Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Kapitel 21: Tischgespräche -------------------------- KAPITEL 21 – TISCHGESPRÄCHE Müde schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf, schälte sich schon beim Eintreten aus seinem Sakko. Die Tage schienen neuerdings immer länger zu werden, die Nächte von Tag zu Tag kürzer. Tatsache war, die Ereignisse heute forderten nun vehement ihren Tribut – und so sehr ihm Jenna leid tat, die sich nun ihren Abend mit der Observation ihres Verdächtigen um die Ohren schlagen musste, so dankbar war er doch dafür, dass er derartige Polizeiarbeit nun delegieren konnte, wenn er es wollte. Und heute wollte er. Definitiv. Shinichi drückte die Tür ins Schloss, indem er sich dagegen lehnte, blieb dann einfach so stehen, das solide Holz in seinem Rücken, atmete leise ins Dämmerlicht seiner Wohnung, kaum erhellt von den Lichtern Londons, die durch das Fenster flimmerten. Langsam schloss er die Augen, holte tief Luft, atmete kontrolliert wieder aus. Das letzte Mal, dass ihn sein Leben so viel Kraft gekostet hatte, war vor fünf Jahren gewesen; damals, als er beschlossen hatte – beschließen hatte müssen – dass er den Schlusspunkt nun setzen musste. Conan schluckte, schaute den Professor stur an. Vor ihnen flimmerte das Filmchen über den Videokanal. „Bitte, liebe Dame, melden Sie sich bei uns! Wir würden Ihnen gerne danken…“ Der Chor der Detective Boys hallte ihnen wie ein Richterspruch in den Ohren. „Sie wissen, wir müssen handeln. Der Bell Tree Express war nur der Anfang. Vermouth weiß, dass Ai Sherry ist, und ganz offensichtlich will sie sich nicht mehr an unsere Abmachung halten, sie zufrieden zu lassen.“ Agasa wich seinem Blick aus, schüttelte stur den Kopf. „Ich…“, fing er an. „Ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist, jetzt… Ich meine, der Bell Tree Express – das lief doch gut! Du konntest sie abschütteln…“ „Aber nicht dauerhaft! Ich trau mich wetten, dass sie uns… Ai… schon wieder auf den Fersen sind.“ Conans Stimme war schärfer gewesen als beabsichtigt. Agasa schaute ihn erschüttert an, als der kleine Junge nachdenklich den Kopf schüttelte, dann reuevoll aufblickte. „Es geht nicht mehr nur um sie. Ich häng da mit drin. Und mit mir…“ Die Augenbrauen des Forschers wanderten nach oben, verliehen seinem ohnehin alten, faltigen Gesicht durch noch mehr und noch tiefere Falten einen sehr besorgten Ausdruck. „Gibt es da etwas, dass du mir sagen willst, Shinichi –…“ Der Angesprochene schluckte hart, rieb sich über die Augen, sah mit einem Mal unendlich müde aus. Dann zog er einen Brief, vielmehr eine kleine Karte, hervor. „Von Vermouth.“ Der alte Mann zog die Zeitung zu sich, las leise vor. Jin-roo Leuchtend hell am nächtlichen Himmel Gefahr: Flüchtig und schwarz wie ein Schatten Werwolf kommt und holt sie. Get ready, silver bullet. „Werwolf.“ Agasa wisperte den Namen fragend. Shinichi stand neben ihm, hatte seine Arme verschränkt, warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Der Professor wandte sich ihm zu, in seinem Gesicht stand ein einziges, großes Fragezeichen. Ihm gefiel immer weniger, in was sich sein Nachbar da verstrickt hatte. „Weißt du, was sie damit meinen? Mit „Werwolf“? Und silver bullet? Wen…“ Der Grundschüler sah ihn unbehaglich an. „Der Schreiber meint wohl die Organisation… ihre zwei Seiten. Auf der einen Seite die Facette, die sich unauffällig in die Gesellschaft eingliedert, die funktionierenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, oft mit hohen Ämtern und Anstellungen, mit gutem Ansehen… und des Nachts werden sie zur Bestie. Töten, morden, erpressen. Sie… warten damit nur nicht immer auf den Vollmond, aber halten sich ähnlich unzerstörbar.“ Conan schaute ihn gedankenverloren an. „Und was bedeutet das jetzt konkret? Und warum beziehst du es auf dich? Das kann irgendwer geschrieben haben, ich meine, Halloween ist nicht mehr weit, wir haben schon fast Ende Oktober…“ Agasas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Conan war vom Stuhl gerutscht, hatte seine beiden Fäuste tief in seinen Taschen vergraben. „Das einzige, was einen Werwolf töten kann ist ein Treffer mit einer silbernen Kugel.“ Der kleine Junge hob den Kopf. „Akai meinte, als ich mit ihm darüber gesprochen habe, Vermouth habe einst ihn so genannt. Er hält es aber für durchaus möglich, nach den letzten Ereignissen, dass sie sich eine Alternative gesucht hat.“ Der Professor zog die Augenbrauen hoch. „Dich? Bei allem Respekt, aber Akai war FBI-Agent – warum sollte sie sich einen zum Grundschüler mutierten Oberschüler…“ Der kleine Junge erwiderte nichts darauf, sein Blick schweifte gedankenverloren durch die sauber geputzte Küche des Professors. „Shinichi!“ Der scharfe Tonfall des Professors riss ihn wieder zurück in die Gegenwart. „Selbst wenn du Recht hast - was willst du denn machen?“ „Ihre Aufmerksamkeit erreichen.“, antwortete der kleine Junge knapp, wandte sich ab. Conan stopfte seine Hände in seine Hosentaschen, schluckte hart. „Seien wir ehrlich, die haben nie nach mir gesucht, so wirklich, bis auf die Überprüfung, ob ich tot bin. Würde ich den Kopf fein unten halten, könnte ich vielleicht sogar ein sorgloses Leben als Grundschüler führen.