Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Kapitel 42: Null ---------------- Kapitel 42 – Null Eigentlich hätte er es wissen müssen, dachte er, als er sie warten sah – dafür aber eine gewisse andere Person durch Abwesenheit glänzte. Er hätte es wissen müssen. Er war stehen geblieben, als er sie erkannt hatte, wartend am Brückengeländer, ihre Jacke fest um ihre schmalen Schultern gezogen, weil sie im Nieselregen fröstelte. Und gerade, als er sich umdrehen wollte, und gehen, weil es einfach besser war, so, weil es keinen Sinn machte, mit ihnen beiden, hier, jetzt – drehte sie sich um, schaute ihn an. Shinichi schluckte. Game over. Zumindest das Gespräch würde er nun führen müssen. Und so ging er ihr entgegen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und fühlte, wie der Wind ihm durch die Haare strich, der wie immer über der Themse deutlicher zu spüren war als in der Stadt. „Hallo, Ran.“ Sie schaute ihn unsicher an. „Also bist du gekommen.“ Er sah, wie sie schluckte. „Weil ich dachte, ich würde hier jemand anderen treffen. Ran…“ Seine Stimme klang müde. „Auf wessen Mist ist das hier gewachsen? Doch nicht auf deinem?“ Sie schaute ihn verletzt an – und er seufzte schuldbewusst. „Entschuldige. Aber ich dachte eigentlich, wir wären durch. Nicht auf… die Art, die ich mir gewünscht hätte, dennoch dachte ich… wir wären uns einig.“ Ran bewegte sich unsicher. „Ich wollte nicht so… ich… Ich war enttäuscht. Und…“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Wir sollten nicht darüber reden.“ Ein trauriges Lächeln zeichnete sich auf ihre Lippen. „Du musst auch nicht reden. Es reicht, wenn du zuhörst. Für mein… Dafürhalten hast du schon genug gesagt.“ Damit zog sie einen Umschlag aus ihrer Handtasche, mit zitternden Fingern. Sie sah, wie er zusammenzuckte, als er das Schreiben erkannte. „Shinichi, warum hast du mir das nicht einfach gesagt? Warum…“ Sie schluckte. Dann hielt sie ihm eine Seite unter die Nase – und obwohl er sich hatte weigern wollen, den Text zu lesen, konnte er sich dem Bann seiner eigenen Schrift nicht entziehen. In seinen Ohren hallte seine Stimme wieder, als sie die Worte formulierte, die auf dem leicht angegilbten Papier zu lesen waren. Es muss hart sein für dich, nun zu erkennen, dass ich nicht der bin, den du so lange in mir sahst. Den Ritter in strahlender Rüstung, den Verfechter von Wahrheit und Gerechtigkeit. Ich bin ein Lügner. Ich weiß, ich hab dich bestimmt enttäuscht. Das… wollte ich nie. Ich wollte so gern das alles sein, was du ihn mir sahst. Wahrscheinlich bin ich nichts von dem. Wahrscheinlich weiß ich selbst nicht mehr, wer ich bin. Wahrscheinlich spielt es auch keine Rolle mehr, ob ich das weiß. Ich weiß nur… Dass ich nun hier und heute sitze und an nichts mehr denken kann außer an dich… weil es in meinem Leben sonst nichts mehr von Bedeutung gibt. Ich hoffe wirklich, du… verstehst, warum ich das alles getan habe… und jetzt tun muss. Und ich hoffe, irgendwann… kannst du mir vergeben. Es tut mir leid wie nichts zuvor mir in meinem Leben je leidgetan hat. Und mein wahrscheinlich größter Fehler in diesem Leben war der, dich nicht nach Hause zu bringen, an jenem Abend, im Tropical Land, als du weintest. Er merkte, wie seine Kehle schlagartig austrocknete, nahm ihr den Brief ab. Fest presste er seine Lippen aufeinander. „Ich wusste nicht, dass es den noch gibt… also hat ihn dir mein Vater gegeben, ja? Warum schleppte er den denn mit sich herum…“ Sie unterbrach ihn, in ihrer Stimme klang deutlich ihre Erregung mit. „Warum hast du mir das nie so gesagt?! Warum stößt du mich ständig weg, warum tust du mir weh – du… vor fünf Jahren…“ Er lächelte bitter. „Ganz Recht. Vor fünf Jahren. Du hättest ihn zerreißen sollen, Ran… was da drin steht… ist doch längst verjährt…“ Sie starrte ihn an, als hätte man ihr gerade eine Ohrfeige gegeben. „Damals hast du über deine Fehler reden können, und heute bist du zu stolz dazu, oder wie?