Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Kapitel 26: Sündenfall ---------------------- Kapitel 26 – Sündenfall Der Pinsel in seiner Hand zitterte. Wie er erwartet hatte, hatten sie keine Zeit verloren. Eine Kurznachricht hatte ihn heute Morgen geweckt – und eine halbe Stunde später hatte der Porsche auf ihn gewartet. Meredith hatte noch tief und fest geschlafen – er wagte zu bezweifeln, dass sie den Kuss gespürt hatte, den er ihr noch auf die Lippen gedrückt hatte, als sie ihn aus ihren Kissen heraus schlaftrunken angeblinzelt hatte. Es hatte sich angefühlt wie ein Abschiedskuss. Eduard hatte kaum Zeit gefunden, sich zu rasieren, zu waschen und anzuziehen – an ein Frühstück war ohnehin nicht zu denken gewesen. Und im Nachhinein war er fast froh darum, denn als er im Fond des teuren Wagens Platz genommen hatte, schlug ihm die ekelhafteste Rauchwolke ins Gesicht, die er je gerochen hatte. Miss Butterfly, wie er sie in Gedanken nannte, hatte ihn spöttisch lächelnd angeschaut, kokett geblinzelt. „Nah? I hope you’ve slept well?“ Sie betrachtete ihre Fingernägel, hatte an einem Fleckchen herumgerieben, ehe sie weitergesprochen hatte. „Let’s hope you did. There’s much work for you to do today.“ Ihr Lächeln war noch eine Spur süffisanter geworden. „Did you enjoy your evening, darling? She is a quite pretty thing, your girl…“, hatte sie erneut an zu plaudern angefangen, scheinbar gutgelaunt, als seine Stimme ihr Einhalt geboten hatte. „Chianti.“ Er hatte eine weitere Rauchwolke in die Luft geblasen, als er den Wagen durch die von der frühen Rushhour verstopften Straßen gelenkt hatte. Sie hatte die Augen verdreht, sich dann abgewandt und die Zeit damit totgeschlagen, aus dem Fenster zu schauen. In der Spiegelung der Scheibe hatte er ihn sehen können. Den Schmetterling. Eduard hatte geschluckt und kaum wahrgenommen, wie er sich immer mehr in den kalten, glatten Ledersitzen versteift hatte. Der Rest der Fahrt war schweigend verlaufen. Er hatte, wie sie von ihm verlangt hatten, auch das angefangene Bild des japanischen Mädchens mitgebracht. Und er ahnte nun, als er hier stand, im Loft seiner Arbeitgeber, dass er auch daran würde weiterarbeiten müssen. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder in der Tiefgarage hielten. Er hatte während der Fahrt nur auf seine Finger gestarrt, versucht, Ordnung in das Chaos seines Kopfs zu bringen. Wiederholt hatte er sich gefragt, wie er nur in diesen Schlamassel hatte geraten können. Und das alles nur, weil ihn der Wunsch nach einem besseren Leben soweit trieb. Immer war es das. Der Wunsch nach nur ein bisschen mehr Geld, nur ein bisschen mehr Erfolg, nur ein bisschen mehr Luxus… Einfach nur ein bisschen mehr vom Leben - für ihn und vor allem für Meredith. Ihr ein sicheres Heim bieten zu können, sie lachen und glücklich zu sehen, dafür würde er alles tun. Only a little bit… But it seems, this little bit was already too much. Soweit hatte es ihn nun gebracht. Er hatte sich mit der Hand über die Stirn gewischt, gepresst ausgeatmet. Und war ohne ein Wort aus dem Wagen gestiegen, als sie in der Tiefgarage angehalten hatten. Heute war Juniper Torrez‘ letzter Tag in diesem Leben. Und auch die Tage der hübschen Japanerin waren bereits gezählt. Und er… er war ihr Chronist. Er fertigte das letzte Bild von ihnen an… war wahrscheinlich auch der, der sie das letzte Mal am Leben sah. Wer wusste, wie lange sein eigenes Leben noch währte. Eine kleine Stimme flüsterte ihm seit gestern leise, aber umso eindringlicher ins Ohr, dass das auch für ihn wahrscheinlich kein gutes Ende nahm. Wie hatte er auch glauben können, sie ließen ihn Zeuge ihrer Taten sein, und hinterher einfach laufen? Nein. Er hoffte nur, Merry blieb da raus. Er hoffte es wirklich. Juniper saß bereits auf ihrem Stuhl, als sie eintraten. Sie war geschminkt worden, und frisiert. Allerdings konnte auch dieses Styling nicht verbergen, wie sie die letzte Nacht verbracht hatte. Angst zerfraß sie, färbte ihre Augen dunkel, ließen sie fast schwarz erscheinen. Ihre Lider waren immer noch geschwollen – wahrscheinlich, dachte Eduard, hatte sie die ganze Nacht geweint. An all ihre Lieben gedacht, die sie zurückließ. Er sah ihr an, dass sie den Tod fürchtete. Auch wenn sie, wie gestern auch, vorbildlich ruhig war und brav den Blick nicht von ihm wandte, als er weiter malte, so sah er ihr doch an, dass sie trotz ihrer Angst noch immer hoffte… verzweifelt hoffte, vielleicht doch einfach gehen zu dürfen, wenn man mit ihr fertig war. Ob sie es wirklich glaubte, wagte er nicht zu beurteilen. Er versuchte, ihr zuzulächeln, ihr ein wenig Mut zuzusprechen, auch wenn er wusste, dass es umsonst war. Dass es eine Lüge war. Ihre Zeit lief ab. Es war, wie als ob mit jedem neuen Pinselstrich, den er setzte, ein Körnchen mehr aus der Sanduhr ihres Lebens in die untere Hälfte des Glases rieselte. Dann ging die Tür auf – herein kam ein weiterer Mann; ein Polizeibeamter. Eduard wollte gerade aufspringen, schreien, um Hilfe bitten – das war die Rettung, endlich! – bis er bemerkte, wen er im Schlepp hatte. Neben dem Mann erschien Meredith im Türrahmen, wurde von dem jungen Constable in den Raum gezogen. Ihre Hände hatte er auf den Rücken gefesselt, ihre Augen verbunden, in ihrem Mund steckte ein Knebel. Er starrte den Constable an, fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Fassungslos starrte er ihn an, als der Glaube an die Gerechtigkeit ihn verließ. „But you… you’re from the police…“ Seine Stimme verebbte, als ihm klar wurde, was das bedeutete. These guys have their men even amongst the ranks of Scotland Yard… How is Sherlock Holmes to solve this case, to save us all, if even his allies are his enemies… God lord… I’m lost. We all are lost. It’s all over. Als er jedoch ein leises Wimmern hörte, sein Blick auf sie fiel, erwachte er aus seiner Lethargie; Wut kochte in ihm hoch, genährt und angestachelt von seiner Liebe und seinem Beschützerinstinkt für Meredith, die ängstlich zitternd im Raum stand, nichts sah und nichts sagen konnte, gefesselt und hilflos. Er fuhr herum, starrte Gin an, der genüsslich eine Zigarette geraucht hatte. „You promised to keep her out of this!