“ Er schaute auf, musterte den Professor mit ernstem Blick, den die Brille seines Vaters noch verstärkte. „Sie sind hinter Sherry her. Hinter Ai. Shiho. Wer auch immer – sie ist es, die sie wollen. Ich habe keine Ahnung, warum – allen voran wohl, weil sie eine Verräterin ist, vielleicht brauchen sie sie auch noch für ihre Forschung, was weiß ich, aber Vermouth und Gin sind hinter ihr her wie die Teufel hinter der armen Seele; die Motive des Bosses in der Sache kenne ich nicht. Aber daneben sind sie hinter dem Detektiv her, der ihr geholfen hat – den sie in Kogorô vermuteten, ein Gedanke, den sie mittlerweile gottseidank wieder fallen gelassen haben.“ Er merkte, wie ihm zunehmend heiß geworden war. „Nichtsdestotrotz wissen sie, dass es da jemanden gibt. Sie wissen nur nicht, wer.“ Er hob den Blick, schaute seinen alten Freund zögernd an. „Leuchtend hell am nächtlichen Himmel…“, wiederholte der kleine Detektiv mit ernster Stimme. „Sie meinen damit eine Vollmondnacht. Die ist heute.“ Agasa merkte, wie seine Knie nachgaben. „Gegensatz: flüchtig und schwarz wie ein Schatten. Damit meinen Sie sich selbst. Ich tippe auf Gin oder Bourbon.“ Der Grundschüler rieb sich über die Augen. „Er kommt und holt sie, dürfte klar sein. Sie kommen hierher. Exakt hierher. Sobald der Mond aufgegangen ist. Und eigentlich sind sie nicht hinter mir her, sondern hinter Ai. Allerdings… beobachte ich schon eine Weile ihren Briefkasten, genauer gesagt, seit der Sache im Wald, weil ich auf sowas… schon gewartet habe.“ Er schluckte. „Sie war im Briefkasten der Moris und schreibt an Silver bullet, damit ist es klar… sie will mich warnen. Auch wenn sie Sherry verabscheut, will sie wohl doch nicht, dass es mich unvorbereitet trifft, weil sie weiß, dass ich versuchen würde, sie zu schützen.“ Agasa schaute ihn an, seine Hände zitterten. „Das heißt, wir müssen hier alle schnellstens weg.“ Der kleine Junge schüttelte zu seinem Entsetzen den Kopf. „Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich, wie eben angedeutet, schon vor einer Weile eine Exit-Strategie vorbereitet, zusammen mit Agent Akai. Ich hätte nur nicht gedacht, dass sie so bald, so plötzlich in Kraft treten muss.“ Shinichi verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Ich werde denen jetzt reinen Wein einschenken, wer dieser Detektiv ist. Ich werde ihnen vor Augen führen, wer ihnen die letzten Jahre immer mal wieder die Suppe versalzen hat. Und ich werde ihnen zeigen, wie das ging. Ihnen – und einigen anderen. Dafür brauche ich allerdings ihre Hilfe, Professor, dieses eine, letzte Teilchen fehlt nämlich noch in meinem Plan. Und dann verschwinden Sie. Mit Ai. Alle anderen werden Tokio ebenfalls verlassen.“ Conan seufzte. Der Professor merkte, wie ihm ein Schauer über den Rücken rann. „Und du?“ Der Grundschüler blickte auf. „Und ich? Was soll mit mir sein? Es geht nur darum, Ai…“ „Halt mich nicht zum Narren, Shinichi!“ Der Professor herrschte ihn ungehalten an. Der kleine Junge starrte ihn an, war einen Schritt zurückgewichen, erschrocken – er hatte den alten Mann so noch nie erlebt. „Du wirst mir jetzt sofort sagen…“ Er hielt inne, als er sah, wie Conan den Blick abwandte, auf seiner Lippe kaute. „Ich werde das Gegengift nehmen.“, murmelte er leise. „Und dann eine Nachricht schicken, in der ich sie zu Ihrem Haus bestelle. Ich will nicht irgendwo aufgegabelt werden, ich wills zumindest einigermaßen unter Kontrolle haben…“ Agasa meinte, der Boden täte sich unter ihm auf. „Bitte, WAS?! Hast du den Verstand verloren? Und wie kommst du darauf, dass du auch nur irgendwie Kontrolle auf irgendwas in dieser Sache ausüben kannst…?!“ „Ich weiß.“ Conan sah ihn an, in seinen Augen stand bitterer Ernst zu lesen. „Ich weiß. Aber wir können so nicht weitermachen. Dieses Spiel muss ein Ende haben.“ „Die werden dich umbringen.“ Shinichi lächelte, schüttelte den Kopf. „Möglich. Aber zumindest nicht sofort, eben weil ich mich interessant mache, mich als der oute, der ich war. Und mein Plan ist, zuerst einmal ins Hauptquartier zu kommen, und dafür habe ich vorhin schon mit dem FBI gesprochen, mit… Okiya, um genauer zu sein.“ Er seufzte, lächelte bitter. „Ich denke, Sie ahnen, dass er nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Subaru Okiya ist in Wirklichkeit Agent Shuichi Akai vom FBI. Da sie wegen Ai kommen, und nur ich weiß, wo Ai ist, werden sie mich nicht gleich umbringen – nicht, ehe sie nicht die Chance hatten, mich zu verhören. Abgesehen davon, werde ich ihnen schon noch ein paar Brocken hinwerfen, die sie interessieren dürften.“ „Und wie gedenkst du, da wieder rauszukommen? Das Hauptquartier…“ „Ich werde einen gut versteckten Peilsender tragen.“ Er tippte auf sein Ohr. „Ein kleines Pflaster. Man bringt es relativ weit innen an, es ist von außen nicht zu sehen. Und solange es nicht nass wird…“ „Dennoch… es gefällt mir nicht… und ich verstehe nicht, warum Ai…“ „Weil sie sich sofort ohne Wenn und Aber ausliefern würde.“ Die Stimme des Grundschülers klang bitterernst. „Um uns zu retten würde sie sofort in den Tod gehen, aber damit ist keinem geholfen. Sie würde sinnlos sterben, weil die Organisation damit nicht vernichtet wäre… und solange das nicht der Fall ist, ist keiner von uns in Sicherheit. Deswegen. Und Sie dürfen ihr nichts sagen, hören Sie?“ „Sie wird es sich denken können, Shinichi, sie ist nicht…“ „Blöd. Das weiß ich. Deshalb müssen Sie auch gut auf sie aufpassen und sie nicht aus den Augen lassen.“ Sein Teint war von rot nach weiß gewechselt. „Aber bevor ich mich stelle, ich sie kontaktiere, will ich Beweise sammeln, die zur selben Zeit an die Polizei und ans FBI gehen. Ich habe bereits alle meine Notizen digitalisiert, alle Fälle, in denen sie verwickelt waren, gesammelt, es ist alles hier drauf und kann als Anhang einer Mail verschickt werden, was ich… jetzt dann gleich tun werde, in den nächsten Stunden. Ich will Meguré sagen, was passiert ist, aber damit er und die anderen mir alles und ohne Fragen in letzter Konsequenz glauben, muss ich… noch den Beweis für eine einzige Sache machen…“ Agasa atmete stockend aus. „Du willst es dokumentieren?