Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Kapitel 33 – Ersatzstoff ------------------------ Kapitel 33 – Ersatzstoff Shinichi hingegen dampfte den Gang entlang zu seinem Büro, schäumte vor Wut fast über. Nach dem anfänglichen Schock war Ärger in ihm aufgewallt, Ärger darüber, dass man ihn wieder behandelte wie ein kleines Kind. Dass man ihm nicht glaubte, nicht ernst nahm, weil in seiner Akte stand, dass man ihn behandelt hatte, gegen eine Sucht, die er nicht freiwillig auf sich genommen hatte – genauso wie er deren Behandlung nicht freiwillig ertragen hatte. Dass man nie auf ihn hörte, nie respektierte, wenn er um etwas bat. Wenn er bat, ihm kein Diamorphin zu geben. Ihm zu glauben, dass sie den falschen Täter hatten. Es ist immer das Gleiche. Ich werde diesen kleinen Fratz wohl niemals los… Egal ob mit sieben, siebzehn oder fünfundzwanzig, man findet immer einen Grund, mir nicht zu glauben, nicht auf mich zu hören, nicht das zu tun, was ich für richtig halte. Er stieg in den Aufzug, lehnte sich gegen die Rückwand, seufzte tief; dann zückte er sein Handy, wählte Jodies Nummer, um sie über die neueste Wendung zu informieren; lieber erledigte er das gleich, als dass er es ihr und Akai vor aller Augen und Ohren erzählen musste. Shinichi hörte sehr wohl die Sorge in ihrer Stimme, und er war sich auch sicher, dass sie lieber mit ihm und jetzt gleich unter vier Augen geredet hätte, aber dazu ließ er sich nicht breitschlagen. Er hatte zuerst etwas anderes zu erledigen. Oben im Büro stand wohl bereits sein Vater und wartete auf ihn. Zusammen mit Ran und den anderen, sofern sie schon hingefunden hatten. Na prima. Denen darfst du dann auch gleich von deinem neuesten Erfolg erzählen… Im Büro unterdessen schauten sich Yusaku und Kogorô abwartend an. Schweigend waren sie hoch gelaufen, und schweigend standen sie nun hier. „Shinichi… sollte gleich fertig sein. Er war schon auf dem Weg zurück….“, begann Rans Vater nun langsam. „Ich wartete hier eigentlich auf Ran, sie wollte mit mir Essen gehen, heute.“ „Aha.“ Yusaku zeigte sich kurz angebunden – etwas, das Kogorô noch mehr verunsicherte. Er kannte Shinichis Vater – wer kannte ihn nicht? – und hatte mit ihm auch damals, als er noch bei der Polizei gearbeitet hatte, das eine oder andere Mal zu tun gehabt. Allerdings, allein in einem Raum hatte er sich mit ihm noch nie befunden. Er geriet ins Schwitzen. „Ja. Sie… waren bei dem Fund der Leiche in Madame Toussaud’s dabei, deshalb wollte man sie als Zeugin vernehmen. Sie hat mir eine SMS geschrieben.“ Er lächelte mühsam. Yusaku erwiderte nichts, schaute sich kurz in Shinichis Büro um. „Du… kannst stolz auf deinen Sohn sein.“, brachte Kogorô schließlich hervor, um das Thema zu wechseln und einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. Allerdings, mit der Retourkutsche, die ihn sogleich überrollte, hatte er nicht gerechnet. „Du musst es ja wissen, Kogorô. Du hast lange genug mit ihm gearbeitet.“ Yusaku hatte aus dem Fenster geschaut, die Reaktion seines Gegenübers in der Scheibe verfolgen können. Er hatte gesehen, wie Môri zusammengezuckt war, wie sein Blick zu Boden gehuscht war – der Schlag hatte definitiv gesessen. Der Schriftsteller wandte sich um, schaute ihn musternd an. Hitze war dem Mann ins Gesicht gestiegen, zeigte sich vor allem in einer leicht geröteten Stirnpartie – Kogorôs Blick war immer noch starr zu Boden gerichtet, seine Hände hatte er in seine Hosentaschen gerammt. „Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich stolz sein sollte, oder eher besorgt.“ Kogorô schaute ihn fragend an. „Wieso? Ich meine, bis auf diesen Fall jetzt hat er doch großartige Arbeit…“ „Ja, genau.“ Yusaku ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. „Arbeit. Keine persönlichen Gegenstände, keine Fotos, nichts. Würde das Schild da nicht stehen, wüsste kein Mensch, dass das Shinichis Büro ist.“, fuhr er mit leiser Stimme fort. Kogorô zog die Augenbrauen hoch. „Ja… und?“ „Seine Wohnung sieht genauso aus. Er richtet sich sein Leben so ein, als wäre es nicht seins. Er wagt nicht, sich irgendwo breitzumachen, Spuren zu hinterlassen, weil ihm in seinen Augen sein Leben gar nicht mehr gehört – weil er es in seinen Augen nicht haben darf. Weil er es nicht verdient – nicht mehr.“ Kogorô schluckte. „Traurig.“ Yusaku zog die Augenbrauen hoch. „Nein. Das ist furchteinflößend. Und das alles, weil er fünf Jahre glaubte, er wäre Schuld am Tod deiner Tochter. Er führt ein Leben auf Sparflamme, jederzeit bereit, zu verschwinden ohne Umstände zu machen, ohne Erinnerungen zu hinterlassen… so war er niemals vorher.“ Der Schriftsteller betrachtete den Mann, der ihm gegenüberstand – bemerkte erst jetzt, wie dieser langsam unruhig wurde. Sah, wie sein Blick durch den Raum huschte, als müsse er sich von der Wahrheit Yusakus Worte überzeugen, rieb sich die Hände, zupfte an seiner Krawatte. „Kann das… kann das nicht einfach Zufall sein? Ich meine, euer Sohn war doch schon immer ein ordentlicher…“ „Er hat uns nie gesagt, wer ihm damals diese Lüge aufgetischt hat. Wer ihn in die Hölle geschickt hat und dort brennen ließ, fünf Jahre lang.“ Klare blaue Augen hinter Brillengläsern fixierten Kogorôs. Der Polizist ahnte nun, von wem Shinichi diesen Blick hatte – und auch bei Yusaku verfehlte er seine Wirkung nicht. Kogorô fühlte sich seltsam entblößt, hoffte und betete, dass Shinichi endlich zurückkehrte und mit seinem Vater abzog, bevor- „Wir haben ihn gefragt. Obs ein Sanitäter war. Ein Arzt. Eine Schwester. Er hat immer andere Antworten gegeben, er konnte sich nicht merken, was er uns erzählt hatte, er stand unter Schock, schließlich. Aber nie sagte er uns die Wahrheit.