“ Seine Stimme zitterte – allerdings hatte er seine Worte erstaunlich laut geäußert. „YOU PROMISED IT!“ Als sie nun die Stimme ihres Freundes hörte, versuchte sie, den Knebel loszuwerden, wand sich, wollte schreien; heraus kam nichts weiter als dumpfes, ersticktes Gewimmer. Und er sah die geröteten Augen, als der Mann ihr die Augenbinde abnahm. „What should we do, Eduard.“ Gin lächelte schmal. „Do tell me, was there a choice for us? It was your fault. Sherlock Holmes is on your trail, Watson has shadowed the two of you last night, and has come back today… you were too obvious. Careless.“ Der junge Constable warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu, schlenderte zum Tisch und griff nach einer Flasche mit einer goldgelben Flüssigkeit, drehte die Karaffe in beiden Händen, las das Etikett, ehe er sie öffnete und sich einen großzügigen Schluck in ein weites Glas einschenkte, es anhob und leicht im Kreise schwenkte, die etwas träge Flüssigkeit beobachtete, wie sie ihre Kreise zog. Bourbon. Dann hob er den Kristallbecher an, setzte ihn an die Lippen, trank ihn mit einem Zug aus, sog anschließend scharf die Luft zwischen die Lippen. Mit einem lauten „Klonk“ setzte er den Becher ab, fixierte Gin mit kalkulierendem Blick. „He was visiting the UAL again today, and you were right – he’ll have made his way to their flat, as he did not meet them at the campus. Besides, he has been contacting the FBI yesterday. He’ll have met Black by this time, as he’s the one currently remaining in London; I guess Akai and Starling are following soon; they’ll not want to miss the pleasure and the chance of settling old scores with you…” Damit drehte er sich um. „Well then. This is not my war, I’m done with you now, we’re equal at last. Have a nice day.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er das Loft – und sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, bröckelte ihm das Lächeln von den Lippen. Kein anderer als er selbst hatte ihn geschickt, heute Morgen, um Meredith zu holen, auch wenn er Gin in dem Glauben hatte sein lassen, er hätte ihn in der Hand. Und er war es auch, von dem er wusste, dass Kudô das FBI kontaktiert hatte. Gin glaubte, er arbeitete nun in seinem Leben tatsächlich für Scotland Yard; und hatte gedroht, ihn auffliegen zu lassen, täte er ihm diesen Gefallen nicht. Tatsache war, dass das seine kleinste Sorge war. Gin war nicht sein Problem. Sein Problem war er. Er war ihm auf die Spur gekommen, hatte ihn mit seiner Schwester in der Hand, benutzte ihn als Spion und Helfer, und er war es, der die Strippen zog, auch was Gins kleine Vendetta betraf – auch wenn der nicht die leiseste Ahnung davon hatte. Tatsache war, zuerst musste Gins perfides Rachespiel sein Ende finden, musste Gin, der Dieb in seinen Augen, vernichtet werden, und das sehr gerne von Kudô, der sich bei der Aktion wohl selber schon an die Grenze seiner Belastbarkeit trieb - ehe er selbst die silberne Kugel zerstören wollte in dem Feuer, in dem sie geschmiedet worden war; oder das, was von ihr übrig blieb. Er würde ein leichtes Spiel mit ihnen allen haben, ohne selber sich die Hände jemals schmutzig gemacht zu haben – so war es schon immer gewesen. Bourbon lächelte bitter. Ich hätte mich darauf niemals einlassen dürfen. Eduard hingegen saß auf seinem Schemel und schwitzte Blut und Wasser. Meredith hatten sie auf einen Stuhl gesetzt, gefesselt, immer noch geknebelt – aber sie durfte ihm nun zusehen. Schluchzen erfüllte das Loft, machte ihm das Atmen fast unmöglich. Juniper hatte leise zu weinen angefangen, Meredith heulte etwas lauter vor sich hin. Vor ihr auf dem Boden lagen ihre Kleider, und ganz offenbar ging ihr langsam auf, was hier wirklich geschah. Oder aber, was wahrscheinlicher war, fand sie ihre Ahnung nun bestätigt. Spätestens, als sie das Schwert sah, das Gin von der Wand nahm, und es ihr unter den Hals hielt, dürfte jeglicher Zweifel auf ihrer Seite verschwunden gewesen sein. „Stop wailing.“ Eduard sprang auf, wollte sich vor sie werfen, jedoch hielt ihn eine Handbewegung Gins davon ab, ließ ihn auf der Stelle erstarren wie schockgefrostet. „One step closer and she’ll be dead. I have no problem at all to kill her, to kill your little darling in front of your eyes. You know that. If you don’t believe it – ask Kudô’s little sweetheart, the very girl you’re painting next – or Sherlock, as you call him here.“ Er lachte kalt auf. „Sherlock Holmes, indeed. It’s about time to push him down his Reichenbachfall. Properly.