“ „Eine Filmaufnahme, ja.“ Conan nickte stockend. „Fotos würden es nicht annähernd so unwiderlegbar beweisen wie ein Film. Damit… ich allerdings immer im Bild bleibe, bräuchte ich…“ Er hatte es nicht geschafft, dem Professor in die Augen zu schauen. Stille hatte geherrscht, wahrscheinlich nur ein paar Sekunden, dennoch kam es dem kleinen Jungen, der immer noch die Fugen des Bodens studierte, wie eine Ewigkeit vor. „Shinichi…“ Conan sah gequält auf, als er die wackelige Stimme des Professors hörte. „Glauben Sie mir, ich wollte nie, dass das jemand sieht! Aber meine Mutter kann ich das nicht machen lassen, die… kommt um dabei. Meinen Vater will ich auch nicht dabeihaben…“ Er schluckte hart. „Und ich muss das aber abschicken an die Organisation, bevor sie hierherkommen, ich muss mich unbedingt interessanter machen, als ich es jetzt bin, sonst bin ich tot.“ Unwirsch rammte er seine Hände in die Hosentaschen. „Ich muss der sein, der zumindest ein bisschen an der Schraube drehen kann, Professor! Und ohne dieses Druckmittel kann ich es nicht. Ich muss denen beweisen, dass ich es bin. Dass Gin mich nicht erledigt hat, dass ich verdammt viel weiß, dass ich Fakten kenne, die ihnen gefährlich werden können, dass… ich die Adresse des Bosses weitergeben kann, wenn ich will. Und Meguré und die anderen müssen den Ernst der Lage verstehen.“ „Reicht es denn nicht, wenn ich es ihnen sage, Shinichi…?“ Agasa schaute ihn immer noch bekümmert an. „Nein.“ Er schluckte. „Denn wenn ich nicht mehr wieder komme, muss bewiesen sein, wohin Conan Edogawa UND Shinichi Kudô verschwunden sind.“ Die Augen des Professors wurden groß, als ihm aufging, bis in welche Konsequenzen sein junger Nachbar dieses Szenario durchdacht hatte. „Shinichi, das ist Selbstmord, was du da planst. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich dir dabei helfe. Und ich werde mich von dir auch nicht wegschicken lassen, na hör mal…“ Conan schaute auf, lächelte bitter. Dann nahm er seine Brille ab, ganz langsam, klappte die Bügel zusammen und legte sie auf den Tisch zwischen ihnen. „Ich verlange nichts von Ihnen, ich bitte Sie um einen Gefallen, ich dachte, ich hätte mich unmissverständlich ausgedrückt…“ Er sah auf, blickte seinem alten Freund ins Gesicht. „Außerdem dachte ich, Ihnen wäre ihre Sicherheit genauso wichtig wie mir.“ Agasa schaute ihn ertappt an. Der kleine Junge hatte seine Fäuste tief in seine Hosentaschen vergraben. „Ai ist hier einfach nicht sicher. Und ich will nicht, dass sie eine Dummheit macht, ich habe es Ihnen doch gerade eben schon erklärt. Sie… tendiert dazu, Dummheiten zu machen, wenn es um die Organisation geht…“ Sein Blick war auf Wanderschaft durch den Raum gegangen, an einer kleinen Strickjacke, die über dem Stuhl hing, hängengeblieben. Agasas Blick folgte ihm. >Die Dummheiten macht sie nicht wegen der Organisation, Shinichi. Sie macht sie, wenn du involviert bist. Willst du das nicht sehen oder siehst du es wirklich nicht?< „Also helfen Sie mir? Professor?“ Die drängende, hohe Stimme des Grundschülers riss ihn aus seiner Schockstarre. Dann nickte er willenlos, ließ sich von dem Grundschüler mit in sein eigenes Badezimmer führen. Eine halbe Stunde später saß er auf seinem Sofa, eine Tasse Tee in seinen eisigen Händen. Shinichi saß vor ihm auf dem niedrigen Sofatisch, schaute ihn durch und durch schuldig und besorgt an. Agasa lächelte traurig, nahm einen großen Schluck seines Getränks. „Großer Gott.“ Er schluckte trocken, trotz des Tees. „Wir sollte nicht darüber reden.“, murmelte Shinichi leise, wischte sich mit seinem Handrücken über die Stirn. Er sah immer noch erschöpft aus, bemerkte der Professor, musterte ihn besorgt. Klar, er hatte mitgekriegt, dass so eine Verwandlung kein Spaziergang war - was allerdings Shinichi tatsächlich durchmachte, war ihm bis gerade eben – so schien es ihm zumindest jetzt – völlig vorenthalten gewesen. Er kam sich auf einmal schrecklich ahnungslos vor. Shinichis leises Seufzen riss ihn aus seinen Gedanken. „Ist es in Ordnung, wenn ich die… Sache jetzt schnell erledige? Viel Zeit bleibt ohnehin nicht mehr, bis meine Mutter kommt um mit Ihnen und Ai im Privatjet des Verlegers meines Vaters nach Hokkaido zu fliegen.“ Agasa lächelte müde. „Nach Hokkaido? Wo schickst du mich denn hin?“ Shinichi grinste müde. „Nach Sapporo auf die Spielwarenmesse. Dürfte inspirierend sein für Sie, Professor.“ Damit ging er – und Hiroshi Agasa blieb nichts anderes übrig, als ihm hinterher zu blicken. >Wenn das mal nicht schief geht, Shinichi. Wenn das mal nicht schief geht…< Kurze Zeit später öffnete er die Tür, vor der seine Mutter und sein Vater bereits standen, winkte dem Professor zu, der die beiden Koffer packte und unwillig zum Auto schritt, wo Yukiko ihm mit den Koffern half. Ai würden sie von Ayumi abholen, wo sie zum Spielen eingeladen worden war. Mit etwas Glück schöpfte sie keinen Verdacht… zumindest keinen, den sie beweisen konnte. Yusaku Kudô warf seinem Sohn einen nachdenklichen Blick zu. „Du weißt, was du da tust, hoffe ich…?“ Shinichi seufzte laut, sah nachdenklicher aus, als Yusaku ihn je gesehen hatte. „Ich weiß, was ich tue, ja. Aber ich kann nicht vorhersehen, was sie tun, und das ist es, was mir ein wenig Angst macht.