“ Der Schriftsteller sah, wie eine Schweißperle Kogorôs Schläfe hinabrann. Die Schritte, die draußen näher kamen, hörten sie nicht. „Seltsamerweise dachten wir an jeden… nur nicht an dich oder Eri. Dabei wart ihr auch im Krankenhaus. Und habt ihn dort gesehen. Und bis gerade eben wollte ich dich einfach nur fragen, ob du mitbekommen hast, zufällig, mit wem er dort in Kontakt gekommen war, wer es gewesen sein könnte…“ Kogorô hielt inne damit, seinen Ehering um den Ringfinger zu drehen. „…aber nun, da ich dich so ansehe, Kogorô…“ Schlagartig war ihm alles Blut aus dem Gesicht gewichen. „Du warst das. Du selbst hast ihn angelogen.“ Seine Stimme war leise geworden, klang bedrohlich. „H-Häh?“ Kogorô schaute ihn an; verdutzt zuerst, versuchte den Unwissenden zu spielen, aber nicht lange. Yusaku schüttelte den Kopf; Wut flackerte in seinen Augen, als er näher trat. „Du hast ihm im Krankenhaus gesagt, dass Ran tot ist, gestorben wegen ihm.“ Kogorô merkte, wie Panik in ihm aufstieg – und dabei wusste er gar nicht, warum. Gut, sein Vater würde jetzt wütend sein, aber was sonst? Was hatte er zu befürchten…? Allerdings konnte er dieses Gefühl nicht abstellen. Und er ahnte, dass das auch einen anderen Ursprung hatte – Schuld. Denn er sah sehr wohl, was Yusaku meinte. Auch er hatte Shinichi gesehen. Und er konnte nicht leugnen, dass er sich seither schuldig fühlte. Dass sich in ihm die Ahnung langsam zur Gewissheit manifestierte, einen ganz und gar furchtbaren, unverzeihlichen Fehler gemacht zu haben, damals, vor fünf Jahren… „Wie? Warum sollte ich… wie kommst du darauf, das wird ein Arzt gewesen sein… oder ein Polizist, der es auch nicht besser wusste, vielleicht?“ Er kratzte sich unsicher am Hinterkopf, schaute zur Tür in der Hoffnung, sie möge sich endlich öffnen, um ihm Erlösung aus dieser Situation zu bringen. Sie tat es nicht. Yusaku lachte auf, bitter. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, Kogorô. Mir ist klar, dass mein Sohn es ihr nicht gesagt hat und nie gesagt hätte, weil er wohl denkt, es ist für Ran besser so, auf dich vertrauen zu können. Ich aber…“ Er schloss kurz die Augen, atmete durch. „… sehe die Wahrheit, wenn sie vor meiner Nase herumtanzt.“ Seine Stimme war leise geworden, alle Bitterkeit war aus ihr gewichen; eine leise Drohung schwang nun in ihr mit. „Hast du eigentlich auch nur den Hauch einer Ahnung, was du ihm damit angetan hast, Kogorô? Es ging ihm ohnehin schon schlecht genug, mit der Lüge, dass sie tot ist wegen ihm, hättest du ihm fast den Rest gegeben…“ Kogorô schluckte. „Ich hab mit ihm bereits geredet, Yusaku. Und bei allem Respekt, das ist eine Sache zwischen uns. Er sagt, er versteht das. Damit solltest du…“ „Nein, das siehst du falsch.“ Yusaku trat näher, seine Stimme war auf ein gefährliches Flüstern gesunken. „Das ist keinesfalls nur eine Sache zwischen ihm und dir. Du warst nicht dabei, als er fast den Verstand verloren hat, weil er nicht begreifen konnte, begreifen wollte, dass er sie nie mehr wieder sehen kann. Nie mehr wieder hören würde. Dass sie weg ist, auf immer, wegen ihm! Du hast ihn nicht gehört, als er darum gebettelt hat, sie nur noch einmal zu sehen, einmal! Als er schrie und weinte, als er… Du warst nicht dabei, als er den Sinn seines Lebens gesucht hat, nachdem man sie ihm genommen hatte. Du kannst nicht ermessen, wie groß der Schmerz und die Last dieser Schuld auf ihm wogen, als er gerade mal neunzehn war! Klar, jetzt nach fünf Jahren, versucht er es distanziert zu sehen, aber noch immer traut er sich nicht, hier einen Abdruck seiner selbst zu hinterlassen, weil er immer noch denkt, dass er dieses Leben nicht verdient, dass er besser tot wäre! Du hast ihn am Boden gesehen und liegen lassen, verdammt! Du weißt nicht, wie kurz er davor war, sich einfach aufzugeben und gehen zu lassen! Du. Warst. Nicht. Dabei!“ Langsam und schwer atmend wandte sich Yusaku zu Kogorô um. „Du hast keine Ahnung, wie viel leichter es ihm gefallen wäre, hätte er gewusst, dass sie nicht tot ist. Der Gedanke hat ihn fast zugrunde gerichtet. Er hat an seinen Grundfesten gerüttelt, die letzten fünf Jahre lang. Und ich frage mich, was er dir getan hat, dass du ihn so hasst…“ „Das reicht jetzt, Vater.“ Shinichi war in der Tür erschienen. Yusaku schaute ihn an – genauso wie Kogorô. „Es ist doch so!“ Wut flackerte in seiner Stimme. „Wegen ihm hast du geglaubt, dass Ran tot ist! Und jetzt sag nicht, es wäre nicht einfacher gewesen für dich…“ Der junge Superintendent wandte seinen Kopf ab. „Sicher. Dennoch gibt es dir nicht das Recht, die Schuld bei jemand anderem zu suchen.“ Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Nur der, der ohne Schuld, werfe den ersten Stein.“ Mit langen Schritten durchmaß er sein Büro, griff nach seinem Mantel, der über seinem Sessel hing. „Und welche Schuld habe ich mir in deinen Augen aufgeladen, die mir das Werfen des Steins verbietet?“, fragte Yusaku – und eine gewisse Schärfe in seiner Stimme war nicht zu überhören. Kogorô starrte die beiden Kudôs an – er hatte Shinichi schon mit seinem Vater diskutieren sehen, nicht aber streiten. Genau das schien sich jetzt aber anzubahnen. „Ich wurde suspendiert.“ Der Satz schlug ein wie eine Bombe. Kogorô war seltsamerweise der Erste, der seine Sprache zurückerlangte. „Suspendiert? DU?!“ Shinichi schenkte ihm einen säuerlichen Blick. „Nein. Sherlock Holmes. “ Er lächelte bitter. „Warum?“ Yusaku schaute ihn ernst an – ihm ging sofort auf, warum sein Sohn so dünnhäutig war. „Weil ich eine falsche Entscheidung getroffen habe.