“, zischte sie, warf ihm einen kurzen, scharfen Blick aus dem Augenwinkel zu. Shinichi ignorierte sie. „Vergiss es, Ran. Und überhaupt, was denkst du dir dabei, läufst hier allein herum, wo du doch weißt…“ Er schüttelte verärgert den Kopf. „Ich bring dich zurück. Aber zuerst…“ Shinichi hatte sich angeschickt, den Brief zu zerreißen, ihn bereits mit zwei Händen gepackt, als sie in ihm entriss. „Das ist meiner!“ Er seufzte resigniert, beobachtete sie. Sie ging zum Geländer, ließ sich dagegen sinken, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Enttäuschung wühlte in ihr mit beiden Händen. „Und ich will nicht zurück.“ „Dann behalt ihn. Es spielt wohl auch keine Rolle. Es ändert nichts.“ Shinichi seufzte. „Über die Tatsache, dass du zurück musst, diskutiere ich aber nicht mit dir…“ Er kaufte einem Straßenhändler, der die Gunst der Stunde nutzte, einen Regenschirm ab und stellte sich wortlos neben sie, spannte den Schirm auf und hielt ihn über sie. Er hörte sie schluchzen, leise, trotz der Lautstärke des Verkehrs, der sich vor seinen Augen die Straße hinunter wälzte. Dennoch sagte er nichts, berührte sie nicht, stand einfach nur da. Er wusste nicht, wie viel Zeit sie so verbracht hatten, als sie sich endlich umdrehte. „Dein Vater hat ihn mir heute Nachmittag gebracht. Ich… ich dachte immer, du wärst wortlos gegangen. Ohne eine Erklärung. Ich dachte, du wärst ein entsetzlicher Feigling. Und ich dir nichts wert.“ Shinichi schluckte. „Ich weiß. Das sagtest du.“ Sie schaute ihn eindringlich an. „Dabei stimmte einfach nichts von alledem. Außer, dass du ein Lügner bist, ein schlechter noch dazu. Warum… fängst du jetzt wieder an? Warum bist du nicht einmal ehrlich, warum bist du nicht… du? Warum machst du dir und mir das Leben so verdammt schwer?! Warum willst du mir schon wieder wehtun…? Verdammt, das bist doch nicht du! Das warst du nie und das bist du auch jetzt nicht, so…“ Sie starrte ihn an, ungläubig. Ihre Finger verkrampften. Er seufzte, drehte sich um, blickte auf die Themse. Dann schüttelte er den Kopf, kapitulierend. „Du hast ja Recht… du hast… Recht. Und es tut mir Leid, ich will dich… nicht verletzen. Wollte ich nie. Ehrlich.“ Er wandte sich zu ihr um, schaute sie ernst an. „Aber du musst mich auch verstehen. Sie waren noch da draußen, und hinter mir her. Sie… sind immer noch hier… das weißt du. Du weißt, dass es diese Angst ist, die mich… fernsteuert, momentan.“ Er blinzelte, schluckte, als er diese Erkenntnis aussprach. Ran wandte sich nicht um. „Verdammt, du weißt das! All das, was ich dir vorgestern um die Ohren gehauen habe resultiert aus dieser Furcht, dich nochmal zu verlieren. Diese Angst hatte ich damals auch, klar. Aber nicht in dem Maße, wie ich sie nach diesen zehn Tagen hatte. Wie ich sie jetzt habe. Weil ich…“ Sie schaute ihn an, sah kurz ein Zittern durch seinen Körper laufen. „… weil ich früher einfach nicht wusste, wie wenig ich tatsächlich ausrichten kann. Wie unfähig ich bin. Dass all meine Anstrengungen, auf dich aufzupassen, dich zu beschützen, nicht ausreichen, einfach nicht genug sind…!“ Dann sah er sie an, lächelte matt. „Du weißt, ich will dir… nicht wehtun. Ich… nichts weniger als das, aber ich bin… nicht ich selbst, momentan, so scheint es, du hast völlig Recht. Ich kann nichts mehr richtig machen, hab ich das Gefühl – nicht in der Arbeit und im Privatleben schon seit Jahren nicht mehr.