“ Eduard wich zurück, seine Augen fixierten Merediths, die ihn mit so viel Angst ansah, dass er sich fast übergeben musste. Er konnte den verzweifelten Schrei nach Hilfe in ihren Augen sehen, die Hoffnung, die sie in ihn setzte und er wusste doch, dass er sie enttäuschen würde. Um sie zu retten... tat er nichts. Sie jedoch starrte ihn an, in ihren Augen immer noch Angst – aber nun mischten sich Unverständnis, Fassungslosigkeit in diese grünen Augen, starrten ihn an, gedämpft und erstickt drangen Laute durch den Stoff ihres Schals, den man ihr in den Mund gestopft hatte, als sie versuchte, zu sprechen. Eindringlich starrte sie ihn an, hatte für den Moment das Weinen aufgehört. Gin lachte. „You want to tell him something? Well… it seems only fair to let him know what you are thinking of him… of this coward; of this disappointment of a boyfriend, let alone a man.” Er griff in seine Manteltasche, zog ein Taschenmesser hervor, ließ es aufschnappen und trat zu ihr, schnitt mit einer raschen Bewegung durch den Seidenstoff des Schals, der mit einem ratschenden Geräusch der scharfen Klinge nachgab. Gelassen steckte er es wieder ein, sah sie kalt lächelnd an. Meredith saß da, wankend, schnappte nach Luft. Und er konnte ihre Worte kaum ertragen, obgleich kaum lauter als ein Wispern. „Eduard! Why have you done this – why haven’t you told me the truth?! You knew this all along! We should have gone to the police, when Ayako…” Sie atmete heftig, schaute verwirrt um sich, als sie Gin lachen hörte, schluckte hart. „I did tell you… I have hoped so dearly that you had changed, that you left this behind you, but what do I have to see now… I did believe what you told me, I wanted to believe that everything was right, though I felt that something was wrong, so terribly wrong, I felt it, I… “ Eine Träne rann ihr über die Wange. „It has become worse than ever, Eddie… What is it that makes you do this… it can’t be the money, it can’t be the wish for a better life, I thought, we had a good life…” Sie zitterte wie von einer unsichtbaren Hand geschüttelt, so fest, dass ihre Zähne kurz aufeinander klapperten. “It was enough for me! You were enough… for me. Haven’t I been enough for you… did you want more…? Why didn’t you tell me… why didn’t you trust me?” Meredith schluckte hart. Er starrte sie an, merkte, wie in ihm etwas in tausend Stücke brach, war unfähig, ihr eine Antwort zu geben. „Why didn’t you trust me?!“ Eduard schauderte. Meredith. Dann drehte Gin sich um, warf einen prüfenden Blick auf das Bild, beendete damit den einseitigen Dialog des Künstlerpärchens. „Nice speech. But, my lovely one, I have to tell you that men always make the same mistakes. He is not the only one who thinks he alone knows best… but I am afraid, this knowledge is not at all comforting for you.” Er lachte leise, ehe er sich Eduard zuwandte. Aus seinen Augen war das Amüsement verschwunden, eiskalte Berechnung stand in ihnen zu lesen. Er nickte scharf in Richtung des Bildes. „And? What about that? Are you done with it?“ Eduard schluckte hart. Er wusste, es war egal, was er sagte… Juniper würde sterben, und irgendwann würde Gins Geduld am Ende sein. Abgesehen davon versagten ihm langsam schlicht und ergreifend die Kräfte, physisch und emotional. Er konnte nicht mehr. Und so nickte er nur, geschlagen. Gin lächelte. „Well then. Here you are. This time the honour is all yours.“ Er hielt ihm das Katana hin, mit dem Griff nach oben zeigend, sah ihn kalt an. Eduard stand da, wie eine Pappel im Wind zitternd, sich Merediths vor Entsetzen aufgerissenen Augen voll bewusst. Unwillkürlich, automatisch schüttelte er den Kopf. „No. No! This… I can’t do this… I- I… can’t!“ Gin lächelte. „But of course you can. You’re lacking the right motivation, that’s all, my friend…” Sein kühles Lächeln wuchs sich zu einem wahren Zähnefletschen aus. „Now take it. We’ve got plenty of other things to do and time is money...“ Damit drückte er ihm das Schwert in die Hand, ging um den Stuhl, auf dem Juniper saß, herum, streichelte ihr mit seinen langen, schlanken Fingern von hinten übers Haar, ihren Hals entlang über ihre Schultern, ließ sie auf der Rückenlehne des Stuhls ruhen. Sie hatte die Augen geschlossen, zusammengepresst vielmehr, wimmerte unkontrolliert, ihre Lippen zu einer Grimasse des Leids verzerrt. Tränen wuschen die Maskara von ihren Wimpern, zeichneten schwarze Linien in ihr Gesicht. Dann riss er mit einem Ruck den Stuhl unter ihr weg, so dass sie nach vorn fiel, zu Boden stürzte und nun vollends in Tränen ausbrach. Als sie aufsah, ihn ansah, wusste er, dass sie es nun begriffen hatte. Sie würde nun sterben. Eduard jedoch stand immer noch da wie eine leere Hülle seiner selbst. Seinen Fingern fehlte sogar die Kraft, das Schwert zu halten – kalt, nass und starr waren sie geworden, ohne Gefühl, völlig taub. Ein ohrenbetäubendes Klappern und Scheppern ertönte, als Metall auf Marmor traf. I am not creating beautiful things. I seal with my work the fate of so many people… Theirs. Mine. Merediths… And his fate, too. Starr vor Angst stand er da. All I ever wanted was create beautiful things… But now – what do I do now?! Leise klirrte der Löffel in der Porzellantasse, als sie ihren Tee umrührte. Shiho hatte sich breitschlagen lassen, bei ihr zu bleiben; James Black saß ihnen nun gegenüber, ebenfalls vor einer Tasse Tee, schaute sie mit wachen Augen an. Ran ließ ihren Blick über den Mann wandern; er war, das musste sie zugeben, genauso, wie Shiho ihn ihr beschrieben hatte. Groß, grauweiße Haare, ein Schnauzbart - alles in allem genau so, wie man sich einen formvollendeten Briten fortgeschrittenen Alters vorstellte – nicht aber einen FBI Agenten. Andererseits verströmte er eine Aura von unbedingter Macht und Autorität, und das nur, indem er hier saß und eine Tasse Tee trank. Er führte seine Truppe bestimmt mit großer Fairness – und ebensoviel Strenge, mutmaßte Ran. Sie setzte ihre Tasse an die Lippen, begegnete seinem Blick, der sie ebenso musternd taxierte, wie ihrer ihn. Sie sahen sich heute schließlich zum ersten Mal. Black war eingetroffen, nur etwa eine halbe Stunde nachdem Heiji ihn angerufen hatte. Er, Kazuha und Sonoko waren auf Wunsch Sonokos in die Innenstadt gefahren – ihr jedoch war