“ „Die, Brady nicht in U-Haft zu nehmen? Aber bitte, du hattest doch Gründe…“ „Die für meinen Vorgesetzten nicht nachvollziehbar, um nicht zu sagen, halluziniert sind.“ Yusaku wurde bleich. „Deswegen…“ „Genau.“ Shinichi rammte seine Hände in seine Hosentaschen. „Er denkt, ich halte der Belastung nicht stand, er glaubt, ich bilde mir das ein und bräuchte Urlaub. Und er verdächtigt mich, dass ich…“ Shinichi seufzte, blickte sich um. Irgendwer musste hier drin gewesen sein und ihm das Zeug untergejubelt haben. Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Denn wenn das stimmte, hieß das, dass auch unter seinen Kollegen einer von ihnen war. Unbemerkt von ihm, über Jahre, vielleicht. Der Gedanke fühlte sich ganz und gar nicht gut an. Die Organisation. „Shinichi!“ Yusaku griff ihn an der Schulter – anscheinend hatte er schon öfter versucht, ihn anzureden. Nun jedoch schien sein Sohn ihm endlich wieder seine Aufmerksamkeit zu schenken. „Wie kommt er dazu? Du – ich meine -…“ Seine Stimme war leise geworden. Offenbar wollte er nicht, dass Kogorô hörte, was er sagte. Shinichi schluckte. „Sie haben etwas gefunden. In… diesem… Büro.“ „Sag mal, wie kommt er dazu, in deinem Büro zu schnüffeln…“ „Akte. Probezeit, vielleicht. Mein Aussehen, meine Entscheidungen… was weiß ich. Es ist so, und lässt sich jetzt nicht mehr ändern.“ Yusaku stöhnte auf. „Und?“ „Nun.“ Shinichi lächelte bitter. „Da ich selber nichts deponiert hab, sind meine Fingerabdrücke nicht drauf, das ist das einzig Gute daran.“ „Wie – was gefunden? Suspendiert wegen Halluzinationen?“ Kogorô schaute die beiden Kudôs verständnislos an. Shinichi bewegte sich unsicher, ganz, als ob er sich in seiner Haut nicht wohlfühlte – ganz offensichtlich schien das wirklich der Fall zu sein, denn er kratzte sich, seit er gekommen war, unbewusst am linken Handgelenk unter dem Ziffernblatt seiner Uhr. Als er Kogorôs Blick bemerkte, hörte er schlagartig damit auf. Dann seufzte er, starrte an die Decke, als er sich sammelte. Es schien jetzt ohnehin zu spät für alles zu sein. Warum also nicht auch noch Kogorô. Einen Teil weiß er vielleicht ohnehin schon von Eri… „Während… meiner Woche in der Organisation verabreichte man mir eine… Droge. Ein Halluzinogen. Um… Antworten zu bekommen.“ Er schluckte hart. Yusaku sah ihn an, merkte, wie schwer es ihm fiel, darüber zu reden. „Das Zeug hatte all das, was eine gute Droge braucht.“ Sarkasmus klang in seiner Stimme. „Euphorische Höhenflüge, Wahnvorstellungen, die jeden Horrorfilm in den Schatten stellen und… kaum zu ertragende körperliche Symptome im Entzug.“ Er fuhr sich mit seiner Zunge kurz über die Lippen, wandte sich ab. „Da… es für dieses Zeug kein passendes Heilmittelchen gab und ich nach dem vierten Tag im kalten Entzug drauf und dran war zu krepieren, weil mein Herz den Marathon, auf den der Stoff mich schickte, einfach nicht mehr laufen wollte, entschlossen meine Eltern, eine Substitutionstherapie zu versuchen. Mit Diamorphin. Super Sache, das.“ Kogorô erbleichte. Shinichi wandte sich langsam um, schaute ihm in die Augen. „Ich wollte das nicht.“ „Du wärst…“ „…draufgegangen. Ich weiß. Hättest du mich gelassen, wär das alles jetzt viel einfacher.“ „Shinichi!“ Yusaku sah in scharf an. Shinichi reagierte gereizt. „Was?“ Er schluckte hart. „Ja, ich weiß. Ihr meintet es nur gut. Aber… du weißt, dass ich es hasste. Du weißt, dass ich es nur zugelassen habe, weil ihr mich weichgeklopft habt. Weil ihr das Argument gegen mich benutzt habt, das sie alle immer gegen mich benützen. Ihr wisst, dass die Organisation sie als Druckmittel gegen mich benutzt hat, mich mit ihr manipuliert hat, aber habt ihr einmal darüber nachgedacht, dass ihr genau das gleiche macht? Ihr seid nicht besser. Immer und immer wieder… Denkst du, Ran hätte das gewollt. Denkst du, sie hat sich für dich geopfert, damit du jetzt stirbst. Tu’s für sie. “ In seinen Augen glomm die Wut. „Und du! Das gleiche in Grün.“ Er wandte sich zu Kogorô. „Verschwinde, und lass dich nie wieder blicken! Ohne dich wär Ran noch am Leben…. Ehrlich. Du wusstest genau, was du sagen musstest, um mich für immer loszuwerden.“ Er lachte hohl – dann brach er ab. Ihm war, als hätte er von draußen ein Geräusch gehört, und lauschte – aber nun war nichts mehr zu hören. Unwillig schüttelte er den Kopf. „Um Himmels Willen, seid einmal ehrlich. Du wolltest, dass ich lebe, für euch. Für dich und Mama, für niemand sonst. Und ich kanns verstehen, ihr seid meine Eltern, ihr liebt mich, und ich weiß, ihr wolltet immer nur mein Bestes… dennoch… heiligt der Zweck wirklich jedes Mittel? Und du, Kogorô, der du mich aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen nicht leiden kannst. Warum auch immer. Ich habs aufgegeben, mich zu fragen, warum, spätestens seit ich weiß, dass du mich angelogen hast, im Krankenhaus, wegen Ran…“ Er atmete aus, langsam. Eine Hand schwebte über der Klinke, kurz, sank dann langsam wieder. Zitternde Finger schlossen sich zu einer Faust, bohrten scharfe Fingernägel in zartes Handballenfleisch. Die Person vor der Tür blinzelte durch den Spalt, hatte den Atem angehalten. Einzig und allein Shinichis leise Stimme dran an ihr Ohr. Sein Vater räusperte sich. „Shinichi.“ Der Schriftsteller schüttelte den Kopf, bedachte seinen Sohn mit einem ernsten Blick. „Nein, wirklich. Ich will jetzt nichts hören.