“ Er lachte bitter. „Aber um meine Ehre zu retten, ich hätte nie… ich hätte niemals einfach so die Fliege gemacht, damals. Ich hätte gewartet, bis du aufgewacht wärst, und mich verabschiedet. Ich hätte nicht gewollt, dass du glaubst, du wärst mir nicht wichtig gewesen… oder dass ich dich einfach verlassen hätte…“ Sein Gesicht verzog sich. „Als ich hörte, von Heiji, dass du noch lebst, Ran…“ Er starrte sie an. Sie erschrak, als sie sah, wie dunkel seine Augen geworden waren. Und sie erinnerte sich an diesen Moment vor drei Tagen. An diesen Blick. Sehnsucht, Shinichi. Du sehntest dich… nach mir. „Dass du noch lebst…“ Seine Stimme brach. „All die Jahre hab ich mir nichts mehr gewünscht… dass du nicht wegen mir gestorben wärst… dass du noch lebst… Ich wusste, und ich weiß, dass ich es nicht verdiene, aber nichts hab ich mir… mehr gewünscht, als dass ich noch einmal, einmal nur noch, in deine Augen schauen kann, einmal noch deine Stimme hören, und einmal… nur einmal noch spüren, wie es sich angefühlt hat, dich im Arm zu halten und…“ Seine Stimme war rau geworden, heiser, und sie konnte sehen, wie er um Atem rang, als er langsam seine Fassung verlor. Er schluckte, wandte sich kurz ab, versuchte sich zu sammeln. Ran starrte ihn an, trat einen Schritt näher, merkte, wie sie zu zittern anfing. „Ich liebe dich. Ich… immer. Immer habe ich…“ Shinichi unterbrach sich, als ihm die Stimme versagte, schon wieder; räusperte sich, schluckte. „…mit allem, was ich hatte, dich geliebt. Auch in dem Wissen, dass du nicht mehr bist. Und ich hab es kaum ertragen, zu wissen, dass ich noch lebe…“ Er spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug, schnell, hart. So hart, dass es fast schon wehtat; und er fühlte, dass langsam all die Mauern bröckelten und brachen, die er so sorgsam errichtet hatte. Sie schaute ihn an, ihr Brustkorb bewegte sich ebenfalls schnell auf und ab. Der Regen hatte sie durchnässt, perlte von ihrer Haut, klebte ihr ihre Haare auf den Kopf und ihre Kleidung an ihren Körper. Sie sah dennoch wunderschön aus. „… und du tot bist, wegen mir, wegen meiner grenzenlosen Arroganz, meiner Dummheit, meiner… Lügen.“ Seine Stimme verlor sich im Regen. Sie stand so nah vor ihm, dass sie seinen Atem auf seinem Gesicht spürte. „Also, wenn du… mir einen Gefallen tun willst, dann lass mich dich jetzt einfach ins Hotel zurückbringen… bitte. Denn solange sie…“ Seine Stimme klang wie von weiter Ferne an ihr Ohr – sie sah ihn an, presste kurz ihre Lippen aufeinander. „Weißt du noch, damals… hier…“, begann sie leise, räusperte sich, und fuhr fort. „Hier hast du mir gesagt, dass du mich liebst. Zum ersten Mal.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Und ich stand nur da… und bin dann gegangen, weil ich… weil die Erkenntnis, dass meine Hoffnungen erfüllt sein sollten, viel zu groß war für mich.“ Langsam hob Ran den Kopf, sah in seine Augen und konnte es spüren, dieses gewaltige Gefühl, das sie nur mit ihm verband. Das sie verloren geglaubt hatte, als er sie verließ, und das sie dennoch nie verlassen hatte. Sie ertastete mit seinen Fingern seine Wangen, zog seinen Kopf langsam näher, bis sie seine Stirn mit ihrer berührte. Ließ ihre Hände wieder sinken, bis sie auf seiner Brust zum Liegen kamen, schmiegte sich an ihn. Shinichi schluckte schwer, seufzte leise. Spürte ihren Atem auf seiner Haut, fühlte ihre Wärme, ihren Körper an seinem, schloss die Augen. „Ich weiß.“ Sie spürte, wie er schluckte. „Ich habe diesen Ort gemieden, so gut es ging, in den letzten fünf Jahren. Wie hätte ich das vergessen können…“ Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Wer kann schon das Herz des Mädchens entschlüsseln, das er liebt…“ Shinichi atmete aus, langsam, schaute sie an – Ran spürte den warmen Lufthauch auf ihrer Haut, blickte ihm ebenfalls in die Augen. „Und du ahnst nicht, wie oft ich es bereut hab.“ Sie zuckte zurück, blinzelte ihn verständnislos an. Sah, wie ein schemenhaftes Lächeln über seine Lippen huschte, sah die Traurigkeit in seinen Augen. „Ab da an gings bergab, fürchte ich.