient ;(
Von:  Reshin
2020-11-22T23:30:18+00:00 23.11.2020 00:30
Kennst du das, wenn du Nachts wach liegst und dein Kopf wirre Gedankensprünge macht? So einer hat mich gerade wieder hier her geführt. Ich habe deine Nachricht letztes Jahr bekommen, aber nicht geschafft, weiter zu lesen. Umso mehr hat es mich gefreut, nach meinem Geistesblitz (der in etwa so ging: Da war doch die eine Story.. schade, dass ich sie nicht weiterlesen.. Moment Mal!) zu sehen, dass die Geschichte abgeschlossen ist!! Ich erinnere mich gut daran, da sie ein ausgezeichnetes Werk ist! Nur der Part, in dem Ran Shinichi wieder sieht (oder umgekehrt) den muss ich nochmal lesen 🥰 dann werde ich zu Ende lesen. Ich freue mich schon sehr darauf!
Von:  Malinn
2020-11-18T11:47:27+00:00 18.11.2020 12:47
Liebe Leira,

erstmal es tut mir aufrichtig leid, dass ich erst jetzt einen Kommentar verfasse. Deine Fanfic ist absolut klasse. Sie ist einer meiner Liebsten Fanfics überhaupt, und Du bist meine Liebste Fanfic Autorin. Die Geschichte, die Charakterausarbeitung und alles sind so wahnsinnig gut geworden, dass ich nur meinen Hut vor Dir ziehen kann. :)
Ich finde das Ende einfach nur wundervoll und sehr gut gelungen. Aber jedes einzelne Kapitel sind wunderbar geworden, einfach nur perfekt. Ich lese gerne deine Fanfiction, egal welche Geschichte, ob jetzt Tagebücher sind oder Junischnee oder Amnesia. Ich hoffe, ich bete ;), dass ich auch weitere Geschichten von dir lesen darf, und wenn es nur ein paar Kapitel mehr zu Junischnee sind. Ich, und wahrscheinlich viele andere, würde liebend gerne eine zweite Version von Junischnee lesen, und wenn es nur ein paar Worte mehr sind.

Ich bin so froh, dass ich diese Geschichte lesen durfte, und ich werde sie immer wieder lesen. Ich fange jetzt wieder von vorne an ;)

Ich hoffe, dass wir bald wieder etwas von dir hören dürfen.

Mit den allerbesten Grüßen
Deine Malinn
Von: abgemeldet
2019-10-27T10:25:44+00:00 27.10.2019 11:25
Hallöchen Leira,
Ich war seit etwa 1,5 Jahren nicht mehr auf animexx und kommte trotzdem diese Fanfiction nicht vergessen. Immer öfter habe ich mich gefragt, wie sie Story wohl endet und als ich endlich die Zeit (und das Passwort) fand um mich wieder einzuloggen - ich war so aufgeregt! Die Fanfiction war fertig und ich musste nurnoch etwa 10 Kapitel lesen - was ich nun auch getan habe. Danke, für diese wundervolle Geschichte, ich weiß nicht ob ich lachen soll, weil das Ende so schön und fröhlich ist, oder weinen, weil es ein Ende ist. Danke jedenfalls - das kann ich nicht oft genug sagen. Danke für die Story, die mich wirklich sehr innerhalb der letzten 4 Jahre inspiriert hat. Das war die beste Fanfiction die ich bis jetzt gelesen habe, die Charaktere, wie sie sprechen, die Sprache generell und natürlich auch der Plot. Dankeschön und viel Erfolg dir in Zukunft (mit weiteren Fanfictions ;))
Grüße, evit
Von:  Black_Taipan
2019-08-09T15:36:54+00:00 09.08.2019 17:36
Post scriptum:

Ich habe gerade deine Einleitung zum Kapitel gesehen und musste so sehr lachen. XDDD Ich stelle mir so vor, wie man eine Liste von den ganzen Leuten führt, die einen Satz hatten oder "gehustet" haben und dann beim letzten Kapitel in Rage gerät, weil man nicht alle mehr sinnvoll reinkriegt.
Man sagt mir nach, ich hätte eine zu bildliche Fantasie, aber ich k ann nicht anders, das hat mich amüsiert. XDD
So Hintergrundinfos bei Fanfics finde ich häufig sehr interessant. Die Ideen dahinter. Warum tauchen gewisse Personen auf...

Ausserdem fiel mir auf, dass ich gar nichts zum Consulting Detective gesagt habe. Dabei war das das Beste!!!
Ich dachte mir irgendwann mal in der Mitte der Fanfic, dass da bei so vielen Bezügen zum Original Sherlock Holmes noch einige Dinge fehlen. Wir haben Watson, Mrs Hudson, Bakerstreet, Reichenbachfall. Shinich arbeitet aber bei Scotland Yard, da ist etwas falsch. Naja, vielleicht wird er dann so Consulting Detective.
Und dann kommt das im letzten Kapitel rein, mit FBI und Meguré und ich fands toll.
Ausserdem ist Meguré einer meiner Lieblingscharaktere bei DC, von daher war ich zufrieden. XD

LG, Taipan


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