“ Shinichs Stimme klang unendlich müde. Er biss sich auf die Lippen, atmete gepresst aus. Dann straffte er die Schultern, schaute seinem Vater entschlossen ins Gesicht. „Egal wie man es nimmt, was ich sage, was ich will interessiert hier niemanden, nicht einmal meinen Vorgesetzten. Ihr benutzt mich alle – auf eure Weise. Ihr kümmert euch um mich, wenn euer Gewissen euch dazu bringt. Und lasst mich fallen, sobald ihr mich nicht mehr braucht, oder ihr seht, dass es von allein schon wieder geht. Ich weiß, Mama rief ständig an, und ich weiß auch, ihr sorgt euch wirklich; aber tatet ihr's für mich oder um euer Gewissen jetzt zu beruhigen, weil ihr quasi meine ganze Jugend nicht da wart? Weil ihr meint, ihr hättet etwas verhindern müssen? Warum erst jetzt?" Yusaku schaute ihn an - er war bleich geworden, während seiner letzten Worte. Sein Sohn hingegen schluckte, schüttelte den Kopf. "Das Absurde ist... die einzige, die sich je wirklich um mich geschert hab, hab ich selbst fallen gelassen.“ Shinichis Stimme klang immer noch erstaunlich ruhig. Yusaku schluckte. Kogorô suchte nach einer Antwort – und blieb sie schuldig. Die beiden Männer drehten sich um, als sie das leise Schleifen der Tür vernahmen, als sie aufschwang. Shinichi hielt inne, wandte sich zusammen mit Kogorô um, um zu sehen, wer es war. Und während Yusaku einfach nur schluckte, wünschte Kogorô sich, der Boden möge sich unter ihm auftun. Im Türrahmen stand Ran. Zitternd, sich am Türknauf festhaltend, ihre Augen unverwandt auf Shinichi gerichtet. Ran starrte ihn an, ihr Teint war aschfahl geworden. Langsam wanderten ihre Augen zu Yusaku, dann zu ihrem Vater, ihr Gesicht sprach von Erkenntnis und Zweifel gleichermaßen. Er konnte das leichte Zittern, das sie schüttelte, mehr erahnen, als dass er es sah, und doch wusste er, dass sie sich die Frage sicherlich nicht zum ersten Mal gestellt hatte; bestimmt dachte sie seit sie wusste, warum er gegangen war, immer wieder darüber nach, wer ihm diese Lüge aufgetischt hatte. Nun wusste sie die Antwort, und es war offensichtlich, dass sie sie erschütterte. Sie wandte den Kopf, ihr Blick traf den seinen. „Ran, …“, fing Shinichi an – und brauchte dann doch kaum einen Blick, um zu erfassen, was hier gerade passiert war. Kogorô war bleich, lehnte immer noch an seinem Schreibtisch, wo er sich mit beiden Händen festklammerte, als würde er sonst umfallen. Sein Vater wich seinem Blick aus, die Hände tief in seinen Sakkotaschen vergraben. Ran allerdings… Ran sah ihn an, mit zitternden Lippen, ihre Augen groß und glasig und vor Entsetzen geweitet. Und zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit sah er ihn ihnen nichts als Schock, als er sich fragte, wie viel sie gehört hatte, draußen, vor der Tür. Wie lange stand sie da schon? Der junge Superintendent schluckte hart, merkte, wie schwer es ihm fiel. Stumm schüttelte er den Kopf, kniff die Lippen zu einem bitteren Lächeln zusammen, merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, als er ihren Blick auf sich spürte. Nun wanderten ihre Augen langsam zu ihrem Vater, Verständnislosigkeit spiegelte sich in ihren Zügen. „Paps, du hast… sag nicht, du hast… sag, dass das nicht stimmt…“ Ihre Stimme bröckelte. Langsam trat sie einen Schritt näher, unfähig, den Blick von ihrem Vater zu wenden, der seinerseits jedoch ihrem Blick nicht mehr standhielt und den Kopf abwandte, seine Zehenspitzen studierte. „Du hast ihm nicht gesagt, dass ich tot bin. Paps, das…“ Kogorô schluckte hart. Rans Blick wurde immer drängender; sie suchte den Augenkontakt zu ihrem Vater, und fand ihn auch. „Das hast du ihm… und mir nicht angetan, oder? Du…“ Ihre Stimme klang flehend. Ihr Vater sah sie an, Bedauern, echte Reue stand in seinem Blick. „Mausebein…“ Er schluckte, seufzte. „Du musst das verstehen, ich bin dein Vater, ich…“ Ran wich zurück, starrte ihn an, fassungslos. Sie fühlte sich, als hätte ihr gerade jemand mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Sie wandte sich um, suchte nach Shinichis Blick. Er sah sie nur an, unfähig zu irgendeiner Regung. Ihr Atem ging schnell und immer schneller, in ihre Wangen war das Blut geschossen, als ihr bewusst wurde, was man die letzten Jahre mit ihr veranstaltet hatte. Wer sie so angelogen hatte. Und ihre Verletztheit, ihre Unsicherheit wich einem anderen Gefühl. Zorn. Ihre Augen funkelten bedrohlich, wütend. „Du hast ihn angelogen und ihm gesagt, dass ich wegen ihm gestorben bin!“ Ihre Stimme war laut geworden. Unwillig zügelte sich, biss sich auf die Lippen. „Du hast zugelassen, dass er geht, mit dem Gedanken, meinen Tod verschuldet zu haben…? Bitte, sag, dass das nicht wahr ist..?! So sehr kannst du ihn doch nicht hassen…“ Ihre Stimme verebbte. Ihr Vater blickte zu Boden, rang sichtlich nach Worten. „Ran… Mausebein.“ Kogorô knetete seine Hände, schaute sie um Vergebung suchend an. „Du wärst fast gestorben, wegen ihm… ich wollte, dass er die Gelegenheit nicht noch einmal bekommt, dich mit in seine Schwierigkeiten… Ich… ich wollte nichts Böses, ja, ich habe nicht… an…“ Er schluckte, wandte den Kopf, schaffte es mit Mühe, Shinichi ins Gesicht zu sehen. „Ich habe nicht an dich gedacht. Du warst mir egal in diesem Moment. Ran war schwer verletzt, und du warst der Grund, ich war… wütend.“ Shinichi strich sich über die Stirn. „Ich weiß.“ Er versuchte, ruhig zu sein – Ran hingegen war das pure Gegenteil. Sie wandte sich um, schaute Shinichi an, der merklich blasser geworden war, sich auf die Lippe biss, aber immer noch schwieg. „Wann?“ „Ran, es ist doch…“, fing er an, leise. Sie schüttelte den Kopf, unterbrach ihn rüde. „Wann… Shinichi?“ „Als du im OP lagst.“ Shinichi schluckte hart. „Ich kam… gerade an, im Krankenhaus. Da sagte er mir, dass…“ Er sah sie an. Ran erstarrte, und auch Kogorô zuckte zusammen bei dem Blick in die Augen des jungen Mannes. „Dass du tot wärest.