“ Seine Stimme war rau geworden. „Ich weiß noch genau, was ich gesagt habe - große Worte über die Null als Anfang von allem. Mit Worten kann ich gut umgehen, als Sohn eines Schriftstellers…“ Er lächelte matt. „Nur… habe ich in den letzten Jahren gefühlt, was Null eigentlich heißt. Nichts, Ran. Nichts… und ich habe mir das Gefühl selbst eingebrockt… durch meinen ersten Schritt hab ich mir alles genommen, und dir auch. Und seither fragte ich mich, ob es das wert war… ich meine, ich hab dich das schon mal gefragt, und diese Frage hat sich nicht geändert - hat es uns beiden etwas gebracht? Diese Worte hier auf der Brücke, diese anderthalb Minuten in dieser Gasse… wir beide fühlen es, wir beide wollen es… das, was man Liebe nennt, und Glück, und Nähe, wir wollen die eins, die zwei, die drei… einfach alles, was da folgt, nach der Null - aber alles, was wir bekommen ist Schmerz, Verlust, Angst.“ Er schloss die Augen. „Alles, was uns bleibt, ist nichts. Ein großes, schwarzes Loch, das einen auffrisst, langsam, aber beharrlich, von innen heraus, mit kleinen, sehr schmerzhaften Bissen. Kaut, ausspuckt, liegenlässt.“ Ran starrte ihn an, schüttelte den Kopf. „Nein, das stimmt nicht!“ Sie packte ihn am Kragen. „Das ist nicht wahr!“ Er schüttelte langsam den Kopf, schaute sie traurig an. „Es tut mir ehrlich Leid, was ich dir vorgestern alles an den Kopf geworfen habe… das war nicht fair von mir und unüberlegt. Ich war frustriert wegen noch ganz anderen Dingen und habs an dir ausgelassen, das… war nicht richtig, aber es ändert nichts an meiner Meinung, Ran. An meiner Entscheidung… Ich meine, sag mir, was hat es dir gegeben, Ran?! Welche guten Dinge hat dir das Wissen, dass ich dich liebe, gebracht?“ Sie hörte die Bitterkeit in seiner Stimme, sah sein Hadern mit dem Schicksal in seinen Augen. „Verdammt, es sollte doch so einfach sein! Es sollte schön sein! Aber was – was nützt es uns? Ich… ich habs dir vor ein paar Tagen gesagt. Wir hätten es lassen sollen.“ Er schloss die Augen, atmete tief durch, spürte, wie ihn langsam alles überrannte – der Frust, die Angst, die Verzweiflung und dieses unermessliche Verlangen, der schier übermenschliche Wunsch nach ihr. Sie zerbiss sich die Lippe, sah, wie sein Kehlkopf kurz auf- und abhüpfte, als er schluckte. Sah das bittere Lächeln auf seinen Lippen erblühen, als sie ihm die Antwort schuldig blieb. Er schüttelte den Kopf, sachte. „Du…du erinnerst dich, was fast passiert wäre, als wir dort standen, allein? Wir…“ Ran schluckte – dann lächelte sie sanft. „Wir hätten…“ Shinichi merkte, wie im heiß wurde. „Ja… wir… hätten.“ Er lächelte kurz, wurde dann wieder ernst. „Aber was passierte stattdessen? Du… bekamst deinen ersten Kuss. Aber nicht von mir, sondern von ihm. Verdammt, ist das denn fair? Dieser Moment von Nähe und Vertrautheit… diese Geste zwischen zwei Menschen, die sich lieben, sie hätte uns gehören sollen – stattdessen wurde sie dir gestohlen, ad absurdum geführt, und auch das ist meine Schuld. Statt trauter Zweisamkeit lagst du Monate im Koma und ich vergrab mich hier in Arbeit, weil ich mit dem Gedanken kaum leben kann…“ Sie hörte, wie er Luft holte. „…dir mit den Worten „Ich liebe dich“ fast den Tod gebracht zu haben. Würdest du mich nicht lieben, hättest du das alles nicht ertragen müssen, dann wärst du mir nicht nachgelaufen, dann würdest du es heute nicht tun, also, bitte, bitte, Ran – lass mich allein. Gib auf. Es… es soll einfach nicht sein. Für uns hält das nichts Gutes bereit.“ Ran sah ihn an, schüttelte den Kopf. Zuerst langsam, dann immer bestimmter. „Nein, das stimmt nicht! Du weißt… du weißt, was du bist für mich. Du weißt, wie sehr du… mein Leben bereichert hast, du warst… die Konstante in meiner Kindheit, du hast mir geholfen, mir zugehört, mich nie im Stich gelassen, selbst als du Conan warst… und auch wenn ich dir nicht gesagt habe, was ich für dich empfinde, wenn ich dir damals die Antwort in London schuldig geblieben bin, du machst dir keine Vorstellung, was dieses Gefühl, geliebt zu werden, in mir ausgelöst hat, Shinichi…“ Rans Stimme war laut geworden, klang verzweifelt. „Von dir geliebt zu werden, Shinichi…“ Shinichi starrte sie an, verzweifelt fast, schüttelte den Kopf. „Es geht nicht. Ich… bring dich jetzt zurück.