nicht nach derlei Vergnügungen. Sie überlegte immer noch, wie sie Shinichi davon überzeugen konnte, endlich zu Vernunft zu kommen. Sich endlich helfen zu lassen, von ihr, auch wenn sie seinen Wunsch verstand. Sie wusste, ganz Unrecht hatte er nicht… andererseits wehrte sich alles in ihr, ihn allein zu lassen. Und sie wusste noch zu gut, was passiert war, als sie ihn das letzte Mal auf seinen Wunsch hin verlassen hatte und allein nach Hause gegangen war. Conan. Allerdings, das ahnte sie, wusste sie immer noch viel zu wenig von dem, was er immer als seinen „Fall“ bezeichnet hatte, um ihn verstehen zu können – und ihm wirklich eine Hilfe zu sein. Sie seufzte ein bedrücktes, kleines Seufzen, zog damit James Black’s Aufmerksamkeit noch mehr auf sich, der sie beide mit einem großväterlichen Blick bedachte, den sein buschiger Schnauzbart zusätzlich unterstrich. Sie saßen in einem niedlichen kleinen Café in der Nähe ihres Hotels. Dieser Urlaub war ganz und gar nicht so, wie er geplant gewesen war; von erholsam konnte nicht die Rede sein, auch nicht davon, sie auf andere Gedanken zu bringen. Und die Anwesenheit des FBI sprach eine deutliche Sprache, was seinen Fortgang betraf. „Und was werden Sie nun machen?“, fragte Ran schlussendlich, durchbrach damit die Stille, die sich über die kleine Tischgesellschaft gelegt hatte, stach mit ihrer Gabel ein Stückchen apple crumble ab, zog es durch die Vanillesauce, langsam, lustlos. Sie machte sich Sorgen, man sah es ihr an. „Fürs erste abwarten.“ „Wie bitte?“ Ran fiel ihr Dessert fast wieder aus dem Mund. Auch Shiho schaute ihn einigermaßen konsterniert an. Sie hatte sich extrem gut im Griff – allerdings war ihr anzusehen, dass in ihr die Angst wuchs. Ihr Blick wurde starr, ihre Finger kalt. Black schaute sie musternd an, regte sich ansonsten jedoch nicht. „Ich verstehe, dass du Angst hast, Shiho. Andererseits musstest du auch in Tokio damit rechnen, dass sie dich angreifen – why are you so worried now?“ Ran, die eigentlich noch auf eine Antwort Blacks gewartet hatte, schluckte hart. Dass Shiho genauso in Gefahr war wie Shinichi, hatte sie verdrängt… wohl, weil sie ja in Tokio gewesen war. Die ganzen fünf Jahre. Und weil es gut gegangen war. Weil nichts passiert war. Sie griff nach ihrer Hand, drückte sie kurz, schenkte ihr ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es aufmunternd wirkte. Shiho hingegen schaute sie nur an. Du versuchst immer noch die Tapfere zu spielen… dabei weißt du, worum es geht, diesmal. Es geht um ihn. Um sein Leben. Die Angst frisst dich auf, Ran. Vergiftet deine Seele. „Nun, Kudô tut ja auch nichts, um mir die Angst zu nehmen. Verlass das Land, Shiho. Das hat er gesagt. Sehr beruhigend. Und im Übrigen habe ich nicht mehr Angst als sonst.“ Ein schmales Lächeln schlich sich über die Lippen des Agents, ehe er antwortete. „But he is right.“ James Black schaute sie ernst an; das großväterliche Lächeln war einem sorgenvollen Blick gewichen. „It is true, they might hunt after him first, as he was the one jumping in their way whenever they were trying to catch or kill you. But as soon as they’ve done him in, god beware, they’ll go and get you. Or they will use you… or both of you… to reach him.” Er nahm einen Schluck Tee, schloss kurz die Augen. „They were hurt and angry. Sie haben ihre Wunden nun geleckt, und sind bereit, ihre Rache zu nehmen an ihm. Sie wollen ihn tot sehen, mehr noch, zerstört sehen, wenn man sich ihr Vorgehen in den Tagen damals, die er innerhalb der Wände der Organisation verbracht hat, über den Hergang seiner Flucht, bis zu diesem Szenario jetzt, anschaut. Sie wollen ihn dem Erdboden gleichmachen, ihn, der sie ans Tageslicht gezerrt hat, der ihnen die schwarzen Masken von ihren genauso dunklen Gesichtern gerissen hat. Sie wollen ihn. Und dann holen sie dich.“ Kurz verlor sich sein Blick in der Ferne. „Akai und er hatten es damals wirklich schlau eingefädelt. Die Art und Weise, wie er sich interessant gemacht hat bei ihnen, wie er Bourbon gefügig gemacht hat, wie er euch aus dem Weg geschafft hatte, wie er uns die Daten zukommen hat lassen… he is a true mastermind. Das alles war von A bis Z sein Plan. Er kam und tat so, als würde er das mit uns zusammen aushecken, dabei legte er ihn uns eigentlich komplett fertiggestellt vor. Und nicht einmal das tat er – in manchen Details schwieg er sich aus, oder teilte sie nur mit Agent Akai.“ Eduard zitterte am ganzen Körper. Seine Wange brannte und Blut lief ihm aus der Nase, sowie aus einer Platzwunde an der Wange. Er wagte nicht, die Hand zu heben, um seine Nase zu betasten, herauszufinden, ob sie gebrochen war, durch diesen gewaltigen Schlag mit dem Griff der Pistole in sein Gesicht, der ihn von den Füßen gerissen hatte. Gin stand immer noch über ihm, das Ding in der Hand, allerdings mittlerweile wieder richtig herum – den Griff in der Handfläche, den Zeigefinger um den Abzug gekrümmt, den Lauf auf ihn gerichtet. Und er wünschte sich ernsthaft, der blonde Hüne mit den eisigen Augen würde einfach abdrücken. Einfach abdrücken, ihm ein Ende bereiten. Damit er nicht mehr hören musste, wie Meredith schrie und weinte. Damit er nicht mehr hören musste, wie Juniper wimmerte und flehte. Damit er nicht mehr hören musste, wie Chianti lachte. Damit er diesen Mord nicht verüben musste. Pull this goddamned trigger, I beg you, I implore you. It is so easy for you just to pull it, to end my life, please do, please do, please do … „Eddie…“ Er drehte den Kopf, sah in Merediths blaue Augen, die in einem Meer aus Tränen schwammen, rotgerändert, angstvoll geweitet, und er wusste, dass es so einfach nicht ging. Nicht, wenn er wollte, dass ihr nichts passierte. „Coward. Wastrel…“, hörte er seine Stimme kalt an sein Ohr. „Do you know how much this sword is worth? And you let it slip! Every scratch in its blade mars its sharpness… and its flawless, breath-taking beauty...