“ Seine Stimme versagte. Vor seinen Augen tauchte diese unwirkliche Szene wieder auf; das gleißende Licht des Krankenhausgangs, der Geruch nach Desinfektionsmittel und der Gestank des Blutes, das an seinen Händen trocknete und seine Finger zusammenklebte. Und dieser eine Satz, der ihn fast umgebracht hatte, ihn fast seinen Verstand gekostet hatte. Sie ist tot, Shinichi. Ran ist tot. Wegen dir. Er starrte auf seine Hände, fühlte fast, wie das Blut an ihnen klebte, rieb sie unwillkürlich. Yusaku schluckte hart. Ihm war diese Übersprunghandlung nicht entgangen. „Ich war ja dabei gewesen, als du aufgehört hattest, zu atmen. Und er sagte, dass man dir nicht mehr hatte helfen können. Dass ich verschwinden solle, und nie wieder unter seine Augen treten. Genau das…“ Er schluckte mühsam. „… hab ich gemacht. Ich hab seit fünf Jahren mit keinem von euch geredet. Wie du weißt… und auch nie erklärt, warum ich gegangen bin. Niemandem. Und meinen Eltern verboten, es zu tun.“ Shinichi warf seinem Vater einen kurzen Blick zu. Ran fröstelte, rieb sich die Oberarme. Draußen prasselte der Regen auf die Straßen Londons. Als sie ihren Vater ansah, sprachen Verständnislosigkeit und Enttäuschung aus ihren Augen. Shinichi seufzte leise, wandte sich seinem Vater zu. „Und verstehst du jetzt, warum ich es ihr nicht gesagt habe, keinem gesagt habe? Schau sie dir an. Geht’s dir jetzt besser damit? Ich wollte nicht, dass sie ihrem eigenen Vater misstraut, denn ich weiß, auch wenn ich ihm am Arsch vorbeiging, für seine Tochter würde er sterben. Und jetzt sieh’s. Dir. An!“ Seine Stimme klang scharf. Unwillkürlich brach er ab, drehte an seiner Armbanduhr. Yusaku bemerkte es, presste kurz seine Lippen zusammen. „Ran, vergiss es einfach. Ich... er hatte doch Recht. Ich weiß nicht, ob ich anders gehandelt hätte… ich kam mit mir selbst schon kaum klar, konnte die Schuld kaum ertragen, ich kann verstehen, dass dein Vater, der dich… seine Tochter… fast verloren hätte, kein Risiko mehr eingehen wollte.“ Er schluckte hart. „Denn seien wir ehrlich, es ist doch so. Man überlebt es nicht leicht, wenn einem ein Schwert bis zum Heft in den Körper gestoßen wird, und ihr Ziel war auch nicht, dich schwer zu verletzen, ihr Ziel war, dich in meinen Armen sterben zu lassen, also, egal wie man es nimmt, ich habe verdient, was diese Lüge-…“ „Wir reden hier von deinem Leben, Shinichi!“ Ran starrte ihn entsetzt an. „Na und?“ Die Gleichgültigkeit in seiner Stimme machte sie schaudern. Shinichis Blick wanderte kurz zum Gesicht seines Vaters, als er redete, glaubte, an der Kälte, die in ihm emporkroch, erfrieren zu müssen. Überdeutlich tauchten diese Tage vor seinen Augen auf; und vor allem die Nächte, die diesen Tagen gefolgt waren. „Ich war überheblich, arrogant, selbstbesessen, völlig geblendet von meinen Fähigkeiten, und hab mich hoffnungslos überschätzt, und damit dich und andere in Lebensgefahr gebracht.“ Unwillkürlich brach er ab. Seine Finger zitterten, Adrenalin pumpte durch seinen Körper. Und er sah sie wieder vor sich, fühlte sie fast in seinen Armen liegen, Ran… Ran, die starb. Er schluckte hart, schaute auf. „Ich hab wirklich… nichts Besseres verdient. Gerade auch nach gestern nicht… es ist, wie es ist. Wir tun einander einfach nichts Gutes. Deshalb habe ich gelogen, als du fragtest, wer mir das erzählt hat. Und ich…“ Ran blickte ihn an, ihre Lippen zitterten. Sie starrte in seine Augen, in dieses Gesicht, das sie so sehr liebte, immer noch. Und sah umso deutlicher die Veränderungen, die es gezeichnet hatten, seither. Und sie spürte die Wirkung seiner Worte, verheerend und zerstörend, noch ehe er sie ausgesprochen hatte. „… ich würds wieder tun.“ Kogorô ballte seine Hände zu Fäusten. Mit Mühe unterdrückte er ein Zittern, als er die Abscheu in den Augen seiner Tochter las. Und erkannte erst jetzt, was er ihr angetan hatte, all die Jahre, als er sie angelogen hatte. Ihrem Leiden zugesehen hatte, in der Hoffnung, es würde von alleine heilen. Ihr verschwiegen hatte, was wirklich passiert war, in jener Nacht, und ihn zu seinem Mittäter gemacht hatte, als er ihn mehr oder weniger zu dieser neuen Lüge gezwungen hatte. Und er sah den Blick, mit dem sie ihn nun bedachte. Ihn, den sie doch eigentlich über alles liebte. Ran. Sie sah ihn an, sekundenlang, sprachlos. Dann wandte sie sich um, ging, riss die Tür auf, und fing an zu laufen. Shinichi stand da, wie erfroren, blickte dann mit trockenem Mund auf die beiden Männer; dann durchschritt er das Zimmer, griff nach seinem Sakko und wandte sich zum Gehen. „Sie scheint von dieser Sache nichts mitbekommen zu haben, also bitte ich dich, einmal in deinem Leben, tu mir einen Gefallen und sag ihr davon nichts.“ Er schluckte hart, bedachte Kogorô mit einem eindringlichen Blick. Kogorô nickte nur, ernst, brachte keinen Ton heraus. „Ich geh ihr jetzt nach. Aber ihr müsst hier raus.“ Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Shinichis Lippen – hinter ihm erschien Heiji in der Tür, schaute ihn fragend an. „Ich hab Jenna gerade getroffen. Stimmt es, was sie sagte? Suspendiert? Warum zum Henker…?“ „Weil man glaubt, ich halluziniere. Eine Annahme, die man mit einem Absatz in meinem Lebenslauf unterstreicht.“ Er warf seinem Vater einen berechnenden Blick zu. Yusaku nickte knapp – er hatte verstanden, worauf Shinichi hinauswollte. „Hört zu, ihr geht jetzt, ich melde mich später. Ich versuche, Ran zu finden, was Besseres habe ich momentan ja ohnehin nicht zu tun.