“ Er grinste schief. Yusaku rann ein Schauer über den Rücken. „Du kannst es noch abblasen, Shinichi. Komm einfach mit, sei nicht hier, wenn sie…“ Er sah das Kopfschütteln seines Sohns, bevor er tatsächlich damit anfing. „Und was wäre damit gewonnen, Vater? Ein weiterer Aufschub, sonst nichts. Das Unvermeidliche kommt, warum also nicht heute?“ Dann griff er in die Tasche seiner Jacke, fischte einen Umschlag heraus. „Gibst du den Ran, bitte, falls das hier übel ausgeht?“ Yusakus Gesichtszüge verzogen sich kurz vor Kummer. „Shinichi…“ Sein Sohn schüttelte den Kopf. „Nein, hör zu. Ich hab nicht vor, draufzugehen. Ich mach das nicht unüberlegt. Aber ich kann nicht alles planen, also würdest du bitte…?“ Wortlos nahm der Schriftsteller den Brief entgegen, ließ ihn in seiner Sakkotasche verschwinden. Er verkniff es sich, ihm zum Abschied eine Hand auf die Schulter zu legen oder gar zu umarmen – zu sehr fühlte sich das an, als würde er ein böses Omen heraufbeschwören. Und so nickte er ihm nur noch einmal knapp zu, ehe er ging. Wie erwartet waren sie pünktlich gekommen. Shinichi hatte ihm die Tür geöffnet, sah ihn abwartend an. Bourbon musterte ihn sichtlich interessiert, trat einmal um ihn herum – Shinichi unterdrückte den Reflex, sich mit ihm umzudrehen, um ihn nicht aus den Augen zu lassen, spürte stattdessen ein unangenehmes Prickeln im Nacken, als der Mann, unsichtbar für ihn, hinter ihm stand. „Sieh an. Der kleine Conan. Ich muss gestehen, der Boss war ziemlich beeindruckt von deiner kleinen Show. Ich auch, muss ich zugeben. Auch wenn es mich nicht ganz so überrascht wie ihn.“ Shinichi grinste schief. „Das war der Plan.“ Er blickte dem Mann stur ins Gesicht. Bourbon stellte sich vor ihm auf, die Hände locker in seinen Taschen vergraben. Klar, dachte sich Shinichi, er konnte auch gelassen sein – draußen vor der Tür standen seine Begleiter in Form von zwei Hünen im Format Vodkas und hörten wohl alles, was hier drin gesprochen wurde. „Nun, zumindest soweit ist er aufgegangen. Er ist aufmerksam geworden, und auch mit Gin nicht mehr ganz so zufrieden wie bisher – dich zurückzulassen ohne sich zu vergewissern, ob er dich wirklich umgebracht hatte, war fahrlässig. Allerdings lässt er fragen, warum er sich die Mühe machen sollte und das Risiko eingehen, dich ins Hauptquartier zu lassen – noch dazu, wo du, wie wir dich kennen, bestimmt nicht planlos an diese Sache gegangen bist. Wir wissen mittlerweile um diese unerfreuliche Nebenwirkung. Wir wussten nur nicht, dass jemand außer Sherry sie an der eigenen Haut erfahren durfte.“ Er machte eine bezeichnende Geste an Shinichi entlang. „Und die Tatsache, dass du so viel weißt, und uns gleichzeitig so oft genervt hast, spricht nicht dafür, dich mitzunehmen. Lebend zumindest. Du spielst mit hohem Risiko.“ Damit zog er eine Glock unter seinem Mantel hervor, entsicherte sie und richtete sie auf den Oberschüler vor sich. Shinichi schaute ihn gelassen an, ignorierte die Pistolenmündung, die sich langsam unter seinem Kinn gegen seinen Kehlkopf presste. „Weil ich weiß, wo sie ist. Und versuch nicht, mir weißzumachen, dass ihr das nicht wissen wollt.“ „Ah.“ Bourbon hob theatralisch die Hand, tat bescheiden, winkte ab. „Schlauer Detektiv. Du hast uns durchschaut…“ Er lächelte dünn. „Und, verrätst du’s uns?“ Shinichi lächelte, versuchte, so viel Gewissheit wie möglich in seine Stimme zu legen. „Keinesfalls. Zumindest nicht dir, Toru. Oder soll ich dich Bourbon nennen? Ich richte mich ganz nach dir. Oder ist dir…“ Lässig, zumindest so lässig, wie es seine Nervosität erlaubte, die er gerade so gekonnt zu überspielen versuchte, hob er die Hand und schob die Pistole beiseite, beugte sich nach vorn, schaute ihn an, hatte seine Stimme auf ein Flüstern gesenkt. „… Rei Furuya lieber…?“ Bourbon hob eine Augenbraue hoch. „Sieh an. Du hast deine Hausaufgaben aber sehr gründlich gemacht…?“ Bourbons Stimme war kaum lauter als seine selbst – und sie beide wussten, warum sie flüsterten. „Hast du etwas anderes erwartet.“ Shinichi schluckte. „Was meinst du, warum hoffte ich, dass du es sein würdest, der mich kommen holt? Du bist der einzige, bei dem ich weiß, was ich tun muss, um wenigstens den Hauch einer Chance zu haben, da drinnen länger als fünf Minuten zu überleben – und andererseits sicher zu gehen, dass er auch nur mich mitnimmt, Rei. Ich weiß von dir, ich weiß von der Polizei, und ich bin bereit, alles gegen dich zu verwenden, wenn du…!“ Bourbon bedachte ihn mit starrem Blick. Shinichi wusste, dass es in ihm arbeitete. „Du hast keine Ahnung…“ „Oh doch.“ Shinichis Lippen kräuselten sich. „Oh doch, die hab ich. Also, wie sieht’s aus – hilfst du mir? Wirst du deinem Ruf gerecht…?“ „Du bringst mich in Teufels Küche…“ Bourbon wischte sich über die Stirn, konnte kaum glauben, wie sich das Blatt so schnell hatte wenden können. „Bist du da nicht schon längst…?“ Der Mann in schwarz atmete aus, langsam. Ein bitteres Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschlichen, als er den Kopf schüttelte. „Ganz wie du willst, Shinichi. Oder bist du mittlerweile eher den Namen Conan gewöhnt?“ Seine Stimme wurde wieder lauter, als er draußen leises Rascheln vernahm. Offenbar wurden seine Mitstreiter unruhig. Ihre Ahnung täuschte sie nicht – die Tür ging auf, und einer steckte seinen Kopf herein. „Hey. Seit wann brauchst du so lang um einen Teenie kaltzustellen, Bourbon?“ Bourbon sparte es sich, sich umzudrehen, lächelte zynisch, während er Shinichi nicht aus den Augen ließ. „Wir sind gleich soweit. Kommt doch ruhig rein.