“ Gin ging in die Knie, hob das Schwert auf, ließ prüfend das Licht auf der Schneide reflektieren, einen Lichtblitz die Schnittkante entlang tanzen. Dann wandte er sich Juniper zu, die immer noch am Boden lag, während Eduard sich langsam aufrappelte, sich der beobachtenden Blicke von Chianti voll bewusst. „Go, get up. Get undressed, it must not get dirty…“ Ein bösartiges Grinsen erschien auf seinen Lippen. Juniper versuchte, aufzustehen, schaffte es nicht. Sie wankte, rutschte immer wieder aus – es ratschte, als sie auf den Saum des Kleides stieg und beim Aufstehen einriss. Wie ein Häuflein Elend saß sie auf dem Boden, zitternd und weinend – absolut stumm. Schließlich trat Gin zu ihr, packte sie am Oberarm und zerrte sie hoch, öffnete den Reißverschluss des Kleides mit einem Ruck. Und obwohl er wusste, was es für Meredith bedeutete, wenn er hier einfach abtrat, wünschte er sich, er könnte einfach sterben, als er Juniper im Unterkleid stehen sah, mit diesen Augen voller Angst, in denen diese eine, stumme Bitte stand, sie zu verschonen. Ihr ihr Leben nicht zu nehmen. Als Gin ihm das Schwert hinhielt, nahm er es, hielt es mit beiden Händen. Er sah, wie der blonde Mann seine Pistole auf Meredith richtete, schloss die Augen, wünschte sich, wünschte sich so sehr, der Boden möge sich unter ihm auftun. Er tat es nicht. Und so öffnete er seine Augen wieder, merkte, wie seine Sicht langsam verschwamm, sich in seinen Ohren ein Rauschen manifestierte, das alle anderen Geräusche, seine Welt, sein Denken, ausblendete. „Vermouth hat ihn gewarnt, seinerzeit.“ Black verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich zurück. „Er wusste, sie planten etwas. Und er wusste, sie kamen wegen dir, Shiho, nicht wegen ihm. Ihn würden sie einfach erschießen. Wenn es blöd kam, den Professor auch. Dich, Ran, und deinen Vater.“ Er warf Ran einen kurzen Blick zu. „Nach dem Bell Tree-Express Zwischenfall war ihr Verdacht geweckt. Vermouth wusste ohnehin, wer du bist, und Toru Amuro ist nicht blöd; er war ein Doppelagent für die Sicherheitspolizei, das ist es, was wir momentan wissen. Allerdings lassen manche seiner Aktionen vermuten, dass sein schwarzer Arbeitgeber wohl etwas besser bezahlte oder ihn anderweitig beeinflussen konnte, was seine Loyalität betraf. Nichtsdestotrotz spielte er sein doppeltes Spiel recht gut – und Shinichi sah das auch. Allerdings… war Shinichi schon mit achtzehn ein so verdammt schlaues Bürschchen.“ Er lächelte. „Sie haben mit mir diese Aktion nicht abgesprochen, weil sie wohl ahnten, ich hätte sie nie genehmigt. Als er die Warnung von Vermouth erhalten hatte, verlor er keine Zeit, ging mit seinem Plan, seiner persönlichen Exitstrategie, zu Akai, und zog die Sache mit ihm durch. Sie hatten alles, was sie brauchten. Den doppelten Virus hatte ihnen der Professor auf seinen Wunsch hin schon lange programmiert, mithilfe von Itakuras Aufzeichnungen; er hatte den Algorhythmus extrahiert, der durch die Verschlüsselung brechen und die Daten nach außen schleusen konnte. Er hat das Gegengift genommen. Hat euch alle aus der Gefahrenzone geschafft, indem er seine Eltern mit ins Boot holte. Er hatte die Ressourcen und er nutzte sie clever.“ Black massierte sich den Bart, lächelte kurz. „Ihm war klar, dass immer du ihr Ziel Nummer eins gewesen warst, und das musste er ändern. Also schrieb er eine Mail, deren Existenz nur wenige Leute kennen… er schrieb sie nur an drei Personen. An Meguré. An mich. Und an… Anokata.“ Shiho erbleichte. „Er hat nicht…! Ich hab ihm gesagt, diesem Dummkopf, er darf die Adresse nie verwenden…!“ Ran schaute von einem zum anderen, fragend. „Er hat die Emailadresse rausbekommen, vom Boss. Er hat sich die Tonfolge gemerkt, die ersten Töne zumindest, als Vermouth dem Boss eine Email schrieb.“ Shiho verschränkte die Arme vor der Brust. „Und keine andere als du warst es, die ihm das Lied dazu genannt hat, Ran. Ihm damit die Mailadresse vervollständigt hat.“ Rans Augen wurden groß. Sie schluckte trocken, spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte, als sie sich daran erinnerte. „Nanatso no ko…“, wisperte sie tonlos. Und vor ihr erschien sein Gesicht, der Ausdruck in Conans Augen, als ihm wohl klar geworden war, was er nun in der Hand hatte. Sie hatte damals keine Ahnung haben können, was sie ihm ermöglicht hatte. Erst Blacks Stimme riss sie aus ihren Gedanken, brachte sie dazu, ihn wieder anzusehen. Der Appetit auf Apple Crumble war ihr vollständig vergangen. „And in this mail, he told everything. Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Wenn und Aber, ohne Kompromisse für sich und sein Leben, seine Zukunft. Er sah diese eine Chance für einen Schlag, der sitzen würde und er ergriff sie mit beiden Händen. Und er schickte den Beweis gleich mit. I guess you know which proof I mean.“ Shiho war blass geworden. „Wer hat denn…“ „Der Professor, wie wir später erfahren haben.“ Blacks Stimme war ernst geworden, seine Augen seltsam dunkel. „This had impact, of course – and the ravine began to rush down the glacier, ready to smash him. They sent Bourbon, as he expected.