“ Er schluckte hart, warf den beiden Männern einen scharfen Blick zu. „Ihr schlagt euch jetzt nicht die Köpfe ein, ich warne euch. Dich auch.“, wandte er sich zu seinem Vater. Dann eilte er Ran hinterher. „Hör zu, es… es tut mir Leid…“ Kogorô schaute ihn schuldbewusst an. Yusaku schluckte, schüttelte den Kopf. „Sag das nicht mir, Kogorô.“ Damit ging er, ließ den Mann alleine zurück. Erst spät merkte er, dass Heiji ihm an den Fersen klebte – und so wurde er langsamer, ließ ihn aufholen. „Welcher Absatz?“ „Hm?“ Yusaku betrachtete den jungen Mann abschätzend. „Ich denke, er hat dir von dem Halluzinogen erzählt…?“ „Hat er auch, aber sowas taucht in keiner Akte auf. Das war ein Folterwerkzeug, sowas schreibt man nich‘ in einen Lebenslauf.“ Heiji stieg neben dem Mann in den Aufzug, schaute ihn prüfend an. „Es sei denn…“, fing er langsam an, seine Miene bitterernst. „Es sei denn.“, murmelte Yusaku leise. „Ich dachte nicht, dass es ihm einmal das Genick bricht… was Yukiko und ich entschieden haben.“ Er wischte sich über die Augen. „Also hat er dir nicht von der Therapie erzählt.“ Heiji schüttelte den Kopf, ließ sich matt gegen die Aufzugwand fallen, beobachtete die Türen beim Schließen. „Unfassbar. Nein, davon hatter nix erzählt, wahrscheinlich schämt der Idiot sich…“ „Es gibt nichts, wofür er sich schämen müsste. Er wäre gestorben, wahrscheinlich, hätten wir es nicht getan. Wir konnten es unmöglich so weitergehen lassen… nach zwei, drei Tagen kam er kaum mehr zu Bewusstsein. Wir hatten ihn mit in die USA genommen, vorher schon, damit ihn die Presse in Tokio nicht in die Finger kriegt, denn sein Zustand und die Tatsache, dass er sich versteckte, wäre augenscheinlich geworden; und seien wir ehrlich, sie wären über ihn hergefallen wie die Geier über ein Stück Aas. Zum Glück kannte ich dort einen befreundeten Arzt, den wir hinzuzogen.“ Er schluckte, ballte seine Fäuste, als die Erinnerung vor sein Auge trat, so lebendig, als wäre es erst gestern passiert. "Nein!" Yusaku hielt ihn fest, fragte sich, woher sein Sohn die Kraft nahm, sich so zu wehren, sich so dermaßen dagegen zu sträuben. Er wand sich unter seinem Griff, bäumte sich auf und schrie, riss sich los, stolperte zur Tür, wollte raus – es blieb beim Wollen. Er taumelte, als ihm die Beine versagten – Yusaku, der aufgestanden war, fing ihn auf, ging mit ihm in die Knie, nahm seinen Kopf in beide Hände. Shinichi konnte sich kauf aufrecht halten, sein Atem ging heiß und unregelmäßig, machte ihn Schaudern. Yukiko saß neben ihm auf dem Bett, in ihren Augen pures Entsetzen und unbändiger Schmerz. Sie ließ sich neben ihm zu Boden sinken, strich ihm über die Stirn, zart. "Shinichi... das ist nur zu seinem Besten, bitte, halt still, wir wollen dir nicht mehr weh tun als ohnehin schon. Bitte..." "NEIN!" Er schrie nicht, dazu hatte er nicht die Kraft, aber die Deutlichkeit und Eindrücklichkeit, mit der er dieses eine Wort hervorpresste, versetzte Yukiko einen Stich. Ihr Sohn keuchte, schaute sie an, in seinen Augen Vorwurf, Wut und Verzweiflung. Er wollte sich wieder freiwinden, aber diesmal hielt ihn sein Vater zu fest. "Ich will das nicht!", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich will das nicht, versteht das doch, ich will nicht noch eine Droge, ich will nicht…!“ Yusaku starrte ihn an, atmete schwer. „Du stirbst sonst.“ Er versuchte, ruhig zu bleiben, während es um seine Frau längst geschehen war. Tränen rannen ihr übers Gesicht, als sie ihm ins Gesicht sah, ihm über die Wangen strich. "Verdammt, du hältst das nicht länger aus, Shinichi! Du bist fast am Ende, das..." Sie schnappte nach Luft, als sie ihn ansah, diesen Schatten seiner selbst. Seine Augen waren fiebrig glänzend, seine Haut fast weiß und wächsern, seine Wangen eingefallen. Alles an ihm zitterte, wirkte kraftlos, sein Körper kaum mehr in der Lage, seinem Geist eine Hülle zu sein. "Das weiß ich..." Seine Stimme klang leise, und auf einmal war es gespenstisch still im Zimmer. Der Arzt, den seine Eltern geholt hatten, trat in sein Blickfeld, sah ihn ruhig an. Shinichi hingegen fühlte nichts außer blanker Panik. „Aber ihr versteht das nicht, ich will das nicht, ich will nicht abhängig sein von noch einer Droge, ich will nicht… ihr habt keine Ahnung wie das ist…!“ Er kniff die Augen zusammen, als die Erinnerung ihn überrollte, das Gesicht dieser jungen Frau mit ihrer Injektionsnadel in der Hand. Hörte ihre Stimmen und ihr Gelächter, als er aufgeschrien hatte, leise nur, als er den stechenden Schmerz gespürt hatte am Handrücken, aufgehört hatte, sich zu winden und zu wehren in Wodkas Griff. Er hatte nur auf sein Handgelenk gestarrt, wo man das Gift in seinen Kreislauf impfte. Er vernahm die Stimme des Bosses in seinen Ohren, verstand die Worte kaum, weil das Rauschen seines eigenen Blutes sie fast übertönte, als sein Organismus auf die Substanz reagierte, seinen Puls in die Höhe trieb, während er machtlos zusah, wie die Ampulle sich leerte, und die junge Frau die Nadel wieder herauszog. Alles, was zurückblieb, war ein winziger Blutstropfen – und ihm wurde dennoch fast übel, als er zusah, wie er langsam aus der winzigen Stichwunde quoll. Seine Beine allerdings gaben aus ganz anderem Grund nach. Angst breitete sich in ihm aus, als er taumelte, haltsuchend um sich griff und keinen zu fassen bekam, einfach in die Knie ging, weil sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. Er war zusammengebrochen, völlig bewegungslos liegengeblieben, einfach so, jedesmal. Es schien ihm, als würde er sich selbst nicht mehr gehören. Unfähig, seinen Blick abzuwenden, den Kopf zu drehen, hatte er in die OP-Lampe über ihren Köpfen gestarrt, ihre Köpfe schwarze formlose Schatten ohne Gesicht im Gegenlicht, während er wohl gestochen scharf und bestens ausgeleuchtet vor ihnen auf dem Boden oder auf diesem Tisch lag. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, sich seine Ohren zunehmend mit Watte füllten, als sein Bewusstsein sich langsam verabschiedete. Seine Sicht flimmerte, sein Gefühl in seinen Fingern schwand, genauso wie das Gefühl, überhaupt am Leben zu sein - er wollte sprechen, irgendeinen Ton von sich geben, aber seinen Lippen entwich kein Laut – noch nicht. Einzig und allein sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Erst als sich die Substanz bis in seinen Kopf fortgepflanzt hatte, durchlief es ihn wie eine Kettenreaktion, als er Stück für Stück die Kontrolle über seinen Körper, über seine Gedanken verlor, über sich selbst - dann wurde alles schwarz. So fing es immer an. Es folgten die Wahnvorstellungen – und er wusste, er würde nie vergessen, was er hier sah. Nein, was er erlebte. Diesen ersten Moment unfassbaren Glücks, den er teilte, mit ihr. Den ersten Kuss, den er ihr gab, der so real schien, dass ihm noch hinterher der Kopf schwirrte von den Endorphinen, auf seinen Lippen dieses Prickeln lag. Ihr Lachen in seinen Ohren, ihre Haut unter seinen Fingern, ihr lieblicher Duft in seiner Nase, in einer Welt, in der endlich alles in Ordnung schien. Dann der erste Absturz. Gefahr, greifbar fast, einen bitteren, metallischen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassend. Ein unbestimmtes Gefühl von Angst, Nervosität. Sein Puls, der sich erhöhte, seine Atmung, die sich beschleunigte, die ersten Bilder, die ihm das schlechte Ende dieses Traums schon ankündigten. Dann die kurzen Wachzeiten, wenn sie ihn herausholten aus seinem Rausch, in denen er sich auf einer Liege festgebunden wiederfand, wo man ihm Fragen stellte, immer wieder war auch der Boss dabei und nie erkannte er einen von ihnen – die Stimmen klangen verzerrt in seinen Ohren, ihre Köpfe unscharf, flirrend, und stets im Gegenlicht dieser erbarmungslosen Lampe. Und immer wieder stellten sie die gleichen Fragen. Wollten wissen, wo Sherry war. Wer hier drin ein Maulwurf war. Wie Akai hatte überleben können und woher er soviel wusste. Sie wollten die Antworten, die er ihnen vollmundig angepriesen hatte, und mit denen er jetzt aber nicht herausrücken würde. Er sagte nie auch nur ein Wort, solange er die Kontrolle hatte. Seine Stimme – Anokatas Stimme – jedoch würde er nie wieder vergessen. Eine Stimme kalt wie Eis, berstend scharf wie Glas, dabei ruhig und tief, eindringlich und keine Widerrede duldend. Eigentlich. Und wenn der Entzug kam, wenn man ihn allein ließ in einem Raum, einfach am Boden in eine Ecke geworfen wie ein Stück Abfall, er schrie und sich unter Krämpfen wand, vor Kälte zitterte, wenn er glaubte, sein Herz würde gleich einfach zerspringen – dann wünschte er sich den Tod. Denn der wäre endlich echt, in dieser Welt, in der sich Rausch und Realität dank des Halluzinogens bald bis zur Ununterscheidbarkeit mischten. Doch eines Tages hörten sie aus seinem Mund einen Namen- ihren. Und immer wieder flehte er um Gnade für sie. Ran. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie auf diese, sehr reelle Droge umschwenkten, deren Entzug ihn ganz sicher zerstören würde. Der Tag hatte kommen müssen – und es war geschehen, was er befürchtet hatte. Seinen schlimmsten Fiebertraum hatten sie ihm wahrgemacht. Und nun lag er hier, sah den alten Mann, der ihn beruhigend anlächelte, und hätte alles getan, wenn er hier nur weggkam. Wenn man ihn in Ruhe ließ, einfach. Nur das. Die Angst überwältigte ihn fast. Er merkte, wie sein Puls raste, und Yusaku merkte, wie er zitterte, fühlte sich elend dabei. Er spürte, wie sein Sohn sich fürchtete, vor dem, was man ihm angetan hatte und nun antun würde, weil er darüber nicht den Hauch von Kontrolle hatte. So sehr fürchtete, dass er alles andere in Kauf nahm. "Shinichi.", seine Stimme klang leise, langsam näherte er seinen Kopf dem seines Sohns, bis seine Stirn fast seine Schläfe berührte. "Shinichi, ich kann mir vorstellen, dass du... das nicht willst. Dass du Angst hast..." "Du...", begann er mit zitternder Stimme, brach dann ab. Er umschlang seinen Oberkörper, als ein Krampf ihn packte, krallte seine Finger in sein Sweatshirt, stöhnte schmerzerfüllt auf. Yusaku spürte, wie sich Shinichi verkrampfte, seine Atmung gepresst wurde. "Ich bitte dich, denk nach. Du hast gekämpft bis jetzt, weil du uns nicht verletzen willst, das weiß ich. Du willst nicht noch mehr Kummer bereiten, als du es schon getan hast. Also bitte, lass dir helfen. Du stirbst sonst. Es bringt dich um, du spürst das, und es wird ein grausamer Tod sein. Du kannst nicht von mir und deiner Mutter verlangen, dass wir uns das tatenlos ansehen. Du… hattest deine Chance.“ Er griff ihm in die Haare, hörte ihn keuchen, heiser und angestrengt. „Ich weiß, dass du das nicht willst, und ich will es auch nicht, aber noch weniger will ich, dass du draufgehst, Shinichi, du bist mein Sohn. Und momentan nicht in der Lage, diese Entscheidung rational zu treffen.“ „Doch. Und ich will nicht –…“ Yusaku griff seinen Kopf, zwang ihn so, seine Aufmerksamkeit ihm zuzuwenden, fixierte ihn mit seinen blauen Augen. „So lange, bis das Halluzinogen sich völlig abgebaut hat, der Entzug rum ist, hältst du nicht aus. Das Diamorphin hilft dir, es dämpft die körperlichen Entzugserscheinungen, die Schmerzen, bis sich dieses Gift zersetzt hat, weil es ähnlich wirkt - dich dann davon zu entwöhnen wird auch kein Spaziergang, aber deutlich leichter. Und ich schwöre dir, wir halten das so kurz wie möglich. Du bist in Sicherheit hier. Wir sind bei dir. Also bitte. Bitte. Lass dir helfen.