“ Er wollte sich umwenden, als ein kurzer, scharfer Zug ihn zurückhielt. Rans Hand war nach vorne geschnellt, hatte seinen Arm kurz zu fassen gekriegt; sie krallte ihre Finger um das Armband seiner Uhr, als sie abglitten. Er spürte nur den Ruck, als sein Arm nach hinten gezogen wurde, ein scharfes Ziehen am Handgelenk - dann gab das ohnehin durch häufiges Tragen malträtierte Lederarmband nach und riss. Ran stand da, schaute ihn erschrocken an, als er sich umwandte, die Uhr in ihren zitternden Fingern bemerkte - und plötzlich wurde ihm siedendheiß. Unwillkürlich zerrte er seinen Ärmel über sein Handgelenk, eine Aktion, die Ran, die ihn immer noch atemlos anstarrte, eher aufmerksam machte, als dass er ihr etwas verbergen konnte. Die feine Narbe am Handgelenk, knapp über den Handwurzelknochen. Die Stelle, die er seit Jahren mit der immer gleichen Uhr Tag und Nacht verdeckte. Ran trat näher, ihre Augen fixierten ihn, hielten ihn an Ort und Stelle, völlig regungslos. Er hörte nichts weiter als das Rauschen seines eigenen Bluts in seinen Ohren und wusste, dass ein weiteres, sorgsam gehütetes Geheimnis nun gleich keines mehr sein würde. Er fühlte, wie er schwitzte, heiß, und dann gleich kalt, weil der Wind und der Regen ihr Übriges taten. Er rührte sich nicht, als sie seine Hand griff, den Ärmel zurückschob. Fühlte ihre eiskalten Finger, die langsam über diese Stelle strichen, als hätte sie Angst, sich daran zu verbrennen. Shinichi schluckte. Er war sich fast sicher, dass sie wusste, woher eine solche Narbe stammte - sie war oft genug mit ihm oder ihrem Vater mit Menschen in Kontakt gekommen, die ein ähnliches Problem gehabt hatten - und daran zugrunde gegangen waren. Rans zuvor noch beschleunigter Atem indessen war völlig zum Erliegen gekommen. Ihre Augen starrten auf den hellen Punkt, der von zahlreichen Stichen an immer der gleichen Stelle entstanden war. Dann hob sich ihr Blick, suchte sein Gesicht, seine Augen, suchte nach einer Erklärung für das, was sie sah - und fand nur unbändige Müdigkeit und Kapitulation in seinem Blick. Dann schloss er seine Lider kurz, entzog ihr seine Hand und nahm ihr seine Uhr aus den klammen Fingern, schob sie in seine Jackentasche, ehe er sprach. „Es… ist seltsam.“ Seine Stimme war leise, klang rau und sehr wackelig. „Zum ersten Mal seit langem… gibt es nun kein Geheimnis mehr, aber ein… wirklich gutes Gefühl ist das nicht.“ „Shinichi, was…“ Ran schluckte. „Du weißt es doch. Sag mir nicht, dass du… nicht weißt, wovon…“ Sie hörte seine raue Stimme wie von weiter Ferne an ihr Ohr dringen. Sie starrte ihn immer noch an, ertrug die Wahrheit kaum, die ihr ins Gesicht lachte. „Das glaub ich nicht…“, wisperte sie. „Du… du würdest doch nie…“ Drogen… Das Wort echote in ihrem Kopf, hämmerte sich in ihr Denken. „Scheinbar doch.“, klang seine Stimme leise, emotionslos. Sie schaute ihn an, meinte einerseits, ihre Gedanken müssten sich überschlagen, und gleichzeitig schien in ihr alles einfach nur stillzustehen. Das war einfach nicht wahr. „Und was denkst du nun?" Er sprach es erstaunlich ruhig aus. Dann trat er einen Schritt nach hinten, bis er die Brüstung des Brückengeländers unter seinen Fingern spürte, lehnte sich haltsuchend dagegen. Ran verkürzte den Abstand zwischen Ihnen wieder, biss sich auf die Lippen. Ihr war die plötzliche Kapitulation nicht entgangen, und sie beunruhigte sie zutiefst. Ran kaute auf ihren Lippen. „Du… warst süchtig?