“ Shinichis Lächeln blieb unverrückbar auf seinen Lippen. „Ich will den Boss sehen.“ „Hah.“ Ein feines Lächeln kräuselte nun auch Amuros Lippen. „Keiner sieht den Boss. Aber gut. Lassen wir die Spielchen. Glaubst du, ich weiß nicht, woher der Hase läuft? Man hat dich verwanzt, und du sollst sie jetzt ins Versteck führen. Das FBI.“ Shinichi verschränkte die Arme vor der Brust. „Natürlich ist das der Plan, was dachten Sie? Aber bitte, Sie sollen nicht die Katze im Sack kaufen - möchten Sie eine Leibesvisitation durchführen?“ Bourbon grinste. „Danke für das Angebot, aber ich denke, allzu schwer sollte es nicht sein, auch ohne Suche herauszufinden, wo das Ding ist.“ Er ließ die Hand mit der Waffe sinken. „Sie halten sich immer für besonders schlau – in der Regel verstecken sie sie an wenig… exponierten Stellen. Niemals in der Kleidung, weil der Sender da nicht unentdeckt bleibt.“ Er musterte ihn eingehend, suchte ganz offensichtlich nach Knöpfen oder ähnliche Objekte, die an seinen Klamotten angebracht waren, griff hie und da zu, drückte den Saum, untersuchte die Schuhe, offenbar erfolglos. „Wir haben das Zeug schon in falschen Zähnen gefunden…“ Damit gab er Shinichi einen Stoß, der ihn gegen die Wand taumeln ließ, presste ihn mit dem Unterarm gegen die Mauer, drückte ihm die Luft ab. „Nase ist zu riskant, einmal heftig niesen und das Ding ist raus.“ Er kniff die Augen zusammen. „Falsche Zähne scheiden bei dir wohl auch aus.“ Shinichi schluckte. „Wie sieht’s mit nem extravaganten Hörgerät aus?“ Damit drehte er seinen Kopf zur Seite, presste ihn flach gegen die Mauer. „Volltreffer.“ Er grinste kurz – dann zog er den Oberschüler unter den Blicken seiner Mitstreiter an den Haaren zum Waschbecken in der Küche, drückte seinen Kopf unter den Hahn und drehte das Wasser auf. Shinichi keuchte auf, fühlte kaltes Wasser in sein Ohr, seine Nase laufen, hustete und keuchte, stemmte sich gegen den Beckenrand, als Bourbon ihn auch schon losließ, ihn zufrieden beobachtete. Der Oberschülerdetektiv hielt sich das Ohr, in dem es unangenehm knisterte, schüttelte den Kopf, um das Wasser herauszubekommen, hustete. „Fein. So darfst du mit. Allerdings…“ Ohne Vorwarnung hob er seine Waffe, drehte sie um, so dass er den Lauf festhielt, und schlug sie mit einer ausholenden Geste gegen Shinichis Kopf, der zu spät merkte, was passierte. Er ging zu Boden, blieb bewusstlos liegen. Bourbon schenkte ihm nur einen kurzen, nachdenklichen Blick, griff sich dann in seine Manteltasche und fischte ein paar Kabelbinder heraus, fesselte ihm damit die Hände auf den Rücken. Dann winkte seine Begleiter heran, die den Bewusstlosen zum Auto trugen und in den Kofferraum warfen. Bourbon ging gelassen hinterher, schloss die Tür hinter sich, blieb unter der Straßenlaterne stehen und drehte sich dann um zum Haus der Kudôs. Er hob die Hand, zeigte den Zeigefinger hoch. >Eins zu null, Shuichi.< Damit stieg er ein und fuhr los. Shuichi Akai stand an einem Fenster im ersten Stock des Hauses der Kudôs, hatte den Vorgang stumm beobachtet. Neben ihm stand sein Vater. Er war nur kurz zusammengezuckt, als man seinen Sohn rausgetragen und in den Kofferraum geworfen hatte wie einen Sack Müll. „Ich hoffe…“, begann er mit leiser Stimme. „… er weiß, was er tut.“ Akai schaute dem Auto nachdenklich hinterher. „Es läuft alles nach Plan.“ >Noch.< Unwillig strich er sich über die Augen. So präsent wie momentan waren seine Erinnerungen an diese Zeit vor fünf Jahren schon lange nicht mehr gewesen – und eigentlich wollte er sie auch gar nicht so viel Platz in seinem Leben einnehmen lassen. Es lenkte ihn nur ab, zog Energie und Aufmerksamkeit ab, die er doch eigentlich für ganz andere Dinge brauchte. Wahrscheinlich liegt es einfach daran, dass sie alle da sind. Heiji. Kogorô. Ran. Allen voran Ran. Noch dazu der Stress in der Arbeit, dieser Fall, das alles… So müde wie derzeit war ich lange nicht. Einfach nur müde, ich könnt‘ im Stehen schlafen, nicht auszuhalten… Alles in ihm sehnte sich danach, einfach in seinen Pyjama zu schlüpfen, unter seine Bettdecke zu kriechen und einem möglichst traumlosen und tiefen Schlaf zu erliegen, der ihn alles vergessen ließ, was ihn momentan beschäftigte – für ein paar Stunden, zumindest. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es dafür eigentlich noch zu früh war – gerade mal halb acht. Gewohnheitsmäßig warf er das Sakko geschickt an den Garderobenhaken, wo es etwas schief hängen blieb. Gerade als er die Schuhe ausziehen wollte, fühlte er, wie ihm ein Fuß etwas wegglitt. Er bückte sich, hob erstaunt einen Umschlag auf – und ließ ihn fast wieder fallen, als er bemerkte, welche Farbe er trug. Selbst im Dämmerlicht des Flurs konnte er sie sehen – es war unmissverständlich. Der Umschlag war schwarz. Schwarz. Sein Mund wurde trocken, schlagartig, seine Finger fingen an zu zittern. Schwarz. Eine seltsame, fast erwartungsvolle Gespanntheit ergriff ihn. Angst belauerte ihn, aber dennoch, es war nicht nur das. Es war wie vor fünf Jahren, als er Sharons Karte bekommen hatte – endlich hatte er das Gefühl, als fielen die Fesseln von ihm ab. Endlich konnte er seine Hände wieder bewegen, endlich lüftete sich diese Decke, die diesen Bereich seines Gehirns durch massive Schwärze lähmte, endlich… Endlich bekam er vielleicht seine Chance, dem ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Endlich konnte er handeln, sich zur Wehr setzen. Ganz offensichtlich hatte er sich nicht getäuscht. Sie waren wieder im Spiel. Keinesfalls wollte er so hilflos sein, wie das letzte Mal, ihnen einfach buchstäblich ins Messer laufen, zum zweiten Mal. Tastend griff er hinter sich an die Wand, drückte mit seinen Fingern den Lichtschalter um, und mit einem Mal wurde es noch viel realer. Ein schwarzer Umschlag. Gerade, als er das Kuvert mit zunehmend klamm gewordenen Fingern öffnen wollte, ließ ihn die Türklingel zusammenfahren, bescherte ihm einen rasenden Puls. Wer zum Henker…! Er schluckte, versuchte, sich zu beruhigen. Hastig steckte der den Umschlag in die Innentasche des am Haken hängenden Sakkos, öffnete die Tür, trat wortlos zurück, als er erkannte, war davor stand. Yusaku Kudô schaute ihn verblüfft an, als er eintrat. „Wie? Kein Gemotze diesmal?