“ Er lächelte. „Gin war Dank der Enthüllung der Tatsache, dass der für von ihm für tot erklärte Shinichi Kudô so tot gar nicht war, fürs erste in der Gunst des Bosses gesunken. Und damit es dabei auch blieb und du und Ran in Sicherheit wärt…“, zum ersten Mal sah er sie an, „hat er euch nicht nur außer Reichweite geschafft, vorher, sondern Bourbon erpresst. Mit seiner kleinen Schwester, und von der die Organisation nichts wusste, er aber schon, denn genau wie Toru seine dreckige Wäsche wusch, wusch Shinichi seine. Er verpflichtete ihn, auf euch aufzupassen und zu verhindern, dass man euch etwas antat, sonst würde er ausplaudern, was er wusste. Und er wusste viel.“ Er räusperte sich sachlich. „He’s done his homework carefully. We aimed at collecting data, to get hold of the Organization in numbers and letters, as one might call it. Den Emailverkehr, die Sitzungsprotokolle, die Mitgliederlisten, die Forschungsarbeiten. Den Speicherchip, auf dem sich der Trojaner befand, eine Micro-SD, trug er unter einem künstlichen Zehennagel.“ Er hielt inne, als er Rans Blick bemerkte. Sie schüttelte den Kopf, massierte sich die Schläfen. „Und wie haben Sie sich das vorgestellt? Dass er da reinmarschiert, Ihnen die Daten holt und wieder rausmarschiert? Haben Sie nicht…“ James Black wich ihrem Blick nicht aus. „Doch, natürlich. Wir wussten, er würde nichts sagen, und wir wussten auch, dass sie Mittel und Wege besaßen, um seiner Gesprächigkeit auf die Sprünge zu helfen. Darüber war er sich im Übrigen auch völlig im Klaren. Uns hat das natürlich nicht geschmeckt.“ Er wandte den Kopf ab, schaute aus dem Fenster. „Nicht geschmeckt?!“ Rans Stimme war leise, kaum zu hören, aber das Fauchen einer Tigerin schwang in ihr mit. „Nicht geschmeckt – ist das alles? Sehen Sie ihn sich heute an – ich weiß nicht, was passiert ist, aber…“ „Er war knapp zwanzig, natürlich wollten wir nicht, dass man ihm etwas antut. Ihn verletzt.“ Er sah sie ruhig an, wich Rans Blick nicht aus. „Ihn foltert. Nennen Sie das Ding beim Namen, Mr. Black.“ Shihos Stimme klang ruhiger, als sie es war. Ihr war in den letzten Minuten das Blut ins Gesicht geschossen. Ran schaute sie an, verwundert. „Sie haben ihn gefoltert, und Akai musste wissen, dass damit zu rechnen ist, selbst wenn Sie nicht den ganzen Plan kannten, wie sie sagen! Akai wusste das! Sie kannten die Methoden! Shuichi war mal Mitglied in dem Verein, verdammt!“ Ihr Atem ging auf einmal merklich schneller. „Er hätte ihm das ausreden müssen! Er hätte ihn da niemals reingehen lassen dürfen, egal, was er ihm für eine Geschichte verkaufte, verdammt ja, er kann wahnsinnig überzeugend sein – sein Vater ist Schriftsteller, seine Mum Schauspielerin, dem kauft man doch alles ab!“ Sie schnappte nach Luft. „Aber er wusste es doch besser! Niemals hätte er…“ Black bedachte sie mit einem seltsam traurigen Blick, brachte sie wortlos zum Schweigen. Ran rann es eiskalt über den Rücken. Zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sie sich, was Shiho eigentlich mit Shinichi verband. „Glaub nur nicht, dass wir uns keine Vorwürfe machten. When I got to know …“ „VORWÜRFE?!“ Ran starrte sie erschrocken an, die Lautstärke und Erregtheit in Shihos Stimme ließen sie zusammenzucken. James Black schaute sie weiterhin mit gesetzter Miene an; sollte ihn ihre Aufregung in irgendeiner Weise zusetzen, so ließ er sich nichts anmerken. Shiho, die aufgesprungen war, ihre Hände am Tisch aufstützte und den FBI-Agenten zornig anfunkelte, setzte sich langsam wieder, warf beunruhigt einen Blick um sich. Ein paar Menschen sahen sie erstaunt an, drehten sich allerdings langsam wieder um. „Shiho?“ Rans Stimme drang leise an ihr Ohr – zu leise, als dass sie sie wirklich wahrnahm. „Vorwürfe, dass ich nicht lache. Sie haben ihn nicht gesehen…“ Sie starrte auf die Tischplatte, versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen, ihr Gesicht blass wie Ran es nie gesehen hatte. Und in ihr wuchs die Unruhe, als sie an sein Schweigen dachte, auf die Frage, was in diesen zehn Tagen passiert war. „Doch, natürlich.“ Der FBI Agent schaute sie ernst an, seine Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen. „Euer Kommissar Meguré hat ihn vorbeigefahren, bevor er ihn zuhause abgeliefert hat. Er stand unter Schock, zweifelsohne, war sehr mitgenommen von dem, was er erlebt hatte…“, sein Blick schweifte kurz zu Ran, „aber er konnte uns noch seine Aussage geben und die Beweise, die er noch gesammelt hatte, als er zurückgelaufen war. Dann brachte der Kommissar ihn nach Hause. Wir sahen ihn dann erst Monate später wieder, als er uns um ein Empfehlungsschreiben bat.“ Auf Shihos Lippen war ein bitteres Lächeln geschlichen. „Eben, das ist es… Sie haben ihn nicht gesehen, als er abgestürzt ist.“ Sie schluckte hart, bemerkte Rans Blick auf sich, brennend wie ein weißglühender Draht auf ihrer Haut. Ihre Augen wurden dunkel, seltsam glasig, als sie auf die Tischplatte blickte, ihre Finger begutachtete, als die Erinnerung sie an diesen Abend langsam einholte. „Er hatte mir das Gegengift vorbeigebracht, bevor er zu seinen Eltern zurückging. Geredet hat er nicht viel – nur vier Wörter hat er gesagt. Vier.“ Sie schluckte. „Meinen Freispruch.“ Sie wischte sich über die Augen. „Du bist frei, Shiho. Nicht mehr, nicht weniger. Nur das. Dann ging er. Und eigentlich hätte es mir da schon auffallen müssen.“ Unwillkürlich fing sie an zu zittern. „Ich nahm das Gegengift. Ich sah ihm an, dass er viel durchgemacht hatte und ich wollte ihm eine Freundin sein, wenn er eine brauchen würde. Und das… das konnte ich nicht als Ai. Du weißt selber… wie sehr er versucht hat, dir ein Freund zu sein, Ran, und aber in so vielen Bereichen einfach zurückstecken musste… weil man mit einem Kind nie umgeht wie mit einem Erwachsenen. Ich hatte vorher immer Gedanken gewälzt, hin und her überlegt, ob ich nicht Kind bleiben wollte – als ich ihn sah, war für mich klar, dass das nicht ging. Wir hatten das zusammen durchgemacht. Ich war‘s ihm schuldig, es zu nehmen, wenn er sich schon die Mühe machte, und es mir brachte.