“ „Es bringt wohl nichts, versuchen zu wollen, dir was vorzumachen..." Ein müdes Lächeln glitt über seine Lippen, als er ihr in die Augen sah. „Abgesehen davon will ich dich nicht anlügen. Nicht schon wieder. Ich bins... einfach leid." Shinichi seufzte tief. „Also muss ich es wohl zugeben, ich war... süchtig. Allerdings nicht so, wie du wohl gerade vermutest. Oder nicht vermuten willst, vielmehr…" Ran starrte ihn vom Donner gerührt an, glaubte, der Boden unter ihren Füßen bräche weg. „Wonach?“ Sie fragte sich, woher sie immer noch die Stimme nahm, um diese Frage zu stellen. Er sah sie an, sah den Schock und ihr Zittern, zog sie neben sich ans Geländer, seufzte leise. „Damals, in der Gasse. Als ich schwitzte und zusammenbrach, Ran… es war nicht nur, dass Gin dich in seiner Gewalt hatte, was mich am Handeln hinderte. Ich… konnte nicht.“ Sie merkte, wie er zusehends ins Wanken geriet – dennoch räusperte er sich, um ihr eine Antwort zu geben. „Ich stand unter Entzugserscheinungen eines Halluzinogens. Man hatte mich, während der Tage in der Gewalt der Organisation, abhängig von einer Droge gemacht. Um… Antworten zu bekommen, auf ihre Fragen.“ Ran sog scharf die Luft ein, bohrte ihre Finger in die Brüstung, um nicht umzufallen, stierte unverwandt auf den Boden. Er wagte nicht, sie anzufassen oder zu stützen, sie irgendwie zu beruhigen – er wollte sie lieber für sich lassen. „Die Wirkung… waren Wahnvorstellungen. Ich denke nicht, dass ich das ausführen muss. Fakt war… ja. Ich war ziemlich schnell ziemlich abhängig von dem Zeug. Zu dem Zeitpunkt, und noch lange hinterher.“ Mit zitternden Fingern strich er sich über die Augen. „Und dann… wie bist du… losgekommen?“ Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum zu verstehen war. Er hingegen blieb völlig ruhig. „Mit einer Diamorphin-Substitutionstherapie.“ Rans Augen weiteten sich. „D-das ist…“ "Eine Droge, eigentlich, ja. Fakt ist leider, dass das HLZG mir nicht einfach nur Wahnvorstellungen beschert hat, es hatte auch beachtliche physische Entzugserscheinungen. Nach den ersten Tagen des kalten Entzugs haben meine Eltern beschlossen, sich das nicht mehr länger anzusehen und kontaktierten einen befreundeten Arzt meines Vaters in den USA." Er rieb sich übers Handgelenk, als würde es brennen, kratzte unwillkürlich daran, merkte dann, was er tat und vergrub seine Hände in seinen Jackentaschen, deren deutliche Ausbeulung zeigte, dass er sie zu Fäusten ballte. Als er weitersprach, starrte er stur in den Boden, wo ihm eine immer größer werdende Pfütze sein eigenes Spiegelbild zeigte. „Ich war dagegen, mir waren die Konsequenzen völlig egal. Ich wollte mich nicht von einer neuen Droge abhängig machen, auch wenn es der blanke Horror war, was mit mir passierte, aber ich ertrug es, wartete darauf, dass mein Körper kapitulierte. Ich wollte die Stille, die Ruhe, die Dunkelheit, ich wollte das Vergessen, wollte diese Bilder raus aus meinem Kopf, die mir mein Unterbewusstsein immer wieder vorspielte, als mein ganzer Organismus nach dem nächsten Schuss schrie. Nun, an das eigentliche Mittel war nicht mehr heranzukommen, und deshalb... nunja." Er biss sich auf die Lippen, spürte, wie ein Regentropfen ihm den Hals hinunter in den Nacken rann. "Ich versuchte mich zu weigern und scheiterte kläglich. Entweder wollte ich es alleine schaffen oder draufgehen dabei, nichts anderes hatte ich in meinen Augen verdient. Und erst später gingen mir dann auch noch die Folgen dieser Therapie auf... wer so etwas durchmacht, dem haftet es sein Leben lang an. Ich habs in meiner Akte stehen, wäre wohl ohne eine Empfehlung des FBI nirgendwohin gekommen. Und genau deshalb bin ich suspendiert, momentan, mein Chef hat in meiner Schublade eine Fläschchen davon gefunden, ungeöffnet und ohne Fingerabdrücke, weswegen er mir nichts nachweisen kann, aber für ihn ist der Fall klar, er glaubt, ich wär überbelastet und würde von meinen alten Dämonen eingeholt, ich kann ihm sagen was ich will, genau deswegen glaubt er mir nicht -" Ran schaute ihn an, ihr Teint war bleich geworden, in ihren Augen standen Sorge und Entsetzen