“ Shinichi kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf. „Ihr wisst nicht, wie das ist. Ich will nicht noch einmal – ich will einfach nicht – mir ist alles lieber als das, alles, wirklich – alles…“ Er merkte, wie sein Kopf dicht machte, ihm irgendetwas die Sinne raubte, und hieß es willkommen. Bis ihn ein Satz aus seiner drohenden Ohnmacht riss. „Ran hätte nicht gewollt, dass du stirbst. Sie kam, um dich zu retten, und so dankst du es ihr…?“ Shinichi erstarrte, in seinem Gesicht spiegelten sich pures Entsetzen und Schuldbewusstsein gleichermaßen. Er wollte sich hochrappeln und scheiterte erneut. Yusaku fing ihn wiederum, hielt ihn fest, spürte seinen flachen Atem und verzog das Gesicht. Shinichi war am Ende. Wie sehr, wurde ihm klar, als er dieses eine gehauchte Wort an seinem Ohr vernahm, von einer Stimme, die er kaum mehr als die seines Sohnes erkannte. >Ran…< Yusaku spürte, wie Shinichi kapitulierte – Yukiko sah es. Sah ihn einbrechen, seine Augen zukneifen, als ihn Trauer und Schuld überwältigten und konnte sich kaum selber unter Kontrolle halten. Sie sah, wie er zuließ, dass der Arzt, der langsam in die Knie ging und nach seinem linken Arm griff, ihm die die Manschette anlegte und festzog. Shinichi kniff die Augen noch fester zusammen, ließ seinen Kopf auf die Schulter seines Vaters sinken, sog scharf die Luft ein, als er den stechenden Schmerz der Nadel spürte, krallte seine andere Hand unwillkürlich in dessen Hemd. Yusaku kauerte auf dem Boden, hielt ihn fest und atmete selbst kaum. Er hörte ihn leise aufstöhnen, als der Druck der Manschette sich löste, das Nervengift durch seinen Körper kroch, fühlte, wie er immer schwerer wurde, gegen ihn sackte, als das Opiat ihn in einen Dämmerschlaf schickte, der Rausch ihn ins Land der Träume bannte. Yukiko starrte ihn an, sah ihrem Sohn zu, wie sich seine Körperspannung löste, er gegen Yusaku sank, der ihn immer noch mit beiden Armen festhielt und an sich drückte. Als sie in das Gesicht ihres Mannes schaute, erschrak sie. Er schien um Jahre gealtert. Und er weinte. Und erst jetzt merkte sie, dass auch ihr Gesicht bereits tränennass war. Heiji war blass geworden, starrte den Schriftsteller mit angehaltenem Atem an. „Deshalb... nur deshalb haben wir uns dafür entschieden. Ich dachte nicht, dass ihm das so einen Stein in den Weg legen könnte. Ohne ein Empfehlungsschreiben vom FBI wäre er hier wohl gar nicht reingekommen.“ Er schluckte hart. „Wie – wie gings ihm damit?“ Yusaku schüttelte langsam den Kopf. „Offengestanden, schlecht. Wir reden hier schließlich von einer Droge.“ „Richtig.“ Yusaku setzte sich wieder in Bewegung. „Ich meine, man nimmt eine Droge, um einen Menschen von der anderen loszubringen, es ist aberwitzig. Körperlich ging es ihm etwas besser, immerhin, es nahm ihm die Schmerzen, nicht die Fieberträume. Dennoch… man merkte ihm an, in jeder Minute, dass das gegen seinen Willen geschah. Er verabreichte es sich ungern und wartete oft viel zu lange,… nun.“ Unwillig kratzte er sich am Hinterkopf. Heiji schaute ihn stirnrunzelnd an – ihm fiel erst jetzt auf, in wie vielen Dingen sich Shinichi und sein Vater ähnelten, bis in diese kleine Geste. „Er wollte so wenig wie möglich davon intus haben, wollte möglichst schnell loskommen davon und das machte es nicht unbedingt immer einfacher.“ Er schluckte hart. „Er war willens, das Zeug nicht die Kontrolle über sich bekommen zu lassen, fest entschlossen, dem wahnsinnigen Gedanken verfallen, er könnte selbst bestimmen, wann er es nahm und wann er aufhörte damit. Dabei verlaufen die Entzugsstadien immer gleich. Du kennst ihn. Er ist ein… verdammt sturer Bock, manchmal.“ Sie hatten mittlerweile den Ausgang erreicht. „Yukiko meint, er hat das von mir.“ Sie traten ins Freie. Weder von Ran oder Shinichi, noch von Kogorô war eine Spur zu sehen. „Er ließ uns nicht eine Sekunde darüber im Unklaren, dass das gegen seinen Willen geschah. Aber immerhin… hat es funktioniert. Er hatte nie ein Problem damit, es endlich nicht mehr zu nehmen, dieses Zeug. Es ist einfach nicht… seine Art.“ Er lächelte bitter, schüttelte den Kopf. „Es ist ein schlechter Witz, zu hören, dass sie ihn gerade deswegen jetzt ausschließen. Allerdings… momentan tut er nicht viel, um diesen Verdacht zu entkräften, der Fall nimmt ihn ziemlich mit. Diese Zeit hat an seiner Substanz gezehrt, und er hat nicht viel gemacht, in den letzten Jahren, um sich Erholung und Regeneration zu verschaffen, und jetzt dreht ihn diese Geschichte gerade richtig durch die Mangel. Man könnte schon meinen…“ Heiji starrte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Wut an. „Sie glauben doch nicht im Ernst…!?“ „Nein.“ Yusaku lächelte bitter. „Ich weiß, dass mein Sohn der letzte Mensch auf dieser Welt ist, der freiwillig einen Rückfall provoziert.“ Er seufzte. „Ich hatte allerdings gehofft, sie hätten hier genug Vertrauen in ihn, um ihm zu glauben, wenn er sagt, sie sind zurück. Und das ist es, was ihn auf Hundertachtzig bringt, momentan.“ Yusaku lächelte bitter, merkte, dass auch auf Heijis Lippen ein saures Grinsen geschlichen war. „Einem Ex-Junkie, der noch dazu momentan ein bisschen wie ein solcher aussieht, glaubt man genauso wenig wie einem kleinen Kind.“ Yusaku seufzte. „Exakt.“ Dann strich er sich über die Stirn. „Ich hoffe, Ran kann ihn ein wenig zur Vernunft bringen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)