“ „Brächte es denn etwas?“ Shinichi zog eine Augenbraue hoch, merkte, wie sein Herz bis zum Hals schlug. Auf keinen Fall durfte sein Vater oder gar seine Mutter von diesem Umschlag erfahren. Genau betrachtet wusste er ja auch noch gar nicht, was sich überhaupt darin befand. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes. Vielleicht… Ach Quatsch, Kudô, wem willst du was vormachen. Ein Liebesbrief wird das kaum sein. Eine Einladung zum Geburtstag eher auch nicht. Eher eine zu einer Beerdigung. Deiner, wahrscheinlich. Ein zynisches Grinsen huschte ihm für die Dauer eines Wimpernschlags über die Lippen. Dann riss ihn sein Vater aus den Gedanken, in die er kurzzeitig abgedriftet war. Yusaku lächelte schmal. „Nein. Deine Mutter schickt mich, sie wartet unten im Taxi. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, heute mit ihren Männern, also per Definition dir und mir, Essen gehen zu wollen, und du kennst sie, wenn sich deine Mutter was in ihren hübschen Kopf setzt, dann muss sie das haben, und wenn sie dafür mit selbigem durch eine Wand müsste…“ „Das ist mir bekannt, ja.“ Shinichi verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich nehme an, du sollst…“ „Ich soll ja nicht ohne dich kommen, sonst schickt sie mich in die Hölle.“ Shinichi lachte leise. Dann zuckte er mit den Achseln, griff nach seinem Sakko, schlüpfte wieder hinein und angelte nach dem Wohnungsschlüssel. „Dann sollten wir sie nicht warten lassen. Denn seien wir ehrlich – derjenige, den sie dir hinterherschickt, werde ich sein. Abgesehen davon…“ Er schluckte hart, schaute dann seinem Vater mit einer Ernsthaftigkeit ins Gesicht, die Yusaku den Mund trocken werden ließ. „Ich verdanke euch mehr als nur mein Leben. Da sollte es eigentlich drin sein, mit euch mal Essen zu gehen, auch wenn mir, offen gestanden, heute nicht danach ist. Es war… ein ziemlich langer Tag nach einer recht unruhigen Nacht, wie du dir denken kannst. Allerdings, gerade weil ich euch fünf Jahre lang jedes Mal abgewimmelt habe… bin ich euch das definitiv mal schuldig, also warum nicht heute. Mich wundert selber, wie lange das geklappt hat.“ Sein Vater warf ihm einen ernsten Blick zu, seufzte leise. „Wir wussten, warum du allein sein wolltest. Musstest. Dennoch, so langsam…“ Shinichi seufzte. „Lassen wir das, bitte.“ Damit trat er aus der Wohnung, schloss hinter seinem Vater ab. Yusaku sah ihn wortlos an, folgte ihm stumm, als Shinichi vor ihm die Treppen hinunterstieg. Er sah seinem Sohn an, dass er nicht log. Der Tag gestern war aufreibend gewesen für ihn, das wusste er. Er machte einen beunruhigend müden Eindruck. Allerdings, er hatte keine Ahnung, was heute passiert war, bis auf diesen wenig schmeichelhaften Zeitungsartikel. Offenbar aber war Shinichi noch nicht bereit, sie einzuweihen in das, was er einen langen Tag nannte. Ein Treppenhaus, das musste er sich eingestehen, war auch nicht wirklich der beste Ort dafür. Und so hielt das Schweigen an, bis sie aus der Tür in die kühle Abendluft Londons traten. Yukiko war ausgestiegen und schaute die beiden Männer in ihrem Leben ungeduldig an, ehe sie sich ihrem Sohn zuwandte, in ihren Augen ein energischer Blick, der ganz offensichtlich keine Wiederrede dulden würde. „Hör zu, bevor du etwas sagst, mein Lieber…“ Shinichi hob die Augenbrauen. „Sag ich was?“ „Etwa nicht?“ Yukiko blinzelte verwirrt. „Nein.“ Shinichi räusperte sich. Er spürte den Blick seiner Mutter deutlich auf sich, strengte sich mächtig an, ihr standzuhalten. „Wo wollt ihr denn hin?“, meinte er dann leise fragend. Yukiko zuckte mit den Achseln. „Wir dachten, du…“ Shinichi seufzte leise, blickte in den Himmel. „Gut, dann muss ich die Frage umformulieren. Was wollt ihr essen?“ „Italienisch. Die Mehrheit…“ „Die Weiblichkeit.“, murrte Yusaku, der nun ebenfalls neben ihn getreten war. „… hat entschieden.“, beendete Yukiko ihren Satz, warf ihrem Mann einen mahnenden Blick zu, grinste dann kokett. „Wir dachten, du wüsstest vielleicht ein Lokal?“ „Dann wohl ins Pomodoro.“, meinte Shinichi, trat um den Wagen herum, um mit seinen Eltern das wartende Black Cab zu steigen. Ein paar Minuten später saßen sie dann vor Tellern mit appetitlich angerichteten Antipasti, die genauso lecker rochen und schmeckten, wie sie aussahen, in einem edlen italienischen Restaurant. Während Yukiko begeistert das Ambiente in sich aufsog, das das dunkle Holz und die natursteinernen Böden zusammen mit den ein honiggelbes Licht verbreitenden Lampen erzeugte, musterte Yusaku seinen Sohn nachdenklich. Shinichi hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie reingekommen waren und die Bestellung für Getränke und Antipasti aufgegeben hatten. Momentan saß er ihm einfach nur gegenüber und biss in ein mit Tomaten, Kräutern und Olivenöl garniertes Bruschetta, dessen kross geröstetes Weißbrot dabei leise knirschte – und er traute sich fast wetten, dass das das erste war, was er heute aß. Yusaku hob sein Glas, nahm einen Schluck des exzellenten Rotweins – der Kellner hatte wirklich Ahnung von seinem Fach – und stellte dann das Glas mit einer wohlgesetzten Bewegung auf dem rotweiß karierten Tischtuch ab. „Also?