gleichermaßen. „Es ist, wie es immer war, zuerst glaubt man mir nicht, weil ich ein Kind war, nun glaubt man mir nicht, weil ich ein Junkie war,... das Drama meines Lebens." Er lächelte schief, schüttelte etwas hilflos den Kopf, seufzte tief, bemerkte Rans Blick. „Ach, lassen wir das." Müde rieb er sich über die Augen. „Aber ich hoffe, du verstehst jetzt wenigstens, warum... warum das einfach nichts wird. Mein Leben ist ein Trümmerhaufen, und ich will nicht, dass deins mit einstürzt." Traurig blickte er sich an. „Und genau das ist es, was ich sehe, wenn ich dich anschaue, Ran. Dein Kummer, dein Leid, deinen Schmerz, jetzt, wo du weißt, was ich durchgemacht habe. Du leidest, weil du liebst – und immer bin ich die Ursache. Es hat einfach keinen Sinn. Ich will das nicht. Ich wollte dich glücklich sehen, um jeden Preis, stattdessen hab ich nicht nur mein Leben ruiniert, sondern deins gleich mit. Das… kann ich nie wieder gut machen.“ Kühl fühlte sich der Griff des Regenschirms an, als er ihn fester packte, sie am Handgelenk griff, um sie mit sich zu ziehen, zurück ins Hotel, wo ihr Vater wartete. Ran hingegen hielt sich am Geländer fest. „NEIN!“ Sie schrie ihn an, Tränen der Wut perlten aus ihren Augen. Shinichi ließ sie los, erstaunt. Ihre Brust hob und senkte sich rasch, in ihre Wangen, ihre Stirn war das Blut geschossen. Wie die Passanten sich nach ihr umwandten, bekam sie gar nicht mit. Es war ihr einfach egal – sie hatte nur Augen für ihn, der sie mit wachsender Verwirrung anschaute. „Du irrst dich! Verdammt, du irrst dich!“ Sie schluckte, griff dann ihrerseits nach seiner Hand, zog ihn zurück, zu sich. „Und ich beweise es dir.“ Entschlossenheit klang aus ihrer Stimme, Kampfeswille lag in ihren Zügen. „Ich will es wieder gut machen… und ich… ich zeig dir, wie du es wieder gut machen kannst.“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Nein, Ran, hör zu. Das ist doch…“ Er schwieg, als er das bittere Lächeln auf ihren Lippen wahrnahm. „Du… hast Recht, leider. Meinen ersten Kuss hat Gin mir gegeben. Und ich finde, bevor du sagst, dass es wirklich keinen Sinn macht, dass es nichts Gutes tut, Shinichi, solltest du versuchen, das wieder gerade zu biegen. Du willst… wiedergutmachen? Dann fang damit an. Diese eine, kleine Sache. Wenn das nichts bringt, dann… lass ich dich gehen.“ Sie ließ seine Hände los, stellte sich so dicht vor ihn, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren musste. „Und wage nicht, mich stehen zu lassen. Du bist mir was schuldig, wenn du schon so gerne… von Schuld sprichst.“ Shinichi starrte sie verblüfft an, schüttelte den Kopf, langsam. „Du spinnst doch, Ran. Das geht doch nicht einfach so, das…“ Er brach ab, als er ihre Hand spürte, die langsam seine Brust entlang nach oben wanderte, seinen Hals entlang, um auf seiner Wange liegen zu bleiben, wo sie ihm fast magisch die Röte ins Gesicht zauberte. Er sah in ihre Augen, die ihn fesselten, erwartungsvoll ansahen, so ungeheuer voller Leben – und ihm blieb schier die Luft weg. Es fühlte sich an, als würde irgendetwas in ihm zerbrechen, als er langsam aufgab, sich zu wehren. Sein Verstand sagte ihm immer noch, dass es keine gute Idee war; sein Gefühl jedoch wollte sich langsam nichts mehr sagen lassen. Der Regenschirm glitt aus seinen Händen, als er die Hände hob, ihr übers Haar, über die Wangen streichelte. Ran hob den Kopf, die Augen geschlossen, genoss es. Sanft berührte er mit seinen Lippen ihre Stirn, fühlte, wie wohliges Prickeln seinen Rücken hinabrann. Er nahm ihren Kopf in beide Hände, spürte, wie ihre Haare durch seine Fingern glitten, küsste ihr einen Regentropfen von der Wange. Ran schmiegte sich an ihn, sah ihn an; ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte ihn an, vergrub ihre Finger in seinem Nacken, schloss die Augen und strich sanft mit ihrer Nase gegen seine, atmete langsam