“ Sie schluckte hart. „Es war schon nach Mitternacht, als es an der Haustür klingelte. Der Professor machte auf – und draußen stand sein Dad. Yusaku Kudô. Er wollte, dass ich mitkam… wegen… ihm.“ Sie brach ab, griff nach ihrem Colaglas, krampfte ihre Finger darum. „Ich wusste nicht, was sie ihm angetan hatten. Ich hatte mich, offen gestanden, noch bis zum Nachmittag der Illusion hingegeben, dass es nochmal glimpflich ausgegangen war für ihn. Er war mitgenommen, ja. Aber er schien nicht offensichtlich verletzt, nicht viel zumindest. Als ich ihn allerdings sah, war es… mir sofort klar.“ Ran schaute sie starr an, ohne zu blinzeln. Shiho fing ihren Blick kurz auf, fing an, auf ihrer Unterlippe zu kauen. Sie schloss die Augen, atmete tief ein, sammelte sich. „Ein Blick, der nichts wahrnahm aber doch mehr sah, als er aushalten konnte…“ Schweiß glänzte auf seinem Gesicht – und das war auch das erste, was sie registrierte, als sie ihn ansah, nachdem sein Vater sie in sein Zimmer geführt hatte. Er lag auf seinem Bett, zusammengekrümmt und zitternd, seine Finger in die Decke gekrallt, so fest, dass seine Knöchel weiß durch seine Haut schimmerten. Seine Mutter saß neben ihm, strich ihm übers Haar. „Er kriegt nichts mit… er reagiert nicht, er…“ Angst schwang in ihrer Stimme. „Shiho, was ist das – er hört nichts, er spürt nichts, er…“ Shiho näherte sich ihm langsam, kniete vor seinem Kopf auf den Boden, um mit ihm auf gleicher Augenhöhe zu sein, umgriff sein Kinn, um seinen Kopf zu fixieren. Er sah sie nicht an. Sie sah jedoch alles, was sie sehen musste. „Drogen.“ Sie hörte eine dunkle Stimme an ihrem Ohr. „Hab ich Recht?“ Sie nickte nur, ohne Yusaku Kudô anzusehen, der neben ihr auf den Boden gesunken war, strich ihm eine nasse Strähne aus dem Gesicht. Sie hätte blind sein müssen, um es nicht zu sehen. Die großen Pupillen, die sich auch dann nicht verengten, als sein Vater die Nachttischlampe direkt in sein Gesicht scheinen ließ. Das Zittern. Der kalte Schweiß, der ihm seine Klamotten an den Körper klebte. Die Schmerzen, die ihm nur ein leises Stöhnen entlockten, weil er seine Atmung auf ein Minimum presste, um sich selbst die Luft zum Schreien zu nehmen. Und dieser eine, kleine Punkt an seinem Handgelenk, umrahmt von einem blau schimmernden Fleckchen Haut – das Hämatom, das sich gebildet hatte, rund um die Stelle, an der sie immer und immer wieder die Nadel angesetzt hatten. „Shinichi…“, flüsterte sie leise. „Shinichi, weißt du, wie die Substanz hieß, die sie dir…“ Sie brach ab, als sie merkte, wie sein Gesicht sich verzog. „Ran…“ Langsam strich sie sich ihre Haare hinter die Ohren. „Ich wusste nicht, wie wir ihm helfen konnten, und es wurde zusehends schlimmer. Rasender Puls, flache, unregelmäßige Atmung, und immer wieder stöhnte er auf vor Schmerzen, auch wenn er versuchte, ruhig zu sein. Wahrscheinlich hatte er sich das antrainiert.“ Black strich sich über seinen Bart, mit Daumen und Zeigefinger, setzte sie an den Ecken an, führte sie in der Mitte unter seiner Nase zusammen, immer wieder, ehe er schließlich kurz nickte. „Biting one’s tongue, holding one’s breath… are well-known methods to keep one’s mouth shut in order to prevent oneself from prevailing information to the enemy. Aber dafür…“ „… braucht es einen extrem starken Willen. Dass er den hatte, wissen wir.“ Sie schluckte. „Dennoch, wir wussten nicht, was sie ihm da gegeben hatten, auch wenn ich eine Ahnung hatte.“ Sie rieb sich die Schläfen. „Ich hoffte so sehr, dass es das nicht war. Ich wusste, es war eine reine Foltersubstanz. Und ich wusste, am Schluss endete es immer tödlich. Die Organisation ließ ihre Zeugen nie am Leben, also…“ Immer mehr sank sie in ihrem Stuhl zusammen. „Ich besorgte ihm ein Schmerzmittel. Riet seinen Eltern, ihn in ein Krankenhaus zu bringen - und wollte selbst bis zum Morgen sicher herausfinden, was sie ihm gegeben hatten. Als ich aber… am nächsten Tag zurückkam, waren sie nicht mehr da. Offenbar waren sie noch in der Nacht aufgebrochen. Ich…“ Ran, die bis dahin stumm zugehört und den Kohlensäurebläschen in ihrem Wasserglas beim Aufsteigen zugesehen hatte, wandte sich ihr zu, als sie die Konsequenz aus ihren Worten zog. „Du wusstest nicht, was aus ihm geworden ist.“ Shiho wandte sich ruckartig ab, schluckte schwer. James Black sah sie an, seine Miene ausdruckslos. „Du weißt es doch selber, Ran. Weder er noch seine Eltern waren zu erreichen. Ich hoffte, dass sie es uns gesagt hätten, wenn er gestorben wäre, aber sicher sein konnten wir doch nicht. Und so… hatte ich erst meine Gewissheit, als ich ihn vor ein paar Tagen auf der Brücke stehen sah.“ Der Schatten eines Lächelns huschte über ihre blassen Lippen. „Also ja. Ich hatte Angst, dass mein bester Freund gestorben ist, getötet von der gleichen Organisation, die auch schon meine Eltern und meine Schwester auf dem Gewissen hat.“ Ran sagte nichts mehr, wandte ihren Blick ab, starrte in ihr Wasserglas und hoffte, niemand hörte ihr Herz so sehr pochen wie sie, in diesem Moment. Shiho hingegen schaute auf, sah dem FBI Agenten ins Gesicht. „Sie haben ihn so nie gesehen. Niedergeworfen. Besiegt. Ihr habt ihn ruiniert. Ihr hättet ihn niemals da reinschicken dürfen, egal was er euch sagte. Sie haben ihn gesehen, Mr. Black, er zahlt die Rechnung noch heute…“ James Black sah sie an, schüttelte dann langsam seinen Kopf. „Das stimmt nicht, und das weißt du. Er hat ein paar Schrammen abbekommen, zweifellos. Aber er ist weit davon entfernt, ruiniert zu sein. Jetzt nicht mehr.