“, murmelte Yusaku fragend. Shinichi hob fragend eine Augenbraue. Yusaku lächelte schmal. „Schön, ich formuliere meine Frage aus, wie es sich für einen Schriftsteller gehört. Wie war dein Tag?“ Shinichi legte das Brötchen auf den Teller zurück, wischte sich die Finger an der Serviette ab. Yukiko wandte ihren Blick von der geschmackvollen Inneneinrichtung ab, sah ihrem Sohn forschend ins Gesicht. Shinichi, sich der Blicke seiner Eltern vollstens bewusst, geriet nun doch ein wenig ins Schwitzen. „Lang.“, meinte er dann vage. „Sagte ich doch…“ „Shinichi.“ Yukiko verdrehte die Augen, bemerkte, wie Shinichi ihrem Blick auswich. „Hast du mit Ran geredet?“ Shinichi schüttelte den Kopf. „Kurz, wegen der neuesten Geschichte des Reportes, dieses Klatschblattes, das nichts Besseres zu drucken hat als die wildesten Spekulationen über das Liebesleben von Sherlock Holmes also known as euer Sohnemann.“ Er lächelte ein schiefes Lächeln, das ihm rapide von den Lippen bröckelte. „Ich hab vor meinem Chef alles abgestritten, Ran wird das Gleiche tun. Ich hoffe, damit ist sie dann bald wieder raus aus den Schlagzeilen der Yellow Press.“ Er wich dem tadelnden Blick seiner Mutter aus, schüttelte den Kopf. „Ansonsten war der Tag heute einfach lang, wie gesagt, ich bin gerade heimgekommen, als ihr kamt. Abgesehen davon will ich nicht mit ihr reden, und das sollte dich nicht wundern.“ Yukiko seufzte, nippte an ihrem Weinglas. „Nein, das tut es nicht. Sie hat geweint, gestern.“ „Weiß ich.“ Yusaku hob den Blick von der Karte, blickte seinen Sohn über den Brillenrand hinweg an. Er hatte den Punkt hinter dem Satz nicht gehört und wartete gespannt auf dessen Fortsetzung. „Sie tat es schon, als sie aus meiner Wohnung ging. Ich denke, ich war der Grund dafür.“ Das bitterste Lächeln, das Yusaku je gesehen hatte, verzerrte Shinichis Lippen, der beißende Sarkasmus in seiner Stimme tat sein Übriges dazu. Man sah ihm an, wie unglücklich er selber mit der Situation war – allerdings erkannte der Schriftsteller auch, dass er nicht Willens war, daran etwas zu ändern. Zumindest nicht in nächster Zeit. Dennoch schien auch das noch nicht alles zu sein, was er zu dem Thema zu sagen hatte – und auch seine Frau schien das zu merken. „Und weiter…?“ Sie hatte die Augenbrauen hochgezogen. Shinichi schaute sie etwas frustriert an. „Reicht das nicht?“ „Da ist doch noch was.“ Yukiko griff nach seinen Fingern, die auf der Tischdecke ruhten – er entzog ihr seine Hand, beschäftigte sie mit der Serviette, die er knetete, als sei sie die Ursache für seine Misere. „Na schön. Ich… dass Ran geweint hat wegen mir hat mir auch noch jemand anders mitgeteilt. Vorgeworfen. Wie auch immer – ihre Mutter hat angerufen. Bei mir. Gestern.“ Seine Stimme klang spöttischer, als er die Worte meinte, das wussten Yusaku und Yukiko beide. Shinichi versuchte mit dem Leid seiner großen Liebe irgendwie umzugehen, Fakt war aber, dass er keine Ahnung hatte, wie er es lindern konnte. Ihm schienen nach wie vor die Hände gebunden, zumindest in seinen Augen – und so konnte er dem nur hilflos gegenüberstehen und versuchte herunterzuspielen, wie sehr ihn das tatsächlich mitnahm. „Eri hat dich angerufen?“ „Ja. Ich denke, sie hat nur diese eine Mutter, Mama.“ Shinichi strich sich über die Stirn, biss sich kurz auf die Unterlippe. Er war sich des flapsigen Tons bewusst geworden und hob entschuldigend die Hand, ehe seine Mutter etwas darauf erwidern konnte. „Entschuldige, ich weiß, wie du es meintest.“ Er schluckte. „Ich bin nur… es… es ist kompliziert. Ich… will das alles auch nicht. Ich wünschte mir, sie wäre nie gekommen, nach London. Das würde alles so viel leichter machen.“ Ein tiefer Seufzer entfloh Shinichis Kehle, der sich kurz über die Augen strich, ehe er mit rauer Stimme fortfuhr zu berichten. „Sie hat sie wohl angerufen, nachdem sie bei mir war, und ich meine, ich weiß, dass sie ziemlich… fertig war nach dem Gespräch bei mir. Und Eri rief mich eben an, weil…“ „Hat sie dir Vorwürfe gemacht?“ Yukiko schaute ihn fragend an. „Nein. Nicht direkt. Sie… hat sich eher dafür bedankt, dass ich sie aus meinen Schwierigkeiten raushalten will – an und für sich aber dennoch kein schönes Thema.“ Er nahm nun seinerseits sein Weinglas und trank einen Schluck - er musste aufpassen, was er sagte, er wollte seinen Eltern nicht sagen müssen, wer ihn damals angelogen hatte. Sonst passierte hier in London gleich der nächste Mord, und allein der Gedanke seine Eltern mit Kogorô konfrontiert zu sehen bescherte ihm eine Gänsehaut. Nein, einen Streit dieser Größe konnte er nicht brauchen – abgesehen davon war damit auch weder Ran noch ihm geholfen. Allerdings saß er hier nicht irgendwem gegenüber. Sein Vater konnte ihm immer noch das Wasser reichen, und würde eins und eins locker zusammenzählen, wenn er nur die nötigen Hinweise bekam. Langsam lehnte er sich zurück. „Und als ob das nicht genug wäre, stellt euch vor, wen die aus Tokio schicken, als zweiten Verbindungsmann.“ Yusaku faltete die Karte zusammen, legte sie beiseite, zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Shinichi starrte auf die Tischdecke, blickte in die einsame Kerzenflamme, die in der Mitte des Tisches loderte und ein wenig warmes Licht spendete, ehe er antwortete. „Kogorô Môri.