aus. Das Gefühl, als er sie küsste, war unbeschreiblich. Ein leises Seufzen entwich ihr, als er sie an sich presste, einen Arm um ihre Taille legte. Sie griff nach den Fingern seiner anderen Hand, hielt sie fest und drückte sich gegen ihn, haltsuchend. Sehnsucht wuchs in ihr, und mit ihr der Wunsch, ihn nie wieder gehen zu lassen. Dieses Gefühl des Geliebtwerdens tat einfach viel zu gut. In Shinichis Kopf existierte nichts mehr, nichts außer diesem irren Glücksgefühl, sie so dicht an sich zu spüren. Niemals hätte er gedacht, dass er dieses Gefühls noch einmal fähig sein oder habhaft werden könnte, und er schlug alle Warnungen seines Unterbewusstseins in den Wind, um es zu spüren, mit jeder Faser seines Körpers. Er spürte Ran, dicht bei sich, lebendig, und das war alles, was zählte, in diesem Moment. Schließlich löste er sich doch von ihr, atemlos. Ungläubig starrte er sie an; sie lachte leise, als sie die Überraschung in seinen Augen sah. Schwer atmend ließ er seinen Kopf in den Nacken sinken, hielt sie immer noch fest, starrte in die Regenwolken, schnappte nach Luft. „Und?“, meinte er dann fragend, hörte überrascht, dass seine Stimme leicht heiser klang, räusperte sich. Ran hingegen lächelte ihn kokett an. „Mhm. Ich weiß nicht, was ist mit dir? Schon genug Beweis, um eine gültige Schlussfolgerung darüber zu fällen, Sherlock…?“ Er schaute sie an, schüttelte den Kopf, bemerkte fast erstaunt, wie sich seine Mundwinkel zu einem leichten Grinsen verzogen. Und er fragte sich, wie es hatte passieren können, dass sie seine Bedenken, all seine Warnungen, so leicht hatte über Bord werfen können, durch ihre pure Anwesenheit. Sie schmiegte sich an ihn, sie verstand ihn, passte zu ihm wie der richtige Schlüssel ins passende Schloss. Sie vertrieb die Dunkelheit, jeden trüben Gedanken, die Kälte – füllte sein Leben, sein Denken, sein ganzes Sein aus mit diesem kaum zu benennenden, wunderbaren Gefühl. Sie lächelte, strich über sein Handgelenk, zart. „Ich für meinen Teil denke, dass ein zweiter Versuch nicht schaden kann, was meinst du…?“, hauchte sie. Und als er sich zu ihr beugte, um ihrer Bitte nachzukommen, fragte er sich, wie er tatsächlich auf all das hatte verzichten wollen. Als es immer heftiger zu regnen begonnen hatte und sie beide bis auf die Knochen durchnässt waren, hatten sie sich doch entschlossen, den Ort zu wechseln. Ohne noch einmal in ihr Hotel zurückzugehen hatten sie Shinichis Wagen geholt und waren zu ihm nach Hause gefahren. Und dort standen sie nun – mitten im Wohnzimmer und alles, was man hörte, war das leise Tropfen des Wassers, dass aus ihren Klamotten auf das Parkett tröpfelte. Shinichi hatte unentschlossen die Tür hinter sich zugemacht, überlegte, ob er Handtücher holen sollte – Ran allerdings nahm ihm die Entscheidung ab. Sie umfasste seinen Kopf mit beiden Händen, atmete langsam aus, drückte sich an ihn, schien den Kontakt nicht abreißen lassen zu wollen, ganz so, als hätte sie Angst, ihn wieder zu verlieren. Sie schloss die Augen, spürte, wie er ihre Handgelenke mit seinen Händen umfasste, fest, zuerst – dann ließ er sie sanft ihre Unterarme entlang gleiten, bis zum Ellenbogen, und von da an synchron ihre Oberarme wieder hinauf, fühlte den zarten Stoff ihres Kleids unter seinen Fingern, das an ihrem Körper klebte, ihre Haare auf seiner Haut, als er bei ihren Schultern angekommen war – ließ sie weiterwandern zu ihren Wangen, strich mit seinen Daumen über ihr Gesicht, und merkte, wie ihm buchstäblich die Luft wegblieb, als ihm jetzt erst, nach so langer Zeit, klar wurde, was all das bedeutete. Und konnte nicht genug davon bekommen, wollte jeden ihrer Atemzüge unter seinen Fingern spüren, die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte, all diese beruhigenden Beweise für diese eine wunderbare Wahrheit. Ran lebte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)