“ Er warf Ran einen langen Blick zu – sie erwiderte ihn, merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Aber wir wissen sehr gut selber, wie das sein Leben beeinflusst hat. Mehr noch als du ahnst, im Übrigen.“ Er atmete tief durch, ignorierte Shihos und Rans fragende Blicke. „Es war diese eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen darf, und dieser Meinung waren alle, er auch. Abgesehen davon hatte er keine Wahl. Sie hätten ihn sich so oder so geholt… dann lieber eine Fahrt mit potenziell gültiger Rückfahrkarte, als eine ohne, das waren seine Worte.“ Black schaute Ran ins Gesicht. „Er hat ihnen nie eine Antwort auf ihre Fragen gegeben, aber sie… bekamen wohl mit, wo seine Achillesferse liegt. Sie mussten nur warten, bis er ihnen den Namen nannte. Den Namen dieser einen Substanz, die ihn wirklich schwach machte…“ Ran war blass geworden, atmete flach. „Deinen. Und damit wussten sie, wie sie ihn kriegen.“ Er lächelte bitter – und bedachte sie doch mit einem Blick voll Wärme. „Und kurioserweise war es genau das, was ihn gerettet hat. Die Tatsache, dass sie dich zu ihm holten, erlaubte uns, dein Handy zu orten und damit seinen Aufenthaltsort grob zu bestimmen – sie hatten ihn nach seinem Intermezzo mit dem Computer aus dem Hauptquartier an einen Ort gebracht, der nicht in den Datenbanken gespeichert war. Wärst du nicht gewesen, hätte er sich nicht… verplappert, dann wäre er jetzt tot. Mit Sicherheit.“ Er lehnte sich zurück, langsam und ruhig. Ran sah ihn nicht an; sie schien gar nicht mitbekommen zu haben, was der Agent ihr gerade erklärt hatte. In ihren Ohren hallte nur dieser eine Satz nach. Und damit wussten sie, wie sie ihn kriegen. Sie zitterte bei dem Gedanken, bei der Frage, ob sie sein Kryptonit war, seine Achillesferse, der wunde Punkt in seinem Panzer. Sie wollte das nicht glauben – denn sie wollte all das nicht sein. Und sie fragte sich, was… damals in diesen Tagen mit ihm geschehen war, das hier keiner richtig auszusprechen wagte, und das ihn auch heute noch so offensichtlich so nachhaltig quälte. Shinichi. Er lag auf dem Boden, zitterte und schwitzte zugleich. In seinen Ohren hörte er ihn immer noch lachen, laut, kalt, grausam. Gins Lachen, das er nie vergessen würde, niemals, genausowenig wie dieses Tattoo… diesen Schmetterling, der mit einem Flügelschlag ein Leben nahm. Genauswenig, wie den Ausdruck in ihren Augen, kurz, bevor er zugestoßen hatte. Angst. Unglauben. Dann Schmerz, namenlose Qual. Zusammengekrümmt wie ein Embryo lag er da, allein mit Juniper, deren Augen längst nichts mehr von dieser Realität wahrnahmen. Er schluchzte, leise, zitterte so sehr, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Und alles stank. One more thing I’ll never ever forget. Der Geruch von geronnenem Blut. Von seinem Erbrochenen, gemischt mit dem ammoniakhaltigen Geruch von Urin. Er dachte lieber nicht daran. Und in all dem lag er und wollte sterben, einfach nur aufhören zu existieren, endlich. Es fühlte sich fast an wie damals, als ihn das Crystal auf einen Höllentrip geschickt hatte, nur war er daraus wieder aufgewacht. Das war der Unterschied. Er wusste, er würde nicht aufwachen, denn er war es, er war wach. Und er wusste, er konnte nicht liegenbleiben und auf den Tod warten. Er würde nicht kommen. Noch nicht jetzt. Er wusste, was man von ihm verlangte. Sobald er wieder soweit war, würde er ihr das Unterhemd ausziehen, die Wunde säubern, ihr das Kleid anziehen und sie an den nächsten Fundort fahren. Und zuvor würde er sich unter die Dusche stellen. Am Besten tat er das gleich. Falls er jemals in diesem Leben wieder in der Lage sein würde, auf seinen Beinen zu stehen, hieß das. Momentan sah es eher nicht danach aus. Er lag nur hier, stand unter Schock, fühlte nichts und spürte gleichzeitig eine Kälte, wie er sie kaum begreifen konnte. Immerhin hatte er aufgehört, sich zu übergeben, und konnte tatsächlich schon wieder nachdenken… über sich. Über Meredith. Meredith hatten sie mitgenommen. Ein Schrei quälte sich über seine Lippen, als er an sie dachte, hallte gespenstisch wieder in den leeren, schmucklosen Hallen des Lofts. Nur für sie hatte er getötet… und sie hatte es mitansehen müssen. Mitansehen! Der Ausdruck in ihren Augen war noch schwerer zu ertragen als alles andere. Furcht. Und zwar vor ihm. Und er wusste, auch wenn er sie irgendwie retten konnte, für sie beide würde es ab heute keine Zukunft mehr geben. Das war vorbei. Er wimmerte, schluchzte nun lauter, krampfte sich auf dem blanken Marmorboden zusammen. Meredith. Dann stand er auf, langsam. Ging sich waschen und umziehen; wie immer hatten sie ihm besorgt, was er brauchen würde, um nicht aufzufallen. Und dann… kümmerte er sich um Juniper. Als er wenig später mit der jungen Frau auf seinen Armen, und dem Bild, das umsichtig in einem Schuber steckte, das Loft verließ, fühlte er sich seltsam leer. Ihm schien, als spule ein Autopilot in ihm sein Leben ab wie ein Programm, Schritt für Schritt, steuerte ihn fern. Er fuhr mit dem Aufzug nach unten. Dort stand, wie immer, der kleine Skoda, den man ihm dafür bereitgestellt hatte. Er öffnete umständlich den Kofferraum, bettete das Mädchen sorgfältig, fast liebevoll hinein, schloss die Heckklappe wieder und stieg selbst ins Auto. So... we have reached the point of no return now. _________________________________________________________________________ Hallo liebe Leser! Bitte entschuldigt die Verspätung... momentan ist viel los. Vielen Dank für eure Kommentare zum letzten Kapitel! Wir haben die 200 erreicht - Leute, ehrlich, vielen Dank! Beste Grüße, Eure Leira Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)