“ Yukiko warf ihr Weinglas um, schluckte schwer, schaute ihn fassungslos an. Yusaku warf ihm einen einigermaßen verständnislosen Blick zu. „Er ist wohl mit den Kanagawas befreundet. Deshalb ist er hier.“ „Ah.“ Yusaku lachte trocken. „Ganz wie in alten Zeiten, was?“ Shinichi seufzte, schaute ihn dann etwas genervt an. „Ja, so in etwa.“ Er merkte, wie sich langsam Kopfweh ankündigte, schüttelte langsam sein Haupt. „Ach was rede ich. Ein Desaster. Ich meine, wem erzähle ich das, wir konnten noch nie so wirklich gut miteinander, ich hab ihm eine Karriere verschafft, die er allein nicht halten konnte, ich war der, den er nie für seine Tochter wollte - und jetzt arbeitet er bei der Polizei und hat seiner Tochter verschwiegen, dass sie damals in meinen Armen gestorben ist – wir hatten nen super Tag.“ Shinchis Stimme troff vor Sarkasmus, während er mit einem Finger über das grobe Leinen der Tischdecke kratzte. „Dann besuchten wir den Verlobten unseres zweiten Opfers, der grad drauf und dran war, sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen, weil er den Tod seiner Freundin nicht aushält, und zu guter Letzt mussten wir den Mann laufen lassen, der wohl die Bilder gemalt hat, die wir an den Tatorten fanden, weil wirs ihm nicht nachweisen können und er nicht gesteht. Also…“ Yusaku seufzte. „In der Tat, ein langer Tag.“ „Du sagst es.“ Shinichi schaute auf, als der Kellner neben ihm erschien, ließ seiner Mutter mit einer bezeichnenden Handbewegung der Vortritt bei der Bestellung eines neuen Getränks. „Und ich weiß immer noch nicht, ob ich richtig gehandelt habe. Ich kanns begründen, warum ich ihn nicht in U-Haft genommen hab, aber ich hab das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.“ Yusaku horchte auf. „Inwiefern?“ Shinichi verdrehte die Augen. „Du weißt, ich sollte nicht über laufende Fälle reden. Das ist unprofessionell.“ „Du musst ja keinen Namen nennen.“ Yusaku rückte kurz zurück, als der Kellner ihm seine Pasta vor die Nase setzte. Shinichi trank einen Schluck Wein, wartete, bis der Kellner wieder weg war. „Naja, viel mehr gibt’s nicht zu sagen, Vater. Wir sind uns ziemlich sicher, dass er die Bilder gemalt hat. Die Farben sind die gleichen, die Palette war noch nass, als Heiji und Jenna in sein Atelier kamen, und wenn auch kein Bild da war, so spricht das doch dafür, dass er kurz davor an einem gearbeitet hat – und es mitnahm, als er überstürzt aufbrach. Noch dazu fanden sie eine Fenchelblüte. Auf den Bildern der anderen Mädchen waren ebenfalls Blumen – Stiefmütterchen und Rosmarin. Ich kann nicht glauben, dass das …“ „… Zufall ist. Gerade eine Fenchelblüte ist nicht die übliche Blume, mit der man hübsche Mädchen porträtiert. Rosmarin auch nicht. Das riecht nach einer tieferen Bedeutung.“ „In der Tat.“ Shinichi stocherte in seinen Nudeln, die mittlerweile vor ihm auf dem Tisch standen, unmotiviert herum. „Aber ich kenne sie einfach noch nicht, ich hab, offen gestanden, nach all dem Chaos auch noch keine Muße gefunden, mich damit noch einmal zu beschäftigen – angefangen hatte ich mit den Stiefmütterchen ja schon mal. Nun - ich hab das Foto der Fenchelblume beim ersten Verhören einfach druntergemischt, unter die Fotos der Gemälde und die aus seinem Atelier. Er ist merklich zusammengezuckt, als er es sah, aber er hat nichts gesagt.“ Yusaku grinste. „Er hatte kurz die Befürchtung, dass der vergessene Fenchel ihm das Genick bricht – bei einem normalen Nachfragen hätte er…“ „… einfach gesagt, dass er sie von einem Stillleben dort vergessen, sich nen Tee damit habe machen wollen oder sonstwas, ja. So aber hab ich gut sehen können, dass der eine andere Bedeutung hatte als einfach ein schlichtes Bildmotiv oder ein Heilkraut zu sein.“ Shinichi seufzte. „Aber…?“ „Aber, ich entschloss mich dagegen, ihn in U-Haft zu nehmen, weil ich nicht glaube, dass er die Mädchen auch ermordet hat. Ich hoffe, wenn ich ihn beschatten lasse, dass er uns zu den wahren Drahtziehern führt. Nur…“ Yusaku nickte stumm. „Ein gewisses Risiko, dass du falsch liegst oder du dadurch gerade den Weg für den nächsten Mord ebnest, besteht dadurch.“ Shinichi ließ seinen Kopf in seine Hand sinken. „Ja. Und ich hab das Gefühl, mir platzt der Kopf. Der Fall, die Sache mit…“ „Ran.“ Nun mischte sich Yukiko wieder ins Gespräch, die gerade ihre Pizza Calzone bis gerade eben sichtlich genossen hatte – nun blickte ihn bedrückt an. „Shinichi…“ Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu - und sie verstummte. Sie wusste, er tat das nicht, weil es ihm Spaß machte – und das erübrigte tatsächlich jede weitere Diskussion. Nie hatte sie die Sehnsucht nach dieser jungen Frau so deutlich in den Augen ihres Sohnes gesehen. Nicht einmal damals. „Mama, ehrlich, was denkst du eigentlich von mir.“ Er schluckte hart. Yukiko schüttelte traurig den Kopf. „Glaubst du, ich schick sie gerne heulend aus meiner Wohnung? Was meinst du? Du weißt, verdammt nochmal, wie sehr…“ Seine Stimme senkte sich bis auf ein kaum zu hörendes Flüstern. „Ihr beide wisst, wie sehr ich sie liebe. Was ich mir wünsche. Ihr habt es gehört, und ihr seht mich an und wisst, dass sich daran nichts geändert hat. Aber ich weiß einfach, dass die noch da sind!“ Er wandte sich ab, stierte in seine Pasta, schüttelte den Kopf. „Und solange sie da sind, und ich damit ein Risiko bin für sie, wird daraus nichts werden. Ihr wisst, ich komm mit mehr Dingen klar als die meisten Menschen, aber das steh ich nicht nochmal durch. Und auch das… dürfte euch beiden klar sein.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)